Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen
Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen Traditionen, Innovationen, Perspektiven
Herausgegeben von Arne Ziegler unter Mitarbeit von Christian Braun
Band 1: Diachronie, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch Band 2: Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch
De Gruyter
ISBN 978-3-11-021993-7 e-ISBN 978-3-11-021994-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Vom 7. bis 10. Mai 2008 fand am Institut für Germanistik der KarlFranzens-Universität Graz der internationale linguistische Kongress zum Thema Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Text – Korpus – Sprache der Geisteswissenschaftlichen Fakultät statt. Der vorliegende Sammelband publiziert die ausgearbeiteten und teilweise erweiterten auf dem Kongress gehaltenen Vorträge, ergänzt um fünf Aufsätze von ursprünglich angemeldeten TeilnehmerInnen, die leider in letzter Minute aufgrund nachvollziehbarer Gründe absagen mussten. Es handelt sich um die Beiträge von Mathilde Hennig, Britt-Marie Schuster, Anja Voeste, Claudia Wich-Reif und Ingo Warnke. Insgesamt werden somit in zwei Bänden 52 Beiträge von Autoren aus 12 Ländern präsentiert, die ein eindrucksvolles Bild vom Facettenreichtum und von der Vitalität der aktuellen internationalen Sprachgeschichtsforschung im Bemühen um eine linguistische Auseinandersetzung mit den Untersuchungsgegenständen Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen bieten. Die positive Resonanz der wissenschaftlichen Gemeinschaft sowohl auf den Kongress als auch auf den vorliegenden Sammelband zeugt davon, dass mit dem Rahmenthema einerseits ein zentraler Bereich der germanistischen Sprachgeschichte fokussiert ist und andererseits gerade in diesem Bereich offensichtlich rezente Desiderata existieren, die zahlreiche interessante Untersuchungen provoziert haben und wohl auch in Zukunft weiterhin anregen werden. So gilt mein Dank zuallererst natürlich den Beitragenden, die diesen Sammelband erst möglich gemacht haben und auf das Anschaulichste demonstrieren, wie ungebrochen aktuell das Interesse der gegenwärtigen Sprachgeschichtsforschung an einer Historischen Textgrammatik und Historischen Syntax des Deutschen ist. Ihnen ist es zu verdanken, dass mit dem vorliegenden Sammelband ein ergiebiges Kompendium zur Thematik und gleichermaßen ein Kaleidoskop aktueller sprachhistorischer Forschung entstehen konnte. Darüber hinaus ist es selbstverständlich nur einem engagierten Redaktionsteam, das mit hohem Zeitaufwand die Arbeit unermüdlich vorangetrieben hat, zu verdanken, dass die vorliegenden Bände in relativ kurzer Zeit nach Abschluss des Kongresses das Licht der wissenschaftlichen Welt erblicken können. Namentlich sei in diesem Zusammenhang ganz
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Vorwort
herzlich Frau Stefanie Edler und Frau Melanie Glantschnig für die redaktionelle Betreuung, die mitunter mühevolle Recherche und intensive Formatierungsarbeit gedankt. Herr Dr. Christian Braun, der die gesamte Redaktionsarbeit koordiniert und detailliert betreut hat, hat sich in der Arbeit an dem Sammelband herausragende Verdienste erworben – ihm gilt mein besonderer Dank. Danken möchte ich auch dem Verlag de Gruyter sowie insbesondere Herrn Prof. Dr. Heiko Hartmann für die angenehme und fruchtbare Zusammenarbeit und Unterstützung, ohne die die Publikation des Sammelbandes in der vorliegenden Form sicher nicht möglich gewesen wäre. Verbunden mit meinem Dank an alle, die zur Publikation der vorliegenden Bände beigetragen und die Arbeit daran unterstützt haben, ist der Wunsch nach einer weiteren intensiven und konstruktiven Zusammenarbeit im Bereich der Historischen Textgrammatik und der Historischen Syntax des Deutschen.
Graz, im Herbst 2009
Arne Ziegler
Inhalt Band I:
Diachronie, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch
Vorwort .............................................................................................................. V Arne Ziegler Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen – Eine kurze Einleitung ......................................................... 1 Diachronie Hubert Haider Wie wurde Deutsch OV? Zur diachronen Dynamik eines Strukturparameters der germanischen Sprachen .............................. 11 Franz Simmler Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen in biblischen Textsorten vom 9. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts ............................................................ 33 Ulrike Freywald Obwohl vielleicht war es ganz anders. Vorüberlegungen zum Alter der Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen ................................................................. 55 Elke Ronneberger-Sibold Die deutsche Nominalklammer. Geschichte, Funktion, typologische Bewertung ............................................................... 85 Roland Hinterhölzl Zur Herausbildung der Satzklammer im Deutschen. Ein Plädoyer für eine informationsstrukturelle Analyse ......................... 121
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Inhalt
Ursula Götz vnd schwermen so waidlich / als jemandt anders schwermen kan. Nominalphrasen mit jemand und niemand in der Geschichte des Deutschen ......................................... 139 Rosemarie Lühr Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch ............................................... 157 Thomas Gloning Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik. Eine Schnittstelle zwischen der Handlungsstruktur und der syntaktischen Organisation von Texten ............................................. 173 Maxi Krause Wie eine historische Grammatik der temporalen Relationen aussehen könnte … .................................................................. 195 Isabel Buchwald-Wargenau: Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen .............................. 221 Andreas Bittner Aspekte diachronischer Fundierung. Historische Linguistik und mentale Repräsentation flexionsmorphologischen Wissens ........................................................................................................... 237 Markus Denkler Adjektive in Inventarlisten – Beobachtungen zur Syntax und zum Textsortenwandel ..................................................... 261 Althochdeutsch Hans-Werner Eroms Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen .................................................................................... 279 Natalia Montoto Ballesteros Einige textlinguistische Aspekte der ahd. Konnektoren inti und joh ..................................................................... 305 Susumu Kuroda Inkorporation im Althochdeutschen ............................................................. 317
Inhalt
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Svetlana Petrova / Michael Solf Pronominale Wiederaufnahme im ältesten Deutsch. Personalvs. Demonstrativpronomen im Althochdeutschen ................................. 339 Oliver Schallert Als Deutsch noch nicht OV war. Althochdeutsch im Spannungsfeld zwischen OV und VO ................................................. 365 Christian Braun Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von Funktionsverbgefügen im Althochdeutschen ................................... 395 Eva Schlachter Zum Verhältnis von Stil und Syntax. Die Verbfrüherstellung in Zitat- und Traktatsyntax des althochdeutschen Isidor ....................... 409 Claudia Wich-Reif „Das Spiel vom Fragen“ – (k)ein Problem der althochdeutschen Syntax? ..................................................................... 427 Mittelhochdeutsch Mechthild Habermann Pragmatisch indizierte Syntax des Mittelhochdeutschen ........................ 451 Heinz-Peter Prell Konstruktionsmuster und -strategien im mittelhochdeutschen Satzgefüge. Ein Werkstattbericht ......................... 471 Sandra Waldenberger Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit. Aus der Werkstatt Mittelhochdeutsche Grammatik – das Werkstück ‚Präposition‘ ........................................................................ 483 Ursula Schulze Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Zur syntaktischen und semantischen Wertigkeit mittelhochdeutscher Subjunktionen .......................................................... 497
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Inhalt
Jürg Fleischer Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen im Prosalancelot (Lancelot I) ................................... 511 Gisela Brandt Textsortenabhängige syntaktische Variation in Christine Ebners Schwesternbuch des Dominikanerinnenklosters Engelthal (Mitte 14. Jh.) – Wie weit reicht sie? ........................................ 537 Catherine Squires Konstantes und Variables im Aufbau von deutschen mittelalterlichen heilkundlichen Texten und angrenzenden Textsorten ..................................................................... 561 Wernfried Hofmeister Die Praxis des Interpungierens in Editionen mittelalterlicher deutschsprachiger Texte. Veranschaulicht an Werkausgaben zu Hugo von Montfort ...................................................... 589
Band II: Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch Frühneuhochdeutsch Andreas Lötscher Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex im Frühneuhochdeutschen – Textlinguistik und Grammatik ...................... 607 Hans Ulrich Schmid wir muessen etwas teutsch reden … Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit ............................................................................ 631 Ingo Warnke Verschriftete Geometrie – Grammatische Mittel der Raumerfassung in Albrecht Dürers Vnderweyſung der meſſung (1525) ..................................................................... 647
Inhalt
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Britt-Marie Schuster Gibt es eine Zeitungssyntax? Überlegungen und Befunde zum Verhältnis von syntaktischer Gestaltung und Textkonstitution in historischen Pressetexten .......................................... 665 Dana Janetta Dogaru Umfang und Ausbildung der Ganzsätze in den Hermannstädter Ratsprotokollen der Zeit 1556-1562 .......................................................... 689 Monika Rössing-Hager Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge in frühreformatorischen Schriften Martin Luthers. Beobachtungen zu ihrer textkonstitutiven und kommunikativen Funktion .................................................................. 711 Albrecht Greule Textgrammatik und historische Textsorten am Beispiel sakralsprachlicher Texte ............................................................................... 741 Alexander Lasch Es sey das Fewer in der Stadt. Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu vormodernen Feuerordnungen ............................................................................................ 759 Odile Schneider-Mizony Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen in der Grammatikographie 1500-1700 ....................................................... 781 Manja Vorbeck-Heyn Syntaktische Strukturen in den Summarien in Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts ...................................................... 799 Lenka Vaňková Zum Ausdruck der kausalen Relation in den spätmittelalterlichen medizinischen Texten .............................................. 829 Marija Javor Briški Instruktion Kaiser Maximilians I. vom 7. August 1515 an die Krainer Landstände und ainer ersamen landschaft undertanige antwort. Ein vergleichende syntaktische Untersuchung ........................... 841
XII
Inhalt
Eckhard Weber Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation – Ehre und Öffentlichkeit in der Fehde des späten Mittelalters .................... 859 Andrea Hofmeister-Winter Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ – Graphetische Syntax-Marker am Beispiel frühneuzeitlicher Autographe ................................................ 875 Neuhochdeutsch Vilmos Ágel Explizite Junktion. Theorie und Operationalisierung ............................. 899 Mathilde Hennig Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen ................................................................................. 937 Anja Voeste Im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Populäre Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit .................................................................................. 965 Józef Wiktorowicz Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert .............................................................................. 983 Rainer Hünecke Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung – dargestellt an einer Studie zur Syntax des 18. Jahrhunderts .................................................................. 989 Stephan Elspaß Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ein Plädoyer für die Verknüpfung von historischer und Gegenwartsgrammatik ................. 1011 Jörg Riecke Grammatische Variation in der Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt ............................................................ 1027
Inhalt
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Daniel Czicza Das simulierende es. Zur valenztheoretischen Beschreibung des nicht-phorischen es am Beispiel eines neuhochdeutschen Textes ................................................ 1041 Michaela Negele Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeutschen – Standard oder Substandard? ...................................................................... 1063
Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen – Eine kurze Einleitung Arne Ziegler (Graz)
1.
Warum Historische Textgrammatik und Historische Syntax?
Die Wahl des Rahmenthemas „Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen“ ist selbstverständlich nicht zufällig erfolgt. Mit der Wahl der Thematik sollte vielmehr zweierlei geleistet werden. Erstens wurde explizit der Anschluss an die – wenn man so will – „Vorgängerpublikation“ von Anne Betten aus dem Jahre 1990 gesucht, wo einerseits die Frage gestellt wird, „welche methodischen Impulse die sogenannten ‚Bindestrich-Linguistiken’ […] einem alt-etablierten Fach wie der historischen Syntaxforschung geben können“ (Betten 1990: XI) und andererseits die Forderung geäußert wird, dass bei zukünftigen Tagungen und den resultierenden Publikationen alle im Bereich einer historischen Syntax Arbeitenden, ungeachtet der jeweiligen theoretischen und methodischen Ausrichtung, zum Dialog über den Gegenstandsbereich eingeladen werden sollten (vgl. Betten 1990: XIf.). Sicherlich konnten nicht „alle“ eingeladen werden, und dies obwohl im Vorfeld zur Tagung im Rahmen einer breit angelegten Ausschreibung versucht wurde, möglichst viele Kolleginnen und Kollegen ganz unterschiedlicher theoretischer Positionen zur Diskussion und zum Beitrag einzuladen, nicht zuletzt, da es gerade ein Ziel war, ein einigermaßen gewichtetes Bild des aktuellen Forschungsstandes liefern zu können. Von diesem Versuch zeugen auch die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, die ganz verschiedene theoretische, methodische und methodologische Ansätze verfolgen und somit ein durchaus disparates Bild der aktuellen sprachhistorischen Forschung im Bereich der Historischen Textgrammatik und Historischen Syntax zeichnen.
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Arne Ziegler
Darüber hinaus scheint in den meisten der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes die von Anne Betten seinerzeit zu Recht gestellte Frage heute, nahezu 20 Jahre danach, zumindest implizit beantwortet. Kaum einer der vorgelegten Aufsätze abstrahiert dezidiert von pragmatischen, textlinguistischen oder soziolinguistischen Faktoren und berücksichtigt ausschließlich sprachformale Kriterien in der Untersuchung. Ganz im Gegenteil: Es scheint, dass eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit sprachlichen Äußerungen in historischen Zusammenhängen eine integrative Perspektive auf Sprache geradezu verlangt; eine Sichtweise, die nämlich in der Lage scheint, Aspekte des Sprachgebrauchs an solche des Sprachsystems anzubinden und zu einer Aufhebung der vermeintlichen Dichotomie von Gebrauch und System in der sprachhistorischen Analyse führen kann. Sie trägt somit letztlich dazu bei, Sprachgeschichte nicht nur als eine Geschichte sprachlicher Formen, sondern insbesondere als eine Geschichte der über Sprache möglichen und kommunikativ notwendigen Realisierungen sprachlicher Handlungen zu begreifen. Da diese Realisierungen in Texten über grammatische Regularitäten fassbar werden, liefern sie das Grundgerüst nicht nur für eine Sprachgeschichte, sondern vor allem für eine Geschichte der kommunikativen Praktiken. Zudem umreißt der Titel „Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen“ zwei sprachhistorische Forschungsbereiche, die vielleicht auf den ersten Blick relativ unverbunden nebeneinander platziert scheinen. Dies ist allerdings keinesfalls intendiert. Mit der Titelgebung ist vielmehr grundsätzlich die Annahme impliziert, dass Textgrammatik und Syntax nicht bloß zwei grammatische Teilbereiche darstellen, die in einer Art additivem Verfahren lediglich nebeneinander und nacheinander zu betrachten sind, sondern dass Syntax und Textgrammatik zwei unmittelbar miteinander in Beziehung stehende und aufeinander zu beziehende Bereiche der Grammatik darstellen. So kann einerseits eine Historische Syntax im Sinne einer Satzgrammatik quasi eine notwendige Subkomponente einer Historischen Textgrammatik darstellen. Einzelne Arbeiten gehen dabei sogar so weit, dass angenommen wird, eine Textgrammatik reduziert sich letztlich unter Berücksichtigung der textkonstitutiven und diskursfunktionalen Größen auf eine Satzgrammatik (vgl. Abraham 1997: 181). Andererseits lassen sich verschiedene syntaktische Einheiten (z.B. Proformen, Konnektoren, textgliedernde Phrasen) funktional nur in Bezug auf den Text – zumindest aber in Bezug auf den Kotext – vollständig analytisch erfassen. Natürlich – und das relativiert das Verhältnis von Textgrammatik und Syntax wiederum – gibt es demgegenüber auch zahlreiche grammatische Erscheinungen, die zwar durchaus textuell motiviert, aber bereits auf „Basis der Einheit ‚Satz’ erklärt werden können und auch (auf der Grundlage unter-
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schiedlicher Grammatiktheorien) behandelt worden sind“ (Helbig 2003: 21). 1 Ausgangspunkt wohl jeder textgrammatischen Auseinandersetzung ist die Auffassung, dass der Text die oberste linguistische und mithin grammatische Einheit darstellt und auch heute noch das von Hartmann eingeführte Diktum vom Text als primum datum uneingeschränkt gilt (vgl. Hartmann 1964). Natürlich sind die Begriffe Textgrammatik und Syntax in hohem Maße polysem und stehen in einem komplexen Spannungsfeld grammatischer Forschung unterschiedlicher theoretischer Provenienz. Dennoch lassen sich bei aller Heterogenität der verschiedenen Ansätze ein paar wesentliche Gemeinsamkeiten formulieren, die den disparaten Auffassungen zugrunde liegen (vgl. Ziegler 2008). So geht es in einer Textgrammatik immer um die Analyse und die Darstellung satzübergreifender grammatischer Regularitäten. Die Textgrammatik ist entsprechend als eine Grammatik der Textverflechtung bzw. der Konnexion konzipiert. Eine solcherart verstandene Textgrammatik muss in der Konsequenz die Kohäsionsmittel verschiedener Ebenen hinsichtlich der Textsyntax erfassen und beschreiben. Ihr Gegenstand sind somit zuallererst die grammatischen Beziehungen zwischen syntaktischen Einheiten im Text, d.h. „die Erfassung der Regularitäten, Rekurrenzen und Distributionen, die Text konstituieren“ (Lewandowski 1994: 1164). Diese Perspektive wird u.a. in den Aufsätzen von Montoto Ballesteros, Eroms, Greule, Petrova / Solf und Schuster thematisiert. In der syntaktischen Untersuchung stehen demgegenüber üblicherweise Sätze und ihre Elemente – syntaktische Einheiten – als Analysegegenstände im Mittelpunkt. Einen solchen syntaktischen und teilweise morphosyntaktischen Ausgangspunkt wählen beispielsweise die Beiträge von Bittner, Braun, Buchwald-Wargenau, Dogaru, Freywald, Götz, Haider, Hinterhölzl, Hofmeister-Winter, Javor Briški, Krause, Kuroda, Lühr, Prell, Schallert, Vorbeck-Heyn, Wich-Reif, Waldenberger. Die syntaktischen Einheiten (etwa Nominalphrase, Verbalkomplex, aber auch bisher unentdeckte syntaktische Textmuster usw.) stellen dabei in einer kohärenten Folge gleichzeitig textgrammatische Elemente dar, die in der textuellen Entfaltung (via Kontinuität und Progression) durch die Mittel der Textverflechtung (Verknüpfung und Anknüpfung) aneinander gebunden sind (vgl. Lim 2004: 25; Ziegler 2008: 392f.). Auf diese Zusammenhänge verweisen etwa die Beiträge von Brandt, Czicza, Fleischer, A. Hofmeister, Ronneberger-Sibold, Simmler, Schlachter, Schulze, Squires, Vaňková im _____________ 1
Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die Zentralität des Verbs, die Klammerbildung, die Genus-Kongruenz oder die Negation (vgl. Helbig 2003: 21f.).
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vorliegenden Band, gleichwohl auch in diesen Aufsätzen die Syntax den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet. Welche Perspektive man auch einnehmen mag – syntaktisch oder textgrammatisch –, der Bezug zur jeweils anderen Ebene ist der Betrachtung quasi inhärent. Wie auch immer das Verhältnis also charakterisiert wird – eine unmittelbare Beziehung zwischen Textgrammatik und Syntax scheint in der linguistischen Diskussion jedenfalls allgemein angenommen und nicht in Frage zu stehen. Die weitaus meisten der in den vorliegenden Bänden versammelten Aufsätze verweisen deutlich – explizit oder auch implizit – auf diese Zusammenhänge. Daneben zeigen aber auch nicht wenige Beiträge (hier seien die Artikel von Denkler, Gloning, Habermann, Hünecke, Lasch, Lötscher, RössingHager, Schneider-Mizony, Schulze, Warnke, Weber, Wiktorowicz exemplarisch genannt), dass neben einer grammatischen Explikation von Textkohärenz und Textkonsistenz der Bezug auf textthematische Momente und textpragmatische Faktoren in der sprachhistorischen Analyse zwingend erforderlich erscheint. Eine textgrammatische und/oder syntaktische Analyse kann zwar die sprachspezifisch formalen Mittel erfassen, eine umfassende Antwort auf die Frage „warum werden diese Mittel verwendet?“ kann sie allein aber kaum leisten. Dies führt zwangsläufig zu einer Erweiterung des Gegenstandsbereichs, insofern ist davon auszugehen, dass die syntaktische Ebene als abhängig von der textsemantischen Ebene und diese als abhängig von Kontext (logisch-semantischen und pragmatischen Parametern) sowie vom Weltwissen der an der Kommunikation Beteiligten aufgefasst werden kann (vgl. Wolf 1982). Das ist freilich keine neue Erkenntnis. Bereits Oller (1974), wie später auch die IDSGrammatik (vgl. Zifonun u.a. 1997: 99), machen auf die Tatsache aufmerksam, dass jede Erforschung der Sprache die Berücksichtigung des Zusammenspiels von Syntax, Semantik und Pragmatik berücksichtigen muss, d.h. die Pragmatik oder die pragmatischen Elemente sind nicht nur ein zusätzlicher Teilbereich grammatischer Analyse, sondern fester Bestandteil derselben. Alle textgrammatischen Elemente, die eine syntaktische Einheit des Textes auf einen Kontext sowie eine Kommunikationssituation hin determinieren, umfassen somit neben den syntaktischen und semantischen auch die pragmatischen Komponenten (vgl. Schmid 1983: 65). So verwundert es nicht, dass verschiedene Beiträge des vorliegenden Bandes das in der neueren sprachhistorischen Forschung thematisierte Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit i.w.S. zum Gegenstand erheben. Dies betrifft etwa die Beiträge von Ágel, Elspaß, Hennig, Negele, Riecke, Schmid und Voeste.
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Insgesamt verdeutlichen die Beiträge des Sammelbandes, dass das „Historische“ einer Historischen Textgrammatik und Historischen Syntax nicht etwa lediglich darin zu sehen ist, dass der Untersuchungsgegenstand historisch verankert wird, sondern vielmehr in den Verfahren und Methoden, die aus den Besonderheiten und Bedingungen historischer Untersuchungsgegenstände resultieren.
2.
Aufbau und Gliederung
Der Band versammelt Arbeiten von Forscherinnen und Forschern, die sich der skizzierten Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Die Beiträge reflektieren sowohl Ergebnisse aus empirischen sprachhistorischen Einzeluntersuchungen als auch zu kontrovers diskutierten theoretischen Themenkomplexen sowie Vorschläge zu einer textgrammatischen und/oder syntaktischen Modellbildung. Sämtliche der vorliegenden Beiträge zeichnen sich dabei dadurch aus, dass sie stets den Bezug auf das konkrete sprachliche Material wahren. Der Band umfasst Beiträge u.a. zu folgenden Schwerpunkten: • • • • • • •
Empirische Untersuchungen zu textgrammatischen und syntaktischen Phänomenen in den älteren Sprachstufen des Deutschen aus diachroner und/oder synchroner Perspektive Aktuelle Entwicklungen in historischer Grammatikarbeit Anforderungen an ein zeitgemäßes Beschreibungsinstrumentarium für den sprachhistorischen Kontext Texttypologien und ihre Bedeutung für diachrone Untersuchungen in Textgrammatik und Syntax Probleme der Korpusbildung einer Historischen Syntax und/oder Historischen Textgrammatik Referenzstrukturen und ihre Bedeutung für eine Historische Syntax Die Bedeutung von Textmusterbildungen in der sprachhistorischen Analyse
Quer zu diesen Schwerpunktbildungen werden verschiedene Forschungsperspektiven aufgezeigt und diskutiert. Insbesondere Aspekte, die sich in den folgenden Punkten benennen lassen: •
Methoden einer zeitgemäßen Empirie im Rahmen historiolinguistischer Untersuchungen
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• • • •
Pragmatische Ansätze einer historischen Grammatik des Deutschen Integration syntaktischer Ansätze in den Rahmen einer Historischen Textlinguistik Möglichkeiten und Grenzen sprachhistorischer Analytik und Korpusbildung Fragen diachroner Entwicklungen grammatischer Erscheinungen des Deutschen
An dieser Stelle seien auch ein paar erklärende Anmerkungen zur vorliegenden Gliederung des Bandes in die Hauptkapitel Diachronie, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch angefügt. Bedingt durch die Aufteilung der Beiträge auf zwei Teilbände sowie durch die Tatsache, dass jeder Versuch, eine durch den gewählten grammatischen Untersuchungsgegenstand der Beiträge begründete und einigermaßen gleich gewichtete Verteilung vorzunehmen, im Ansatz gescheitert ist, wurde die Einteilung in der vorliegenden Form gewählt. Insofern ist der Gliederung sicherlich eine gewisse subsumierende Mühe zu unterstellen, und nicht in jedem Fall ist die Einordnung eines einzelnen Beitrags unter eine der Hauptkapitel zwingend. Diese – cum grano salis – nach sprachperiodischen Kriterien und damit eher klassische Strukturierung wurde gewählt, da nur so eine einigermaßen gleichmäßige Verteilung der Beiträge gewährleistet schien. Abweichend von einer „traditionellen“ Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte wurde ein Kapitel Neuhochdeutsch – im Sinne einer historischen Sprachstufe des Deutschen – ergänzt, um somit einerseits der Diskussion um eine stärkere Berücksichtigung der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen im Rahmen der aktuellen Sprachgeschichtsforschung explizit Rechnung zu tragen (vgl. u.a. Elspaß 2007: 2ff.; Ernst 2008) und andererseits, um eben jene Arbeiten berücksichtigen zu können, die im Rahmen einer jüngeren Sprachgeschichtsforschung des Deutschen anzusiedeln sind. Ergänzt wurde überdies ein einleitendes Hauptkapitel Diachronie, das Beiträge versammelt, welche sich einem grammatischen Phänomen aus dezidiert diachroner Perspektive nähern und damit die Grenzen der einzelnen Sprachperioden systematisch überschreiten (so z.B. die Beiträge von Buchwald-Wargenau, Denkler, Freywald, Götz, Hinterhölzl, Ronneberger-Sibold, Simmler) oder aber eher generelle und/oder sprachtheoretische Aspekte der Sprachgeschichtsforschung ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen (vgl. etwa die Beiträge von Bittner, Gloning, Lühr, Haider und Krause). Auf die Einrichtung von Registern ist für den vorliegenden Sammelband in Absprache mit dem Verlag ausdrücklich verzichtet worden, um
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den Umfang der zweibändigen Publikation nicht noch stärker zu belasten. So bleibt es dem Leser überlassen, sich über das Inhaltsverzeichnis und natürlich über die Lektüre der Beiträge die Inhalte zu erschließen.
3.
Ausblick
Ziel der vorliegenden Publikation ist einerseits eine Bestandsaufnahme und andererseits ein Ausblick auf rezente Desiderata im Bereich der historischen Grammatik des Deutschen. Der Band soll insgesamt dazu beitragen, die Relevanz der Grammatikforschung für die Anforderungen einer zeitgemäßen Sprachgeschichtsforschung im Spannungsfeld zwischen Syntax, Morphosyntax, Textgrammatik, und Pragmatik zu konturieren und etablierte Auffassungen zur Grammatikarbeit mit aktuellen Problemen zu konfrontieren. Insofern soll auch ein Beitrag zu einer systematischen Historischen Grammatik des Deutschen einschließlich ihrer methodischen Umsetzung geboten werden, so dass der Sammelband auch geeignet scheint, als Referenzwerk im Hinblick auf spezifische Fragen syntaktischer und textgrammatischer Arbeit in der Sprachgeschichtsforschung zu fungieren. Die freudigste Erkenntnis nach Lektüre sämtlicher Beiträge des vorliegenden Sammelbandes ist sicher eine, die der historischen Grammatikforschung Mut machen kann. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass nunmehr für eine Historische Textgrammatik und eine Historische Syntax des Deutschen nichts mehr zu tun bliebe; ganz im Gegenteil: Die großen Postulate bleiben weiterhin bestehen – eine diachron ausgerichtete korpusbasierte Historische Textgrammatik und eine ebensolche Historische Syntax des Deutschen!
Literatur Abraham, Werner (1997), „Textgrammatik und Satzgrammatik. Gemeinsame und unterschiedliche Aufgaben?“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB ), 119 / 2, 181-213. Betten, Anne (1990), Neuere Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen. Referate der Internationalen Fachkonferenz Eichstätt 1989, (RGL 103), unter Mitarb. v. Claudia M. Riehl, Tübingen. Elspaß, Stephan (2007), „‚Neue Sprachgeschichte(n)’. Einführung in das Themenheft“, in: Der Deutschunterricht. Neue Sprachgeschichte(n), 3 / 2007, 2-6.
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Ernst, Peter (2008), Normdeutsch. Die Sprachepoche in der wir leben, (Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft 14), Wien. Hartmann, Peter (1964), „Text, Texte, Klassen von Texten“, in: Bogawus 2, 15-25. Helbig, Gerhard (2003), „Einige Bemerkungen zur Idee und zur Realisierung einer Textgrammatik“, in: Maria Thurmair / Eva-Maria Willkop (Hrsg.), Am Anfang war der Text. 10 Jahre „Textgrammatik der deutschen Sprache“, München, 19-32. Lewandowski, Theodor (1994), Linguistisches Wörterbuch, 6. Aufl. 3 Bde. Heidelberg. Lim, Seong Woo (2004), Kohäsion und Kohärenz. Eine Untersuchung zur Textsyntax am Beispiel schriftlicher und mündlicher Texte, Dissertation Universität Würzburg, Philosophische Fakultät II. http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=973411554&dok_var=d1&dok_ext =pdf&filename=973411554.pdf (Stand 24.08.2009) Oller, John W., Jr. (1974), „Über die Beziehung zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik“, in: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Pragmatik I. Interdisziplinäre Beiträge zur Erforschung der sprachlichen Kommunikation, München, 132-147. Schmid, Wolfgang (1983), „Die pragmatische Komponente in der Grammatik“, in: Gisa Rauh (Hrsg.), Essays on Deixis, Tübingen, 61-78. Wolf, Norbert Richard (1982), Probleme einer Valenzgrammatik des Deutschen, (Mitteilungen aus dem Institut für Sprachwissenschaft Innsbruck 3), Innsbruck. Ziegler, Arne (2008), „Sprachgeschichte als Textgeschichte. Überlegungen zu einer diachronen Textgrammatik des Deutschen“, in: Waldemar Czachur / Marta CzyŜewska (Hrsg.), Vom Wort zum Text – Studien zur deutschen Sprache und Kultur. Festschrift für Professor Józef Wiktorowicz zum 65. Geburtstag, Warschau, 391-401. Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno (1997), Grammatik der deutschen Sprache, Berlin, New York.
Diachronie
Wie wurde Deutsch OV? Zur diachronen Dynamik eines Strukturparameters der germanischen Sprachen
Hubert Haider (Salzburg)
1. Das Rätsel Ausgangspunkt ist der rätselhafte Auslöser der syntaktischen Ausdifferenzierung der modernen germanischen Sprachen, dessen Resultat nun zwei syntaktisch deutlich kontrastierende Sprachgruppen sind; die eine VO und die andere OV. Die heutigen nordgermanischen Sprachen (Dänisch, Faröisch, Isländisch, Norwegisch, Schwedisch, und alle regionalen Varietäten) sowie das von nordgermanischen und französischen Kontakten beeinflusste Englisch sind strikte VO-Sprachen. In strikten VO-Sprachen sind alle phrasenbildenden Kategorien linksperipher, das heißt, der Kern der Phrase geht den abhängigen Elementen voran.1 Die westgermanischen Sprachen (z.B. Afrikaans, Deutsch, Friesisch, Letzeburgisch, Niederländisch, Schwyzertütsch, und alle regionalen Varietäten) hingegen sind OV-Sprachen, das heißt, die Position des Verbs als Kern der Verbalphrase ist final.2 Dieser Grundkontrast (OV3 vs. VO) impliziert systematisch eine Kaskade von jeweils typabhängigen syntaktischen Folgeerscheinungen (s. Anhang). _____________ 1 2
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Englisch ist repräsentativ dafür: [give the reader a hint]VP, [conversion of waste into fuel]NP, [into fuel]PP, [unrelated to German]AP, [the book]DP, [that this is so]CP, ... Final ist die Grundposition des Verbs. Darüber gelagert ist die pangermanische V-2Eigenschaft: Das finite Verb, und nur das finite Verb, steht im Deklarativsatz an zweiter Stelle, d.h. unmittelbar hinter der ersten Konstituente. Die germanischen OV-Sprachen sind keine strikten OV-Sprachen, wie etwa Japanisch oder Türkisch. Im strikten Typ sind alle phrasenbildenden Elemente rechtsperipher, d.h. alle Phrasen sind kopf-finale Phrasen. In den westgermanischen Sprachen sind ‚bloß‘ V und A finale Phrasenköpfe (VP, AP), alle übrigen phrasenbildenden Köpfe sind initial, wie in VOSprachen. Da aber VP und AP (in Kopulakonstruktionen) die Basis für den Aufbau der Satzstrukturen bilden, ergibt sich daraus, dass Sätze klare OV-Charakteristika aufweisen.
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Hubert Haider
Das Rätselhafte an dieser Situation wird deutlich, wenn man nach Ursachen im Sprachwandel sucht, die für diese Differenzierung verantwortlich gemacht werden könnten. Es werden immer noch populäre Legenden bemüht, wonach morphologischer Wandel den syntaktischen Wandel getrieben habe. Im Deutschen sei das Flexionssystem nach wie vor differenziert genug, nicht aber in Sprachen wie Dänisch, Schwedisch, Norwegisch oder auch im Englischen. In den genannten skandinavischen Sprachen beschränkt sich die Verbalflexion bekanntlich auf die Unterscheidung von Präsens, Präteritum und Infinitiv, ohne irgendeine Person- oder Numerusdifferenzierung. Kasusmorphologie existiert auch nicht. Das genau sei der Auslöser für die Entwicklung zur SVO-Wortstellung, da in letzterer die Subjektsposition durch die Wortstellung klar von der Objektsposition zu unterscheiden sei und damit die strikte Wortstellung die Funktion übernehme, die im Deutschen durch die Kongruenz- und Kasusmorphologie geleistet werde, nämlich die Markierung der jeweiligen Satzgliedfunktionen. Um festzustellen, dass diese plausibel klingende Geschichte keinerlei Erklärungswert beinhaltet, genügt es, sich den Status der grammatischen Morphologie in den germanischen Sprachen insgesamt kurz zu vergegenwärtigen. Unbestreitbares Faktum ist, dass die beiden germanischen Sprachgruppen – die VO-Gruppe und die OV-Gruppe – sich nicht konsistent nach morphosyntaktischen Kriterien sortieren lassen. Jede der beiden Gruppen enthält Sprachen mit einem reichlich differenzierten morphologischen Inventar, und jede der beiden Gruppen enthält morphosyntaktisch ‚insuffiziente‘ Mitglieder: Zu den Sprachen, die den morphologischen Reichtum der älteren Sprachstufen gut konserviert haben, gehören Isländisch (strikt VO) und Faröisch (strikt VO) einerseits, und Deutsch (OV) andererseits. Morphologiearme Sprachen, was die grammatische Morphologie anlangt, sind sicher die oben genannten kontinentalskandinavischen Sprachen (allesamt VO), aber auch Niederländisch (OV), und, noch extremer, Afrikaans (OV). Dessen Flexionsdefizit entspricht genau dem einer kontinentalskandinavischen Sprache. Nichtsdestoweniger ist Afrikaans OV,4 und nicht VO, und andererseits haben Isländisch und Faröisch sich trotz reichhaltigster Morphosyntax und trotz ihrer abgeschiedenen Inselexistenz _____________ 4
Dies darf umso mehr verwundern, als Afrikaans ja ursprünglich keiner Normierung unterworfen war, und sich gleichsam in freier Wildbahn entwickeln durfte. Wenn Morphologiemangel eine treibende Kraft wäre, hätte sie alle Chancen gehabt, im Süden Afrikas in weiter Ferne vom sprachlichen Mutterland der Niederlande ihre Wirksamkeit zum Wohle der syntaktischen Strukturierung zu entfalten. Sie tat es aber nicht. Also ist anzunehmen, dass es sie gar nicht gibt, oder dass sie so schwach ist, dass sie jedenfalls nicht für den syntaktischen Wandel in den skandinavischen Sprachen haftbar gemacht werden kann.
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zu strikten VO-Sprachen entwickelt. Es ist somit offensichtlich nicht die Erosion des morphosyntaktischen Inventars, die den Treibsatz des Wandels liefert. Die Spaltung der germanischen Sprachengruppe in eine OVund eine VO-Gruppe entspringt keinem Drift als Folge eines kompensatorischen Wandels der Satzstruktur. Was aber ist es dann? Was war die Situation vor der Spaltung? Vom heutigen Zustand her betrachtet sind grundsätzlich zumindest drei verschiedene Szenarien alternativ möglich. Die erste Möglichkeit ist, dass eine Gruppe der Fortsetzer eines innovativen Dialekts ist, der sich aus der Grundsprache entwickelte, und die heutigen zwei Gruppen die Fortsetzer des konservativen und des innovativen Dialekts sind. Dies entspräche dem Szenario 1. oder 2. Die andere Möglichkeit ist die, dass die Grundsprache keinem der heutigen zwei Typen entsprach und beide Gruppen Fortsetzer von jeweils einem Dialekt als Protovarietät für die weitere Entwicklung in die zwei Gruppen sind, und die Dialekte durch Dialektspaltung aus der Grundsprache hervorgegangen sind. Dies ist Szenario 3. 1. SOV, mit Abspaltung zu SVO?
(Innovation im nordgermanischen Dialekt?)
2. SVO, mit Abspaltung zu SOV?
(Innovation im westgermanischen Dialekt?)
3. XVX, mit Wandel zu OV und VO?
(postgermanische Innovation?)
Szenario 1. und 2. sind sehr unwahrscheinlich. Was die alten Texte zeigen, lässt unschwer erkennen, dass die altgermanischen Sprachen weder Sprachen des heutigen germanischen OV-Typs noch des VO-Typs waren. Sie haben syntaktische Struktureigenschaften gemeinsam, die weder dem heutigen OV-Typ noch dem heutigen VO-Typ entsprechen. Wie kommt es dann aber dazu, dass die zwei Gruppen wie Varianten einer forced choice, d.h. einer entweder-oder Entscheidung, aussehen? Es sind nämlich nicht irgendwelche syntaktischen Eigenschaften, in denen sich die zwei Gruppen unterscheiden,5 sondern präzise Eigenschaftsbündel, die genau der Entwicklung in den OV- und den VO-Typ entsprechen (s. Anhang).
_____________ 5
Ein Beispiel dafür bieten die romanischen Sprachen. Alle sind OV. Daneben gibt es ‚querbeet‘ laufende Unterschiede. Z.B. gibt es eine Gruppe mit der Null-Subjekt-Eigenschaft (Beispiel: Italienisch) und eine, der diese Eigenschaft fehlt (Beispiel: Französisch). Andererseits gibt es Varietäten mit Clitic-doubling (Objektklitikum trotz vorhandenen Objekts; Beispiel: Spanisch), und solche, die das nicht zulassen (z.B. Französisch).
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Bleibt somit als wahrscheinliches Szenario die Situation 3.: OV und VO sind die verschränkten Partner6 in einer syntaktischen Entwicklung, die ihren Ausgang nahm von einem Typ, der weder OV noch VO war, und als Aufspaltungsoption genau die zwei Möglichkeiten anbot. Gesucht ist somit eine geeignete und empirisch absicherbare syntaktische Modellierung von 3. Den Anhaltspunkt dafür liefert eine germanische Sprache, die als lebendiges Mittelalter betrachtet werden darf, nämlich Jiddisch.
2. Jiddisch – der weiße Rabe Dem kundigen Leser wird nicht entgangen sein, dass in der Auflistung der germanischen Sprachen im vorangehenden Abschnitt eine Sprache fehlt, die nicht fehlen darf. Es ist Jiddisch. Jiddisch ist ein sprachhistorischer Glücksfall, denn es bildet den missing link für die anstehende Problematik. Die kritische syntaktische Eigenschaft des Jiddischen wird in folgender Frage akut: Ist Jiddisch eine OV- oder VO-Sprache? Die Antwort ist strittig. Genau das ist der Punkt, um den es hier geht. Sie ist deswegen strittig, weil Jiddisch weder genau den OV-Eigenschaften des Deutschen entspricht, noch genau zu den VO-Eigenschaften wie im Isländischen oder Englischen passt. Das führte zu einer Kontroverse, in der Jiddisch entweder zu einer Variante von VO (vgl. Diesing 1997), oder einer Variante von OV (vgl. Geilfuß 1991) erklärt wurde. Hier ist ein repräsentatives Beispiel für die ambivalente Typzuschreibung. Alle drei Abfolgen in (1) sind mögliche Abfolgen. (1a) [X Y V°]VP (1b) [V° X Y]VP (1c) [X V° Y]VP
Max hot [Rifken dos buch gegebm] Max hot [gegebm Rifken dos buch] Max hot [Rifken gegebm dos buch]
Die Abfolge (1a) entspricht wortwörtlich einer deutschen Abfolge. (1b) ergibt, wenn man die entsprechenden englischen Wörter einsetzt, einen perfekten englischen Satz. (1c) aber passt weder zu Englisch noch zu Deutsch. Das eröffnet zwei konkurrierende Deutungsmöglichkeiten. Für Diesing (1997) ist (1b) die typ-konforme VO-Abfolge. (1a) und (1c) ergäben sich in ihrer Sicht durch einen Voranstellungsprozess, den sie mit der Deutschen Abfolgevariation im Mittelfeld vergleicht. Somit ist Jiddisch für sie eine VO-Sprache mit einem zusätzlichen syntaktischen Prozess, der _____________ 6
Das ist eine terminologische Anleihe aus der Physik (‚verschränkte Teilchen‘). ‚Verschränkte Partner‘ meint zwei Grammatikvarianten, die sich aus einer Grundvariante dadurch ergeben, dass ein einziger Faktor vorliegt, der nur eine binäre Wertbelegung zulässt. Aus der Belegungsalternative ergeben sich genau zwei Systeme, die sich bloß in der Wertbelegung dieses Faktors unterscheiden.
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(1c) und (1a) als Varianten von (1b) liefert. Problematisch an dieser Analyse ist, dass es keine unabhängige Bestätigung dafür gibt, dass irgendeine VO-Sprache diese postulierten Umstellungen zuließe. Vikner (2002) weist ausführlich nach, dass Jiddisch insgesamt die typischen Eigenschaften von OV-Sprachen7 aufweist, nicht aber die von VOSprachen. Was nicht ins Bild passt, ist die Wortstellungsvariation im Satz, wie in (1b) und (1c). Wenn nämlich Jiddisch ein OV-Typ wäre wie Deutsch, müsste (1a) die typkonforme Abfolge sein, und (1b, c) müssten abgleitet werden durch Nachstellung von nominalen Satzgliedern. Genau das ist aber in den germanischen OV-Sprachen ausgeschlossen. Nachgestellt werden nämlich gerade keine nominalen Argumente, sondern eingebettete Sätze oder Präpositionalphrasen. Nominalausdrücke werden nur als Adverbiale nachgestellt, oder in Sonderfällen als Nachstellung von sehr ‚gewichtigen‘ Phrasen,8 was als heavy NP shift bekannt ist. Die putativ nachgestellten Phrasen in (1b, c) sind sicher nicht ‚heavy‘. Wer hat recht? In dieser Situation liegt die Lösung darin, zu erkennen, dass und warum keine der beiden Sichtweisen recht haben kann. Jiddisch ist nämlich weder VO noch OV. Es ist ein dritter Typ, dessen unmittelbar verknüpfte Varianten VO und OV sind. Jiddisch ist zwar damit singulär unter den derzeitig gesprochenen germanischen Sprachen, der Typus selbst ist aber keineswegs singulär. Um dies verständlich machen zu können, ist es nötig, kurz zu explizieren, was den VO-, und was den OVTypus ausmacht, und wie der dritte Typus sich dazu verhält.
3. OV, VO und das Dritte Die sachdienlichen Ausführungen in diesem Abschnitt beschränken sich auf das für das Verständnis nötige Minimum an Information. Ausführliche Argumentation und empirische Begründung sind nachlesbar in Haider (1992 / 2000, 2005 und 2009). Die Struktureigenschaften von kopf-finalen und kopf-initialen Phrasen ergeben sich aus folgenden Axiomen: A1: Phrasen sind binär strukturiert und endozentrisch. A2: Phrasen sind im internen Aufbau universell links-geschichtet: [ X [ Y [ (...) h° (...)]]] _____________ 7 8
U.a.: Auxiliarabfolge, Variation in den Auxiliarabfolgen, Partikel-Verbabfolge, keine Kongruenz von Subjekt und adjektivischem Prädikat. Typisches Beispiel sind Ansagen am Bahnsteig: „Achtung, auf Gleis drei fährt ein [der ICE aus Frankfurt nach München mit Planankunft um ....]“.
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A3: Phrasenköpfe haben eine parametrisierte, kanonische Lizenzierungsrichtung. A4: Die Argumente des Phrasenkopfes müssen streng lizenziert sein. Ein Argument A ist streng lizenziert durch den Kopf der Phrase h°, gdw. a. A (oder eine Projektion / ein Kettenglied von) h° einander minimal und wechselseitig c-kommandieren, und b. die Position von A in der Phrase von h° sich in der kanonischen Domäne9 von h° befinden. Aus diesen Annahmen folgt, dass sich die unterschiedlichen Eigenschaften von OV- und VO-Strukturen letztlich aus A4 ableiten lassen. Der Phrasenkopf befindet sich an der tiefsten Position, oder, anders formuliert, der Aufbau einer Phrase beginnt mit dem Kopf, der sich mit einer Phrase verbindet, an die schrittweise weiter Phrasen angelagert werden, aber nur nach links, was aus (A2) folgt. Hier ein Beispiel einer deutschen VP (2a-c), und eingebettet in einem finiten, eingeleiteten Satz in (2d). (2a) (2b) (2c) (2d)
[etwas verzeihen]VP [jemandem [etwas verzeihen]]VP [Subjekt [jemandem [etwas verzeihen]]]VP [dass [jeder [jemandem [etwas verzeiht]]]VP]
Das Verb lizenziert in (2) nach links, und der Phrasenaufbau erfolgt gemäß A2 ebenfalls nach links. Daher ergibt sich ein geschichteter Aufbau, in dem das Verb oder eine seiner Projektionen die jeweils angelagerte Phrase in der kanonischen Richtung, nämlich links, vorfindet. In kopf-initialen Phrasen gestaltet sich der Aufbau ebenso zwangsläufig, wirkt aber komplizierter, weil in diesem Fall die Lizenzierungsrichtung nach rechts gegenläufig zum Aufbau gemäß A2 ist. Betrachten wir ein Beispiel: (3a) (3b) (3c) (3d) (3e)
[forgive something] [someone [forgive something]] [forgive [someone [forgive something]]] [Subjekt [forgive [someone [forgive something]]]] [that [everybody [forgives [someone [forgive something]]]]]
In (3a) befindet sich das Objekt in der geforderten Lizenzierungsrichtung. Wird nun gemäß A2 das indirekte Objekt angelagert, so muss es links _____________ 9
Die kanonische Domäne von h° oder einer Projektion von h° ist der c-KommandoBereich von h° in der kanonischen Richtung.
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angelagert werden (3b). Damit ist es aber nicht auf der kanonischen Seite für einen Kopf, der nach rechts lizenziert. Die Antwort der Grammatik darauf ist in (3c) angegeben: Der Kopf muss neuerlich instantiiert werden, und zwar links davon (3c). Da es aber nur ein einziges Verb als Kopf gibt, bleibt die ursprüngliche Position leer. Es sei denn, das Verb ist ein Partikelverb. In diesem Fall kann die Partikel an der ursprünglichen Verbposition verharren, was zu der für Deutschsprecher(innen) erstaunlichen Partikelposition zwischen indirektem und direktem Objekt im Englischen führt (4): (4a) Valerie [packedi [her daughter [ei-up a lunch]]] (Dehé 2002, 3) (4b) Susan [pouredi [the man [ei-out a drink]]] Partikelzusätze von Verben sind, wie auch das Deutsche zeigt, stets dem Verb benachbart, können aber durch Umstellung des Verbs von diesem getrennt werden. Im Deutschen passiert dies dann, wenn das Verb in der V2-Position zu stehen kommt. Susanne gossi dem Mann ein Getränk ein-ei Im Englischen, und in allen VO-Sprachen, die optional Partikelabspaltung erlauben (z.B. Norwegisch und Isländisch), zeigt die aus OV-Perspektive eigenartig anmutende Partikelpositionierung in (4) an, dass sich zwischen den Objekten eine Verbposition befinden muss, an der die Partikel zurückgelassen werden kann. Dass das Verb in einer VP selbst nie in dieser Position zu finden ist, erklärt sich aus der zwangsweisen Voranstellung, in Erfüllung von A4, b. Schließlich wird auch das Subjekt angelagert (3d). Diese Struktur (3d) ist die Struktur einer SVO-Sprache. In einer VSO-Sprache würde das Verb noch einmal instantiiert werden, wonach sich dann alle Argumente, inklusive Subjekt, in der kanonischen Domäne befinden. In einer SOV-Sprache befinden sich ebenfalls alle Argumente in der kanonischen Domäne (2c). Das Subjektsargument einer SVO-Sprache hingegen befindet sich zwar in der VP, ist aber nicht kanonisch lizenziert (3d). Dazu bedarf es eines zusätzlichen Kopfes, wie in der AcI-Konstruktion (6a), in der richtigen Richtung, oder das Subjektsargument wird in die Spec-Position einer funktionalen Projektion gebracht, deren funktionaler Kopf die ursprüngliche Position lizenziert (6b). (6a) let → [VP Susan [pouri [the man [ei-out a drink]]]] (6b) [IP Susanj [I° has → [VP ej [pouredi [the man [ei-out a drink]]]]]] Eine Konsequenz dieser Umstände ist folgende Eigenschaft von SVOSprachen. Die funktionale Subjektsposition ist obligatorisch. Ist kein Argument vorhanden, muss sie mit einem Expletivum besetzt werden. Auf
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eine OV-Sprache trifft das nicht zu. Deutsch beispielsweise verbietet ein Expletivum in subjektlosen Passivsätzen (7b, d), während dieses in den skandinavischen Sprachen (7a, c) mandatorisch ist. Ebenso wenig erlaubt Deutsch ein Expletivum in der Präsentativkonstruktion, die in den skandinavischen Sprachen und dem Englischen mit einem Expletivum konstruiert wird. (7a) að */??(Það) hefur verið dansað dass (EXPL) hat gewesen getanzt (7b) daß (*es) getanzt wurde (7c) Í dag er *(Það) komin ein drongur heute is (EXPL) gekommen ein Junge (7d) Heute ist (*es) ein Junge gekommen
Isländisch Faröisch
Fassen wir zusammen: kopf-finale und kopf-initiale Phrasen unterscheiden sich, was die Strukturprinzipien anlangt, lediglich im Richtungsparameter. Dieser Unterschied hat allerdings Folgen bei der Implementierung. Eine komplexe kopf-initiale Struktur, im Unterschied zu einer kopffinalen, erfordert die mehrfache Instantiierung des Kopfes (8a). (8)
a. kopf-initiale VP:10
b. kopf-finale VP:
… VP
… VP
Vi°
XP
VP
XP
V´
vi°
V´
YP
V°
YP
Außerdem ergibt sich zwangsläufig, dass die kopf-initiale VP kompakt ist, nicht aber die kopf-finale. Dies impliziert, dass die Objekte nicht durch Adverbien getrennt werden können (9a) und dass Objekte nicht umgestellt werden dürfen (9b). In beiden Fällen ist die Minimalitätsbedingung _____________ 10
In den Spitzklammern sind die Argumentstellen angegeben, die in die syntaktische Struktur projiziert werden. Die durchgestrichene Stelle bedeutet, dass sie bereits abgearbeitet ist, d.h. in die Struktur eingefügt wurde.
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von A4, a die Ursache. Sowohl das Adverb in (9a), wie auch das aus seiner Grundposition umgestellte Objekt zerstört die minimale c-KommandoRelation. Das Verb in (9a) c-kommandiert minimal das Adverb oder das umgestellte Objekt in (9b), nicht aber das lizenzierungsbedürftige Argument. (9a) He showed (*voluntarily) the students (*secretely) the solution (9b) *He [showedj [the appartmenti [ej the guests [ej ei]]] In einer kopf-finalen Phrase tritt dieses Problem nicht auf, da stets eine Verbalprojektion als Schwesterknoten der links angedockten Phrase auftritt (s. 8b). Im Deutschen ist daher die VP nicht kompakt und außerdem können die Argumente umgestellt werden: (10a) Er hat [den Studenten [freiwillig [die Lösungen gezeigt]]] (10b)Er hat [den Studenten [die Lösungen [freiwillig gezeigt]]] (10c) Er hat [die Lösungeni [den Studenten [ei [ freiwillig gezeigt]]]] Wie passt Jiddisch in dieses Bild? Jiddisch repräsentiert den dritten Typus, der sich dann ergibt, wenn die kanonische Richtung nicht spezifiziert ist. In diesem Fall gibt es die Möglichkeit, kopf-final zu konstruieren, wie im Deutschen (11a), oder kopf-initial, wie im Englischen (11b), oder auf eine dritte Weise (11c). (11a) Max hot [Rifken [dos buch gegebm]]VP (11b)Max hot [gegebm Rifken [ei dos buch]]VP (11c) Max hot [Rifken [gegebm dos buch]]VP Die dritte Weise (11c) startet mit Lizenzierung nach rechts, wie Englisch, und setzt fort mit Lizenzierung wie Deutsch, nämlich nach links. Das Ergebnis ist die Sandwich-Stellung des Verbs, zwischen indirektem und direktem Objekt. Es ist diese Abfolge, an der sich der dritte Typ zu erkennen gibt. Die ersten beiden Möglichkeiten sind die OV-artige und die VO-artige Konstruktion. Daraus erklärt sich auch, warum Jiddisch missverständlich als OV-Sprache oder als VO-Sprache angesehen werden konnte. Ist der Wert für die kanonische Richtung spezifiziert, wie das in VO oder OV der Fall ist, dann kann die Sandwich-Abfolge eben gerade nicht auftreten. Hier nun liegt der Schlüssel zum Verständnis des germanischen OV / VO-Rätsels. Die älteren germanischen Sprachen sind vom dritten Typ. Die Dialektspaltung ist das Ergebnis des Wechsels von der Unterspezifikation des Richtungsparameters hin zur Spezifikation. Spezifikation bedeutet die Festlegung auf einen möglichen Wert. Da es nur zwei Werte gibt (‚davor‘, ‚danach‘), ist die Dialektspaltung die Folge der Wahl des komplementären Parameterwertes.
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4. Ältere germanische Sprachen sind vom dritten Typ Hier seien einige Belegstellen quer durch die ältere Germania aufgeführt, die das Sandwich-Muster zeigen, und damit die Bestätigung liefern, dass der dritte Typ vorliegt. Man findet dieses Muster in allen älteren germanischen Sprachen. Beispielsbelege 1 – Altenglisch (nach Fisher / van Kemenade / Koopman / van der Wurff 2000, 51): (12a) Se mæssepreost sceal [mannum [bodian þone soþan geleafan]]VP (Ælet 2 (Wulfstan 1) 175) Der Priester muss den Leuten predigen den wahren Glauben (12b)þæt hi [urum godum [geoffrian magon ðancwurðe onsægednysse] (ÆCHom I, 38.592.31) dass sie unserem Gott opfern mögen dankbares Opfer (12c) Ac he sceal [þa sacfullan gesibbian] (Ælet 2 (Wulfstan 1) 188.256) aber er muss die Streitenden versöhnen (12d) Se wolde [gelytlian þone lyfigendan hælend] (Ælet 2 (Wulfstan 1) 55.98) Er wollte erniedrigen den lebendigen Heiland In (12a) und (12b) liegt die gesuchte Mittelstellung des Verbs vor. Das indirekte Objekt geht voran, das direkte Objekt folgt. In (12c) ist das Verb in der VP kopf-final, in (12d) ist es kopf-initial. Laut Fisher u.a. (2000, 172) zog sich die Fixierung des VO-Musters (d.h. der Wandel hin zu einem fixen Richtungswert) vom 13. bis zum 15. Jh. hin. Ein deutlicher Indikator ist die Partikelpositionierung. Im Mittelenglischen erst sind mehr als 85 % aller Partikelvorkommen postverbal, so wie im heutigen Englischen. Laut Pintzuk / Taylor (2006) betrug der Anteil an echten OV-Abfolgen (d.h. in Sätzen mit nicht-finitem Hauptverb) vor 950 58,5 %, ging bis 1150 auf 51,7 % zurück, um danach stark abzufallen (29,7 % zwischen 1150-1250). Ab 1350 (4,3 % OV) darf von strikter VO Struktur ausgegangen werden. Beispielsbelege 2 – Althochdeutsch (Notker, aus Schallert 2006, 139 u. 142): (13a) áz sie [nîoman [nenôti des chóufes]] (NB 22,13) dass sie niemand NEG-nötigten des Kaufes (13b)tánne sie [búrg-réht [scûofen demo líute]] (NB 64,13) dass sie Burgrecht gewährten dem Volk (13c) Úbe dû [dero érdoDAT [dînen sâmenAKK beuúlehîst]] (NB 47,4) ob du [der Erde [deinen Samen gibst]]
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(13d) Tisêr ûzero ordo [...] mûoze [duingeni [mit sînero unuuendigi [ei [diu uuendigen ding]]]] (NB 217,20) diese äußere Ordnung muss bezwingen mit seiner Unwandelbarkeit die unwandelbaren Dinge Die Belege unter (13) illustrieren alle Stellungsmuster des dritten Typs. (13a) und (13b) haben das Verb in der Position zwischen den Objekten. (13c) ist kopf-final, und (13d) kopf-initial. Beispielsbelege 3 – Älteres Isländisch (Hróarsdóttir 2000; Schallert 2006, 157f.): (14a) hafer Þu [Þinu lidi [jatat Þeim]] hast Du deine Hilfe versprochen ihnen (14b)hefir hann [ritað sýslungum sínum bréf] hat er geschrieben Landsleuten seinen (einen) Brief (14c) Því eg get ekki [meiri liðsem [Þér veitt]] da ich kann nicht mehr Hilfe dir bieten Auch hier zeigt sich das gleiche Bild, nämlich die Triade von Mittelstellung (14a), kopf-initialer Stellung (14b), und kopf-finaler Stellung in (14c). Auch hier zeigt sich der unterspezifizierte Richtungsparameter bei der Lizenzierung der Phrasen durch den Kopf innerhalb seiner Projektion. Insgesamt entspringt die Wortstellungsfreiheit der älteren germanischen Sprachen zwei Hauptquellen. Einerseits ist es die fakultative Positionierung des Verbs in kopf-finaler, kopf-initialer, und intermediärer Position als Systemeigenschaft des dritten Typs, und anderseits ist es die für OV-Sprachen typische Variation der Abfolge der Argumente im Mittelfeld dank der nicht kompakten Organisation der links-lizenzierend aufgebauten Phrasen.
5. Auf dem Weg zu OV / VO Die Entwicklung hin zum Zustand mit fixiertem Richtungswert und der damit verbundenen Aufspaltung in OV und VO zog sich ganz offenbar über einige Generationsspannen hin und war keineswegs in den älteren Sprachstufen abgeschlossen. Was Deutsch anlangt, war Mittelhochdeutsch offenbar noch immer eine Sprache mit unterspezifiziertem Richtungswert. Das zeigt sich im Jiddischen, als Fortsetzter einer mittelhochdeutschen Grammatik, und ebenso in anderen mittelhochdeutschen Varietäten. Prell (2003, 245) formuliert das so: Im mhd. Aussagesatz steht das finite Verb im Nhd. prinzipiell an zweiter Stelle (V2), im eingeleiteten Nebensatz jedoch nicht unbedingt an letzter, sondern lediglich
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später als an zweiter Stelle. [...] Die absolute Endstellung tritt nach 1250 in über 65% aller eingeleiteten Nebensätze auf.
Der springende Punkt dabei ist, dass nominale Objekte dem Verb folgen können (Prell 2003, 246): (15) So wirt dir [vergeben von got din missetat] (Hoffmannsche Predigtsammlung) Das nicht-finite Verb geht fakultativ nominalen Objekten voran, wie das für den dritten Typ typisch ist. Die entscheidende Frage ist daher folgende. Wie kommt es, dass eine Reihe einzelsprachlicher Entwicklungen auf denselben Typ hin konvergiert und damit einer ganzen Sprachgruppe zukommt? Mit anderen Worten, wie kommen beispielsweise Sprecher(innen) des frühen Mittelenglischen und des frühen Mittelisländischen unabhängig voneinander zum selben Zustand ihrer jeweiligen Grammatik, nämlich einer mit fixiertem Richtungswert für den VO-Typ? Die analoge Frage stellt sich für die Sprachen des OV-Typs. Es muss einerseits möglich gewesen sein, dass eine innovative Variante neben der etablierten koexistieren konnte, und es muss ein syntaktischer Umstand als Drift im Sinne Sapirs (1921) dingfest gemacht werden, der eine allmähliche Präponderanz in Richtung OV (beziehungsweise VO) als der innovativen Variante bewirkte. Anderenfalls ist es nicht verständlich, wie der Wandel in Richtung fixer Direktionalität sich konvergent und sprachenübergeifend durchsetzen konnte. Der fragliche Faktor findet sich in einer zweischneidigen Auswirkung des Richtungsparameters. Einerseits regelt er die Position des Kopfes relativ zu den vom Kopf abhängigen Phrasen, und andererseits regelt der Richtungsparameter indirekt die Verbabfolge in Sätzen mit Auxiliaren und Quasi-Auxiliaren (z.B. Modal- und Kausativverben), da auch diesen Verben eine Selektionsrichtung zukommt. In VO-Sprachen ist die Abfolge der Verben im einfachen Satz ausnahmslos die, die dem Richtungsparameter entspricht. Es gibt keine andere Abfolge. (16) ist ein Beispiel dafür: (16) Surely, you [VP must → [VP have → [VP been → [VP joking]]]] Der Richtungsparameter wirkt sich auf die Verbabfolge dadurch aus, dass Verben andere Verb(phras)en selegieren. (17) illustriert die Situation im heutigen Englisch. Jedes Auxiliarverb selegiert eine VP, die in der kanonischen Richtung lizenziert wird. Daraus folgt zwangsläufig, dass die abhängige VP, und somit das abhängige Verb dem selegierenden Verb folgt.
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(17a) must → [VP V ....] (17b)have → [VP V ....] (17c) must → [VP have → [VP V ....]]] Betrachten wir nun den Reanalysefall in der Koexistenzperiode. Das ist jenes Muster, das sowohl mit der ‚alten‘ Grammatik als auch mit der ‚neuen‘ Grammatik kompatibel ist und so den allmählichen Wandel ermöglicht. Dabei ist mitzubedenken, dass in den (germanischen) OV-Sprachen eingeschachtelte VPs eine Struktur mit Zentraleinbettung ergäben, weil sie als linke Komplemente eingebettet wären. Das wird strikt gemieden. Stattdessen wird ein Verbalkomplex (d.h. eine Konstituente, bestehend aus den Verben allein) gebildet. Für Details sei auf Haider (2003 und 2009, Kapitel 7) verwiesen. In (18a) fehlt daher das Muster [VP [V XP]VP Aux]. Es ist unzulässig, weil die VP-Einbettung unstatthaft ist. Es wird obligat ein Verbalkomplex gebildet und in diesem sind die Verben benachbart. Daher gibt es keine Möglichkeit, dieses Muster auf grammatische Weise zu erzeugen. Die Fakten bestätigen dies. (18a) [Aux [V XP]], [Aux [XP V]], [XP [V Aux]] (18b)[Aux [V XP]VP]VP
‚alt‘ ‚neu‘
In einer Sprache mit Phrasenaufbau des dritten Typs sind alle Abfolgen in (18a) zulässig. Sie ergeben sich aus dem frei bestimmbaren Wert für die Lizenzierungsrichtung. Unter den drei möglichen Mustern ist das erste identisch mit dem Muster (18b), also dem VO-Muster. Die Grammatik für (18b) ist zumindest einfacher als die für (18a). Erstens weist sie einen einzigen Richtungsfaktor auf, der für alle Komplemente der Verben einheitlich gilt. Zum Zweiten ist die Auswahl auf ein einziges Strukturmuster reduziert. Das allein kann aber noch nicht ausreichend sein, denn es sind eben nicht alle germanischen Sprachen in den strikten VO-Typ gewechselt. Was ergab den Anstoß in die VO-Richtung? Es ist der Beitrag der Voranstellung des finiten Verbs (i.e. die germanische V2-Eigenschaft). Dadurch ergibt in vielen Fällen das erste und dritte Muster von (18a) eine identische Abfolge. Wenn nun auch im eingeleiteten Nebensatz eine Finitumstellung möglich ist, wie das in allen modernen skandinavischen Sprachen der Fall ist, dann gibt es insgesamt eine sehr hohe Frequenz der Abfolgen in (19). (19a) [Auxfinit-i [V XP ei]] (19b)[Auxfinit [V XP]]
drittes Muster aus (18a) erstes Muster aus (18a), sowie (18b)
Es ist die Präponderanz dieser Muster, was sich als konstanter Driftfaktor zugunsten von (19b) ausgewirkt haben mag, und die für die VOEntscheidung relevante Richtungsfestlegung begünstigte. Aus der alten
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Grammatik spaltete sich eine neue ab. Die Koexistenz der alten und neuen Grammatik änderte sich allmählich zugunsten der Ausbreitung der neuen Grammatik mit fixer Richtungsfestlegung und (19b) als dem einzigen Muster, durch die abnehmende Frequenz der anderen Muster. Bleibt nun die Frage, wie es andererseits zu einem Drift in Richtung des OV-Typs kommen kann. Auch hier dürfte die Abfolgevariation in Sätzen mit Auxiliar- und Quasi-Auxiliar-Verben eine entscheidende Rolle spielen. Auffällig ist zum Ersten, dass in den germanischen OV-Sprachen, anders als in den VO-Sprachen (21), in eingeleiteten Sätzen keine Hauptsatzwortstellung11 möglich ist. Auffällig ist auch, dass in den germanischen VO-Sprachen die direkte Einbettung eines Satzes mit Hauptsatzwortstellung nicht zulässig ist (vgl. Vikner 1995). Es muss ein eingeleiteter Satz sein. Im Deutschen ist es genau umgekehrt, wie (20a) im Vergleich zu (20c) belegt. (20a) Man sagt, diese Verbstellung sei gut möglich (20b)Man sagt, dass diese Verbstellung gut möglich sei (20c) *Man sagt, dass diese Verbstellung sei gut möglich (21a) He said *(that) [never before] has he read such a good article (21b)Han sagde *(at) [aldrig før] havde han læst sådan en god artikel Dänisch (21c) *er sagt, (dass) [nie zuvor] hatte er gelesen solch einen guten Artikel Die Existenz der satzinternen V2-Abfolge deutet darauf hin, dass es schon vorher diese Linksstellung gab, die die Linksstellung der nicht-finiten Verben im dritten Typ verstärkte und eine Frequenz von Linksstellungsmustern ergibt, die die Reanalyse zu fixer Linksköpfigkeit begünstigte. Was muss der Fall sein, damit sich eine Bevorzugung der Muster ergibt, die zur Fixierung auf Rechtsköpfigkeit führte? Die Antwort findet sich in einer Eigenschaft, die alle OV-Sprachen gemeinsam haben, nämlich die Bildung von Verbalkomplexen. Diese Eigenschaft ergibt sich aus der Vermeidung von Zentraleinbettung von eingebetteten VPs (22a), analog zu (16) in VO. In OV-Sprachen weisen alle Indizien auf eine Struktur wie in (22b) hin (vgl. Haider 2003): mehrgliedriger Verbalkomplex anstelle von zentraleingebetteten VPs.
_____________ 11
Hauptsatzwortstellung = besetztes Vorfeld und finites Verb in der linken Klammer. Einzige Ausnahme ist Friesisch, wo es V2-Muster in eingeleiteten Sätzen gibt. Ob dies eine Neuerung ist oder nicht, ist unklar (vgl. De Haan / Weerman 1986).
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(22a) dass [er [ VP [VP [VP [VP das Problem gelöst] haben] müssen] würde]] (22b)dass [er [VP das Problem [[[gelöst haben] müssen] würde]] In (22b) gibt es eine einzige VP, und nicht eine Kaskade von vier VPs (22a). Auf diese Weise wird das Problem vermieden, das kopf-finale Einbettungen beinhalten, nämlich das von Zentraleinbettung gleicher Konstituenten. (22a) ist extrem parserunfreundlich, denn es ist für den Parser nicht möglich, die Anzahl der zu öffnenden VP-Knoten zu bestimmen ohne das Satzende zu kennen. In VO-Strukturen tritt das Problem nicht auf, denn jede VP präsentiert dem Parser zuerst das Verb der jeweils übergeordneten VP. Das Problem (22a) wird gelöst, indem die Grammatik eine Verbalkomplexbildung anbietet. Es gibt keine geschachtelten VPs. Es gibt nur eine VP und die Verben sind im Verbalkomplex versammelt. Dieser hat zwar ebenfalls eine ungünstige, weil linksverzweigende, Struktur, doch diese ist auf einen lokalen Bereich beschränkt. Aber auch hier ‚sinnt‘ die Grammatik auf Auswege: In allen germanischen VO-Sprachen gibt es Verbstellungsvariation, die zur Reduktion der Linksverzweigung im Verbalkomplex führt: (23a) dass [er [VP das Problem [würde [[gelöst haben] müssen]] (23b)dat hij het probleem [zou [moeten [hebben opgelost]]] Niederländisch (23c) *dass er das Problem würde müssen haben aufgelöst Niederländisch hat die radikalste Umstrukturierung des Verbalkomplexes erreicht. Er erlaubt die komplette Spiegelbildanordnung zum Deutschen (23b). Damit ist der ‚Makel‘ der Linksverzweigung eliminiert. Aber im Niederländischen, wie im Deutschen, gibt es Variation in der Abfolge der Verben im Verbalkomplex. Das ist ein germanisches OV-Merkmal. In keiner VO-Sprache gibt es Variation unter den Auxiliarabfolgen, aber in jeder germanischen OV-Sprache gibt es sie: (24a) alles, was er hätte gesehen haben können (24b)alles, was er gesehen hätte haben können (24c) alles, was er gesehen haben hätte können (24d) dat hij niets kan hebben gezien Niederländisch dass er nicht kann haben gesehen (Geerts u.a. 1984, 1069) (24e) dat hij niets kan gezien hebben (24f) dat hij niets gezien kan hebben Den heutigen Varietäten des Deutschen ist gemeinsam, dass auch dann, wenn die Umstellung über den Verbalkomplex hinaus in das Mittelfeld
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hinein möglich ist, das Vollverb stets in der finalen Position verharrt und damit die Rechtsköpfigkeit der VP festhält. (25a) dass er für sie nicht hatte die Firma am Leben halten wollen12 (25b)Man hätte (halt) müssen die Polizei verständigen13 (25c) das si am Grendel wöt sine verlore chlause zruggeh14 dass sie dem Grendel wollte seine verlorene Pfote zurückgeben Dass die Verbstellungsvariation spezielle Berücksichtigung verdient, betont auch Prell (2003, 245): Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Nhd. besteht darin, dass im mehrteiligen Verbalkomplex im mhd. Nebensatz die Abfolge der Verbformen nicht fest geregelt ist. Auch hier dominiert bereits die nhd. Stellung (Infinitum vor Finitum) mit Werten zwischen 68 und 75 % pro Jahrhunderthälfte, die umgekehrte Abfolge einschließlich der Distanzstellung der Verbformen ist aber auch jederzeit erwartbar
Die folgenden Belege entnimmt Prell (2003, 245) dem Mühlhausener Reichsrechtsbuch. (26a) hivte ist der vroliche tak daz vnser herre wollte varn ze ierl’m. vn die mrter liden vmbe alle die mennischen die er heilen wolte. (Kuppitsch’sche Predigtsammlung) (26b)Hinach is beschribin daz ein iclich man hi zv mvlhusen in die richis stat sal vride habi in simmi huz (26a) ist ein Beleg mit beiden möglichen Abfolgen im Verbalkomplex im selben Satz. Der erste Satz zeigt die ‚niederländische‘ Abfolge ‚wollte farn‘ (plus Nachstellung einer Präpositionalphrase). Im zweiten Satz von (26a) liegt die Abfolge wie im Nhd. vor. In (26b) gibt es eine Voranstellung des finiten Auxiliars ins Mittelfeld hinein, aus dem Verbalkomplex heraus, wie es auch im Nhd. in Ersatzinfinitivkonstruktionen üblich ist. Nun, da wir die ‚Hauptverdächtigen‘ für den Wandel in Richtung der OV/VO-Dialektaufspaltung dingfest gemacht zu haben glauben, ist der Punkt erreicht, um die Erklärungshypothese zu fixieren. Ausgangslage ist eine Grammatik mit nicht fixiertem, d.h. unterspezifiziertem Richtungswert für die Kategorie V. Es kann alternativ nach rechts oder nach links lizenzieren. _____________ 12 13
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Zitat aus: Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Dies ist ein sehr frequentes Muster in der Wiener Umgangssprache: Das nicht-finite Modalverb geht an die Mittelfeldspitze. Es befindet sich aber nicht in der linken Klammer, zusammen mit dem finiten Verb, denn Partikel und Pronomina an der Wackernagelposition treten dazwischen: ‚Er hätt‘ sich müssen wärmere Socken anziehen.‘ Schwytzerdytsch, aus Wurmbrand (2006).
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Diese Grammatik erklärt die Tatsache, dass wir sowohl VO-Muster finden, als auch OV-Muster, aber auch Muster, die weder OV- noch VOkompatibel sind, nämlich die Sandwich-Stellung des Verbs zwischen zwei seiner Objektsaktanten. Diese Grammatik trifft für die älteren Sprachstufen zu und ist bis in die ‚mittleren Perioden‘ (Mittelhochdeutsch, Mittelenglisch, etc.) wirksam. In dieser Periode setzt ein Wandel ein. Sein Endpunkt sind Sprachen mit einer Grammatik, in der der Richtungswert für V nicht mehr unterspezifiziert, sondern fixiert ist. Da es nur zwei mögliche Werte gibt (links, rechts), ist das Resultat jeweils eine von zwei Möglichkeiten, nämlich fix rechts-lizenzierend (VO), oder fix links-lizenzierend (VO). Dieser Wandel ist aber einer, der jeweils eine ganze Gruppe einheitlich ‚infizierte‘. Das ist die noch offene Frage. Welche ‚Infektion‘ der Grammatik hat sich hier jeweils uniform auszubreiten begonnen?
6. Konvergierende Drifts? Der Wandel besteht in der Fixierung der Lizenzierungsrichtung. Die Grammatik mit frei wählbarer, weil unterspezifizierter Lizenzierungsrichtung des Verbs ändert sich zu einer mit fixierter Richtung. Da es bei dieser Fixierung eine Alternative gibt, sehen wir heutzutage zwei Grammatikfamilien. Eine ist die OV-Familie der westgermanischen Sprachen, und die andere die VO-Familie der nordgermanischen Sprache sowie Englisch. Wegen des Mangels an repräsentativ erhobenen und analysierten Daten aus detaillierten, sprachvergleichenden Recherchen zum fraglichen Sprachzustand kann hier bloß eine Konjektur formuliert werden, wie die oben formulierte Generalhypothese („von unterspezifiziert zu fixiert“) in der grammatischen Implementierung funktioniert haben kann. Hier ist sie: Der Wandel vom unterspezifizierten zum fixierten Wert hat jeweils klare Konsequenzen, die sich aus der konsequenten Implementierung und den dadurch ausgelösten Folgewirkungen ergeben. Die Implementierung als ‚fixiert auf rechts-lizenzierend‘ ergibt eine Festlegung auf die Verbabfolge 1-2-3 als relative Abfolge, und die V-Objekt-Abfolge. Diese ist in allen Fällen mit nur zwei Verben deckungsgleich mit der Variante, die sich aus der Voranstellung des finiten Verbs ergibt. Die Reanalyse wird begünstigt, wenn es die Möglichkeit der Voranstellung des Finitums auch in eingebetteten Sätzen gab, so wie in den heutigen skandinavischen Sprachen. In der Variante ‚fixiert auf links-lizenzierend‘ ergibt sich die relative Verbabfolge 3-2-1 und eine Objekt-V-Abfolge. Wiederum führt die Voranstellung des Finitums zu 1-2-Abfolgen. Entscheidend ist aber auch, dass mit der Linkslizenzierung der Ersatz von VP-Einbettung durch Verbal-
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komplexbildung verbunden ist. Das äußert sich in den Daten als Objekt-V2V1- neben einer Objekt-V1-V2-Abfolge. Begünstigt wird die Erkennbarkeit der Fixierung auf kopf-final, wenn es, so wie in den heutigen germanischen OV-Sprachen, keine Finit-Voranstellung in eingeleiteten Sätzen gibt, die die V2-V1-Abfolge maskiert, weil dann die Voranstellung von V1 als linksköpfig in vielen Kontexten nicht von der Finitvoranstellung zu unterscheiden ist. Der jeweilige nachhaltige Drift ergibt sich dadurch, dass in den fixierten Varianten der Grammatik die zulässigen Wortstellungsmöglichkeiten eine Teilmenge jener Stellungsmuster bilden, die von der Vorgängergrammatik zugelassen sind. Das führt dazu, dass die aktiv gebrauchten Muster im innovativen Dialekt eine Teilmenge des Grunddialekts sind, und die anderen Muster passiv zugelassen werden, zum Teil als tolerierte Varianten, in der Weise, wie wir uns auch heute nicht daran stoßen, wenn jemand eine Variante gebraucht, die man selbst aktiv nicht benützt. Der Grund für die Reanalyse, die überhaupt erst einen Drift begründete, liegt aber in der ‚Konkurrenz‘ zwischen Verbvoranstellung infolge der Finitumstellung (als pangermanische Eigenschaft) und den Voranstellungsvarianten infolge der Alternative zwischen Rechts- und LinksLizenzierung. Der Wandel zu fixer Lizenzierung entspricht einer grammatischen ‚Flurbereinigung‘ als Reduktion der Quellen für Verbumstellung, oder mit anderen Worten, einer Vereinfachung des Verhältnisses zwischen Linearisierung und syntaktischer Strukturierung. Es gibt viele Sprachen des dritten Typs, aber darunter sind keine Sprachen mit obligater Finitumstellung.
7. Zusammenfassung Die heutigen germanischen Sprachen sind, was die Verbalphrase betrifft, jeweils entweder kopf-final (westgermanische OV-Sprachen) oder kopfinitial (nordgermanische VO-Sprachen). Das ist Ergebnis eines syntaktischen Wandels. Der gemeinsame sprachliche Vorfahre war weder OV noch VO, sondern vom dritten Typus, nämlich unterspezifiziert hinsichtlich des Richtungswertes von V°. Der Wandel wurde nicht durch morphosyntaktischen Abbau angetrieben. Der primäre Wandel ist der von ‚unterspezifiziert‘ zu ‚spezifiziert‘ im Richtungswert des Verbums. Dieser Wandel ermöglichte zwei einander ausschließende Implementierungswege, nämlich als links-lizenzierend (OV) oder als rechts-lizenzierend (VO). Jede dieser Möglichkeiten setzt einen Drift in Gange.
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Der nachhaltige Wandel, der zur Dialektspaltung führte, wird durch die Auswirkung des jeweils fixierten Wertes auf die Verbabfolge in einfachen Sätzen mit mehreren Verben (Auxiliaren, Quasi-Auxiliaren) getragen. Die Option, die zu VO führt, besteht in der Bevorzugung der Verbvoranstellung, während die Option, die zu OV führt, eine Verbalkomplexbildung auslöst, mit Stellungsvariationen im Komplex. Was noch aussteht sind syntaxtheoretisch versierte, systematisch sprachvergleichende empirische Studien zur Korrelation zwischen den Abfolgemustern von V° und Objekt (also V-O, O-V) einerseits und den Abfolgemustern der Verben andererseits, unter Berücksichtigung und analytischer Eliminierung der maskierenden Faktoren, wie Finitumstellung im eingeleiteten Satz. Diese Studien sind unabdingbar, um die Entscheidungsgrundlage zu festigen für die hier behauptete Trennung in bevorzugte Voranstellung (und damit für den Weg zu VO) und bevorzugte Verbalkomplexbildung (und damit für den Weg zu OV). Für Altenglisch haben Van Kemenade (1987) und Koopman (1990) bereits Grundlagen erarbeitet (s. auch Fischer u.a. 2000, 28). Erst wenn eine hinreichende Datenbasis gegeben ist, lässt sich eine konklusive Argumentation erzielen.
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Anhang: Syntaktische Korrelate von OV bzw. VO Was korreliert direkt mit OV? • (nicht-finites) Verb folgt in der VP-Grundposition seinen nominalen Aktanten (abgesehen von Ausklammerungsphänomenen wie heavy NP shift): [Obj Obj V]VP – *[Obj V Obj]VP – *[V Obj Obj]VP • Abfolge der Aktanten ist variabel (‚freie‘ Wortstellung = Scrambling) • Partikel von Partikelverben ist präverbal (wenn nicht durch V-Umstellung abgespalten) • keine strukturell ausgezeichnete Subjektsposition, und daher
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keine strukturell bedingten Subjektsepletiva V+Aux-Abfolge, mit Variation (wenn es eine Sprache mit Verbvoranstellung ist) kompakter Verbalkomplex, mit Stellungsvariation der Verben im Komplex
Was korreliert direkt mit VO? • (nicht-finites) Verb geht in der VP-Grundposition seinen Objektsaktanten voraus: [V Obj Obj]VP – *[Obj V Obj]VP – *[Obj Obj V]VP • Abfolge der Aktanten ist invariabel (‚fixe‘ Wortstellung) • Partikel von Partikelverben ist postverbal • ausgezeichnete strukturelle Subjektsposition, präverbal, und daher • obligatorisches strukturelles Subjektsexpletiv • Aux+V-Abfolge, ohne Variation • kein Verbalkomplex; Adverbien auch zwischen den nicht-finiten Verben: Aux-Adverb-V • edge effect: Kopf der präverbalen Adverbialphrase muss adjazent sein zur VP (vgl. Haider 2005) Was korreliert mit dem dritten Typ XVX? • Verbposition erscheint variabel: • Es gibt neben OV- und VO-Abfolge auch die OVO-Abfolge, d.h. […. [VPObjekt [V Objekt]]] • Abfolge der Aktanten vor der satzinternen V-Position ist variabel (‚freie‘ Wortstellung = Scrambling), wie in OV (es sei denn, funktionale Positionen sind damit bestückt, wie im Ungarischen) • spezielle Subjektsposition nur dann, wenn konsequent das VOMuster instantiiert ist, und dann auch mit Expletivsubjekt (Expletiv erscheint daher, als ob es fakultativ wäre) • Aux-V-Abfolge und auch V-Aux-Abfolge (bei finitem und nichtfinitem Aux), auch in Distanzstellung • Verbalkomplexbildung ist fakultativ
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen in biblischen Textsorten vom 9. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts Franz Simmler (Berlin)
1. Forschungsstand, Problemstellung, Erkenntnisziel, Materialgrundlage Die Ermittlung von Serialisierungsregeln des Prädikats in Aussagesätzen und anderen Satzarten wird in der Althochdeutschen Syntax von R. Schrodt skeptisch beurteilt. Wegen lateinischer Vorlagen bzw. wegen der Reimverwendung entstehe das Problem, die „wirklichen“, die „regelhafte[n]“ und die „genuine[n]“ Serialisierungsregeln des Althochdeutschen zu erkennen.1 Kommen Übereinstimmungen zwischen lateinischer Vorlage und deutscher Übersetzung vor und zeigen sich dabei Abweichungen von den in zur deutschen Gegenwartssprache in Grammatiken erfassten Serialisierungsregeln, dann wird auf einen lateinischen Einfluss geschlossen,2 so dass Serialisierungsregeln existieren, die nicht genuin seien: (1a) et accesserunt ad eum discipuli eius (T, M, 133.31; Mt 5,1)3 (1b) Inti giengun tho zi Imo sine iungiron (T, M, 133.31) (2a) .& tunc confitebor illis. (T, M, 163.30; Mt 7,23) (2b) thanne gih ih in (T, M, 163.30)
_____________ 1 2 3
Schrodt (2004, § S 183, 200). Vgl. Maurer (1926, § 67ff.). Zitiert wird die Tatianbilingue (= T) nach der Edition von Masser (1994) (= M) mit Seitenund Zeilenangabe. Zum besseren Vergleich der verschiedenen Textsortentraditionen wird auch noch die Bibelstelle angegeben. Da eine syntaktische Analyse vorliegt, ist die s-Graphie normalisiert; die syntaxrelevanten Interpunktionszeichen wurden nicht verändert. Die Verba finita sind durch Fettdruck hervorgehoben.
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(3a) ;Igitur ex fructibus eorum cognosc&is eos., (T, M, 163.18f.; Mt 7,20) (3b) uuarlihho fon iro uuahsmen furstant& ir sie., (T, M, 163.18f.) (4a) Sic omnis arbor bona ! fructus bonos facit., (T, M, 163.1f.; Mt 7,17) (4b) So giuuelih guot boum guotan uuahsmon tuot. (T, M, 163.1f.) So zeigen sich in den Beispielen (1) bis (4) im lateinischen Textteil (a) und im deutschen Textteil (b) in Aussagesätzen in der Tatianbilingue Erst-, Zweit-, Dritt- und Endstellungen des Prädikats, des Verbum finitum. Nur die Übereinstimmungen in der Erst-, Dritt- und Endstellung werden als nicht-genuin angesehen. Die Übereinstimmungen in der Zweitstellung werden jedoch nicht auf einen lateinischen Einfluss zurückgeführt, da in der Gegenwartssprache der Aussagesatz „gewöhnlich die Form des Verbzweitsatzes“ besitze4 und die Verbzweitstellung zu den „Sprachtypologische[n] Vorgaben“5 gehöre. Gegenwartssprachliche Abweichungen von der Feldertypologie werden mit einem Vorvorfeld erklärt, das aber nicht in die Serialisierungsregeln einbezogen wird und deren Elemente in ihrem syntaktischen Status und in ihrer kommunikativen Funktion weder exakt noch widerspruchsfrei erfasst sind.6 Die sprachtypologische Verengung der Stellungsregularitäten im Aussagesatz in der deutschen Gegenwartssprache bestimmt auch die Behandlung der historischen Überlieferungen des Deutschen und führt zu einer Überschätzung des lateinischen Einflusses auf die Serialisierungsregeln des Prädikats in Aussagesätzen. Im Folgenden ist es daher das Erkenntnisziel, erstens den postulierten lateinischen Einfluss auf das Deutsche einer Überprüfung zu unterziehen,7 zweitens die mit den Serialisierungsregeln verbundenen Textfunktionen aufzuzeigen, da die grammatischen Phänomene in Texten und nicht in isolierten Einzelsätzen vorkommen, und drittens im Hinblick auf die Serialisierungsregeln sprachliche Entwicklungstendenzen aufzuzeigen. Als Materialgrundlage wird aus der biblischen Übersetzungsliteratur das Matthäus-Evangelium ausgewählt, das umfangreich in die Diatessaron-Tradition einbezogen ist und auch in Übersetzungen des Neuen Testaments und in Gesamtbibeln vollständig überliefert ist. Im Einzelnen werden folgende Handschriften und Drucke berücksichtigt: _____________ 4 5 6 7
Gallmann (2005, 903). Fritz (2005, 1133). Dazu mit neuen Beispielen und in Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Prämissen Simmler (2008a); Wich-Reif (2008). Dazu auch Dittmer / Dittmer (1998, 36).
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Diatessaron-Traditionen 1. Tatianbilingue, lateinisch – althochdeutsch (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. 56) (9. Jh.) (= T + M) 2. Zürich, Zentralbibliothek, C 170 App. 56 (13. / 14. Jh.) (= Zü)
•
Bibel-Traditionen 3. Luthers Septembertestament, Neues Testament, Wittenberg 1522 (= LS) 4. Zürcher Bilingue, Neues Testament, lateinisch – deutsch, Drucker: Christoph Froschauer, Zürich 1535 (Zentralbibliothek Zürich, Cod. III C 341) (= ZüD) 5. Die Bibel, Gesamtbibel, Stuttgart 1980 (= Einheitsübersetzung = EÜ)
•
Lateinische Traditionen 6. Erasmus von Rotterdam, Neues Testament, griechisch – lateinisch, Drucker: Iohannes Frobenius, Basel 1519 (VD 16 B 4197; IDC No. HB-126) (= ER) 7. Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, Stuttgart 4. Aufl. 1994 (= Biblia)
Für die Fragestellung von besonderer Relevanz sind die Bilinguen Nr. 1 und Nr. 4, denen ein lateinischer Textteil beigegeben ist, der sich in Nr. 1 auf die Vulgata-Tradition (Nr. 7) und in Nr. 4 auf den Text des Erasmus von Rotterdam stützt (Nr. 6). Der Text von Erasmus von Rotterdam liegt auch Luthers Septembertestament (Nr. 3) zugrunde. Die Übersetzung von Luther ist über einen Zürcher Nachdruck von 1524 auch die Grundlage des deutschen Textteils der Zürcher Bilingue (Nr. 4).8 In der Untersuchung konzentriere ich mich auf die Tatianbilingue (Nr. 1), Luthers Septembertestament (Nr. 3) und die Zürcher Bilingue (Nr. 4). Ein Ausblick wird auf die Einheitsübersetzung (Nr. 5) und besondere Serialisierungsregeln im Frühneuhochdeutschen Prosaroman und in Romanen der Gegenwartssprache gegeben. Die lateinischen Texte des Erasmus von Rotterdam (Nr. 6) und der Vulgata (Nr. 7) werden bei Bedarf herangezogen.
_____________ 8
Vgl. Simmler (2008b).
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2. Unterschiede zwischen lateinischen und deutschen Serialisierungsregeln und ihre Textfunktionen 2.1. Erststellung des Prädikats im Deutschen Abweichend von der lateinischen Textgrundlage kommen in der deutschsprachigen Überlieferung folgende Erststellungen des Prädikats vor: (5a) cum uenissent ergo qui circa undecimam horam uenerant acceperunt singulos denarios (T, M, 371.23-25; Mt 20,9) (5b) tho thie quamun thiedar umbi thia einliftun zit quamun Intfiegun suntrigon phenninga (T, M, 371.23-25) (5c) Do kamen / die umb die eylfften stund gedinget waren / und empfieng ein iglicher seynen grosschen. (LS, Bl. XVIr, Z. 32f.)9 (5d) Et cum uenissent quia circa undecimam horam uenerant, acceperunt singuli denarium. (ZüD, 48a, Z. 9-12)10 (5e) Do kamend die vmb die eylfftenn stund gedinget warend / vnnd empfieng ein yetlicher seinen groschen. (ZüD, 48b, Z. 10-14) (5f) Et cum uenissent qui circa undecimam horam uenerant, acceperunt singuli denarium. (ER, 44b, Z. 24-26) (5g) cum venissent ergo qui circa undecimam horam venerant acceperunt singulos denarios (Biblia, 1556) (5h) Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. (EÜ, 1101) (6a) tamquam ad latronem existis cum gladiis et fustibus comprehendere me cotidie apud uos eram docens in templo (T, M, 607.18-22; Mt 26,55) (6b) samaso zi thiobe giengut ir mit suerta Inti mit stangon mih zifahanne gitago uuas ich mit iu lerenti in themo temple (T, M, 607.18-22) _____________ 9
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Da eine syntaktische Untersuchung vorliegt, wurden auch bei den Textexemplaren Nr. 2, 4f. und 7 verschiedene s- und r -Graphien vereinheitlicht, übergeschriebene Buchstaben wurden nachgestellt, diakritische Zeichen über weggelassen und Abkürzungen aufgelöst. Die syntaxrelevanten Interpunktionszeichen wurden nicht verändert. Zitiert wird jeweils nach der originalen Blatt- oder Seitenzählung und der Zeilenanzahl; r = recto, v = verso. In ZüD wird zusätzlich die Spalte angegeben; a = linke Spalte, b = rechte Spalte.
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(6c) yhr seytt aus gangen als zu eynem morder / mit schwerdten vnd mitt stangen / mich zu fahen / bynn ich doch teglich gesessen vnd hab geleret ym tempel / (LS, Bl. XXIIv, Z. 19-21) (6d) Tanquam ad latronem existis cum gladijs et fustibus ad comprehendum me: quotidie apud uos sedebam docens in templo (ZüD, 94a, Z. 26-31) (6e) Ir sind auszgangen als zuo einem moerder mit schwaerten vnd mit stangen mich zefahenn / bin ich doch taeglich gesaessen vnd hab geleert im tempel / (ZüD, 94b, Z. 28-32) (6f) Wie gegen eien Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln ausgezogen, um mich festzunehmen. Tag für Tag saß ich im Tempel und lehrte, (EÜ, 1111) (7a) Et terra mota est et petre scissae sunt et monumenta aperta sunt et multa corpora sanctorum qui dormirant surrexerunt. (T, M, 647.21-27; Mt 27,51f.) (7b) Inti erda girourit uuas Inti steina gislizane uuarun Inti grebir uurdun giofanotu Inti manage lihhamon thiedar sliefun erstuontun. (T, M, 647.21-27) (7c) vnd die erde erbebete / vnd die felsen zu ryssen / vnd die greber thetten sich auff / vnd stunden auff viel leybe der heyligen / die da schlieffen / (LS, Bl. XXIIIIr, Z. 17-19) (7d) et terra motra est, et petrae scissae sunt, et monumenta aperta sunt, et multa corpora sanctorum, qui dormierant, surrexerunt, (ZüD, 101b, Z. 9-13) (7e) Vnd die erd erbidmet / vnd die velsen zerrisssend / vnnd die greber thettend sich auf / vnnd stuondend auf vil leyb der heyligen die da schlieffend. (ZüD, 101a, Z. 9-14) (7f) Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich. Die Gräber öffneten sich, und die Leiber vieler Heiliger, die entschlafen waren, wurden auferweckt. (EÜ, 1114) In der Beispielgruppe (5) ist in den deutschsprachigen Textteilen ein unterschiedliches Verhalten gegenüber der lateinischen Vorlage zu erkennen. In den Beispielen (5a) und (5b) befinden sich die Verba finita acceperunt und Intfie(n)gun in Zweitstellung, die Serialisierungen des Prädikats entsprechen sich. Das erste Satzglied ist von einem Temporalsatz besetzt, dessen Subjekt in (5a) aus einem Subjektsatz besteht; in (5b) ist das Subjekt thie, das durch einen Attributsatz erweitert ist. In Verbindung mit den
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Verba finita acceperunt und Intfie(n)gun ist ein Subjekt syntaktisch nicht realisiert. Dieses fehlt jedoch nicht,11 sondern die Subjektinformation ist aufgrund der spezifischen morphologischen Struktur des Lateinischen und des Althochdeutschen durch die Personkategorie in der finiten Verbform ausgedrückt und muss daher nicht immer durch ein eigenes Satzglied ausgedrückt werden.12 In Luthers Septembertestament (5c) ist das Subjekt ein iglicher realisiert und befindet sich in Zweitstellung nach dem Prädikat empfieng, das die erste Position einnimmt. Diese Serialisierung bleibt in der Zürcher Bilingue (5e) erhalten. In der Einheitsübersetzung (5h) wird die Zweitstellung des Prädikats eingeführt. Mit der Änderung der Serialisierung des Prädikats ist in (5c) gegenüber (5b) ein anderer Gesamtsatzaufbau verbunden. In (5c) liegt eine Hypotaxe aus Hauptsatz 1 – Nebensatz (einem Subjektsatz zum Verbum finitum kamen des ersten Hauptsatzes) – Hauptsatz 2 vor, in (5b) eine Hypotaxe aus einem Nebensatz 1 (einem Temporalsatz), einem Nebensatz 2 (einem Attributsatz zum Nukleus thie, dem Subjekt des Temporalsatzes) und einem Hauptsatz. In der Beispielgruppe (6) existieren Serialisierungsunterschiede auch zwischen der lateinischen Vorlage und der althochdeutschen Übersetzung. Im Lateinischen befinden sich eram (6a) und sedebam (6d) in Drittstellung. Diese wird im Althochdeutschen nicht übernommen; uuas hat eine Zweitstellung (6b), und zusätzlich ist mit ih ein syntaktisch realisiertes Subjekt vorhanden, das im Lateinischen durch die morphologische Struktur signalisiert ist. Noch stärker von der lateinischen Vorlage weicht Luther ab, der die Erststellung des Verbum finitum bynn einführt (6c), was von der Zürcher Bilingue übernommen wird (6e). In der Einheitsübersetzung (6f) erscheint wieder die Zweitstellung. In der Beispielgruppe (7) stimmen die Serialisierungen im Lateinischen und Althochdeutschen wieder überein; die Prädikate surrexerunt (7a) und erstuontun (7b) befinden sich in Zweitstellung; ihnen geht jeweils ein Subjekt voraus, dessen Nukleus um einen Attributsatz erweitert ist. Luther stellt wiederum das Prädikat stunden auff an die erste Position (7c), gefolgt vom Subjekt viel leybe der heyligen. Die Zürcher Bilingue folgt gegen den selbst verwendeten lateinischen Textteil (7d) im deutschen Textteil (7e) erneut Luther. In der Einheitsübersetzung (7f) ist die Zweitstellung des Prädikats vorhanden. Die Beispielgruppen zeigen exemplarisch, dass die Erststellung von Prädikaten im Lateinischen und Deutschen vorkommt (1a, 1b) und sich das Althochdeutsche am stärksten in der Serialisierung an das Lateinische anlehnt, ohne jedoch davon sklavisch abhängig zu sein (vgl. 6b mit 6a). _____________ 11 12
So Schrodt (2004, § S 186), bei Imperativ- und Wunschsätzen. Vgl. Simmler (1997, 107ff.).
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Die Erststellung des Prädikats mit folgendem Subjekt erweist sich als eine Serialisierung, die auch das Lateinische verwendet, die aber im Deutschen unabhängig von einer lateinischen Vorlage eingesetzt wird. Sie ist daher als genuine Serialisierungsregel des Deutschen anzusehen13 und ist nicht einfach eine unmittelbare „Fortführung der idg. Verhältnisse“.14 Sie besitzt eine spezifische Textfunktion, die über die bisher erwähnte „satzverknüpfende und emphatische Funktion“15 hinausgeht. Ihre Textfunktion wird in der Verbindung von Teilsätzen innerhalb von Gesamtsätzen realisiert und besteht darin, einen unmittelbaren Anschluss an eine vorausgehende Handlung herzustellen und mit syntaktischen Mitteln einen Handlungszusammenhang herzustellen. In (5c) wird so die großzügige und überraschende Entlohnung hervorgehoben, in (6c) der Widerspruch zwischen der Art der Gefangennahme Christi und seinem öffentlichen Auftreten im Tempel und in (7c) der Zusammenhang zwischen natürlichen Ereignissen und der übernatürlichen Auferstehung der Heiligen. Dieser syntaktisch markierte Zusammenhang geht in der Einheitsübersetzung in (6f, 7f) durch die Übersetzung mit jeweils zwei Gesamtsätzen verloren und ist nur inhaltsseitig aus der Abfolge der Gesamtsätze herzuleiten. 2.2. Drittstellung des Prädikats im Deutschen Eine von der lateinischen Vorlage abweichende Drittstellung des Prädikats in der deutschsprachigen Überlieferung zeigt sich in folgenden Beispielen: (8a) Sic omnis arbor bona ! fructus bonos facit., (T, M, 163.1f.; Mt 7,17) (8b) So giuuelih guot boum guotan uuahsmon tuot. (T, M, 163.1f.) (8c) Also eyn iglicher guter bawm bringt gutte fruchte / (LS, Bl. Vv, Z. 30f.) (8d) Sic omnis arbor bona fructus bonos facit: (ZüD, 20a, Z. 13-15) (8e) Also ein yetlicher guoter baum bringt guote frucht / (ZüD, 20b, Z. 15-17) (8f) Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, (EÜ, 1083) (9a) et nemo mittit uinum nouum in utres ueteres alioquim rumpet uinum nouum utres. (T, M, 199.11-14; Mt 9.17 und Mc 2.22) _____________ 13 14 15
Zu weiteren Beispielen Simmler (2007, 61f.). Schrodt (2004, § S 184). Ebd.
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(9b) neque mittunt vinum novum in utres veteres alioquin rumpuntur utrres et vinum effunditur et utres pereunt (Mt 9,17; Biblia, 1538) (9c) et nemo mittet vinum novellum in utres veteres alioquin disrumpet vinum utres et vinum effunditur et utres peribunt (Mc 2,22; Biblia, 1577) (9d) Inti nioman sentit niuuan uuin in alte belgi elles brihhit ther niuua uuin thie belgi (T, M, 199.11-14) (9e) Man fasset auch nit den most ynn alte schleuche / anders die schleuche zu reyssen / vnd der most wirtt verschutt / (LS, Bl. VIIr, Z. 22f.) (9f) Neque mittunt uinum nouum in utres ueteres, alioque rumpuntur utres, et uinum effunditur, et utres pereunt, (ZüD, 26a, Z. 23-26) (9g) Man fasset auch nit den most in alte schleüch / anders die schleüch zerreyssennd / vnd der most wirdt verschütt: (ZüD, 26b, Z. 25-28) (9h) Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst reißen die Schläuche, der Wein läuft aus, und die Schläuche sind unbrauchbar. (EÜ, 1085) (10a) Quia si in tyro et sidone facte fuissent uirtutes quae facte sunt in uobis olim in cilicio et cinere poenitentiam egissent., (T, M, 219.12-16; Mt 11,21) (10b)bithiu oba in tyro inti in sidone gitanu uuarin megin thiu in iu gitanu sint forn in haru inti in ascun riuua tatin., (T, M, 219.12-16) (10c) weren solche thatten zu Tyro vnd zu Sidon geschehen / als bey euch geschehen sind / sie hetten vortzeytten ym sack vnnd ynn der asschen bussz than / (LS, Bl. IXr, Z. 19-21) (10d) quoniam si in urbe Tyri aut Sidonis factae fuissent uirtutes, quae facte sunt in uobis, olim in facto et cinere scelerum suorum poenitentiam egissent. (ZüD, 34a, Z. 23-28) (10e) waerend soeliche thaten zuo Tyro und zuo Sidon geschehen / als bey euch geschehen sind / sy hettend vor zeytenn im sack vnd in der aeschen buosz gethon. (ZüD, 34b, Z. 26-31)
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(10f) Wenn einst in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die bei euch geschehen sind – man hätte dort in Sack und Asche Buße getan. (EÜ, 1088) (11a) Ideo omnis scriba doctus in regno celorum similis est homini patri familia (T, M, 241.26-28; Mt 13,52) (11b)bithiu giuuelih bouhhari gelerter in rihhe himilo gilih ist manne fateres hiuuiskes (T, M, 241.26-28) (11c) Darumb eyn iglicher schrifftgelerter der zum hymelreych gelert ist / ist gleich eynem haus vatter / (LS, Bl. XIv, Z. 29f.) (11d) Propterea omnis scriba doctus ad regnum coelorum, similis est homini patrifamilias, (ZüD, 45b, Z. 28-31) (11e) Darumb ein yetlicher gschrifftgelerter der zum himmelreych geleert ist / ist gleych einem hauszuatter / (ZüD, 45a, Z. 29-32) (11f) Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, gleicht einem Hausherrn, (EÜ, 1093) (11g) Jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, gleicht also einem Hausherrn – Also gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausherrn (12a) qui ergo iurat In altare iurat In eo et In omnibus quae super illud sunt. (T, M, 499.31-501.3; Mt 23,20) (12b)thiede suerit in themo alttere ther suerit In themo Inti in allen thiu dar obar Imo sint (T, M, 499.31-501.3) (12c) darumb / wer do schweret bey dem alltar / der schweret bey dem selben vnnd bey allem das droben ist / (LS, Bl. XIXr, Z. 2022) (12d) Qui ergo iurauerit per altare, iurat per ipsum, et per omnia quae super illud sunt. (ZüD, 78a, Z. 36- 79b, Z. 1) (12e) Darumb waer da schweert bey dem Altar / der schweert bey dem selben / vnd bey allem das darauff ist. (ZüD, 78b, Z. 3979a, Z. 1) (12f) Wer beim Altar schwört, der schwört bei ihm und bei allem, war darauf liegt. (EÜ, 1105) (13a) amen amen dico tibi quia haec nocte antequam gallus cantet ter me negabis (T, M, 565.16-19; Mt 26,34)
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(13b)uuar uuar quidu ih thir uuanta In theru naht er thanne hano singe thriio stunt forsehhis mih (T, M, 565.16-19) (13c) warlich ich sage dyr / ynn dyser nacht / ehe der hane krehet / wirstu meyn drey mal verleugnen / (LS, Bl. XXIIr, Z. 25-27) (13d) Amen dico tibi, quod in hac nocte antequam gallus cantet, ter me negabis. (ZüD, 92a, Z. 25-28) (13e) Warlich ich sag dir / In diser nacht ee der Han kraeyet / wirst du mein drey mal verlougnen. (ZüD, 92b, Z. 28-31) (13f) Amen, ich sage dir: In dieser Nacht, noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. (EÜ, 1110) (13g) In dieser Nacht wirst du mich dreimal verleugnen, noch ehe der Hahn kräht. – Noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich in dieser Nacht dreimal verleugnen. (13h)In dieser Nacht noch vor dem Hahnenkrähen wirst du mich dreimal verleugnen. – In dieser Nacht wirst du mich noch vor dem Hahnenkrähen dreimal verleugnen. (14a) Centurio autem et qui cum eo erant custodientes ihesum uiso terre motu et his quae fiebant timuerunt uualde glorificantes (deum) et dicentes hic homo iustus est uero dei filius. (T, M, 649.1-9; Mt 27,54) (14b)ther hunteri Inti thie mit imo uuarun bihaltenti then heilant gesehenemo erdgirournessi Inti then dar uuarun forhtun in thrato got diurisonti Inti quedenti theser man rehtliho ist uuarliho gotessun. (T, M, 649.1-9) (14c) Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen Jesus bewachten, das Erdbeben bemerkten und sahen, was geschah, erschraken sie sehr und sagten: Wahrhaftig, das war Gottes Sohn! (EÜ, 1114) In der Beispielgruppe (8) wird die Endstellung des Prädikats in (8a) und (8b) von Luther (8c) in eine Drittstellung verändert. Dies behält die Zürcher Bilingue (8e) gegen die beigegebene lateinische Textgrundlage (8d) bei. In der Beispielgruppe (9) befindet sich das Prädikat in den lateinischen Traditionen (9a-c, 9f) und im deutschen Textteil der Tatianbilingue (9d) in Zweitstellung, während es bei Luther (9e) und in der Zürcher Bilingue (9g) die Drittstellung einnimmt. Obwohl nach dem Verbum finitum in (9e) kein Satzglied mehr folgt, handelt es sich nicht um einen eindeutigen
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Beleg für eine Endstellung. Methodisch sind die Satzglieder vom Beginn des isoliert gebrauchten einfachen Satzes bzw. des Teilsatzes durchzunummerieren; in diesem Falle befindet sich zu reyssen in dritter Position. Auch bei Sätzen wie Er schläft und Er trinkt kommt niemand auf den Gedanken, eine Endstellung anzusetzen. Eine Endstellung ist bei einer Variabilität der Serialisierungsregeln wie im Althochdeutschen zwingend erst dann gegeben, wenn sich mehrere Satzglieder vor dem Verbum finitum befinden und auch der Vergleich zum Lateinischen die Interpretation stützt. In der Beispielgruppe (10) zeigen sich bis zur Zürcher Bilingue dieselben Serialisierungsregeln wie in der Beispielgruppe (8). Der Unterschied besteht darin, dass die erste Satzgliedposition in Luthers Septembertestament (10c) von einem Konditionalsatz, der um einen Komparativsatz erweitert ist, besetzt ist. Diese Konstruktion wird in der Einheitsübersetzung beibehalten (10f): An die Stelle des Komparativsatzes tritt ein Attributsatz, die Drittstellung des Verbum finitum hätte wird beibehalten; der Konditionalsatz wird vom folgenden Hauptsatz durch einen Gedankenstrich abgegrenzt. Dadurch wird die im Hauptsatz gegebene Schlussfolgerung durch eine Interpungierung und die Drittstellung des Verbum finitum besonders hervorgehoben. In der Beispielgruppe (11) hängt die Bestimmung der Satzgliedpositionen davon ab, ob das Prädikativum als Satzglied gewertet wird oder nicht; die unterschiedlichen Serialisierungen im Lateinischen und Deutschen sind jedoch von dieser Entscheidung nicht betroffen. Wird das Prädikativum als Satzglied gewertet, dann nehmen est in (11a) und ist in (11b) eine Viertposition ein; wird das Prädikativum als Teil des Prädikats verstanden, liegen in similis est (11a) und gilih ist (11b) Drittpositionen vor mit der Abfolge Prädikativum plus Kopula. Bei einer Wertung als Satzglied befindet sich ist bei Luther (11c) und in der Zürcher Bilingue (11e) in Drittposition und das Prädikativum in Viertposition. Wird eine Wertung als Satzgliedteil vorgenommen, ist das Prädikat in Drittstellung mit der Abfolge Kopula plus Prädikativum. In der Einheitsübersetzung (11f) hängt die Ermittlung der Serialisierung von der syntaktischen Wertung von also ab. Wird es aufgrund der positionellen Nähe zu Schriftgelehrte als postnukleares Adverb-Attribut aufgefasst, mit der textuellen Funktion, eine vorausgegangene Argumentation weiterführend wieder aufzunehmen, dann befindet sich gleicht in Zweitstellung. Werden Permutationen wie in (11g) akzeptiert, müsste von einer Drittstellung ausgegangen werden mit einer Fernstellung des Attributsatzes zum Nukleus Schriftgelehrte. In der Beispielgruppe (12) befindet sich das Prädikat in der lateinischen Vorlage (12a) und in der althochdeutschen Übersetzung (12b) in Zweitstellung, die erste Position wird von einem Subjektsatz eingenom-
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men. Bei Luther (12c) kommt das Prädikat in Drittstellung vor, weil dem Subjektsatz ein Adverbiale darumb vorangestellt wird, das in der lateinischen Vorlage (12d) kein Äquivalent besitzt. Diese Struktur wird in der Zürcher Bilingue (12e) beibehalten. In allen deutschsprachigen Übersetzungen wird der Subjektsatz durch ein Demonstrativum wieder aufgenommen. In der Einheitsübersetzung (12f) wird auf das Adverbiale verzichtet, so dass das Prädikat wieder die Zweitstellung einnimmt. In der Beispielgruppe (13) liegen unterschiedliche lateinische Konstruktionen vor, in (13a) ein Kausalsatz und in (13d) ein Objektsatz. In beiden Fällen befindet sich das Prädikat negabis in Endstellung. In der Tatianbilingue (13b) nimmt das Prädikat forsehhis im koordinierten Kausalsatz die Viertposition ein. Ihm gehen zwei temporale Informationen voraus, ein Temporaladverbiale In theru naht und ein Temporalsatz er thanne hano singe, und ein Modaladverbiale thriio stunt. Der Temporalsatz hat dabei die Funktion, die allgemeine Zeitangabe des Temporaladverbiales zu präzisieren. Bei Luther (13c) nimmt das Verbum finitum die Drittstellung ein; die beiden temporalen Informationen bleiben vor dem Verbum finitum stehen, das Modaladverbiale wird in die Satzklammer aus Verbum finitum und infinitum integriert. Diese Struktur wird in der Zürcher Bilingue (13e) beibehalten und findet eine Kontinuität in der Einheitsübersetzung (13f). Die unterschiedlichen Funktionen der temporalen Informationen und ihr Satzgliedstatus bzw. ihre Rückführbarkeit auf ein Satzglied lassen sich durch Permutationen (13g) und Substitutionen (13h) nachweisen. Die Drittstellung des Prädikats ist in lateinischen Vorlagen und in deutschen Übersetzungen vorhanden (3a, 3b). Sie kommt aber auch unabhängig vom Latein vor, so dass auch bei der Drittstellung von einer genuinen Stellungsregularität des Deutschen ausgegangen werden muss. Wenn es von der lateinischen Vorlage unabhängige Drittstellungen des Prädikats gibt, dann spricht auch nichts dagegen, in gemeinsamen Drittstellungen wie in (3a vs. 3b) und (14a vs. 14b) ebenfalls Serialisierungsregeln beider Sprachen zu erkennen. Am häufigsten werden lateinische Endstellungen in Drittstellungen verändert (8a vs. 8c, 10a vs. 10c, 13a vs. 13c); aber auch lateinische Zweitstellungen werden in Übersetzungen in Drittstellungen wiedergegeben (9a vs. 9c, 12a vs. 12c). Die Tatianbilingue folgt am häufigsten der Vorlage, verändert aber einmal eine Endstellung in eine Viertstellung (13a vs. 13b), einmal wird die Abfolge von Prädikativum plus Kopula umgestellt (11a vs. 11b). Wenn es von der lateinischen Vorlage unabhängige Drittstellungen des Prädikats gibt, dann spricht auch nichts dagegen, in gemeinsamen Drittstellungen (wie in 3a und 3b) ebenfalls Serialisierungsregeln beider Sprachen zu erkennen (vgl. ferner Beispielgruppe 14). Es ist also nicht so, dass es für eine „in der Literatur gelegentlich erwähnte grammatische Drittstellung im Aussagesatz […] keine
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sicheren Belege“ gebe.16 In der Tradition der Textsorte (Geoffenbarter) Bericht lassen sich auch in der Gegenwartssprache Drittpositionen belegen (10f, 13f, 11f unter bestimmten Voraussetzungen). Unter textuellem Aspekt befinden sich in der historischen Tradition viermal Adverbialen in Erstposition (8c, 9e, 11e, 12c). Sie nehmen einen begründenden Anschluss an vorausgegangene Ausführungen vor. Zweimal werden mit einem Konditionalsatz plus Subjekt (10c) und einem Temporaladverbiale plus einem Temporalsatz (13c) die Ausgangssituationen für die folgenden Ausführungen spezifiziert.
3. Viertstellung und Endstellung des Prädikats im Deutschen und Lateinischen Eine Viertstellung des Prädikats im Lateinischen und Deutschen kommt in folgenden Belegen vor: (15a) .qui solem suum oriri facit super malos et bonos., (T, M, 145.28f.; Mt 5,45) (15b).ther the sunnun ufgangen tuot ubar ubile inti ubear guote (T, M, 145.28f.) (15c) ego autem dico uobis., Diligite inimicos uestros. benefacite his qui uos oderunt. et orate pro persequentibus et calumniantibus uos ut sitis filii patris uestri qui in caelis est. qui solem suum oriri facit super malos et bonos., et pluit super iustos et iniustos., (T, M, 145.21-30; Mt 5,44f.) (15d) ih quidu íu minnot iuuara fiianta tuot then uuola thei íuuih hazzont Inti betot furi thie áhtenton Inti harmenton íu thaz ír sít kind iuuares fater ther in himile ist. Ther the sunnun úfgangen tuot ubar ubile inti ubar guote Inti reganot ubar rehte inti ubar únrehte (T, M, 145.21-30) (15e) Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (EÜ, 1081) (15f) Denn er lest seyn Sonne auff gehen vbir die bosen vnd vbir die gutten / (LS, Bl. IIIIv, Z. 5f.) _____________ 16
Schrodt (2004, § S 188.3, S 202, Anm. 1); zu weiteren Beispielen Simmler (2007, 60).
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(15g) quia solem suum exoriri finit super malos ac bonos (ZüD, 14a, Z. 33f.) (15h)Dann er laszt sein Sonn aufgon über die boesen vnd über die guoten / (ZüD, 14b, Z. 35-37) (16a) nouissime autem omnium et mulier defuncta est. (T, M, 429.9f.; Mt 22,27) (16b)tho zi iungisten allero thaz uuib arstarb. (T, M, 429.9f.) (16c) zu letzt nach allen starb auch das weyb. (LS, Bl. XVIIIr, Z. 43f.) (16d) Nouissime autem omnium defuncta est et mulier. (ZüD, 75b, Z. 29-31) (16e) zuo letst nach allem starb auch das weyb. (ZüD, 75a, Z. 33f.) (16f) Als letzte von allen starb die Frau. (EÜ, 1104) (17a) Statim autem post tribulationem dierum illorum. sol obscurabitur et luna non dabit lumen suum (T, M, 519.22-25; Mt 24,29) (17b)sliumo after arbeiti thero tago. sunna uuirdit bifinstrit inti mano nigibit sin lioht (T, M, 519.22-25) (17c) Bald aber nach dem trubsall der selbigen tzeyt / werden sonn vnd mond den scheyn vorlieren / (KS, Bl. XXr, Z. 22f.) (17d) Statim autem post afflictionem dierum illorum sol obscurabitur,et luna non dabit lumen suum (ZüD, 83b, Z. 13-16) (17e) Bald aber nach dem truebsal der selbigenn zeyt werdend Sonn vnd Mon den scheyn verlieren / (ZüD, 83a, Z. 15-18) (17f) Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen (EÜ, 1107) In der Beispielgruppe (15) hängt die Ermittlung der Serialisierungsregeln des Prädikats vor allem in (15a) und (15b) von der Einbeziehung des Kontextes ab und von den Repräsentationstypen, die auf Satzbegrenzungen hinweisen. Der relevante Kontext ist in (15c) und (15d) gegeben. Die Repräsentationstypen Punkt (unten) plus Minuskel und Punktvirgel plus & (= et) weisen in (15c) auf die Abfolge zweier isoliert gebrauchter einfacher Sätze hin,17 die in der Abfolge der Satzglieder eine syntaktische Parallelität besitzen. Das lat. qui befindet sich somit am Beginn eines neuen Satzes und drückt eine kausale Funktion aus, die mit 'denn dieser' wiedergegeben _____________ 17
Vgl. Simmler (2007, 62).
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werden kann.18 Diese Inhaltsseite wird im Althochdeutschen durch ther signalisiert, das sich somit als Demonstrativum 'dieser' und nicht als Relativum erweist.19 Wird dieser Argumentation gefolgt, dann befinden sich die Verba finita facit und tuot in Viertstellung in einem isoliert gebrauchten einfachen Satz. Auch Luther (15f) gibt die begründende Funktion des Satzanschlusses wieder, indem er mit Denn einen neuen Gesamtsatz beginnen lässt. Diese Struktur ist auch im deutschen Textteil der Zürcher Bilingue vorhanden (15h), obwohl im lateinischen Textteil die Begründung mit der Subjunktion quia eingeleitet wird und somit ein hypotaktischer Kausalsatz vorliegt (15g). Anders als in der Tatianbilingue befindet sich das Prädikat bei Luther und im deutschen Textteil der Zürcher Bilingue in Zweitstellung, die auch in der Einheitsübersetzung (15e) vorhanden ist. In der Beispielgruppe (16) ist im Gegensatz zur Beispielgruppe (15) in (16a) und (16b) von einer Endstellung des Prädikats auszugehen, da kein weiteres Satzglied mehr folgt. Wiederum entsprechen sich die Endstellungen im Lateinischen und Deutschen, und wiederum wird diese Serialisierung von Luther aufgegeben. Bei Luther ist eine Drittstellung vorhanden (16c). Diese zeigt sich auch in der Zürcher Bilingue sowohl im deutschen (16e) als auch im lateinischen Textteil (16d). Durch beide Überlieferungen wird die Anzahl der Belege mit Drittstellung erhöht. In der Einheitsübersetzung (16f) ist das Prädikat in Zweitstellung. Eine Endstellung des Prädikats kann auch in (17a) und (17b) nachgewiesen werden. Seit Luther liegt eine Zweitstellung vor (17c), wobei jedoch zu beachten ist, dass er aus den zwei Teilsätzen der lateinischen Traditionen (17a, 17d) einen einzigen Teilsatz bildet. Die Beispiele zeigen, dass die Viertstellung des Prädikats nur im Lateinischen und Althochdeutschen zu belegen ist. Dabei entsprechen sich die Serialisierungsregeln in beiden Sprachen weitgehend. Allerdings wird einmal eine lateinische Endstellung in der Tatianbilingue durch eine Viertstellung wiedergegeben (13b), die sich somit – wenn auch in geringer Frequenz – als genuine Stellungsregularität erweisen dürfte. Ein anderer Befund begegnet bei der Endstellung. Diese kann im Deutschen ausschließlich in der Tatianbilingue belegt werden und ist immer an die lateinische Vorlage gebunden, so dass – mit aller Vorsicht und mit Gültigkeit nur für die untersuchte Tradition des Matthäus-Evangeliums – davon ausgegangen werden könnte, dass die Endstellung des Prädikats in Aussagesätzen im Althochdeutschen aus dem Lateinischen entlehnt wurde und _____________ 18 19
Vgl. Georges (1992, II, Sp. 2153). Vgl. Schützeichel (2006, 72).
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nicht zu den genuinen Stellungsregularitäten des Deutschen gehörte.20 Ein eingeschränktes Verständnis des Satzinhalts ist mit der Entlehnung der Endstellung des Prädikats nicht verbunden.
4. Textsortengebundene Entwicklungstendenzen im Frühneuhochdeutschen und in der Gegenwartssprache 4.1. Frühneuhochdeutscher Prosaroman (Melusine 1538) Der in den Textexemplaren LS und ZüD ermittelte Befund gilt nicht generell für die ganze frühneuhochdeutsche Sprachperiode. Im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ können im Textexemplar der Melusine von 1538,21 das auf ein französisches Versepos zurückgeht, neben der Erst-, Zweit-, Dritt- und Viertstellung auch die Fünftstellung in geringer Frequenz und die Endstellung in deutlich höherer Frequenz nachgewiesen werden.22 (18) . Dardurch sich nun gar grosse klag zuo hoff erhuob / inn sonderhait von der Graeuin vnd von jren kindern / […] (Au, Kap. 7, Bl. Cij/r, Z. 1921)23 (19) : Liebenn freünd eüwer gefangner bin ich auff heüt worden / vnd beger das jr on auffzug ein schatzung ordnen woellent die mir vermüglich vnd leidenlich sey / sollichs vmb eüwer frommkait / mit anderen meinen freünden vnd günnern zuo allen zeytten beger ich zu verdienen. (Au, Kap. 25, Bl. Hij/r, Z. 4-9) (20) . Das [der Schwur] er jr aber darnach nit hielt / darumb verlor er sein schoene vnnd allerliebste frawen […] (Au, Kap. 6, Bl. Cj/r, Z. 4-6) (21) . Ich hab jn inn dem wald verlorn / deszgleichen die andern den merern theil auch sagen / […] (Au, Kap. 6, Bl. Cj/r, Z. 10f.) _____________ 20 21
22 23
Zu Endstellungen im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ im Textexemplar der Melusine von 1538, das auf eine französische Versfassung zurückgeht, vgl. Simmler (2009). Benutzt wurde das Exemplar Die Histori oder geschicht von der edeln vnnd schoenen Melusina (1538), Augsburg, Drucker Heinrich Steiner (= VD 16 M 4470) aus der Stadt- und Universitätsbibliothek Augsburg, ab 4° Ink adl. 16 (zitiert als Au). Der Bibliothek danke ich herzlich für die Überlassung eines Mikrofilms. Zu weiteren Belegen vgl. Simmler (2009). Zitiert wird nach einer selbst eingeführten Kapitelnummerierung und nach der originalen Blattzählung und der Zeilenzahl; r = recto, v = verso.
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(22) . Der Apt vnd das gantz couent / gieng jm entgegen / vnd warent seiner zuokunfft fro / die selb freüd aber schnell ein end nam / dann Goffroy was grymmigs zorns vol / vnd sprach zuo dem Apt vnd zuo jn allen. Ir vnseligen münch […] (Au, Kap. 40, Bl. Nij/r, Z. 14-17) Die Fünftstellung ist in der Autorenrede (18) und in der Figurenrde (19) zu belegen. Eine besondere textuelle Funktion ist mit dieser Stellungsregularität nicht verbunden. Dies ist bei der Endstellung anders. Auch sie ist auf die Autorenrede (20, 22) und die Figurenrede (21) verteilt. In einer Gruppe von Belegen ist eine besondere Textfunktion vorhanden; sie tritt bei Erzählereinschaltungen und moralisch zu verurteilenden Handlungen auf und hebt die dem Verbum finitum vorangehenden Satzglieder besonders hervor. In (20) wird mit dem Demonstrativum Das auf vorher Erzähltes verwiesen; die in den folgenden Satzgliedern berichtete Handlung wird vom Erzähler negativ bewertet. In anderen Erzählereinschaltungen erweist sich der Erzähler als allwissender Autor, indem er Erzählerbewertungen mit Vorausdeutungen verbindet (22). 4.2. Romane der Gegenwart In den beiden in einer umfangreicheren Untersuchung behandelten Romanen der Gegenwart24 lassen sich ebenfalls Erst-, Zweit-, Dritt- und Viertstellungen des Verbum finitum in Aussagesätzen belegen, aber keine Fünft- und Endstellungen: (23) Denn dies Rauschen ist nicht jetzt in der Zeit […] die Erde wird schwanger werden durch das Manneswasser des Himmels und wird dampfen und dünsten vor Lust, wie ich es rieche, und werden die Anger voll Schafe sein und die Auen dick stehen im Korn, dass man jauchzt und singt. (JB, 82) (24) „Hure! Ein Wort. Trösten sich die tugendhaften alten Fräuleins damit, die ihr neidisch sind. Hat auch die Königin Esther zuerst nicht wissen können, ob sie nicht des Ahasverus Kebsweib wird.“ (JS, 23) _____________ 24
Mann, Thomas (1975), Joseph und seine Brüder, Stuttgart (erste Gesamtausgabe Stockholm 1948) (= JB); Feuchtwanger, Lion (2004), Jud Süß. Roman, Berlin (= JS). Zu umfangreicherem Quellenmaterial und zu Detailargumentationen vgl. Simmler (2008a),; Simmler (2008b).
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(25) Sein Leben während der letzten fünfundzwanzig Jahre erschien seinem feierlichen Sinnen im Lichte kosmischer Entsprechung, […] (JB, 117) (26) Süß, nach einem langen Schweigen, meinte unvermittelt, […] (JS, 197) (27) Wirklich, ob Abram nun hoch und greisenschön wie Eliezer oder vielleicht klein mager und krumm von Statur gewesen war, - auf jeden Fall hatte er Mut bewiesen, […] (JB, 316) (28) Endlich, bei Tafel, mit hundert Komplimenten verbrämt, bestellte er ihr den Befehl des Herzogs, sie habe die Residenz zu verlassen, sich auf ihre Güter zurückzuziehen. (JS, 50) In allen Beispielen25 sind in der Gegenwartssprache mit den Stellungsregularitäten in den beiden Romanen spezifische Textfunktionen verbunden. Die Erststellung (23f.) kennzeichnet einen unmittelbaren Anschluss an vorhergehende Sätze. In den Gesamtsätzen (23) kommt bei Thomas Mann noch eine weitere Textfunktion hinzu; die der inhaltsseitig begründeten Zweiteilung der Gesamtsatzstruktur in zwei sich ergänzende oder einander entgegengesetzte Aspekte; in (23) wird dem Regen seine fruchtbringende Wirkung gegenübergestellt. Bei der Drittstellung kommt es durch die Positionierung von Adverbialen zwischen Subjekt und Verbum finitum (25f.) zu der Funktion, einzelne Begleitumstände von Handlungen stärker auf das Subjekt der Handlungen zu beziehen. Bei der Viertstellung (27f.) werden durch die Konzentration verschiedener Adverbialen vor dem Verbum finitum die Ausgangssituationen und die externen Rahmenbedingungen für besondere Handlungen, Vorgänge und Ereignisse festgelegt.
5. Ergebnisse Aus der Untersuchung der Überlieferungstradition des Matthäus-Evangeliums bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und aus dem Ausblick auf die Überlieferung des ‚Frühneuhochdeutschen Prosaromans‘ können textsortengebunden folgende Entwicklungstendenzen hergeleitet werden: 1.
Die Erststellung des Prädikats in Aussagesätzen hat eine sprachliche Kontinuität bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und weiter bis in die Gegenwartssprache. In der Tatianbilingue ergibt sich diese Se-
_____________ 25
Vgl. Simmler (2008a); Simmler (2009).
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51
rialisierungsregel aus der spezifischen morphologischen Struktur der Verbformen. Bei Luther und in der Zürcher Bilingue ist ebenso wie im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ und in den beiden Romanen der Gegenwartssprache die Erststellung mit der spezifischen Textfunktion des unmittelbaren Anschlusses an vorangehende Handlungen verbunden. In der Einheitsübersetzung ist eine Erststellung nicht mehr vorhanden. 2.
Die Zweitstellung zeigt eine ungebrochene Tradition bis in die Gegenwart hinein. Ihre Frequenz wird durch Veränderungen anderer Serialisierungsregeln ständig erhöht. Sie wird zur häufigsten, aber nicht einzigen Serialisierungsregel; eine spezifische Textfunktion wie bei den anderen Serialisierungsregeln existiert nicht. Mit der Zweitstellung können jedoch besonders komplexe erste Satzglieder verbunden werden, die in dieser Position eine spezifische Textfunktion erfüllen.
3.
Die Drittstellung des Prädikats besitzt eine ungebrochene Tradition von der Tatianbilingue bis in die Gegenwart. Sie ist bei Luther und in der Zürcher Bilingue ebenso wie im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ und den beiden Romanen der Gegenwartssprache produktiv. Durch die Drittstellung des Prädikats erhalten die beiden ersten Satzglieder eine besondere textuelle Funktion. Sie geben bei den biblischen Textsorten einen begründenden Anschluss an vorausgegangene Ausführungen und spezifizieren die Ausgangssituation für die im Prädikat folgende Aussage. Im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ dominieren die Textfunktionen der Satzverknüpfung und der Chronologiesicherung, in den beiden Romanen der Gegenwartssprache werden Ausgangsbedingungen für die im Verbum finitum vollzogenen Handlungen markiert. Zur Einheitsübersetzung hin nimmt die Frequenz der Drittstellung deutlich ab, ohne jedoch vollständig zu verschwinden (10f, 11f). Auf die lateinische Vorlage bezogen werden lateinische Endstellungen und Zweitstellungen durch Drittstellungen wiedergegeben.
4.
Die Viertstellung kommt nur einmal unabhängig von der lateinischen Vorlage in der Tatianbilingue vor (13b) und besitzt in der Textsortentradition des Matthäus-Evangeliums keine Kontinuität. Im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ ist mit der Viertstellung keine besondere Textfunktion verbunden. In den Romanen der Gegenwartssprache dagegen legen die Satzglieder vor dem Verbum
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Franz Simmler
finitum die externen Rahmenbedingungen für besondere Handlungen, Vorgänge und Ereignisse fest. 5.
Im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ sind – anders als in der Tradition der biblischen Textsorten und in den Romanen der Gegenwartssprache – auch Fünft- und Endstellungen vorhanden. Mit der Fünftstellung sind keine spezifischen Textfunktionen verbunden. Die Endstellung markiert dagegen mit den ihr vorausgehenden Satzgliedern Erzählereinschaltungen und moralisch zu verurteilende Verhaltensweisen. In der Tradition der biblischen Textsorten ist eine Endstellung nur in der Tatianbilingue in Anlehnung an die lateinische Vorlage vorhanden. Eine darüber hinausreichende Kontinuität existiert in den biblischen Textsorten nicht.
6.
Unter dem Aspekt der Genuinität von Serialisierungsregeln erweisen sich im deutschen Aussagesatz in der Tradition des MatthäusEvangeliums die Serialisierungsregeln der Erst-, Zweit-, Dritt- und in geringer Frequenz auch der Viertstellung als genuin. Die Endstellung könnte im Althochdeutschen vom Lateinischen entlehnt sein; da sie jedoch im ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ vorhanden ist, dürfte auch sie genuin sein.
7.
Die sprachlichen Variabilitäten und die mit ihnen verbundenen Textfunktionen sind in allen Sprachstufen des Deutschen bei den Serialisierungsregeln des Prädikats in Aussagesätzen umfangreicher und vielfältiger, als in Grammatiken dargestellt. Insgesamt herrscht die Tendenz, die Variabilität bei gleicher Funktionalität zu reduzieren und bei einer Kontinuität den Serialisierungsregeln textsortengebunden immer spezifischere Textfunktionen zuzuweisen.
Quellen Au = Die Histori oder geschicht von der edeln vnnd schoenen Melusina (1538), Drucker Heinrich Steiner, aus der Stadt- und Universitätsbibliothek Augsburg, (VD 16 M 4470), Augsburg. Biblia = Biblia sacra iuxta vulgatam versionem (1994), 4., verb. Aufl., Stuttgart. ER = Erasmus von Rotterdam (1519), Neues Testament, griechisch – lateinisch, Drucker: Iohannes Frobenius, (VD 16 B 4197; IDC No. HB-126), Basel. EÜ = Die Bibel. Gesamtbibel (1980), Stuttgart. JB = Mann, Thomas (1975), Joseph und seine Brüder, Stuttgart.
Zur Entwicklung der Stellung des Prädikats in Aussagesätzen
53
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Franz Simmler
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Obwohl vielleicht war es ganz anders Vorüberlegungen zum Alter der Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen∗
Ulrike Freywald (Potsdam)
1. Einleitung Bei der Diskussion von substandardsprachlichen Strukturen im heutigen Deutsch stellt sich stets auch die Frage, ob es sich hierbei um Erscheinungen sprachlichen Wandels oder aber um althergebrachte Strukturen handelt, die sich in nicht bzw. weniger stark normierten Varietäten möglicherweise schon über lange Zeit erhalten haben. Da solche Muster erst seit vergleichsweise kurzer Zeit diskutiert werden, besteht allgemein die Gefahr, dass allein schon durch die Gewahrwerdung eines bestimmten sprachlichen Phänomens (und die daraus resultierende erhöhte Aufmerksamkeit) dasselbe als quantitativ zunehmendes oder gar als neu entstandenes Phänomen empfunden wird. So wird etwa die Verwendung des Modalverbs brauchen mit reinem Infinitiv – vgl. (1) – gemeinhin als aktuelle und sich ausbreitende Entwicklung wahrgenommen: „In den letzten Jahrzehnten hat sich die Tendenz immer mehr entwickelt, brauchen in Verbindung mit folgendem Infinitiv ohne zu zu verwenden“ (Scaffidi-Abbate 1973, 1). (1a) Vollverb brauchen Sie braucht dringend neue Schuhe. (1b) Modalverb brauchen Sie braucht die neuen Schuhe nicht (zu) kaufen.
_____________ ∗
Für Anregungen und Kommentare danke ich den Diskussionsteilnehmer/innen auf der Tagung „Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen“ im Mai 2008 in Graz sowie Horst Simon, der das Manuskript durchgesehen hat.
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Ulrike Freywald
Gleichzeitig ist diese Verwendungsweise noch immer z.T. harscher Sprachkritik ausgesetzt.1 Das Verb brauchen ist mit modaler Semantik bereits seit dem 16. Jh. nachweisbar und ist wohl aus dem entsprechenden Vollverb hervorgegangen (vgl. Kolb 1964; Scaffidi-Abbate 1973; Lenz 1996); strukturell unterscheiden sich die Modalverb- und die Vollverbvariante von brauchen zunächst darin, dass modales brauchen einen zu-Infinitiv regiert, während das Vollverb brauchen eine Nominalphrase als Komplement nimmt. Seit wann sich die Eingliederung ins System der Modalverben auch formal in einer Angleichung an die syntaktischen und morphologischen Merkmale der Modalverben manifestiert, seit wann also etwa der Infinitivmarker zu ausgelassen wird, ist noch weitgehend unerforscht.2 Allzu neu kann diese Entwicklung jedenfalls nicht sein, schließlich wird sie bereits von Wustmann (1908, 292) in seinen „Sprachdummheiten“ konstatiert und als „gemeine[r] Provinzialismus“ bezeichnet. Andernorts ist bei Wustmann zu lesen: „Bei brauchen darf natürlich zu beim Infinitiv nicht fehlen. Das hättest du ja nicht sagen brauchen – ist Gassendeutsch“ (ebd., 61). Zumindest in der gesprochenen Sprache ist brauchen ohne zu also keineswegs so neu. Auch in literarischen Texten lassen sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts vereinzelte Belege finden (vgl. etwa die Beispiele in Bech 1955, 210f. und Scaffidi-Abbate 1973, 5f.). Die Analyse eines rein schriftsprachlichen Korpus in Gelhaus (1969) hat ergeben, „daß in der gegenwärtigen deutschen Hochsprache der Infinitiv nach brauchen durchweg mit zu angeschlossen wird“ (ebd., 317) und sich hier „ein nicht zu übersehender Gegensatz zwischen gesprochener (Umgangs-)Sprache und geschriebener (Hoch-)Sprache auf[tut]“ (ebd., 321). Der intuitiv plausible Unterschied zwischen Schrift- und Umgangssprache ist allerdings empirisch bislang keineswegs nachgewiesen, da es „keine repräsentative Untersuchung für die Frage gibt, ob und wieweit in Mundart und Umgangssprache der Infinitiv nach brauchen tatsächlich ohne zu angeschlossen wird“ (ebd., Anm. 41) – Gelhaus’ Einlassung hat m.W. ihre Gültigkeit bis heute _____________ 1
2
Erst jüngst wurde in den „Sprachnachrichten“, dem Vereinsblatt des Vereins Deutsche Sprache, als Kriterium guten Sprachgebrauchs genannt, dass die Sprache die Regeln der Grammatik und Orthographie beachten müsse; „brauchen ohne zu“ wird in diesem Zusammenhang als „schlechtes Beispiel“ angeführt (Götze 2007, 11). Ebenso beruft sich Weinrich (2005, 301) auf den „guten Sprachgebrauch“, wenn er schreibt: „Als einziges Modalverb der deutschen Sprache steht brauche (nicht) […] immer vor einem Infinitiv mit vorangestellter Präposition zu, doch weicht die Umgangssprache nicht selten von dieser Regel ab“; damit erklärt er brauchen zum „Sonderfall im System der Modalverben“. Weitere Angleichungstendenzen an die Charakteristika der modalen Präterito-Präsentien sind neben der Auslassung von zu vor Infinitiv: Wegfall der Flexionsendung -t in der 3. P. Sing. Präsens (er / sie / es brauch; Wurzel 1984, 149), Fehlen der Imperativform, Verwendung des Ersatzinfinitivs (Er hätte nur fragen brauchen / *fragen gebraucht; Kolb 1964, 76f.), Umlaut im Konjunktiv (bräuchte vs. brauchte; ebd., 74), epistemische Verwendung (Reis 2001, 312).
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen
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nicht verloren.3 Ebenso wenig lassen sich ohne empirische Fakten verlässliche Aussagen zum quantitativen Verhältnis der Vorkommen von brauchen mit und ohne zu oder zu der ‚gefühlten‘ Zunahme der Variante ohne zu treffen.4 Ganz ähnlich verhält es sich mit der von Sprachpflegern als vermeintlich aktuelle sprachliche Entgleisung aufs Korn genommenen Wendung in 2008, also einer Jahresangabe mit einfacher Präposition anstelle von im Jahr(e) 2008 oder einfach 2008. Von Schullehrern wie von Sprachkritikern wird das Muster in 2008 heute ganz überwiegend als nicht standardkonform angesehen (vgl. die Ergebnisse einer Befragung unter Lehrern in Davies / Langer 2006, 133) und auf einen derzeit starken Einfluss des Englischen zurückgeführt. Entsprechend findet sich die Konstruktion in der aktuellen sprachkritischen Anglizismen-Diskussion (vgl. z.B. König 2004, 11). Die Duden-Sprachberatung merkt in ihrem Newsletter vom 13.06.2008 an: In der Wirtschafts- und Werbesprache wird gelegentlich die aus dem englischsprachigen Raum stammende Verbindung der Präposition in mit einer Jahreszahl verwendet. […] Allerdings wird dieser Anglizismus nicht allgemein akzeptiert.
Auf der Homepage des Vereins Deutsche Sprache (VDS) wird in 2007 auf den „Anglizismenindex“ gesetzt. Ziel dieses Index ist es, „überflüssigen Anglizismen schon im Anfangsstadium ihres Erscheinens [zu begegnen]. Er ist damit ein aktuelles Nachschlagwerk für Wörter von heute“ (online im Internet: http://www.vds-ev.de/anglizismenindex; 30.01.2009). Und in einer Zwiebelfisch-Kolumne von Sick heißt es schließlich: Die Präposition ‚in‘ vor einer Jahreszahl ist ein Anglizismus, der vor allem im Wirtschaftsjargon allgegenwärtig ist. Die deutsche Sprache ist jahrhundertelang ohne diesen Zusatz ausgekommen und braucht ihn auch heute nicht. (Sick 2006, 229)
Hier irrt Sick allerdings, denn die deutsche Sprache erträgt diesen „Zusatz“ seit mindestens anderthalb Jahrhunderten offensichtlich recht gut, d.h. dessen Erscheinen befindet sich gewiss nicht im „Anfangsstadium“, wie der VDS vermutet. Wie Davies / Langer (2006, 134) dokumentieren, wird die Konstruktion ‚in + Jahreszahl‘ seit dem ausgehenden 19. Jahrhun_____________ 3
4
Lediglich für das Mosel- und das Rheinfränkische liegt mit Girnth (2000) inzwischen eine empirische Studie zum Modalverb brauchen vor. Girnth konstatiert hier eine Progression der Paradigmatisierung von brauchen anhand des Merkmals t-Ausfall in der 3. P. Sing. Präs. (und zwar erstaunlicherweise sowohl beim Vollverb als auch beim Modalverb). Eine Zunahme von zu-Ausfall vor Infinitiv lässt sich weitaus weniger klar erkennen (ebd., 115-136). Eine Tendenz zur Ausbreitung von brauchen ohne zu unterstellt implizit auch die DudenSprachberatung: „In der geschriebenen Sprache allerdings wird das zu vor dem Infinitiv meistens noch gesetzt“ (Newsletter vom 12.07.2002; online im Internet: http://www.duden.de/deutsche_sprache/sprachberatung/newsletter/).
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Ulrike Freywald
dert in diversen Sprachratgebern erwähnt (Matthias 1921 bringt Zeitungsbelege aus der Mitte des 19. Jahrhunderts) und meist französischem, seltener auch englischem Einfluss zugeschrieben. So schreibt etwa Wustmann: Wie mit nach hier und nach dort, verhält sichs auch mit in 1870, das man neuerdings öfter lesen kann. […] Es ist eine willkürliche Nachäfferei des Französischen und des Englischen. (Wustmann 1908, 258)
Diese beiden Beispiele sollen genügen, um die stete Neigung zu illustrieren, Konstruktionen, die normativ diskriminiert sind, als neu zu betrachten, da man wohl glaubt, Ungewohntes könne nur deshalb ungewohnt erscheinen bzw. als unpassend empfunden werden, weil es noch nicht etabliert, eben neu ist.5 Offensichtlich können ‚nicht etablierte‘ Strukturen diesen Status aber über sehr lange Zeit beibehalten – entweder weil sie sich tatsächlich nicht (oder nicht vollständig) ins Sprachsystem einpassen oder weil sie, obwohl vom grammatischen Verhalten her längst integriert und im nicht-normierten Sprachgebrauch durchaus etabliert, kontinuierlich als nicht normgerecht gebrandmarkt werden. Im Folgenden werde ich mich mit einem besonders kontrovers diskutierten Phänomen etwas ausführlicher beschäftigen, nämlich mit der Hauptsatzwortstellung (V2) nach traditionell subordinierenden Konjunktionen. Nach einem Überblick über Hypothesen und Vermutungen zu Häufigkeit und Alter der weil-V2-Konstruktion (Abschnitt 2.1.) werde ich den Blick auf ähnliche Konstruktionen mit anderen subordinierenden Konjunktionen ausweiten (Abschnitt 2.2. und 2.3.) und mich anschließend der Frage widmen, inwieweit es sich bei diesen Strukturen um althergebrachte Muster handeln könnte (Abschnitt 3.).
2. V2 nach ‚subordinierenden‘ Konjunktionen 2.1. V2 nach weil Die teilweise heftig debattierte Hauptsatzwortstellung in weil-Sätzen ist ein weiterer und beinahe schon klassisch zu nennender Fall für das Auseinanderklaffen von bewusster Wahrnehmung und tatsächlicher Emergenz einer Struktur, vgl. (2): (2)
Sie rauchen „Milde Sorte“, weil das Leben ist schon hart genug. (Extrabreit, „Polizisten“, 1981)
_____________ 5
Vgl. auch Lehmann (1991, 495): „[…] should anyone be inclined to conclude that just because something is currently in the colloquial language but condemned by normative grammar, it must be a recent development or indicative of an ongoing change, it is beneficial to read Sandig, 1973.“
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen
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Dieses Phänomen wird in der linguistischen Fachliteratur seit den 1990erJahren intensiv diskutiert6 und ist spätestens seit Gründung der Hamburger Aktionsgemeinschaft „Rettet den Kausalsatz“ im Jahre 1992 (s. hierzu Eisenberg 1993) zu einem Lieblingsthema der Sprachkritik geworden.7 Es gibt auf Ebene der Satzsyntax wohl kaum ein ‚Wandel‘-Phänomen, das im Bewusstsein linguistischer Laien derart präsent ist wie die Hauptsatzwortstellung in weil-Sätzen. Diese außerordentliche Präsenz wird wohl mit dazu geführt haben, dass auch Linguisten aufmerksamer hingehört haben und dass sie der ‚neuen‘ Verwendungsweise von weil fortan vermeintlich immer häufiger begegneten. Folglich wurde und wird weil+V2 oft als rezente Entwicklung eingeordnet, als ein Beispiel für aktuellen Sprachwandel. Dem stehen diachron orientierte Untersuchungen gegenüber, in denen Kausalkonjunktionen, die sowohl VL- als auch V2-Sätze einleiten können, als strukturelles Merkmal angesehen werden, das seit dem Beginn der deutschen Sprachgeschichte durchgehend vorhanden war. Entsprechend decken die Hypothesen zur Existenz dieser Konstruktion ein zeitliches Spektrum ab, das vom Ende des 20. Jahrhunderts bis zurück ins Althochdeutsche reicht: •
„seit ungefähr zehn Jahren in zunehmendem Maße“ (Gaumann 1983, 152)
•
„in der letzten Dekade“ (Zifonun u.a. 1997, 465)
•
„during the last ten to fifteen years“ (Günthner 1996, 323)
•
„in jüngster Zeit“ (Helbig 2003, 6)
•
„seit einiger Zeit“ (Uhmann 1998, 92)
•
das „neue weil “ (Keller 1993, 221)
_____________ 6
7
Stellvertretend für die umfangreiche Literatur sei hier auf Gaumann (1983), Küper (1991), Keller (1993), Wegener (1993; 1999), Uhmann (1998) sowie Gohl / Günthner (1999) verwiesen. Wie stark der normative Druck auch heute noch ist, wo die weil-V2-Konstruktion im Allgemeinen nicht mehr als Fehler diskreditiert wird, zeigt sehr schön eine für den Fremdsprachenunterricht entwickelte DVD des Goethe-Instituts. Hier wird – neben anderen Anpassungen an den Schriftstandard – ein von DJ Illvibe im Interview geäußerter weil-V2Satz im dazugehörigen Booklet als denn-Satz verschriftet: (I a) O-Ton DJ Illvibe „Ich würd mich schon als gleichberechtigter Musiker sehen, weil dieses Konzept DJ Band gibts sehr viel und sehr oft missverstanden.“ (I b) Text im Booklet „Ich würde mich schon als gleichberechtigten Musiker sehen. Denn dieses Konzept ‚DJBand‘ gibt es sehr viel, und es wird oft ein bisschen missverstanden.“ (KuBus Magazin, Begleitheft, S. 13)
60
Ulrike Freywald •
„at least since the early 1970s“ (Farrar 1999, 1)
•
„seit den 1920er Jahren“ (von Polenz 1999, 357)
•
„since Old High German“ (Lehmann 1991, 526)
•
mit Unterbrechung seit dem Althochdeutschen (vgl. Selting 1999)
•
„bekanntlich das im Substandard immer bewahrte ältere Muster“ (Breindl 2009).
Doch nicht nur über die Entstehungszeit, auch über die Ausbreitung von weil-V2-Sätzen wird spekuliert.8 Immer wieder ist von einer Zunahme der weil-V2-Konstruktion die Rede, für Weinrich (1984, 101f.) ist sie „ziemlich oft und mit vielleicht zunehmender Tendenz“ zu finden; Küper (1991, 133) konstatiert „zunehmenden Gebrauch“; Keller (1993, 218) sieht sie „unaufhaltsam auf dem Vormarsch“ und auch Willems (1994, 261) geht davon aus, dass „die Verbendstellung in Nebensätzen, die durch die Konjunktion weil eingeleitet werden, immer mehr durch die Verbzweitstellung verdrängt wird“; laut Glück / Sauer (1997, 41) „scheint [sie] an Terrain zu gewinnen“; Zifonun u.a. (1997, 465) sprechen von der „in der letzten Dekade immer stärker verbreiteten Verbzweitstellung in weil-Sätzen“, Farrar (1999, 1) von einer „increasing tendency to have V2 in dependent clauses“; von Polenz (1999, 337) glaubt eine „immer häufiger werdende Verwendung der Nebensatzkonjunktionen weil, obwohl, während (adversativ) mit Hauptsatzwortstellung“ zu beobachten. Keine dieser Aussagen beruht auf empirischen Daten, lediglich Uhmann (1998) und Wegener (1999) stützen ihre Aussagen zum quantitativen Verhältnis von weil+VL und weil+V2 auf Korpusanalysen. Wegener (1999, 7ff.) glaubt, von den 1960er- bis zu den 1990er-Jahren einen zahlenmäßigen Anstieg der weil-V2-Konstruktion (auf Kosten von denn) nachweisen zu können, und zwar hauptsächlich für das norddeutsche Sprachgebiet. Die Zahlen für die 60er-Jahre stammen für das norddeutsche Gebiet aus Texten des Freiburger Korpus, die Fernseh- und Rundfunkaufnahmen des SFB, RIAS und NDR beinhalten,9 d.h. in diesen Texten ist mit einer außerordentlich starken Standardorientierung zu rechnen. Für den süddeutschen Sprachraum werden hingegen Basisdialekt-Daten herangezogen (und zwar Eisenmanns Auszählung von fränki_____________ 8
9
Dies entspricht den beiden wesentlichen und methodisch sauber zu trennenden Aspekten von Sprachwandelphänomenen actuation und transmission (Weinreich / Labov / Herzog 1968). Hierbei wird offenbar vorausgesetzt, dass in norddeutschen Sendern nur mit norddeutschen Interview- und Diskussionspartnern gesprochen wird. Das gesamte Freiburger Korpus umfasst auch Aufnahmen von überregionalen Sendern (z.B. ARD, ZDF) und von Sendeanstalten im süddeutschen Sprachraum (z.B. SWF, ORF).
Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen
61
schen, schwäbischen, bairischen und alemannischen Texten des ZwirnerKorpus; vgl. Eisenmann 1973).10 Die Ausgangslage ist damit etwas schief, denn dass in den standardnahen Interviews Non-Standard-Strukturen selten(er) auftreten, ist zu erwarten. Die norddeutschen Vergleichszahlen für die 90er-Jahre entstammen privater Konversation und einigen Verkaufsgesprächen, also nicht-öffentlichen Kommunikationssituationen (im Gegensatz zu den Rundfunksendungen im Freiburger Korpus). Dass die Zahlen für weil-V2-Verwendungen hier höher ausfallen, mag also durchaus an der Textsorte und weniger am zeitlichen Abstand liegen. 2.2. V2 nach anderen subordinierenden Konjunktionen Ähnliche Probleme für die Einschätzung der quantitativen Entwicklung und für die zeitliche Einordnung tun sich selbstverständlich auch für die anderen traditionell als subordinierend klassifizierten Konjunktionen auf, die im Deutschen mit Hauptsatzstellung konstruiert werden können. Immer wieder genannt werden in diesem Zusammenhang obwohl (einschließlich der Varianten obschon und obgleich), konjunktionales wobei sowie adversatives während (mit seinen Entsprechungen währenddem und wo(hin)gegen): (3a) Es ist nämlich tatsächlich etwas dran, daß man nicht immer das Teuerste kaufen muß. Obwohl natürlich Kleiderstoffe oder solche Sachen, die kauf ich in meinem Alter gern solide, weil ich nicht so nach der Mode jedes Jahr gehe, net wahr? (AGD,11 alemannischer Hintergrund, 1961) (3b) 21 Dora: en Stipendium 22 dadurch eh (.) verHINdert man natürlich, 23 dass die richtig integriert sind im unibetrieb. 24 Nora: mhm 25 Greta: wo- wobei (.) es hat alles immer zwei seiten. (Günthner 2000, 314) (3c) Für Theater interessier ich mich schon, also da geh ich öfters mal hin und auch ins Kino, während Kunstausstellungen hab ich mir eigentlich selten angeguckt. (AGD, rheinfränkischer Hintergrund, 1961)
_____________ 10 11
Für Details zu diesen Korpora s. Anm. 14. Korpora des Archivs für Gesprochenes Deutsch, vgl. Anm. 14.
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Ulrike Freywald
Meistens bleibt es jedoch bei der bloßen Nennung12 (und der stillschweigenden Annahme, diese Konjunktionen verhielten sich im Prinzip genauso wie weil) sowie bei der Behauptung, V2 sei hier weniger stark verbreitet als bei weil. So findet sich in Küper (1991, 149) die Feststellung, „daß obwohl-Sätze […] sehr viel seltener mit Hauptsatzstellung gebraucht werden“, und Günthner (1993, 39) fragt, „weshalb sich diese Tendenz speziell bei WEIL- und OBWOHL-Teilsätzen zeigt, weniger bei WÄHREND und gar nicht bei anderen unterordnenden Konjunktionen (z.B. DA, WENN, ALS)“. Ähnlich meint Farrar (1999, 1): „However, the change seems not to be restricted to weil-clauses, even if it is most evident at present. V2 is also found after obwohl and to a more limited extent after während.“ Auch für Selting (1993, 167) spielen obwohl und während hinsichtlich V2 eine untergeordnete Rolle: „Zu diesen Konjunktionen gehören allen voran die Konjunktion weil, aber auch obwohl und eventuell während.“ Erstaunlich ist hieran zweierlei: Zum ersten ist die These, V2 trete nach anderen Konjunktionen als weil wesentlich seltener auf, offenbar nie empirisch überprüft worden. Es existieren scheinbar keine Untersuchungen, die eine solche Beobachtung belegen würden. Zum zweiten können Aussagen zur relativen Häufigkeit dieser Konstruktionen nur getroffen werden, wenn man jeweils das prozentuale Verhältnis zwischen VL- und V2-Instanzen pro Konjunktion berücksichtigt. Die absolute Zahl von obwohl- und während-Sätzen mit V2 mag zwar tatsächlich kleiner sein als die der weil-V2-Sätze, dies liegt aber lediglich daran, dass diese Konjunktionen generell seltener verwendet werden.13 Die Auszählung der IDS-Korpora (Freiburger Korpus, PfefferKorpus und Zwirner-Korpus; letzteres nur für obwohl, während und wobei)14 zeigt eine deutlich höhere Frequenz sämtlicher weil-Sätze (VL und V2) gegenüber den entsprechenden obwohl-, wobei- und adversativen während-Sätzen, vgl. Abbildung 1: _____________ 12 13
14
Die einzigen detaillierteren Arbeiten liegen mit Günthner (1999) zu obwohl und Günthner (2000) zu wobei vor. So schon Gaumann (1983, 45) mit Bezug auf Eisenmann (1973). Diese Bemerkung ist offensichtlich in der Folge vielfach als vermeintliche Aussage über die relative Häufigkeit missinterpretiert worden. Freiburger Korpus (Grundstrukturen): Umfang ca. 593.300 Wörter; Fernseh- und Rundfunkaufnahmen, weitere private und öffentliche Kommunikationssituationen; Erstellungszeitraum: 1960-1974. Pfeffer-Korpus (Deutsche Umgangssprachen): Umfang ca. 645.500 Wörter; Erzählmonologe und Dialoge; Erstellungszeitraum: 1961. Zwirner-Korpus (Deutsche Mundarten): Umfang ca. 3.292.000 Wörter; Erzählmonologe und Dialoge; Erstellungszeitraum: 1955-1960. Die Korpora sind über die Datenbank Gesprochenes Deutsch (DGD) online nutzbar. DGD ist Teil des Archivs für Gesprochenes Deutsch (AGD) am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, online im Internet: http://agd.idsmannheim.de/.
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Verbzweitstellung nach subordinierenden Konjunktionen
2000
168
V2 VL
N Sätze
1500
1000
1859
500
37
34 0
366 196
150
während
wobei
0 weil
obwohl
Abbildung 1: Anzahl der mit weil, obwohl, adversativem während und wobei eingeleiteten Sätze.
Die Gesamtzahl der weil-Sätze übersteigt die jeweilige Anzahl der mit obwohl, während oder wobei eingeleiteten Sätze um ein Vielfaches. Der Eindruck, weil stehe öfter mit V2 als andere Konjunktionen, ist wohl in der Tat (auch) darauf zurückzuführen, dass bei weil-Sätzen die Menge der Tokens generell größer ist. Betrachtet man dagegen das prozentuale Verhältnis zwischen VL- und V2-Vorkommen für jede Konjunktion einzeln, also den Anteil der V2Konstruktionen an der Gesamtzahl der jeweiligen Nebensätze, so ergibt sich das Bild in Abbildung 2. Hier zeigt sich, dass (a) wobei in den analysierten Korpora gar keine V2-Sätze einleitet; und dass (b) weil diejenige Konjunktion mit dem kleinsten Anteil an V2-Sätzen ist. Letzteres steht den Intuitionen, die in den oben zitierten Vermutungen zur Häufigkeit von weil+V2 zum Ausdruck kommen, diametral entgegen. Überraschenderweise leitet das meist gar nicht oder nur am Rande erwähnte während nahezu doppelt so oft V2-Sätze ein wie weil oder obwohl. Und der Anteil der V2-Sätze an der Gesamtmenge der obwohl-Sätze bleibt auch nicht, wie angenommen, hinter dem der weil-Sätze zurück, sondern liegt sogar etwas darüber.
64
Ulrike Freywald 100%
100%
91,7%
90,8%
VL V2
85,2%
80 % 60 % 40 % 20 %
14,8% 8,3%
9,2% 0%
0% weil
obwohl
während
wobei
Abbildung 2: Prozentuales Verhältnis von VL- und V2-Sätzen.
Dass für wobei überhaupt keine V2-Belege zu finden sind, kann entweder daran liegen, dass wobei-Sätze in den Korpora generell sehr selten sind (150 Sätze) und daher kein repräsentatives Bild liefern, oder aber daran, dass V2 nach wobei vor 30-40 Jahren tatsächlich ungebräuchlich bzw. noch kaum verbreitet war. Die Möglichkeit, nach wobei einen V2-Satz zu konstruieren, setzt zunächst die Entwicklung des wobei vom Relativadverb zur Konjunktion voraus. Die Verwendung als Konjunktion bzw. als Korrektur- oder Dissensmarker (vgl. Günthner 2000, 332) ist aus der Funktion hervorgegangen, die wobei als Relativadverb hat – komitative und diktumskommentierende Nebensätze einzuleiten (Zifonun u.a. 1997, 2323f.) – und dürfte wesentlich jünger sein. Es liegt also durchaus nahe, V2 nach wobei als relativ rezente Erscheinung zu betrachten (auch wenn der empirische Beweis hierfür freilich noch fehlt). Günthner (2000) macht in ihrer Untersuchung zu wobei-V2-Sätzen Beobachtungen, die eine solche Annahme stützen: Sie stellt in ihrem 1983-1998 erhobenen Korpus eine Zunahme von wobei mit V2 bei denselben Sprechern fest, während sie für die
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Zeit vor 1980 (etwa in Rundfunkdaten der 1930er- und 40er-Jahre) keine solchen Belege ausmachen kann (ebd., 335ff.).15 2.3. V2 nach dass Eine andere bislang ungeklärte Frage ist die, wie viele und welche Konjunktionen im Deutschen eigentlich sowohl VL- als auch V2-Sätze einleiten können. Auch hier wird meist vorbehaltlos davon ausgegangen, die Reihe dieser janusköpfigen Einleitungselemente sei im Gegenwartsdeutschen auf weil, obwohl und maximal während beschränkt (schon wobei wird selten erwähnt). Doch ist diese Liste wirklich so klar begrenzt? Ja und nein. Ja, weil unbestritten ist, dass nicht alle konjunktional eingeleiteten Nebensätze eine V2-Variante aufweisen.16 Es muss also eine Begrenzung geben dahingehend, dass nur bestimmte Konjunktionen eine solche Doppelfunktion besitzen (können). Nein, weil eine Grenze nicht eindeutig gezogen werden kann. Man weiß heute einfach (noch) nicht genau, welche Konjunktionen dazugehören und welche nicht. Unter den weniger häufigen Konnektoren sind durchaus einige weitere ‚verdächtige Kandidaten‘ zu vermuten, wie z.B. trotzdem oder insofern: (4a) insofern + VL Insofern die Krankheit eine Störung des Wohlbefindens ist, muss die Therapie auf dessen Wiederherstellung gerichtet sein. (Pasch u.a. 2003, 715; Hervorhebung UF) (4b) insofern + V2 Moderator Schmidt
Gab’s mal so’n Punkt, wo Sie gedacht ham, wir kriegen das nicht hin? Nein, aber’s gab schon Tage, wo’s wirklich auch knüppelhart kam […] Das sind alles keine Dinge, die nicht lösbar sind. Insofern solche Tage gab es, aber in der Regel – ich war davon überzeugt, dass das notwendig ist, bin davon überzeugt, dass es notwendig ist.
_____________ 15
16
Auch Auer (1997, 75) merkt an (allerdings ohne diese Annahme zu begründen): „In der gesprochenen Sprache ist das Inventar der beiordnenden Konjunktionen bekanntlich zumindest um weil, obwohl, konzessives wobei und adversatives während erweitert. Zumindest bei wobei dürfte es sich um eine neue Entwicklung handeln.“ Dies impliziert auch, dass das Deutsche nicht eine generelle Tendenz zur Aufgabe der Verbletztstellung in Konjunktionalsätzen zeigt, wie anfänglich von manchen Autoren geschlussfolgert wurde (s. z.B. Kann 1972, 379; Vennemann 1974; Gaumann 1983, 157). Zu verschiedenen Hypothesen, wieso die V2-Option nur bei bestimmten subordinierenden Konjunktionen auftritt, vgl. Wegener (2000) und Miyashita (2003).
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Ulrike Freywald
(RBB Inforadio, Interview mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, 22.01.2005) Ein Beispiel für eine außerordentlich frequente subordinierende Konjunktion, um die die Liste der VL / V2-Einleiter zu ergänzen ist, liegt mit dass vor. Auf diese Erweiterung des ‚VL / V2-Bestands‘ möchte ich im Folgenden etwas genauer eingehen. Im gesprochenen Deutsch werden auch dass-Sätze unter bestimmten Bedingungen mit V2 gebildet, wie z.B. in (5): (5)
Ich würde sagen, dass beide haben ihre Performanzvorteile. (Diskussionsteilnehmerin auf der Tagung „Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen“ in Graz, 2008)
Diese Konstruktion ist auf den ersten Blick in der Tat ungewöhnlich – wohl ebenso ungewöhnlich, wie vielen die weil-V2-Sätze beim erstmaligen bewussten Hören erschienen sein mögen. Die klassische subordinierende Konjunktion dass leitet in (5) einen Objektsatz ein, der nicht wie zu erwarten mit VL, sondern mit V2 gebildet ist. Was diese dass-V2-Sätze von den oben besprochenen V2-Adverbialsätzen grundsätzlich unterscheidet, ist ihr Argumentstatus. Ihrer syntaktischen Funktion nach stellen sie notwendige Satzglieder dar. Sie sind in all jenen Funktionen zu finden, die auch argumentrealisierende dass-VL-Sätze einnehmen können: (6)
Subjekt dazu kommt AUCH, dass manche der OBERflächenbeschichtungen – silikonharzfarben, dispersionsfarben – enthalten organische BEImengungen (Deutschlandfunk, Interview, 12.11.2004)
(7)
Objekt Ich würde sagen, dass beide haben ihre Performanzvorteile.
(8)
Prädikativ das wesentliche ist DAran ja daß der regisseur sitzt UNten und sieht mich von kopf bis ZEH (AGD, RIAS, Diskussion, 1962)
(9)
Komplementsatz zum Nomen (‚Attribut‘-Satz) aber ich hab MANCHmal, an MANchen stellen den eindruck, dass HIER steht der poeta doctus dem dichter im WEG (Deutschlandfunk, Diskussion, 20.10.2004)
Solche Vorkommen von dass-V2-Sätzen unterscheiden sich funktional von den entsprechenden VL-Pendants und sind also nicht als bloße Folge
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eines Planungsfehlers oder als Satzabbruch zu sehen. Wie in Freywald (2008 und 2009) dargelegt, lässt sich das Auftreten von V2 in dass-Sätzen als systematisches Muster der gesprochenen Gegenwartssprache beschreiben. Mit den V2-Sätzen nach weil, obwohl usw. teilen dass-V2-Sätze das Merkmal, dass der ursprüngliche Nebensatz durch die formale Kennzeichnung als potentiell selbständige Äußerung (mittels V2) pragmatisch aufgewertet wird und außerdem über eigene illokutive Kraft verfügt. Im Falle der dass-V2-Sätze ist die Illokution auf Assertion festgelegt: In sämtlichen mir bekannten Belegen sind die dass-V2-Sätze assertiert und enthalten die relevante, eigentliche Information der gesamten Äußerung. Damit korreliert die empirische Beobachtung, dass mit dass angeschlossene V2Sätze nie mit negierten / negierenden, interrogativischen oder faktischen Matrixprädikaten auftreten. Die plausible Erklärung hierfür liegt eben in der Assertiertheit der dass-V2-Sätze – sie kommen nur in Kontexten vor, die assertionsverträglich sind; eine Negation im Matrixsatz etwa würde mit dem Wahrheitsanspruch, der im folgenden dass-V2-Satz erhoben wird, in Konflikt geraten. Der kommunikative Vorteil einer solchen Konstruktion liegt darin, dass der Sprecher der im dass-Satz geäußerten Behauptung durch die V2-Form mehr Gewicht und Nachdruck verleihen kann. Mit der pragmatischen Aufwertung des dass-V2-Satzes ist eine Rückstufung des Matrixsatzes verbunden. Die Matrixsätze in dass-V2-Konstruktionen sind semantisch blass und fungieren lediglich als eine Art Ankündigung oder Interpretationsanweisung in Bezug auf den eigentlichen Inhalt der Äußerung, der im dass-V2-Satz ausgedrückt wird. Der funktionale Beitrag der Matrixsätze ist auf Diskursebene zu verorten: Sie dienen der Aufmerksamkeitssteuerung, der Kodierung von epistemischer und / oder evidentieller Information sowie der Organisation der Sprecher-Hörer-Interaktion; typische Matrixprädikate sind z.B. Einstellungsverben, wie wissen, sagen, meinen, Verben der Sinneswahrnehmung sowie Konstruktionen wie wichtig / interessant / schön sein bzw. der Punkt ist…, das Ding ist…, das Interessante / Spannende ist… u.ä. (s. hierzu ausführlich Freywald 2008). (10) das SPANnende daran ist, dass die lehrerinnen haben das lehrbuch SELber gemacht (Hörbeleg, niedersächsischer Hintergrund, 2003) Ein dass-V2-Satz ist also, was seinen Mitteilungswert angeht, seinem Matrixsatz nicht untergeordnet. Dies sollte sich auch in der syntaktischen Analyse dieser Konstruktionen widerspiegeln. Dementsprechend wird in Freywald (2009) eine Struktur vorgeschlagen, die eine parataktische Verknüpfung von Matrix- und dass-V2-Satz vorsieht (für eine solche Analyse sprechen darüber hinaus auch genuin syntaktische Argumente, wie Stel-
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lungsverhalten, Bindungsdaten und sogenannte Hauptsatzphänomene). Dabei ist der Matrixsatz (der nun eigentlich nicht mehr Matrixsatz heißen sollte) als eine Art Satzfragment mit redeeinleitender Funktion dem mit dass verknüpften, potentiell eigenständigen V2-Satz vorgeschaltet. Ähnlich wie im Falle der parataktischen Varianten von weil, obwohl usw. hat dass hier also nicht den Status einer subordinierenden Konjunktion. Im Gegensatz zu den erstgenannten verbindet dass jedoch nicht zwei völlig voneinander unabhängige Sätze oder Äußerungsteile. Durch die offene Argumentforderung im einstigen Matrixsatz bleibt dieser unvollständig; es ist gerade dieser syntaktische Spannungsbogen, der wesentlich zu einer Funktionalisierung des Matrixsatzes als hinweisendes, aufmerksamkeitsforderndes Element beiträgt. Vielmehr verknüpft dass ein diskursbezogenes Syntagma mit einem potentiell eigenständigen Satz und kennzeichnet diesen explizit als (als wahr unterstellte) Behauptung – das ehemals subordinierende dass hat hier die Funktion eines Assertionsmarkers. Die Liste von Konjunktionen, die sowohl VL- als auch V2-Sätze einleiten, ist also durchaus erweiterbar. Hier ist noch weitere Forschungsarbeit notwendig; an deren Anfang sollte die aufmerksame, unvoreingenommene Beobachtung stehen.
3. Hauptsatzwortstellung in Nebensätzen als ‚altes Substandardmuster‘? Auch die Frage nach dem Neuigkeitswert der Hauptsatzwortstellung in Nebensätzen stellt sich gleichermaßen für sämtliche genannten Konjunktionen, allerdings wurde bislang nur für weil versucht, sie zu beantworten. Die historische Entwicklung der deutschen Kausalkonjunktionen ist an sich sehr gut untersucht (vgl. z.B. Arndt 1959; Eroms 1980; insbesondere zum Aufkommen von weil+V2 Selting 1999 sowie Wegener 1999 u. 2000). Kurzgefasst: Die Tatsache, dass ein und dieselbe kausale Konjunktion sowohl VL- als auch V2-Sätze einleitet, stellt demnach vom Alt- bis Frühneuhochdeutschen durchaus den Normalfall dar: (11) Althochdeutsch (11a) uuanta + V2 qui manet In me et ego In eo hic fert fructum multum quia sine me nihil potestis facere. (Tatian, 283, 11-15)
therder In mir uuonet Inti ih in imo ther birit mihilan uuahsmon. uuanta uzzan mih nimugut ir niouuiht duon.
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(11b)uuanta + VL uuánda iz fóne dír chám (Notker, Boethius, 21, 2; zit. nach Petrova 2008) (12) Mittelhochdeutsch (12a) wande / wan + V2 Dâ soltû rehte deheinen zwîvel an hân, wan ez ist diu rehte wârheit (Berthold, I, 75, 37f.; zit. nach Eroms 1980, 104) (12b)wande / wan + VL wan iu und iuwern kindern des himelrîches als nôt ist, sô sult ir iuwer kinder selber ziehen (Berthold, I, 34, 37f.; zit. nach Eroms 1980, 104) (13) Frühneuhochdeutsch (13a) wan / wenn mit V2 Die edel kindelpetterinn die het nï kain rue, wann die geschëft die waren gros (H. Kottanerin, Denkwürdigkeiten, 21, 26-28, Wien 1445-1452; Bonner Fnhd.-Korpus) (13b)wan / wenn mit VL vnd ich mües hait die kran [= Krone] behalten in der kamer […] vnd ich behielt das vnder dem pett mit grossen sorgen, wann wir chain truhen da nicht heten. (H. Kottanerin, Denkwürdigkeiten, 13, 20-24, Wien 1445-1452; Bonner Fnhd.-Korpus) Die jeweilige kausale V2 / VL-Konjunktion wurde mit ähnlicher Funktionsaufteilung wie beim modernen weil einerseits zur epistemischen bzw. sprechaktbezogenen Begründung (mit V2), andererseits zur Begründung der im Bezugssatz ausgedrückten Proposition (mit VL) verwendet. In (12a) etwa begründet der Kausalsatz wan ez ist diu rehte wârheit nicht (nur) die Proposition des Vordersatzes ('daran sollst du keinen Zweifel haben'), sondern vor allem den Sprechakt als Ganzes; er liefert also eine Begründung für die Aufforderung, keinerlei Zweifel zu hegen. Ähnlich gibt wann die geschëft die waren gros in (13a) eine epistemische Begründung, während der Kausalsatz in (13b) für einen Sachverhalt (die Krone musste unter dem Bett aufbewahrt werden) den faktischen Grund nennt (es gab keine Truhe). Neben einer solchen V2-VL-Konjunktion gab es noch weitere Kausalkonjunktionen, wie sîd / sît, darumb daz, umbe daz u.a., die jedoch stets VL-Sätze einleiteten.
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Im Frühneuhochdeutschen wird das multifunktionale wan / wenn von denn und weil abgelöst, womit sich das neuhochdeutsche System – denn+V2 vs. weil+VL – etabliert (vgl. Arndt 1959, 389).17 Gemäß dieser Interpretation scheint es so zu sein, dass seit dem Ausgang des Frühneuhochdeutschen keine Kausalkonjunktion mehr existiert, die sowohl VL- als auch V2-Sätze einleitet: „Festzuhalten ist schließlich, daß denn und weil […] als neue Konjunktionen für Hauptsätze und Nebensätze disjunkt sind“ (Eroms 1980, 113). Ob jedoch die Struktur weil+V2 in (gesprochenen) Substandard-Varietäten nicht doch bereits seit dem Aufkommen von weil als Kausalkonjunktion zumindest als marginale Option existiert hat, ist freilich nicht sicher zu entscheiden, da uns naturgemäß aus dieser Zeit nur schriftliche Quellen zur Verfügung stehen, die – insbesondere im Zuge der Herausbildung und Etablierung eines Schriftstandards – mündliche Phänomene nur sehr bedingt widerspiegeln (vgl. zu diesem methodischen Problem Simon 2006). So konstatiert denn Selting (1999) auch eine „Beschreibungslücke“ vom 16.-19. Jahrhundert (ebd., 191), die sie mit empirischen Nachforschungen zu füllen versucht. Im Ergebnis bleibt die Lücke allerdings im Wesentlichen bestehen – es lassen sich auch in mündlichkeitsnahen Texten des fraglichen Zeitraums keine sicheren Belege für weilV2-Sätze finden (was aber umgekehrt auch noch kein Beweis für die Nicht-Existenz dieser Konstruktion ist). Vom gegenwärtigen Standpunkt aus lässt sich die weil-V2-Konstruktion mühelos bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, sie findet sich z.B. in Arbeiten zur Dialektsyntax (vgl. (14)), aber auch in literarischen Werken, wie in Canettis „Blendung“ aus den 30er Jahren – vgl. (15): (14a) weil bei mir ist es nicht sicher (Peller 1941, 40; Mundart des Traunseegebietes) (14b)saue nich ales ain, wail … ich mus⋅es wider rēne machn (Baumgärtner 1959, 106; Leipziger Umgangssprache) (15) Jung ist sie, ein Weib ist sie, und ich kann mit ihr machen, was ich will, weil ich bin der Vater. (Canetti 1993, 117; Erstveröffentlichung 1935) Auch die in Betten (1995) dokumentierten Gespräche mit nach Israel emigrierten deutschsprachigen Juden enthalten weil-V2-Sätze – vgl. (16):18 _____________ 17
18
Die Konjunktion denn wurde anfänglich auch mit VL verwendet (in oberdeutschen Texten hält sich denn / dann + VL bis ins späte 17. Jahrhundert, vgl. Brooks 2006, 176ff.). Für weitere weil-V2-Belege in diesen Gesprächen vgl. Weiss (2000). In einem kleinen Korpusausschnitt von ca. 9.900 Wörtern weisen acht von 31 weil-Sätzen Verbzweitstellung auf (= 26 %).
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(16) Ich bekam ganz plötzlich die Aufforderung zur Alija, zur Einwanderung bereit zu sein, ähm, einige Zeit später meine Schwester auch, weil es handelt sich um Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren. (Betten 1995, 154; Transkription vereinfacht) Dies ist als Hinweis auf eine frühe Verwendung dieser Konstruktion zu sehen, da es sich hier um ein Deutsch handelt, „das heute außerhalb des deutschen Sprachraums gesprochen wird […], aber im wesentlichen das gesprochene Deutsch der 20er Jahre und 30er Jahre […] repräsentiert“ (Betten 1995, 3). Diese Vorkommen von weil+V2 sind besonders aufschlussreich, da sich die Sprache der interviewten Emigranten generell durch einen „hohe[n] Grad syntaktischer Normorientierung“ auszeichnet (ebd., 5). Einen kleinen Vorstoß zur Verkleinerung der Beschreibungslücke liefert Elspaß (2005) mit Belegen aus der Mitte des 19. Jh., die sich in Briefen von nach Amerika ausgewanderten Deutschen finden: (17) als wir das getan hatten da war unser akord gebrochen Weil wir wusten nicht daß sei [sie] zusammen hielten (Heinrich Küpper aus Loikum / Niederrhein (ndfr.), Reiseaufzeichnungen, 1847ff.; Elspaß 2005, 300) Trotz der hohen Plausibilität der sogenannten Kontinuitätshypothese ist die Frage nach wie vor ungeklärt, ob das ‚mhd. System‘ als solches weiterbesteht oder ob es re-etabliert wurde. Die für die Kausalkonjunktionen gut beschriebenen historischen Gegebenheiten werden oft dahingehend verallgemeinert, dass das heutige Substandardphänomen ‚V2 im eingeleiteten Nebensatz‘ ganz allgemein (also auch für konzessive und adversative Konjunktionen) direkt auf die generell ‚freiere‘ Wortstellung im Alt- und Mittelhochdeutschen zurückzuführen sei. Autoren, die diese Ansicht vertreten,19 beziehen sich in der Regel auf Sandig (1973). Sandig beruft sich in ihrer Erklärung von Hauptsatzwortstellung in Nebensätzen auf die „Tendenz zur Nebenordnung“ in gesprochener Sprache (Baumgärtner 1959, 102) und postuliert:
_____________ 19
So z.B. Lehmann (1991, 526): „[s]uch constructions […] have been in the language since Old High German“; von Polenz (1999, 358): „Nebensätze mit Hauptsatzwortstellung als sehr alte Substandardmuster“; Selting (1999, 180): „historische Kontinuität seit zumindest dem Mittelhochdeutschen“ oder Breindl (2009): „bekanntlich das im Substandard immer bewahrte ältere Muster“.
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Für den „Nebensatz“ gab es von Anfang an zwei Wortstellungsmöglichkeiten: daz er komen ist daz der vater ist komen (Sandig 1973, 41)20
Zugrunde liegt einer solchen Argumentation die Auffassung, dass die Verbstellung im historischen Deutsch (bzw. bis heute bewahrt in mündlichen Varietäten) generell freier war (bzw. ist) als in der gegenwärtigen Standard- bzw. standardnahen Umgangssprache. Diese Erklärung beruht vermutlich auf der Fehlinterpretation von Aussagen in der traditionellen Literatur wie den folgenden: „im Althochdeutschen [existieren] sehr viele Varianten der Verbstellung im eingeleiteten Nebensatz“ (Admoni 1990, 75), „Sätze mit unvollständigem Rahmen [verschwinden] doch nie gänzlich“ (ebd., 200), es gäbe „keine festere Regelung im Nebensatz“ (Sonderegger 2003, 350) o.ä. Sie ist jedoch in mindestens dreierlei Hinsicht problematisch. Zum ersten – und dies ist wohl das Hauptproblem – erweisen sich „Varianten der Verbstellung“, „unvollständige[r] Rahmen“ usw. in aller Regel als Serialisierungsvarianten, die sich am rechten Satzrand, also innerhalb des Verbalkomplexes oder mit Bezug auf Nachfeldbesetzung, abspielen. Ein vermeintliches Schwanken zwischen VL und V2 ist daraus nicht herzuleiten. So ist alles andere als klar, ob in dem von Sandig zitierten Beispiel daz der vater ist komen tatsächlich Hauptsatzwortstellung vorliegt. Nebensatzwortstellung heißt im Deutschen ja nicht zwangsläufig absolute Verbletztstellung. Die Endstellung des finiten Verbs kann in der konkret realisierten Satzgliedfolge durch verschiedene Prozesse, wie etwa Ausklammerungen oder Umstellungen innerhalb des Verbalkomplexes, oberflächlich verwischt sein. In mehrgliedrigen Verbalkomplexen ist etwa die Abfolge der finiten und infiniten Verbalteile bis heute variabel. In der gegenwärtigen Standardsprache betrifft diese Variabilität hauptsächlich IPP-Konstruktionen (sog. ‚Ersatzinfinitiv‘). In älteren Sprachstufen und in den Dialekten existiert(e) jedoch eine noch weitaus größere Variantenvielfalt, hier sind auch in drei- und zweigliedrigen Prädikaten, in denen kein IPP-Effekt zum Tragen kommt, Serialisierungsunterschiede zu beobachten.21 Die beiden von Sandig angeführten Nebensatzstrukturen unterscheiden sich also topologisch betrachtet womöglich gar nicht voneinander, es liegen lediglich verschiedene Serialisierungen innerhalb des Verbal_____________ 20
21
Das Beispiel hat Sandig Behaghel (1932, XIII) entnommen, der damit allerdings nicht explizit die Verbstellung im Nebensatz, sondern die Wirkung rhythmischer Faktoren – hier die Variation zwischen er und der vater – auf die Abfolge der verbalen Elemente innerhalb des Verbalkomplexes illustriert. Vgl. z.B. Härd (1981) zur Diachronie, Patocka (1997) zum Bairischen, Seiler (2004) zu schweizerdeutschen Varietäten sowie Wurmbrand (2004) für einen Vergleich verschiedener deutscher Dialekte.
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komplexes (= rechte Satzklammer) vor – in beiden Fällen handelt es sich wohl um VL. Diese in der Generativen Syntax als „Verb Raising“ bezeichnete Erscheinung schließt auch ein, dass noch Konstituenten zwischen finites Verb und infinite(n) Verbalteil(e) treten, wie in (18) – dies wird gemeinhin unter dem Begriff „Verb Projection Raising“ gefasst:22 (18) Er hat gesagt, daß er hat unbedingt nach Hause gehen müssen. (Helbig / Buscha 1994, 109) Mit (18) liegt somit ein hinsichtlich der Verbstellung unentscheidbarer Fall vor, da die Zweitstellung von hat eine bloß scheinbare sein kann, denn auch mit mehr als einer Konstituente vor dem finiten Verb (womit zugrunde liegend VL vorliegt) bleibt der Satz grammatisch: (19) Er hat gesagt, daß er nach dem Essen hat unbedingt nach Hause gehen müssen. Diese Verwechslung von oberflächlicher und ‚echter‘ V2 liegt m.E. einer ganzen Reihe von Belegen zugrunde, die als Beispiele für V2 in eingeleiteten Nebensätzen angegeben werden, so etwa in dem immer wieder als früher Beleg für weil+V2 angeführten Satz aus Blatz (1900) – vgl. (20a) – oder in dem in Eroms (1980, 114) zitierten Beleg aus dem Wienerischen – vgl. (20b): (20a) Dem Wandersmann gehört die Welt, weil er kann über Thal und Feld so wohlgemut hinschreiten. (Blatz 1900, 765) (20b)weil der Doktor hat gesagt (Jezek 1928, 158; hier standardsprachlich wiedergegeben) Ebenso kann Ausklammerung, also die Versetzung von Konstituenten aus dem Mittelfeld ins Nachfeld, V2-ähnliche Strukturen ergeben, vgl. (21a) sowie die desambiguierte Version in (21b): (21a) Paula ist schon ganz aufgeregt, weil sie verreist nächste Woche. (21b)Paula ist schon ganz aufgeregt, weil sie zum ersten Mal verreist nächste Woche. Strukturen, die an der Oberfläche so aussehen wie V2, in denen aber gewissermaßen bloß zufällig nur eine Konstituente vor dem finiten Verb steht, müssen klar geschieden werden von Konstruktionen, in denen das finite Verb tatsächlich die syntaktische Zweitposition besetzt. Dazu sind _____________ 22
Ausführlich zu diesen Konzepten und zum theoretischen Hintergrund vgl. Haegeman / van Riemsdijk (1986) sowie den Überblick in Schönenberger (1995).
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fein abgestimmte, syntaxtheoretisch fundierte Diagnostika erforderlich (wie sie in traditionellen syntaktischen Arbeiten oft nicht angewendet werden). Zieht man solche Kriterien heran, um eindeutige von nicht eindeutigen bzw. nicht einschlägigen Fällen sauber zu trennen, so ergibt sich, dass die Hauptsatz-Nebensatz-Unterscheidung bereits im ältesten Deutsch weitgehend syntaktisch gesteuert ist, d.h. dass eine subordinierende Konjunktion stets VL nach sich zieht:23 Endstellung des finiten Verbs liegt bei eingeleiteten Nebensätzen vor […], ist jedoch, wie gesagt, aufgrund verschiedener Umstellungen häufig nicht als solche erkennbar […]. (Lenerz 1984, 130)
Mit einem geschärften Beschreibungsinstrumentarium können nun auch Unterschiede bei einzelnen Konjunktionen sichtbar gemacht werden. Allgemeine Aussagen wie „freiere Wortstellung“, „von Anfang an zwei Wortstellungsmöglichkeiten“ oder „[d]as Mittelhochdeutsche unterschied Haupt- und Nebensätze nur nach der Verbstellung, nicht durch unterschiedliche Konjunktionen“ (Wegener 1999, 12) suggerieren, dass eine Wahlmöglichkeit zwischen VL und V2 bei allen Konjunktionen bestanden habe. Dies scheint aber in nennenswertem Umfang nur auf die Kausalkonjunktion uuanta / wan(de) zuzutreffen, womit die funktionalen Vorläufer von weil offenbar einen Sonderfall darstellen. Legt man strengere formale Kriterien an, so lassen sich im Althochdeutschen nur äußerst wenige eingeleitete Nebensätze finden, die klar V2 aufweisen. So enthält der Althochdeutsche Tatian nur etwa 15 eindeutig als solche identifizierbare V2Sätze nach subordinierender Konjunktion, wovon bemerkenswerterweise zehn Fälle Kausalsätze sind (vgl. Petrova 2008). Wenn man weil exemplarisch die Konjunktion dass gegenüberstellt, zeigen sich erhebliche Unterschiede. Im Althochdeutschen ist V2 in thazSätzen extrem selten, vgl. aber (22): (22a) dhazs uuerodheoda druhtin sendida mih zu dhir quia dominus exercituum misit me ad te (Isidor 236, zit. nach Axel 2007, 106)
_____________ 23
Aussagen zum Althochdeutschen wie „fast alle Partikeln, die als Einleitungsstücke mit Endstellung bzw. Späterstellung des Vf. verbunden werden können, begegnen auch am Eingang von Sätzen mit Verbzweitstellung“ (Ebert 1978, 20) sind in diesem Zusammenhang höchst verwirrend, da hier nicht die Homonymie von koordinierenden und subordinierenden Konjunktionen gemeint ist, sondern die von konnektiven Adverbien und subordinierenden Konjunktionen (wie z.B. auch im informellen Gegenwartsdeutschen das Adverb trotzdem in Trotzdem hat sie angerufen homonym zur subordinierenden Konjunktion ist in …,trotzdem sie angerufen hat).
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(22b)táz er béiz ímo sélbemo ába die zúngûn (Notker, Boethius, De Consolatione II 91,3; zit. nach Axel 2007, 94, Anm. 69) Weiß (i. Dr.) zählt lediglich acht thaz-V2-Sätze in einem Korpus von 247 thaz-Sätzen.24 Auch im Althochdeutschen Tatian sind so gut wie keine eindeutigen thaz-V2-Sätze zu finden, scheinbare V2-Fälle sind als die oben beschriebenen verschleierten Verbletztstellungen zu analysieren, wie sie durch Extraposition o.ä. zustandekommen (vgl. Fleischer u.a. 2008). Fürs Althochdeutsche ist also mit Axel (2007, 104) festzuhalten: „There are only very few dhazs-clauses which exhibit postfinite material of such a kind that an extraposition analysis is unlikely.“ Heutige dass-V2-Konstruktionen sind offenbar nicht ebenso geradlinig auf eine historisch bereits einmal existente Situation rückführbar wie weil-V2-Sätze. Für die Konjunktionen obwohl und während stehen empirische Untersuchungen zur Diachronie noch aus. Eine einfache Übertragung der Ergebnisse zu Geschichte und Vorgeschichte von weil ist jedoch mit einiger Sicherheit zu kurz gedacht (allein schon deshalb, weil der konjunktionale Gebrauch von obwohl und während wesentlich jünger ist). Ein zweites Problem ist die etwas missverständliche Erklärung, dass die den Dialekten bzw. allgemein der gesprochenen Sprache immer wieder zugesprochene Tendenz zur Parataxe (z.B. Arndt 1959, 408: „Neigung zur Aufgabe der Endstellung des finiten Verbs“) zur Entstehung bzw. zur Bewahrung von V2 in eingeleiteten Nebensätzen geführt habe. Eine Präferenz für parataktische Strukturen – sofern diese tatsächlich vorliegt, siehe den folgenden Absatz – bedeutet ja nicht automatisch, dass ein und dieselbe subordinierende Konjunktion alternativ auch parataktisch gebraucht wird. ‚Neigung zur Parataxe‘ ist wohl vielmehr so zu verstehen, dass in den Mundarten hypotaktische Strukturen generell vermieden werden und dass stärker als in der Schriftsprache von parataktischen Konnektoren oder asyndetischer Verknüpfung Gebrauch gemacht wird. Die eigentliche Frage, nämlich ob es auch in älteren Sprachstufen Konjunktionen gab, die sowohl VL- als auch V2-Sätze einleiten konnten, so wie sie heute mit weil, obwohl, während, wobei und dass (sowie möglicherweise weiteren) vorliegen, bleibt also nach wie vor unbeantwortet. Drittens schließlich ist diese vermeintliche Bevorzugung der Parataxe in mündlicher Kommunikation womöglich gar nicht in dem Umfang gegeben wie häufig unterstellt. Wie Auer (2002) gezeigt hat, sind bestimmte Nebensatztypen, etwa wenn- und dass-Sätze, in der gesprochenen Sprache sogar häufiger als in der geschriebenen (vgl. Auer 2002, 133f.). Auer zu_____________ 24
Das Korpus umfasst Belege aus Köbler (1986) sowie die Auswertung des ahd. Isidor in Robinson (1997).
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folge werden hypotaktische Strukturen aufgrund ihrer schwierigeren Prozessierbarkeit nicht, wie meist angenommen, in gesprochener Sprache generell gemieden, sondern nur dann, wenn die Einbettungsrichtung der zeitlichen Linearität des Sprechens / Hörens entgegenliefe (was das Prozessieren tatsächlich deutlich erschweren würde). Zudem wird in mündlicher Kommunikation die syntaktische Integrationstiefe möglichst gering gehalten, die Integration als solche wird aber umfassend eingesetzt (vgl. ebd., 136). Eine allgemeine ‚Tendenz zur Nebenordnung‘ in mündlichen Varietäten aufgrund von zu hohem Verarbeitungsaufwand komplexer Sätze ist daher als Erklärung für die Existenz von V2-Sätzen nach subordinierenden Konjunktionen weder ausreichend noch plausibel. Eher sind hier wohl Faktoren ausschlaggebend, die die speziellen Diskursanforderungen und -strategien in der mündlichen Interaktion betreffen. Die drei genannten Überlegungen sollten deutlich machen, dass bei der Frage nach dem Alter von ‚subjunktional‘ eingeleiteten V2-Sätzen durchaus eine gewisse Vorsicht geboten ist und dass es sich lohnt, auch vermeintliche Allgemeinplätze immer wieder neu zu hinterfragen. Bevor man vorschnell auf plausibel erscheinende Zusammenhänge schließt, sollte man sich also stets fragen, ob es nicht auch ganz anders (gewesen) sein könnte. Was konkret Alter und Häufigkeit der weil-V2-Konstruktion betrifft, gilt dies natürlich in beiden Richtungen: Ebenso wenig wie das vermeintlich hohe Alter pauschal auf die Gesamtheit verwandter Strukturen übertragen werden darf, sollten Aussagen zu grammatischen Entwicklungen nicht auf das mehr oder weniger zufällig am besten untersuchte Phänomen reduziert werden. Wie bereits mehrfach angeklungen ist, kann ein solchermaßen verengter Blick umgekehrt dazu führen, dass Dinge, die zusammengehören, nicht als zusammengehörig erkannt werden, m.a.W. dass systematische Zusammenhänge unbemerkt bleiben. Ein Beispiel hierfür demonstriert – unfreiwilligerweise – die IDS-Grammatik (vgl. Zifonun u.a. 1997). Hier wird für obwohl- und weil-Sätze ein funktionaler Unterschied zwischen VL und V2 angenommen: „Alles spricht dafür, daß diese Formdifferenzierung funktional erklärt werden muß“ (ebd., 465). Die V2-Sätze in (23) werden hingegen als anakoluthisch angesehen – obwohl sie den weil- und obwohl-Sätzen strukturell ganz ähnlich sind: (23a) Ich bin überzeugt, daß, wenn es einmal im Gange ist, so muß es (…) sich (…) sehr weit verbreiten. (23b)(…) dann sind Sie bei ner Fünfzigstundenwoche angelangt→ und das . bei schönem Wetter ↓ . mutmaßlich ↓ ((0.8)) ja . wäh-
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rend also der normale Werktätige ((0.8)) kämpft um ne Vierzigstundenwoche.
(23c) (…) diese Kalziumbehandlung machen wobei wenn man dann merkt daß das mit Kalzium besser wird heißt das nicht, daß das n Kalziummangel is ↓ (Zifonun u.a. 1997, 462f.; Unterstreichung markiert Akzent, Kursivierung UF) Zifonun u.a. (1997, 462) führen die eingebetteten wenn-Sätze in (23a,c) als Grund für den „Konstruktionswechsel“ an (beide V2-Sätze sind nicht in einen VL-Satz umformbar) und sehen darin folglich eine anakoluthische Konstruktion. Auch wenn die wenn-Sätze die V2-Form hier begünstigen mögen, so sind sie doch keine notwendige Bedingung (vgl. die Beispiele in (3c) und (5), in denen während und dass auch ohne einen solchen Auslöser mit V2 konstruiert werden). Zugleich würde einen ebenso konstruierten weil-Satz niemand als Anakoluth bezeichnen (vgl. Wichtig sind viele Pausen, weil wenn die Konzentration nachlässt, kommt es zu Flüchtigkeitsfehlern.). Es ist also ganz unangemessen, dass Zifonun u.a. (ebd., 466) den folgenden Schluss einzig mit Bezug auf weil ziehen und die betreffenden anderen Konjunktionen dabei außer Acht lassen: „Die behandelte weil-Konstruktion ist also kein Anakoluth mehr, sondern eine diskursspezifische syntaktische Konstruktion.“ Eine Erklärung hierfür wird allerdings wohl darin zu suchen sein, dass nur weil in der Fachliteratur so prominent diskutiert worden ist.
4. Zusammenfassung Ziel des vorliegenden Beitrages war es zu zeigen, dass Intuitionen hinsichtlich Vorkommenshäufigkeit und Alter von sprachlichen Phänomenen trügerisch sein können, wenn man sich hauptsächlich auf die eigene Wahrnehmung verlässt bzw. wenn man die Ergebnisse einer Analyse mehr oder weniger ungeprüft auf ähnliche Phänomene überträgt, nur weil dies intuitiv plausibel erscheint. Am Beispiel von Nebensatzkonjunktionen, die im Gegenwartsdeutschen nicht nur subordinierend, sondern auch parataktisch gebraucht werden, habe ich zu zeigen versucht, dass es zu Fehleinschätzungen führen kann, wenn zu voreilig von einem Vertreter, hier dem vergleichsweise gut untersuchten weil, auf andere Konjunktionen mit ähnlichen Eigenschaften geschlossen wird. So hält der von vielen Linguisten geteilte Eindruck, V2-Sätze seien mit weil verbreiteter als mit obwohl u.a., einer empirischen Überprüfung nicht stand. Im Gegenteil, der Anteil von
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parataktischen Verknüpfungen ist bei den eher als marginal angesehenen Konjunktionen während und obwohl in Wirklichkeit sogar höher als bei weil (vgl. Abschnitt 2.2.). Und interessanterweise gibt es hier keine Schmähurteile von Seiten der Sprachkritik oder gar ‚Rettungsaktionen‘. Ebenso ist die Annahme, die heutige Situation mit einer ganzen Reihe von janusköpfigen Konjunktionen entspreche einem historisch schon einmal dagewesenen System, so wohl nicht haltbar. Die Verhältnisse im Bereich der Kausalkonjunktionen, zu deren Inventar tatsächlich bis ins Frühneuhochdeutsche stets auch eine Konjunktion zählt, die VL- und V2Sätze einleitet, müssen als Spezialfall gewertet werden. Verweise auf die ‚freiere Wortstellung‘ im älteren Deutsch geben keinen Anlass zu der Annahme, es habe in eingeleiteten Sätzen generell pro Konjunktion mehrere Optionen bezüglich der Verbstellung gegeben. Bei näherem Hinsehen und theoretisch ausgefeilteren Analysen wird deutlich, dass ein großer Teil der vermeintlichen Verbstellungsvarianz auf Umstellungen innerhalb des Satzes zurückzuführen ist, die die Nebensatzposition des finiten Verbs (d.h. VL) gar nicht berühren. Vielmehr bewirken andere, von Haupt- oder Nebensatzstatus ganz unabhängige Gründe, dass nach dem Verb in syntaktischer Letztstellung noch weitere Konstituenten erscheinen, so dass eine Form entsteht, die zufällig wie V2 aussieht. Die historischen Beschreibungsansätze, die für weil und seine Vorläufer existieren, sind also nicht ohne weiteres auf obwohl u.a. übertragbar (vgl. Abschnitt 3). Wie alt die VL / V2-Variation bei diesen anderen Konjunktionen tatsächlich ist und in welcher Weise die Entwicklung dieser Strukturen ihren Anfang genommen hat, konnte und sollte im Rahmen dieses Beitrags nicht geklärt werden. Es ging lediglich darum, den Blick dafür zu schärfen, dass eine Non-Standard-Struktur, wie weil + Hauptsatzwortstellung, nicht ganz neu sein muss, nur weil sie erst seit kurzem bewusst wahrgenommen wird, und dass umgekehrt damit verwandte Konstruktionen nicht ebenso alte Vorläufer haben müssen, wie dies für den prominenten Fall, eben die Kausalkonjunktionen, gilt. Es wäre z.B. durchaus denkbar – und dies ist an dieser Stelle eine reine Hypothese –, dass die V2-Option nach obwohl, während, wobei oder dass tatsächlich eine relativ neue Entwicklung ist, die sich in Analogie zu den Kausalsätzen vollzogen hat (ob weil-V2-Sätze dabei ein durchgehendes oder aber ein wiederauflebendes Muster darstellen, ist für diesen Gedanken erst einmal unerheblich). Um dem Phänomen von hauptsatzförmigen Strukturen nach Nebensatzkonjunktionen auf die Spur zu kommen, ist eine übergreifende Betrachtung notwendig sowie – und es ist wohl unnötig, dies zu betonen – mehr Empirie. Wir sind also noch nicht am Ende der Diskussion zu den VL / V2Konjunktionen. Jedoch steht mittlerweile ein differenziertes Beschreibungsinventar zur Verfügung, das diskursanalytische Analysen verbinden
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kann mit moderner Syntaxforschung, die es ermöglicht, unter die Oberfläche von syntaktischen Erscheinungen zu schauen. So sind bei kluger Quellenauswahl und umsichtiger Analyse interessante Ergebnisse insbesondere auch für die historische Syntax zu erwarten.
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Die deutsche Nominalklammer Geschichte, Funktion, typologische Bewertung
Elke Ronneberger-Sibold (Eichstätt)
1. Einleitung In diesem Aufsatz wird die Geschichte der deutschen Nominalklammer unter typologischem Gesichtspunkt beleuchtet. Die Einordnung des Deutschen nach den herkömmlichen Kriterien ‚synthetischer vs. analytischer Sprachbau‘ und ‚OV-typische vs. VO-typische Serialisierung‘ bereitet notorische Schwierigkeiten.1 So ist z.B. einerseits der Ausdruck von Definitheit als grammatische Kategorie durch die Artikel sicherlich ein Schritt in Richtung Analytizität, andererseits sind die stark komprimierten und unregelmäßigen, kaum anders als durch Suppletion beschreibbaren Formen des bestimmten Artikels hochgradig synthetisch. Was die Wortstellung angeht, so vereinigt gerade die Nominalphrase mit der OV-typischen Stellung der kongruenzfähigen Attribute und Artikelwörter links und der VO-typischen Stellung der nicht kongruenzfähigen Attribute und des Relativsatzes rechts vom Kernsubstantiv beide Stellungstypen in sich. Beide wurden im Übrigen durch Sprachwandel herbeigeführt: Einerseits wurden nachgestellte Adjektive vorangestellt, andererseits das vorangestellte Genitivattribut nachgestellt. Diese (und weitere) typologischen Ungereimtheiten sind in Ronneberger-Sibold (1991; 1994; 1997; 2007) versuchsweise durch ein typologisch relevantes Prinzip erklärt, das synchron wie diachron den anderen typologischen Tendenzen übergeordnet ist. Dieses Prinzip ist das so genannte klammernde Verfahren. In diesem Aufsatz wird dieser Gedanke mit einem speziellen Fokus auf der Nominalklammer weiter ausgebaut. _____________ 1
Vgl. verschiedene Beschreibungen und Erklärungen der typologischen Widersprüche in Askedal (1996; 2000); Eisenberg (1994, insbesondere 371-376), Hawkins (1986, insbesondere Kapitel 9-11), Hutterer (1990, insbesondere 452-467), Primus (1997), Roelcke (1997, insbesondere Kap. 4 und 5).
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Im Folgenden wird zunächst in Abschnitt 2 gezeigt, wie die Tendenz zur Klammerbildung das gesamte neuhochdeutsche Sprachsystem auf allen Ebenen wie ein roter Faden durchzieht. In vielen Fällen ist dazu die Einbeziehung von Substandardvarietäten notwendig, in denen sich Tendenzen durchsetzen können, die in der stärker normierten Standardsprache nicht akzeptiert sind. In Abschnitt 3 wird die Funktion des klammernden Verfahrens diskutiert. Abschnitt 4 ist der diachronen Perspektive am Beispiel der Nominalklammer gewidmet. In einem diachronen Längsschnitt durch die deutsche Sprachgeschichte werden die wichtigsten Schritte bei der Herausbildung dieser Konstruktion verfolgt. Es geht dabei also nicht um die Frage, wie häufig die einmal etablierte Nominalklammer zu welcher Zeit in welchen Textsorten war, wie komplex ihr Innenaufbau war, welche Durchbrechungen möglich waren, wie all dies gegebenenfalls durch bestimmte Texttraditionen und bestimmte außersprachliche Entwicklungen motiviert war usw. Dazu ist viel geleistet worden.2 Hier wird vielmehr danach gefragt, welche Veränderungen und Bewahrungen notwendig waren, um diese Konstruktion überhaupt entstehen zu lassen. Davon betroffen sind die Wortstellung (4.1.) sowie die Morphologie des linken (4.2.) und des rechten Klammerrandes (4.3.). Die Veränderungen, die den rechten Klammerrand betreffen, reichen diachron am weitesten in die Vergangenheit zurück. Sie werden daher besonders ausführlich dargestellt, zumal sie bisher kaum im Hinblick auf ihre Funktion für das klammernde Verfahren untersucht wurden (vgl. aber Ronneberger-Sibold 2007 und i. Dr.). In sprachvergleichender Perspektive zeigt sich, wie das Deutsche sich unter anderem durch diese Veränderungen und Bewahrungen typologisch mehr und mehr von den genetisch verwandten übrigen germanischen Sprachen entfernt hat, die eine andere Entwicklung nahmen. In diesem Aufsatz sind das Englische und das Schwedische als besonders deutliche Beispiele gewählt. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Ansicht wird hier also die Meinung vertreten, dass das Deutsche in typologischer Hinsicht nicht einfach nur konservativer ist als die meisten anderen germanischen Sprachen, sondern dass es sich in eine andere Richtung, eben auf das klammernde Verfahren hin entwickelt hat. Diese typologische Auseinanderentwicklung wird bis zu ihren frühesten Ansätzen zurückverfolgt, die sich bereits im Germanischen ausmachen lassen. Alle Erscheinungen, die im synchronen und im diachronen Teil dieses Aufsatzes zur Sprache kommen, haben bzw. hatten jede für sich ihre eige_____________ 2
Vgl. die einschlägigen Handbücher, v.a. Behaghel (1932, insbesondere 177-226 und 241251), Ebert (1986), Admoni (1990), Solms / Wegera (1991), als wichtige Monographie Weber (1971) sowie die Aufsätze von van der Elst (1988), Lötscher (1990).
Die deutsche Nominalklammer
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nen Motive: Sie dienen bzw. dienten von Fall zu Fall der Verkürzung oder auch der Verdeutlichung des Ausdrucks, der Vereinheitlichung der Wortstellung, der Steuerung der Aufmerksamkeit des Hörers bzw. Lesers und anderen Zwecken mehr. Keines dieser Motive soll in Abrede gestellt werden. Was jedoch alle diese Erscheinungen verbindet, ist ihre Nützlichkeit für das klammernde Verfahren. Diese verschaffte ihnen, so die hier vorgetragene These, einen Selektionsvorteil gegenüber anderen, konkurrierenden Neuerungen mit ihren eigenen, oft konträren Motiven. Je mehr Klammerkonstruktionen auf diese Weise entstanden, umso stärker wurde ihre musterbildende Kraft und umso größer der Selektionsvorteil für weitere Klammern. Als solche lawinenähnliche Prozesse dürfte sich die Durchsetzung nicht nur des klammernden Verfahrens, sondern jedes typologisch relevanten Zugs in einem Sprachsystem modellieren lassen. Anders ist schwer vorstellbar, wie sich angesichts der vielen, einander widerstreitenden Motive innerhalb einer Sprachgemeinschaft und sogar innerhalb desselben Sprechers beim selben Sprechakt überhaupt ein typologisch einheitliches Sprachsystem herausbilden kann.3 Insofern versteht sich dieser Aufsatz auch als ein Beitrag zur allgemeinen Theorie des Sprachwandels.
2. Das klammernde Verfahren im Neuhochdeutschen 2.1. Definition Das klammernde Verfahren besteht darin, dass bestimmte Bestandteile eines Satzes so von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, dass der Hörer / Leser aus dem Auftreten des ersten Signals mit sehr großer Wahrscheinlichkeit schließen kann, dass der betreffende Bestandteil erst dann beendet sein wird, wenn das passende zweite Signal in der Sprechkette erscheint (vgl. auch Ronneberger-Sibold 1994, 116). Die beiden Signale können, aber müssen nicht in einer engen strukturellen Beziehung zueinander stehen. Sehr eng ist sie z.B. zwischen den beiden Teilen der Zirkumfixe zur Markierung des Partizips Perfekt ge...(e)t (ge-sag-t, ge-red-et) oder ge...en (ge-komm-en); sehr lose, wenn überhaupt vorhanden, ist sie dagegen zwischen einer Subjunktion oder einem Relativpronomen am Anfang und dem finiten Verb am Ende eines eingeleiteten Nebensatzes.4 Für die Performanz des Lesers / Hörers macht das keinen Unterschied: Er _____________ 3 4
Tatsächlich sind ja die meisten Sprachsysteme typologisch nicht vollkommen einheitlich. Mit Weinrich (2007) wird das Relativpronomen hier (anders als in Duden 2005) als linker Klammerrand betrachtet.
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kann sich ebenso darauf verlassen, dass eine Verbform, die mit ge- beginnt, höchstwahrscheinlich mit -(e)t oder -en endet5, wie dass ein Nebensatz, der mit dass oder ob beginnt, höchstwahrscheinlich durch sein finites Verb abgeschlossen wird. Wegen dieses performanzbezogenen Kriteriums werden hier zum klammernden Verfahren auch solche Konstruktionen gezählt, die in der Grammatikschreibung bislang nicht (oder nicht einhellig) als solche betrachtet werden. 2.2. Die Nominalklammer Als Beispiel für die diesem Aufsatz zugrunde gelegte Definition der Nominalklammer dient der folgende Textabschnitt, der aus einem Zitat aus einer Musikkritik und unserem kurzen grammatischen Kommentar dazu besteht. Die Nominalklammern sind durchnummeriert und durch Kursivdruck der Ränder hervorgehoben. „(1) Der herbstlich mürbe Tonfall, (2) die immer (3) im Atemrhythmus (4) der Musiker flexibel sich aufbauenden Klanggespinste, (5) die auf Melancholie zielende Verhaltenheit – da sind (6) die Ebènes zu Hause.“6 (7) Dieser aus (8) einer Fülle (9) ähnlicher Beispiele relativ willkürlich herausgegriffene Satz enthält sechs hier vorsorglich durchnummerierte, teils parallele, teils ineinander geschachtelte Beispiele für (10) die deutsche Nominalklammer.
Als Nominalklammer werden hier alle diejenigen Nominalphrasen bezeichnet, die mit einem stark flektierten Element am linken Rand beginnen und mit dessen Bezugssubstantiv – dem so genannten Kernsubstantiv der Klammer – enden. Zur starken Flexion wird hier auch die Flexion des bestimmten Artikels gezählt, auch wenn sich beide lautlich z.T. stark unterscheiden. Ausschlaggebend sind die Distinktivität der Formen, die in den beiden Paradigmen nahezu gleich ist, die Kongruenzfähigkeit und die Möglichkeit, eine Nominalklammer zu eröffnen. Die letztgenannte Möglichkeit hat die so genannte schwache Adjektivflexion nicht. Sie ist bekanntlich auf attributiv verwendete Adjektive beschränkt, die im Inneren einer Nominalklammer nach einem stark flektierten Determinans am linken Rand stehen, z.B. mürb-e in Klammer (1), sich aufbauend-en in (2). Außerdem ist die Distinktivität der schwachen Adjektivflexion im Vergleich zur pronominalen stark eingeschränkt: Die einzig möglichen Endungen sind -e und -(e)n. Ihre wesentliche Funktion ist, dem _____________ 5
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Ausnahmen sind nur Verben mit festem ge- wie gehören, gelingen, gerinnen, genießen. Bei diesen sind -(e)t und -en auch als Personalendungen (er / sie / es ge-hör-t; wir / sie ge-hör-en) und außerdem andere Endungen (-st, -end, Null) möglich. Brembeck, Reinhard J., „Wehmut der Konversation. Das Quatuor Ebène mit Haydn, Fauré und Schubert in München“, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Januar 2009, 12.
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Hörer / Leser zu signalisieren, dass er sich bei der syntaktischen Dekodierung gerade im Inneren einer Nominalklammer befindet. Ganz unflektiert sind Adjektive in prädikativer und adverbialer Verwendung, auch innerhalb der Nominalklammer, z.B. herbstlich in (1) in Opposition zu an dieser Stelle ebenfalls denkbarem attributivem herbstliche, parallel zu mürbe. Eine Füllung der Klammer ist nach der hier gegebenen Definition nicht notwendig: Auch z.B. (3), (4), (6), (8) und (9) zählen als Nominalklammern. Dem Kernsubstantiv nachgestellte Attribute wie etwa die Genitivattribute in (4) und (9) sind nicht Teil der Nominalklammer: der Musiker ist zwar Teil der Nominalphrase mit dem Kernsubstantiv Atemrhythmus, aber nicht Teil seiner Nominalklammer. Der linke Klammerrand ist in den Klammern (1) bis (6) durch den bestimmten Artikel besetzt (in (3) verschmolzen mit einer Präposition); diese Funktion kann aber auch ein anderes Determinans wie dieser in (7) oder der unbestimmte Artikel in (8) sowie ein stark flektiertes Adjektiv wie ähnlicher in (9) übernehmen. Die eigentliche Klammer wird aber nicht durch diese Wortarten und die Wortart Substantiv an ihrem rechten Rand gebildet, sondern durch ihre Flexion und das Genus des Kernsubstantivs. Am linken Rand wird nämlich im Hörer / Leser nicht nur die Erwartung auf irgendein Kernsubstantiv erweckt, sondern auf ein Kernsubstantiv, das in Genus, Kasus und Numerus zum linken Klammerelement passt. Es handelt sich also (in herkömmlicher Terminologie) um eine Kongruenzklammer.7 Die Kongruenz zwischen linkem und rechtem Klammerrand ist deshalb für das Deutsche so wichtig, weil alle von den Attributen abhängigen Konstituenten mit in die Klammer aufgenommen werden. Sie stehen dort im Einklang mit der Tendenz zur OV-Stellung links von ihrem Bezugswort. Diese Regelung, die zu den berüchtigten langen und komplexen deutschen Nominalklammern führt, hat zur Folge, dass der Hörer / Leser vor dem Kernsubstantiv bereits zahlreiche weitere antrifft. Wenn diese keine eigene Klammer besitzen, verhindern einzig die mangelnde Kongruenz und gegebenenfalls der Textsinn ein vorzeitiges Schließen der Klammer (eine so genannte „Garden-Path-Analyse“, Pritchett 1988) wie z.B. der Bezug von dieses auf Ausländern in der Nominalphrase dieses Ausländern nur schwer vermittelbare System (vgl. Ronneberger-Sibold 1994, 121). Wie wichtig die Kongruenz für die reibungslose Dekodierung deutscher Nominalklammern ist, zeigen die glücklicherweise nicht sehr häufi_____________ 7
Das Zusammenwirken der verschiedenen an der Nominalphrase beteiligten Wortarten mit ihren Flexionen ist in der Literatur sehr unterschiedlich beschrieben bzw. interpretiert worden. Vgl. z.B. Werner (1979, s. dort auch die Aufarbeitung der älteren Literatur), Wurzel (1984, 90ff.), Admoni (1990, 18), Gallmann (1990), Ágel (1996). Für das Funktionieren des klammernden Verfahrens spielen diese Beschreibungsvarianten jedoch keine Rolle.
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gen Fälle, in denen das System versagt, weil zufällig vor dem Kernsubstantiv ein weiteres mit derselben Genus-Kasus-Numerus-Kombination steht, das zudem auch inhaltlich passen könnte. Beispielsweise enthält der eingangs zitierte Text auch den folgenden Satz: ...erst bei der Wiederholung findet er eine Höhe mit Tiefe versöhnende Lösung. Die anfängliche Fehlanalyse von eine Höhe (eventuell sogar eine Höhe mit Tiefe) als Nominalphrase ist fast unvermeidlich (zumal im Original Höhe am Zeilenende steht).8 In einem weiteren Beispiel aus demselben Text vermeidet lediglich ein Komma eine Fehlanalyse: Dieser kommunikative, Distanz meidende Akt in geradezu intimer Atmosphäre. Ohne das Komma vor Distanz bzw. eine Pause beim lauten Lesen würde man unweigerlich kommunikative auf Distanz statt auf Akt beziehen, zumal auch diese Lesart einen vernünftigen Textsinn ergäbe. Solche Beispiele zeigen, warum eine möglichst große Anzahl an verschiedenen grammatischen Subkategorien (z.B. drei Genera) für das klammernde Verfahren günstig ist: Je größer die Anzahl an möglichen Kombinationen, umso kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass zufällig dieselbe Kombination mehrmals in derselben Nominalphrase vorkommt und dadurch solche Fehlanalysen wie bei eine Höhe möglich werden. Diese Überlegung wird eine Rolle im diachronen Teil dieses Aufsatzes spielen. „Unfälle“ wie diese ereignen sich jedoch hauptsächlich in solchen überdehnten schriftsprachlichen Klammern wie in unseren Beispielen. Wie Thurmair (1991) gezeigt hat, funktioniert das klammernde Verfahren dagegen recht gut in seinem eigentlichen Bereich, in dem es auch ursprünglich entstanden ist, nämlich den relativ kurzen Sätzen der mündlichen Alltagskommunikation. In diesem Bereich funktioniert das klammernde Verfahren auch, obwohl in den meisten Fällen weder die Endungen der pronominalen Flexion noch die der Substantive eindeutig sind. Beispielsweise kann die Form der Nom. Sg. Mask. oder Dat. / Gen. Fem.9 oder Gen. Pl. sein. Erst das Kernsubstantiv am Ende der Nominalklammer bringt Eindeutigkeit: Ein Maskulinum im Singular entscheidet für die erste Möglichkeit (z.B. der Akt), ein Femininum im Singular für die zweite (der Wiederholung) und irgendein Substantiv im Plural unabhängig vom Genus für die dritte (der Akte / Wiederholungen / Konzerte). Im Neuhochdeutschen tragen sie sogar weitgehend die für die Syntax wichtige Kasusunterscheidung mit: Der Numerusgegensatz zwischen der Akt und der Akte unterscheidet z.B. gleichzeitig zwischen Nominativ und Genitiv; der Genusgegensatz zwi_____________ 8 9
Weitere Beispiele in Agricola (1968). Die Homonymie von Genitiv und Dativ Singular im Femininum gehört zu den grundsätzlichen Synkretismen des Deutschen, die nicht durch Flexion aufgelöst werden können.
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schen der Akt und der Wiederholung zwischen Nominativ und Genitiv / Dativ. Wegen der Bedeutung der Kongruenz für das Funktionieren der Nominalklammer eröffnen unflektierte10 Einleitewörter wie z.B. das in unserem Beispieltext unterstrichene Zahladjektiv sechs in der Nominalphrase sechs...Beispiele nach der hier gewählten Definition keine Nominalklammer im engeren Sinne, selbst wenn sie sich direkt auf das Kernsubstantiv beziehen: Sechs lässt zwar ein Kernsubstantiv im Plural erwarten, aber es sagt nichts über dessen Genus und Kasus aus. Entsprechendes gilt für Präpositionen: Sie lassen zwar ein Substantiv in einem bestimmten Kasus erwarten, aber nicht in einem bestimmten Numerus und Genus. Immerhin stehen jedoch Präpositionalphrasen und Nominalphrasen mit unflektierten, direkt auf das Kernsubstantiv bezogenen Einleitewörtern der Nominalklammer im engeren Sinne näher als komplexe Nominalphrasen mit vorangestellten Attributen, aber ohne irgendein direkt auf das Kernsubstantiv bezogenes Einleitewort. Würde z.B. in der Nominalphrase sechs...Beispiele das Zahlwort sechs fehlen, so wären die Grenzen zwischen den Konstituenten nicht klar: hier oder sogar hier vorsorglich könnte entweder auf enthält oder auf durchnummeriert bezogen werden. Da dieser unerwünschte Effekt durch Präpositionen und unflektierte Einleitewörter verhindert werden kann, wenn auch nicht so sicher und effizient wie durch stark flektierte Elemente, könnte man Präpositionalphrasen und Nominalphrasen mit Zahlwörtern usw. als Nominalklammern im weiteren Sinne bezeichnen. Dies ist oben durch Unterstreichung anstelle von Kursivsatz symbolisiert. 2.3. Verschmelzungsformen von Präposition und Artikel Verschmelzungsformen zwischen Präposition und Artikel wie z.B. im < in dem in Klammer (3) machen auch aus Präpositionalphrasen vollwertige Nominalklammern, weil durch sie die mit dem Kernsubstantiv kongruierende Flexion ganz an den linken Rand rückt. Neben ihrer „vordergründigen“ phonetischen Motivation können solche Formen also auch „im Hintergrund“ durch das klammernde Verfahren motiviert sein. Dies dürfte mit eine Erklärung für die außerordentliche Produktivität dieser Form der _____________ 10
„Unflektiert“ ist in bestimmten Formen von „endungslos“ wie z.B. im Nom. Sg. Mask. / Neutr. und im Akk. Sg. Neutr. bei ein, kein und den Possessivpronomina zu unterscheiden; da die anderen Formen dieses Paradigmas flektieren, kann man aus der Endungslosigkeit auf eben diese Kategorienbündel schließen. Weitere unflektierte Einleitewörter von Nominalklammern sind u.a. solche indefiniten „Artikelwörter“ wie etwas, nichts, genug (vgl. Duden 2005, 386f.).
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Enklise sein. Einzelne Formen stehen sogar bereits in funktionaler Opposition zur unverschmolzenen Verbindung (zur Schule gehen vs. zu der Schule gehen). Im mündlichen Sprachgebrauch bilden Verschmelzungsformen inzwischen ganze Paradigmen.11 Nach diesen und anderen Kriterien lässt sich im Deutschen eine deutliche Tendenz zu flektierten Präpositionen ausmachen, auch wenn eine volle Grammatizität derzeit (noch?) nicht erreicht ist (vgl. Nübling 1998). 2.4. Die Satzklammern Die so genannten Satzklammern sind – vor allem in der Außenperspektive – die auffälligste Anwendung des klammernden Verfahrens in der deutschen Gegenwartssprache, besonders in konzeptionell schriftsprachlicher Verwendung. Daher sind sie auch synchron wie diachron die mit Abstand am besten untersuchte Klammerkonstruktion. Wenige Bemerkungen mögen hier genügen: Traditionell unterscheidet man die Hauptsatz- und die Nebensatzklammer. Die Hauptsatzklammer füllt das so genannte Mittelfeld: Ihr linker Rand ist das finite Verb, der rechte entweder ein so genannter abtrennbarer Verbzusatz (Typ 1: Ich gebe das Buch zurück)12, oder der infinite Teil eines Verbkomplexes (Typ 2: Ich habe das Buch zurückgegeben). Die Nebensatzklammer wird durch eine unterordnende Konjunktion oder ein Relativpronomen eröffnet und durch den Verbkomplex i.Allg. mit Endstellung des Finitums geschlossen (Typ 3: ...dass ich das Buch zurückgegeben habe). Da sowohl in Typ 2 als auch in Typ 3 die Ergänzungen und Angaben vor ihrem Verb stehen, ergibt sich hier aus dem klammernden Verfahren die oben erwähnte OV-Folge (Genaueres s. in Abschnitt 3). Unter dem Gesichtspunkt des klammernden Verfahrens lässt sich auch das Vorfeld des Hauptsatzes als Klammerkonstruktion interpretieren, selbst wenn dies terminologisch nicht üblich ist. Sie wird gebildet durch den linken Satzrand und das finite Verb: #Seit drei Wochen regnet es ununterbrochen. Gegebenenfalls kann das finite Verb gleichzeitig das Vorfeld schließen und das Mittelfeld eröffnen: #Seit drei Wochen hat es ununterbrochen geregnet. _____________ 11 12
Ausführlich ist dies z.B. für das Berndeutsche in Nübling (1992, 211ff.) gezeigt. Wegen ihrer großen und immer noch – etwa in der Jugendsprache (vgl. Thurmair 1991) – stark zunehmenden Häufigkeit in der deutschen Gegenwartssprache ist für Weinrich (1988) diese von ihm so genannte Lexikalklammer ein wesentliches Argument für seinen Vorschlag, die Distanzstellung eines zweiteiligen Verbs als Grundwortstellung des Deutschen zu betrachten.
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Die Funktion der Satzklammern wird im Allgemeinen in den subtilen Möglichkeiten der Aufmerksamkeitssteuerung gesehen, die sie zusammen mit der Felderstruktur eröffnen. Auch diachron wird angenommen, dass beides sich aus bestimmten Mustern der informationsstrukturellen Gliederung des Satzes entwickelt habe.13 Dieses Motiv kann sehr gut im oben erwähnten Sinne durch das klammernde Verfahren als Hintergrundmotiv begünstigt worden sein. 2.5. Verschmelzungsformen von Subjunktionen und enklitischen Personalpronomina Viel weniger weit vorangeschritten ist die Grammatikalisierung der Verschmelzungsformen zwischen Subjunktionen und bestimmten enklitischen Personalpronomina wie z.B. wemmer [vεmɐ] < wenn wir. Während dieser Fall eine phonologisch sehr durchsichtige Sandhi-Erscheinung darstellt, ist z.B. weilmer [vaIlmɐ] < weil wir schon weniger leicht durchschaubar. Hier ist der Anlaut von mer [mɐ] nicht unmittelbar durch regressive Assimilation erklärbar. Vielmehr nimmt man an, dass diese Form als Schwachton-Variante von wir durch Sekretion aus phonologisch motivierten Fällen wie eben wemmer oder hammer [hammɐ] < haben wir entstanden ist.14 Noch undurchsichtiger ist das bair. wenn-st (z.B. wennst moanst 'wenn du meinst'), entstanden durch falsche Abtrennung der ganzen Endung der 2. Person Singular -st statt nur des total assimilierten postverbalen enklitischen -t < du z.B. in ha-st < *hast-t < hast du. Synchron entsteht so der Eindruck einer verbal flektierten Konjunktion (Harnisch 1989). In einem bair. eingeleiteten Nebensatz wie z.B. und wennsd ån a so an Dûûg fümf oda sechse oda-ràà zeen Laid hûsd (vgl. König u.a. 1991, 50ff.) kommt man daher wohl nicht umhin, von kongruierenden Endungen der Subjunktion und des finiten Verbs zu sprechen – genau dem linken und rechten Rand der Nebensatzklammer. Diese erhält dadurch eine formale Markierung, die ihrer funktionalen Wirkung entspricht.
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Vgl. Lühr (2008), Donhauser / Solf / Zeige (2006). Vgl. Werner (1988). Im Bairischen ist dieses reduzierte mer sogar sekundär wieder verstärkt worden zur neuen Vollform mir, etwa im selbstbewussten mir san mir 'wir sind wir'.
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2.6. Trennbare Präpositionaladverbien: Die „Adverbialklammer“15 Nicht nur Neuerungen haben in der älteren und jüngeren Sprachgeschichte zur Durchsetzung des klammernden Verfahrens beigetragen, sondern auch erstaunlich hartnäckige Bewahrungen von klammernden Konstruktionen in der Umgangssprache gegen den normativen Druck der normativen Grammatik. Ein solcher Fall ist die Trennung der so genannten Pronominaladverbien wie z.B. davon oder dafür in Sätzen wie da weiß ich nichts von, da kann ich nichts für bzw. mit Verdoppelung von da in der (nach Behaghel 1932, 249) eher süddeutschen Variante Da weiß ich nichts davon, da kann ich nichts dafür.16 Standardsprachlich zulässig ist jedoch nur die Kontaktstellung: Davon weiß ich nichts, dafür kann ich nichts. Diese normative Regelung hat sich in der gesprochenen Sprache jedoch nie gegen die alte Tendenz zur Distanzstellung mit anaphorischem da am Satzanfang und spätergestellter Präposition durchsetzen können. Schon im Muspilli (Z. 5) lesen wir z.B. dar pagant siu umpi (von Steinmeyer 1971, 66), wörtlich: 'da streiten sie um' (nämlich um diu sela 'die Seele'). Dieser Satz zeigt bereits eine strukturelle Möglichkeit, die diese Konstruktion bietet: nämlich auch bei einteiligem Verbkomplex eine Hauptsatzklammer zu konstruieren, die den ganzen Satz einschließt.17 2.7. Morphologie und Phonologie Selbst auf die Morphologie und Phonologie des Deutschen wirkt sich das klammernde Verfahren aus, etwa in Gestalt der Zirkumfixe beim Partizip Perfekt (ge-sag-t, ge-red-et, ge-sung-en) und in Wortbildungen wie Ge-birg-e, Gekreisch-e, be-fried-igen, ver-ängst-igen sowie in den bekannten phonologischen Grenzsignalen des Wortes wie der Auslautverhärtung, vor allem aber dem Kehlkopfverschlusslaut im Anlaut vor Vokal, der eine liaison an das vor_____________ 15 16
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Eine etwas ausführlichere Darstellung s. in Ronneberger-Sibold (1991). Die Verdoppelung des da ist im ganzen Sprachgebiet obligatorisch bei vokalisch anlautender Präposition: Da glauben wir noch nicht recht dran (Süddeutsche Zeitung vom 19./20.1.1991, 17, Spalte 4). *Da glauben wir noch nicht recht an wäre ungrammatisch. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass an dieser Textstelle bereits die Konstruktion einer Satzklammer der primäre Grund für die Wortstellung gewesen sei. Dieser ist wohl eher im Satzrhythmus zu suchen, auch ist dar an dieser Stelle noch nicht unbedingt rein pronominal (als Wiederaufnahmeform für diu sela 'die Seele') zu interpretieren; auch eine lokale oder temporale Lesart ist möglich. Aber dass der Konstruktionstyp sich bis heute gehalten hat und ausgebaut wurde, und das sogar gegen normativen Druck, dürfte mit dem Ausbau des klammernden Verfahrens zusammenhängen.
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hergehende Wort ausschließt, etwa in dt. ein Ei [Ɂain.Ɂai] vs. engl. an egg [ə.nεg].18
3. Die Funktion des klammernden Verfahrens Wie aus der bisherigen Erörterung hervorgeht, sehen wir die primäre Funktion des klammernden Verfahrens in einer speziellen Erleichterung der syntaktischen Dekodierung: Dadurch, dass die jeweils zueinander passenden Klammerränder die Grenzen von (verschieden definierten) Konstituenten klar markieren, weiß der Hörer / Leser während des Dekodierprozesses jederzeit, ob er sich am Anfang, im Inneren oder am Ende einer Konstituente befindet. Das Erkennen der Grenzen von Konstituenten ist damit im Deutschen strukturell sogar mehr begünstigt als das Erkennen ihrer syntaktischen Kategorien (Nominalphrase, Verbalphrase usw.) und ihrer syntaktischen Funktionen (Subjekt, direktes Objekt usw.). Die Kategorien muss der Hörer / Leser aus den Wortarten erschließen, was im Deutschen noch relativ gut funktioniert, die Funktionen aus der Kasusmorphologie. Letztere ist im Vergleich zu den Konstituentengrenzen im Neuhochdeutschen erstaunlich stiefmütterlich behandelt. Z.B. ist der fundamentale Unterschied zwischen Subjekt und direktem Objekt nur noch in Nominalphrasen im Mask. Sg. durch Flexion realisiert (der – den, gut-er – gut-en, ein – einen, er – ihn), in allen anderen Fällen muss der Hörer / Leser ihn aus einer Kombination aus Textsinn, der Default-Stellung S vor O und der Satzintonation (eventuellen Kontrastakzenten) erschließen. Durch diese Bevorzugung der Grenzen vor den Kategorien und Funktionen unterscheidet sich das klammernde Verfahren im Deutschen von anderen typologisch relevanten Ausdrucksverfahren wie dem flektierenden, etwa vertreten durch die älteren indogermanischen Sprachen, und dem isolierenden mit fester Wortfolge, weitgehend bereits vertreten durch das moderne Englisch. In beiden hat das Erkennen der grammatischen Funktionen erste Priorität (Ronneberger-Sibold 2007). Z.B. erkennt man das Subjekt im Lateinischen an der Nominativflexion seiner Glieder und im Englischen an seiner Stellung vor dem finiten Verb. Aber was alles zum Subjekt gehört, das muss sich der Hörer oder Leser im Lateinischen (manchmal recht mühsam) im Satz „zusammensuchen“ und im Englischen aus dem Wechsel von einer nominalen Wortart zum Verb erschlie_____________ 18
In der Zunahme von phonologischen Prozessen zur Stärkung der Wortränder in der deutschen Sprachgeschichte manifestiert sich nach Szczepaniak (2007) sogar ein lauttypologischer Wandel des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache.
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ßen, was angesichts der Konversionsfreudigkeit des Englischen und der fehlenden formalen Unterscheidung zwischen dem Partizip Perfekt und dem Präteritum bei den schwachen Verben durchaus schwierig sein kann.19 Dem optimalen Erkennen der grammatischen Kategorien (noch vor den syntaktischen Funktionen) dient das ebenfalls in der Performanz begründete Prinzip „Early immediate constituents“, das Hawkins (1994) zufolge von vielen verschiedenen Sprachen befolgt wird. Es besagt, grob und in traditioneller Terminologie gesprochen,20 dass erstens in jeder syntaktischen Phrase dasjenige Element möglichst weit am Anfang stehen sollte, an dem der Hörer / Leser eindeutig die syntaktische Kategorie dieser Phrase erkennen kann (bei einer Verbalphrase z.B. das finite Verb) und dass zweitens in komplexen Phrasen die unmittelbaren Konstituenten so angeordnet sein sollten, dass sie alle möglichst früh erkannt werden können (enthält z.B. eine Verbalphrase eine kürzere und eine längere Nominalphrase als Objekt oder Angabe, sollte die kürzere vorangehen,21 weil umgekehrt der Hörer / Leser erst die längere vollständig dekodieren müsste, ehe er entdeckt, dass noch eine weitere folgt). Insgesamt laufen Hawkins’ performanzorientierte Prinzipien also darauf hinaus, möglichst viel strukturelle Information am linken Rand einer syntaktischen Phrase zu versammeln. Der rechte Rand ist dagegen in dieser Theorie ganz uninteressant: Woher der Hörer bzw. Leser eigentlich weiß, dass die Phrase, deren Kategorie er an ihrem Anfang erkannt hat, zu Ende ist, wird nicht problematisiert. Damit spiegelt Hawkins Theorie recht gut die Struktur seiner Muttersprache Englisch (und damit im Grunde einer VO-Sprache) wider: Für ihn steht die Optimierung derjenigen Performanzleistungen des Hörers / Lesers im Vordergrund, die von der Sprachstruktur des Englischen begünstigt werden. Dass aus dieser Sicht die deutschen Satzklam-
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Der häufig zitierte „Garden-Path-Satz“ The horse raced past the barn fell (Pritchett 1988) beruht gerade auf dieser grammatischen Homonymie. Das Folgende ist eine extrem knappe und ein Stück weit interpretierende Zusammenfassung von Hawkins (1994, 57ff.). Man fühlt sich an Behaghels Gesetz der wachsenden Glieder erinnert (vgl. Behaghel 1932, 6).
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mern eine gewisse Ratlosigkeit erzeugen,22 ist verständlich, favorisieren sie doch eine andere Performanzleistung. Für das Funktionieren des klammernden Verfahrens ist dagegen der rechte Rand, an dem die Klammer geschlossen wird, so wichtig, dass – ganz im Gegensatz zum ersten oben genannten Prinzip von Hawkins – das Kernlexem einer eingeklammerten Konstituente häufig gerade für diese Position aufgespart wird: das Kernsubstantiv in der Nominalklammer, der gesamte Verbkomplex im eingeleiteten Nebensatz, das infinite Hauptverb in der Hauptsatzklammer, die Präposition in der Adverbialklammer. Auf diese Weise kann die Erwartung des Hörers bzw. Lesers nicht enttäuscht werden, denn das wichtigste Element der ganzen Konstituente, auf dessen Erscheinen er sich auf jeden Fall verlassen kann, schließt die Klammer ab. Da bei diesem Verfahren die anderen eingeklammerten Elemente, die von dem Kernlexem abhängen, diesem vorausgehen müssen, ergibt sich automatisch eine OV-typische Wortfolge. Der Zusammenhang zwischen Klammern und OV-Stellung ist auch von anderen Autoren beobachtet worden, z.B. im Hinblick auf die Nominalklammer von Askedal (2000). Allerdings betrachtet er, anders als wir, die Klammer als Folge der OVStellung und nicht umgekehrt. Wir sehen dagegen das klammernde Verfahren als primär an, weil es im deutschen Sprachsystem weiter verbreitet ist als die OV-Stellung. Es gibt zwar Klammern ohne OV-Stellung, z.B. die äußerst produktive Klammer aus finitem Verb und Verbzusatz (ich gebe ihm das Buch zurück), aber kaum OV-Stellung ohne einen Zusammenhang mit einer Klammer. Innerhalb der Klammern werden die Elemente im Allgemeinen nach logisch-semantischen und nach informationsstrukturellen Kriterien angeordnet.23 Beim eingeleiteten Nebensatz resultiert die Klammer direkt aus diesen Bauprinzipien: Das am stärksten rhematische Element, das Verb, steht ganz rechts, die Junktion am Vortext links. Da diese Argumentation _____________ 22
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Hawkins (1994, 402): „...a language of type (6.51) [d.h. eine klammernde] marks both the onset and the offset of the VP, and this may have certain functional advantages for constituent recognition over marking just one periphery via a construction category.“ Bei richtiger Betrachtung passen die hier eher widerwillig eingeräumten „certain functional advantages“ übrigens sehr gut zu der grundsätzlichen Beobachtung in Hawkins (1986, 6ff.), dass das Deutsche detailliertere und explizitere Ausdrucksmittel für die zugrunde liegenden Strukturen habe als das Englische. Dass er die deutschen Klammern nicht als ein solches Ausdrucksmittel erkennt, liegt daran, dass er an dieser Stelle nur die semantische Interpretation von Oberflächeneinheiten im Blick hat und dabei nicht bedenkt, dass der Hörer bzw. Leser ja zunächst einmal die Einheit im Redefluss abgrenzen muss, die er semantisch interpretieren soll. Vgl. dazu mit explizitem Bezug auf die Klammerbildung v.a. Weinrich (1988; 2007) sowie Kolde (1985), Eichinger (1993) für den nominalen und Eroms (1999) für den verbalen Bereich.
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für die Hauptsatzklammer mit finitem Hilfs- oder Modalverb in Zweitstellung nicht zutrifft, zieht Eroms (1999) ein zweites funktionales Argument hinzu: Durch die Flexion des finiten Verbs (und entsprechend des Artikels bei der Nominalklammer) erfährt der Hörer bzw. Leser frühzeitig die für das Satzverständnis wesentlichen Informationen, die in den grammatischen Kategorien kodiert sind: real vs. irreal, jetzt vs. nicht jetzt usw. Auch nach dieser Interpretation ergeben sich die Klammern also sekundär als Epiphänomen aus anders motivierten Stellungsregularitäten. Nach der hier vertretenen Ansicht ist dagegen das klammernde Verfahren das primäre Merkmal des deutschen Sprachbaus: Als Dekodierhilfe für den Hörer bzw. Leser sollen die Grenzen der Konstituenten klar markiert werden. Daraus von Fall zu Fall resultierende weitere Performanzvorteile unterstützen die Motivation, sind ihr aber nicht vorgeschaltet. Dieses gilt auch für das seit Drach (1937) immer wieder angeführte Motiv des inhaltlichen Spannungsbogens zwischen linkem und rechtem Klammerrand.
4. Die Herausbildung der Nominalklammer in der deutschen Sprachgeschichte Wie in der Einleitung angedeutet, ist die Nominalklammer der deutschen Gegenwartssprache durch ein sehr langfristiges Zusammenwirken verschiedener Veränderungen und Bewahrungen in der Geschichte der deutschen Morphologie und Syntax zustande gekommen. Diese Veränderungen und Bewahrungen betreffen 1. die Wortstellung innerhalb der Nominalphrase, 2. die Flexion der Adjektive und Determinantien am linken Klammerrand sowie 3. die Flexion, das Genus und damit die Wortbildung der Substantive am rechten Klammerrand. In ihrer Gesamtheit unterscheidet sich durch sie die Entwicklung der deutschen Nominalphrase in charakteristischer Weise von ihren Entsprechungen in den anderen germanischen Sprachen. Eine vollständige und detaillierte Erforschung der diachronen Vorgänge im nominalen Bereich sowie ihres Zusammenwirkens untereinander und mit den entsprechenden Veränderungen im verbalen Bereich in Abhängigkeit von Zeit, Ort, Textsorte, ja sogar von einzelnen Autoren ist ein Desiderat. Hier soll lediglich ein systematischer Überblick über die Phänomene gegeben werden, die in diesem Zusammenhang relevant sind und daher zusammen in den Blick genommen werden sollten. Wir verfolgen dabei die Entwicklung „rückwärts“ von der Gegenwart aus in die Sprachgeschichte hinein.
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4.1. Die Wortstellung innerhalb der Nominalphrase Die jüngste der in Rede stehenden Entwicklungen ist die endgültige Durchsetzung der Regelung, nach der kongruenzfähige Attribute links, nicht kongruenzfähige Attribute und Relativsätze rechts vom Kernsubstantiv stehen. Die wichtigsten zu diesem Ziel notwendigen Veränderungen waren 1. die Verschiebung des Genitivattributs nach rechts, 2. die Verschiebung aller attributiven Adjektive und Partizipien nach links und 3. die Integration aller Erweiterungen der attributiven Adjektive und Partizipien in die Nominalklammer vor ihrem Bezugswort. 4.1.1. Das Genitivattribut Nach Behaghel (1932, 179) stand ein nicht-partitives Genitivattribut noch im Althochdeutschen normalerweise vor dem Kernsubstantiv. Hatte dieses einen Artikel oder ein anderes Determinans als Begleiter, konnte das Genitivattribut in eine Nominalklammer eingeschlossen werden, z.B. umbi dhea christes chumft (Isidor 25, 12, nach Behaghel 1932, 179), then liohtes kindon (Tatian 108, 4, nach ebd.). Enthielt das Genitivattribut selbst einen Artikel oder ein anderes Determinans, so konnten (selten) beide nebeneinander stehen. So noch bei von Lohenstein (Arminius und Thusnelda, 1689, 606): diese des Papagoyens Worte. Eine solche Häufung von Determinantien am Anfang der Nominalklammer wurde jedoch i.Allg. vermieden. Die übliche Lösung war, auf ein Determinans des Kernsubstantivs zu verzichten: dero sunnun verte, (Notker 14, 6, nach Behaghel 1932, 184), der mitternächtischen Landschafften Meister (von Lohenstein1689 / 1973, 601), der Weisheit letzter Schluss (Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, nach Dal 1966, 180f.).24 Im Sinne des klammernden Verfahrens war diese Lösung doppelt ungünstig: Erstens fehlte der übergeordneten Nominalphrase eine Klammer, und zweitens führte zudem das einleitende Determinans in die Irre: Je mehr sich die Klammerkonstruktion bei Nominalphrasen ohne vorangestelltes Genitivattribut durchsetzte, umso mehr waren vermutlich die Hörer und Leser geneigt, jedes Determinans zunächst einmal als Eröffnung einer Klammer zu betrachten, die durch das Kernsubstantiv der ganzen NP geschlossen wurde. Im oben genannten Beleg von Lohenstein hätte eine solche Strategie z.B. zu der Annahme geführt, dass die Klammer nach Landschafften beendet war und die Funktion eines Objekts oder einer An_____________ 24
Eine seltenere, nur mit dem unbestimmten Artikel des Kernsubstantivs mögliche Lösung war eine Art Ausklammerung des Genitivattributs nach links vom Typ: unsers orden ein bruoder, armes volkeleches ein michel teil (Berthold, nach Behaghel 1932, 180).
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gabe im Genitiv hatte. Im vorliegenden Satz ist eine solche Analyse sogar vom Kontext her möglich. Er lautet: Der Himmel selbst schien allenthalben sein Beystand zu sein, also daß er in weniger Zeit der mitternächtischen [sic] Landschafften Meister ward. Der mitternächtischen Landschafften ist hier entweder als Genitivobjekt zum Phraseologismus [einer Sache] Meister werden zu interpretieren (wie nhd. [einer Sache] Herr werden), oder als Genitivattribut zu Meister, also [Meister der nördlichen Landstriche] werden andererseits. Eine für das klammernde Verfahren günstigere und zudem durch den partitiven Genitiv vorgeprägte Lösung war dagegen die Nachstellung des Genitiv-Attributs wie in ein har thes fahses (Tatian 30,4, nach Behaghel 1932, 177f.). Diese Stellung setzte sich daher aus eher bescheidenen Anfängen im Laufe der Sprachgeschichte immer mehr durch, auch wenn dies einem einheitlichen OV-typischen Aufbau der Nominalphrase zuwiderlief. Das klammernde Verfahren erwies sich hier als der typologisch wichtigere Parameter. Die vorwiegende und schließlich obligatorische Nachstellung betraf zunächst nicht-onymische Sach- und Abstraktbezeichnungen, dann nicht-onymische Personenbezeichnungen und zuletzt die Eigennamen von Personen (vgl. Behaghel 1932, 181ff.). Noch heute kann ein Personenname oder eine wie ein Personenname gebrauchte Verwandtschaftsbezeichnung voranstehen: Peters Jacke, Onkel Ottos Bild (vgl. Duden 2005, 834), so auch Vaters / Opas Jacke und andere Eigennamen: Deutschlands Urlaubsregionen, Karlsruhes Trainer.25 Alternative Lösungen, die eine Voranstellung des Determinans und sogar zusätzlich ein klammeröffnendes Artikelwort in Kongruenz mit dem Kernsubstantiv ermöglichen, sind das so genannte „unechte“ Determinativkompositum, z.B. die Mutterliebe, und das so genannte relationale Adjektiv, z.B. die mütterliche Liebe statt der / einer Mutter Liebe bzw. die Liebe der / einer Mutter. Es ist daher kein Wunder, dass auch diese Konstruktionen im Frühneuhochdeutschen das vorangestellte Genitivattribut ablösen (vgl. _____________ 25
Behagel (1932, 194) begründet die von ihm dargestellte chronologische Reihenfolge vor allem mit dem „Gesetz der wachsenden Glieder“: „[...] [N]ichtpersönliche Substantive werden viel häufiger mit Bestimmungen, insbesondere mit adjektivischen, belastet als Personenbezeichnungen. Und unter diesen erfahren wieder persönliche Gattungsbezeichnungen leichter eine Ergänzung als Personenbezeichnungen.“ Obwohl letzteres sicherlich zutrifft, scheint mir der entscheidende Faktor für die mögliche Voranstellung der Eigennamen weniger ihre Kürze zu sein als ihre Artikellosigkeit. Ein artikelloser Eigenname im Genitiv kann mangels Determinans die oben beschriebene „Garden-Path-Analyse“ nicht in Gang setzen. Im Gegenteil: Für einen solchen Namen ist die Funktion als Genitivattribut so typisch, dass der Hörer automatisch in der Umgebung nach einem Bezugssubstantiv sucht. Dafür spricht auch, dass die Voranstellung eines Eigennamens sehr stark markiert ist, sobald dieser den bestimmten Artikel bei sich führt: *der Schweiz / des Tessins Urlaubsregionen ist extrem archaisch, wenn nicht bereits ungrammatisch. Normal ist die Urlaubsregionen der Schweiz / des Tessins, parallel zu den inzwischen nahezu obligatorisch nachgestellten nicht-onymischen mehrteiligen Genitivattributen.
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Pavlov 1983, Sattler 1992) und in der Gegenwartssprache vor allem in Textarten gern verwendet werden, in denen komplexe Sachverhalte komprimiert dargestellt werden sollen. So finden sich etwa in dem in 2.2. mehrmals zitierten Pressetext Ausdrücke wie der ARD-Preis (statt der Preis der ARD) oder die Höllen der Wagnerschen Chromatik (statt die Höllen der Chromatik Wagners oder die Höllen von Wagners Chromatik).26 Bekanntlich sind in der gesprochenen Umgangssprache heute weitgehend nachgestellte präpositionale Ersatzkonstruktionen an die Stelle des Genitivattributs getreten: die Jacke von Peter / Vater / Opa, die Urlaubsregionen von / in Deutschland / im Tessin, die Goldmedaillen von der erfolgreichen Schwimmerin, der Verbrauch von schwefelarmem Erdöl. Dagegen steht die nur in gesprochener Umgangssprache verbreitete Ersatzkonstruktion für den possessiven Genitiv (dem) Peter / Vater / Opa seine Jacke wegen des mit dem Kernsubstantiv kongruierenden Possessivpronomens links vom Kernsubstantiv. Dennoch ist sie für das klammernde Verfahren nicht optimal, weil auch sie keinen linken Klammerrand in Kongruenz mit dem Kernsubstantiv zulässt: *die (dem) Peter / Vater / Opa seine Jacke ist ungrammatisch. Ja, das (umgangssprachlich sogar bei Eigennamen) sehr häufige Determinans im Dativ am Anfang kann sogar die syntaktische Dekodierung fehlleiten, wenn es als linker Klammerrand der ganzen Phrase interpretiert wird und folglich ein Kernsubstantiv im Dativ erwarten lässt. In den normalerweise relativ kurzen mündlichen Äußerungen ist dieses Problem geringer als in langen, schriftsprachlichen Nominalklammern. Dies könnte das in Duden (2005, 835) als „eigenartig“ bewertete Faktum erklären, dass diese Konstruktion „bisher nicht in die geschriebene Standardsprache aufgenommen worden [ist]“.
4.1.2. Das Adjektivattribut Die Möglichkeit, ein Adjektivattribut (vorzugsweise, aber nicht ausschließlich unflektiert, s.u.) seinem Bezugssubstantiv nachzustellen, wurde im Laufe der deutschen Sprachgeschichte immer mehr beschränkt. Die Details hängen teils von der Gestaltung der Nominalphrase als ganzer, insbesondere von eventuellen weiteren Attributen ab, teils auch von der Textart. Ein einzelnes nachgestelltes Adjektiv war schon früh vor allem auf die dichterische Sprache beschränkt, besonders in der Funktion als Reimwort (vgl. Behaghel 1932, 199), aber auch im Versinneren: Vom Himmel hoch, da komm ich her (Luther). Dieser Sprachgebrauch ist z.B. bewusst „im Volks_____________ 26
Hierzu s.a. Eichinger (1982).
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liedton“ archaisierend aufgenommen in Goethes Röslein rot (vgl. Dal 1966, 179), so auch im Kinderlied: Hänschen klein. Davon zu trennen ist das in der Gegenwartssprache zunehmende Auftreten der Konstruktion in der Sprache der Werbung, v.a. in Produktnamen (Henkell trocken), Rezeptnamen (Whisky pur, Aal blau) und in Produktbeschreibungen, z.B. in Bestelllisten (70 Nagelfeilen rund nach DIN 8342).27 In den Rezeptnamen dürfte französischer und englischer Sprachgebrauch das Vorbild abgegeben haben (truite au bleu 'Forelle blau', whisky sour 'Whisky mit Zitronensaft'), während bei 70 Nagelfeilen rund die Nachstellung sich aus dem Aufbau einer Bestellliste ergibt, in deren Spalten sinnvollerweise das Spezifizierte vor dem Spezifizierenden angeordnet ist. Der modische Gebrauch in einem bestimmten Presse-Stil (Leben pur, Fußball brutal aus Hörzu nach Duden 2005, 350) dürfte seinerseits eher an die Rezeptnamen anknüpfen als an den Volksliedton. Insgesamt ist zu fragen, ob es sich tatsächlich um Attribute handelt oder nicht eher um prädikative oder appositive Strukturen: Zwischen Aal blau und blauer Aal besteht meines Erachtens nicht nur ein Unterschied in der Wortfolge (und damit der stilistischen Wirkung), sondern auch in der syntaktischen Funktion (und damit der Semantik) des Adjektivs, während das im Mittelhochdeutschen bei der winter hart und der harte winter wohl noch nicht der Fall war. Dieses Problem kann hier jedoch nicht vertieft werden. 4.1.3. Die Erweiterungen des Adjektiv- / Partizipialattributs Die Regel, dass mit den vorangestellten attributiven Adjektiven und Partizipien auch deren sämtliche Erweiterungen links vom Kernsubstantiv stehen müssen, hat sich nach Weber (1971, 199) ab dem 16. Jahrhundert nach und nach etabliert. Bis ins Neuhochdeutsche finden sich jedoch immer wieder Durchbrechungen, z.B. die aufgewälzten Berge zu des Ruhmes Sonnenhöhen (Schiller nach Dal 1966, 180),28 eine Textstelle, die nicht nur wegen ihrer ungewöhnlichen Metaphorik, sondern eben auch wegen der nachgestellten Erweiterung zum Partizip aufgewälzten heute nur noch schwer verständlich ist. Die seltenen Beispiele in der Gegenwartssprache sind, wenn nicht rundheraus ungrammatisch, dann häufig nur deshalb akzeptabel, weil sie auch Lesarten bieten, in denen eine nachgestellte Erweiterung sich direkt auf das Kernsubstantiv beziehen lässt, so z.B. in die lebenswichtigen Funktionen der Moral im sexuellen Verhalten für den einzelnen und _____________ 27 28
Vgl. Duden (2005, 350). Weitere Beispiele bei Dal (ebd.), bei Behaghel (1932, 245f.), Weber (1971, 199f.), Lötscher (1990).
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die Gesellschaft (Helmut Schelsky nach Eggers 1957-1958, 266). Für den einzelnen und die Gesellschaft lässt sich sowohl auf lebenswichtigen als auch als Funktionen beziehen. Es ist eine gewisse Ironie der Sprachgeschichte, dass durch die neue Stellungsregel dieselben Probleme am linken Klammerrand entstanden, die in der Geschichte des Genitivattributs gerade vermieden worden waren: Da die Erweiterungen nach der Regel der OV-Folge vor den sie regierenden Adjektiven bzw. Partizipien stehen müssen, können sich Determinantien häufen (das die Vertragserfüllung fordernde Gesetz, Weber 1971, 198), und wenn das nicht der Fall ist, können „Garden-Path-Analysen“ entstehen wie in dem bereits oben zitierten Beispiel eine Höhe mit Tiefe --- versöhnende Lösung, wo der Artikel des Kernsubstantivs irrtümlich auf die Erweiterung des Attributs bezogen wird. Solche Konstruktionen gehören zu den heute nicht mehr sehr zahlreichen „Lücken“ in dem ansonsten mittlerweile recht eng gestrickten „Sicherheitsnetz“ der deutschen Klammerkonstruktionen. Wenn – mit aller gebotenen Vorsicht – ein Blick in die Zukunft gestattet ist, so möchte ich vermuten, dass diese „Löcher“ durch den ohnehin seit althochdeutscher Zeit zunehmenden Artikelgebrauch mehr und mehr geschlossen werden, auch um den Preis von Artikelhäufungen: also z.B. eine die Höhe mit der Tiefe --- versöhnende Lösung. In Nominalphrasen, in denen diese Möglichkeit nicht besteht, z.B. bei indefiniten im Plural, beobachtet man auch jetzt schon häufig die Verwendung von relativ inhaltsleeren Adjektiven wie bestimmt oder gewiss, die offenbar im Wesentlichen dazu dienen, den linken Klammerrand zu füllen: Zum Beispiel wäre die Gefahr einer „Garden-Path-Analyse“ in Der Boden besteht aus Wasser und Stickstoff --- bindenden Bakterien (vgl. Agricola 1968, 11) in Der Boden besteht aus bestimmten, Wasser und Stickstoff bindenden Bakterien behoben. 4.2. Der linke Klammerrand Die zuletzt analysierten Beispiele haben bereits gezeigt, wie wichtig der linke Klammerrand für das Funktionieren der Nominalklammer ist. In der Tat führten mehrere Entwicklungen und Bewahrungen in der Geschichte der deutschen Flexionsmorphologie dazu, dass – im Gegensatz zu den anderen germanischen Sprachen – der linke Klammerrand immer wieder gestärkt oder zumindest nicht lautlich abgeschwächt wurde. Die wichtigsten Stationen auf diesem Weg werden im Folgenden zusammengefasst. Die älteste spezifisch deutsche Entwicklung in diesem Zusammenhang ist die Schöpfung der Form der (Nom. Sg. Mask. des bestimmten Artikels) aus älterem, lautgesetzlich entstandenem de und dem Personalpronomen er im frühesten Althochdeutschen. Mit Recht betrachtet Dal
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(1942) diese Schöpfung als einen Angelpunkt in der typologischen Auseinanderentwicklung der germanischen Sprachen. Sie hatte dabei eher den Erhalt der Kasusflexion im Blick, eine Funktion, an deren Erfüllung der bestimmte Artikel ja in der Tat maßgeblich beteiligt war und noch ist. Gleichzeitig damit wurde aber auch ein wichtiger Baustein für die Nominalklammer geschaffen, und aus heutiger Perspektive muss man sagen, dass das klammernde Verfahren sich in der folgenden deutschen Sprachgeschichte als bedeutend vitaler erwiesen hat als die Kasusflexion. Der nächste Schritt war konsequenterweise die Schöpfung der – ebenfalls nur im Deutschen vorkommenden – stark flektierten „Langformen“29 des Adjektivs nach dem Muster des bestimmten Artikels: ahd. guoter, guotiu, guotaz nach der, diu, daz. Nach diesem Paradigma konnten auch Nominalphrasen ohne bestimmten Artikel einen stark flektierten linken Klammerrand erhalten. Außer den Adjektiven waren das vor allem die Determinantien wie dieser und jener. Die daneben erhaltene lautgesetzlich endungslos gewordene Form guot im Nom. Sg. aller drei Genera und zusätzlich im Akk. Sg. Neutr. – bald auch als echte unflektierte Form auf die anderen Kasus / Numeri übertragen – erlaubte darüber hinaus eine morphologische Differenzierung zwischen attributivem und prädikativem Gebrauch. Die spätere, oben dargestellte Beschränkung auf die pränukleare Position konnte dann aus der starken Flexion der Adjektive, Artikel und sonstigen Determinantien ein (fast eindeutiges) Signal für die Eröffnung einer Nominalklammer machen. Es ist unbestritten, dass damit zunächst auch eine weitgehend eindeutige Markierung für Kasus, Numerus und Genus der ganzen Nominalphrase gegeben war (die so genannte Monoflexion), aber auch diese Funktion wurde durch die weitere Sprachentwicklung auf das oben (in 2.2.) dargestellte Zusammenwirken von Determinans oder stark flektiertem Adjektiv einerseits und dem Kernsubstantiv andererseits verlagert – eben auf die beiden Glieder der Nominalklammer. Ein drittes Mal wurde ein Element der starken Adjektivflexion im Mittel- und Frühneuhochdeutschen vor den Folgen des reduktiven Lautwandels bewahrt, dieses Mal nicht durch „Reparatur“ bereits entstandener „Schäden“ auf analogischem Wege, sondern durch Blockieren eines Laut_____________ 29
Wegen des Einflusses des bestimmten Artikels / einfachen Demonstrativpronomens werden diese Formen in der historischen Grammatik, z.B. bei Braune / Reiffenstein (2004, 218), häufig als pronominal bezeichnet. Das einfache Demonstrativpronomen hat jedoch im Laufe der germanischen Sprachgeschichte wiederholt als Muster für die Verstärkung einzelner Formen der starken Adjektivflexion gedient, ohne dass aber die entsprechenden lautgesetzlich kürzeren, so genannten nominalen Formen erhalten geblieben wären. Zur Unterscheidung von diesen gemeingermanischen pronominalen Formen bevorzugen wir die Bezeichnung der ausschließlich althochdeutschen als „Langformen“ in Opposition zu den nominalen „Kurzformen“.
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wandels, nämlich der Apokope von /-ə/. Wie Lindgren (1953) gezeigt hat, traf dieser Lautwandel ausgerechnet in der starken Adjektivflexion auf den stärksten funktional begründeten Widerstand. Das lässt sich sogar in einer so apokope-freundlichen Mundart wie dem Bairischen beobachten: Mhd. grôze vüeze 'große Füße' entspricht bair. /gro:sə fiɐs/: Das /-ə/ von mhd. grôze ist erhalten, dasjenige von vüeze nicht. Dabei diente die Konservierung der Endung /-ə/ nicht der Unterscheidung von den anderen Adjektivendungen nach Kasus, Genus und Numerus – diese wäre auch bei einer endungslosen Form gegeben gewesen – sondern der Distinktion von eben der endungslosen Form in prädikativer (und im Zuge der Apokope von /-ə/ beim Adverb zunehmend auch adverbieller) Verwendung. Eine endungslose Form in der starken Adjektivflexion hätte nicht mehr (nahezu) eindeutig den Beginn einer Nominalklammer signalisiert. Dies wäre dem klammernden Verfahren extrem abträglich gewesen. Schließlich kann der linke Klammerrand nicht nur durch Blockade von Lautwandel oder „Reparatur von Lautwandelschäden“ gestärkt werden, sondern auch durch den Lautwandel selbst. Das ist der Fall bei den oben (in 2.3.) besprochenen Verschmelzungsformen von Präposition und Artikel am linken Rand einer Präpositionalphrase. Insgesamt reichen in der Entwicklung der Nominalklammer die morphologischen Stärkungen des späteren linken Klammerrandes offenbar weiter in die Vergangenheit zurück als die syntaktischen Veränderungen der Wortfolge. Es sieht so aus, als hätte zunächst die Morphologie bestimmte „Bausteine“ zur Verfügung gestellt – die Artikelform der, die Langformen der starken Adjektivflexion –, die erst dann von der Syntax zur Errichtung eines „Klammergebäudes“ genutzt wurden. Dieser Eindruck verstärkt sich noch bei der Betrachtung des rechten Klammerrandes im nächsten Abschnitt. 4.3. Der rechte Klammerrand Wie in 2.2. dargestellt, wird der rechte Rand der Nominalklammer gebildet durch die Flexion des Substantivs nach Kasus / Numerus und durch sein Genus. Von diesen drei Kategorien sind Numerus und Genus in der deutschen Sprachgeschichte bedeutend besser konserviert worden als Kasus. Beim Numerus ist das vor allem der so genannten Numerusprofilierung zu verdanken, beim Genus einerseits den bereits erwähnten Veränderungen und Bewahrungen an den Begleitern und Attributen des Substantivs am linken Klammerrand, andererseits aber auch am rechten Klammerrand durch verschiedene Veränderungen und Bewahrungen in der Wortbildung
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der Substantive, die bis auf wenige Ausnahmen sicherstellen, dass jedes Substantiv genau eines der drei Genera hat. 4.3.1. Die Numerusprofilierung Unter der Bezeichnung Numerusprofilierung werden zahlreiche morphologische Veränderungen zusammengefasst, die im Laufe der deutschen Sprachgeschichte dazu geführt haben, dass im Neuhochdeutschen (bis auf bestimmte Ausnahmen vom Typ Lehrer mit zugrunde liegendem /ə/ in der Endsilbe) nahezu jedes Substantiv eine eindeutige Pluralform hat. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Frühneuhochdeutschen, als durch Bildung neuer Flexionsklassen (v.a. der so genannten gemischten Flexion) und durch massenhaften Flexionsklassenwechsel30 die zahlreichen numerusambigen Flexionstypen des Mittelhochdeutschen nahezu alle untergingen. Eine besondere Rolle spielten dabei die starken Feminina vom Typ mhd. diu / guotiu gebe 'die / gute Gabe' – die / guote gebe 'die / gute Gaben'. Als durch den Zusammenfall von mhd. diu / guotiu und die / guote in nhd. die / gute eine komplette Numerusambiguität der ganzen Nominalphrase drohte, wurde dies nicht, wie schon so häufig, durch „Reparatur“ der starken Adjektivflexion vermieden, sondern durch „Reparatur“ der Numerusflexion am Substantiv. Man kann dies als eine Stärkung des rechten Klammerrandes in einer Epoche interpretieren, in der dieser auch syntaktisch an Bedeutung zunahm, weil das Kernsubstantiv durch die oben geschilderten Wortstellungsveränderungen ein immer zuverlässigeres Signal für das Ende des kongruenzfähigen Teils der Nominalphase wurde. Es wäre jedoch verfehlt, die Numerusprofilierung auf diesen Zeitraum zu beschränken. Sie kam zwar im Frühneuhochdeutschen zu ihrer größten Entfaltung, und dies vermutlich, weil sie in den Dienst der Klammerbildung gestellt wurde, aber als Erscheinung ist sie viel älter. Ihre früheste Manifestation scheint der in voralthochdeutsche Zeit zurückreichende völlige Verlust des stammhaften -i(-) im Sg. der mask. i-Stämme über den lautgesetzlichen Bereich hinaus zu sein, (also auch im Nom. / Akk. Sg. der kurzsilbigen: ahd. slag vs. as. slegi, aengl. slege 'Schlag'),31 während im Plural in allen Endungen lautgesetzlich ein i-Laut erhalten blieb. Unter den übrigen altgermanischen Sprachen hatte nur das Gotische eine ähnlich klare _____________ 30
31
Prominentestes Beispiel sind die starken Neutra vom Typ mhd. wort (Sg. wie Pl.), die alle in andere Klassen übertraten, z.B. nhd. Wört – Wörter (wie Lamm – Lämmer) und Wort – Worte (wie Tag – Tage). Vgl. Krahe / Meid (1969, Bd. II, 26), Ronneberger-Sibold (i. Dr.). S. dort auch weitere Details zu den anderen obliquen Kasus und zum Vergleich mit den anderen altgermanischen Sprachen.
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Verteilung (bis auf die notorisch ungeklärte, speziell gotische Endung -e im Genitiv Plural). Im Ahd. musste diese Verteilung lautgesetzlich zur Beschränkung des Umlauts auf den Plural führen (ahd. gast – gesti, slag – slegi), der damit automatisch zum Pluralkennzeichen wurde. Ähnliches gilt für die Reflexe der idg. es- / os-Stämme als Quelle des ebenfalls nur althochdeutschen Pluralsuffixes -ir mit obligatorischem Umlaut eines umlautfähigen Wurzelvokals: ahd. kalb – kelbir 'Kalb – Kälber'.32 Im Altenglischen und Altnordischen gab es keine entsprechend klare Verteilung von Formen mit i-haltiger Endung und ohne eine solche auf den Plural und den Singular respektive. Daher lag eine Morphologisierung des Umlauts als Pluralkennzeichen nicht nahe.33 Im Altenglischen erfasste der Umlaut das ganze Paradigma, im Altnordischen trat wortweise verschiedener paradigmatischer Ausgleich entweder zugunsten der umgelauteten oder der nicht umgelauteten Formen ein (vgl. Noreen 1923, 271f.). Man gewinnt also auch bei der Numerusprofilierung auf der Basis der ehemaligen i- und es- / os-Stämme den Eindruck, dass bereits in vorahd. Zeit ein „Baustein“ für die spätere Errichtung der Nominalklammer bereitgestellt wurde. Unter den nord- und westgermanischen Sprachen steht das spätere Althochdeutsche damit alleine da – ähnlich wie bei den Langformen der starken Adjektivflexion und beim Nom. Sg. Mask. des bestimmten Artikels. Anders als bei diesen hat es bei der frühen Numerusprofilierung jedoch eine überraschende Parallele im Gotischen. Diese zeigt sich auch bei der Geschichte des zweiten Bausteins am rechten Rand der Nominalklammer, nämlich der Vermeidung von Substantiven, die ohne formale Veränderung mehrere Genera haben können. 4.3.2. Die Vermeidung von Genusambiguität beim Substantiv Damit das Kernsubstantiv am rechten Rand einer Nominalklammer seine Funktion erfüllen kann, die Klammer zu schließen und gleichzeitig den Numerus, das Genus und damit in den meisten Fällen auch den Kasus der ganzen Nominalphrase endgültig festzulegen, ist es notwendig, dass dieses Substantiv nicht nur im Numerus, sondern auch im Genus eindeutig ist. Das heißt, dass jedes Substantiv nur genau ein Genus haben darf. Das ganze klammernde Verfahren beruht ja darauf, dass beim Hörer oder _____________ 32
33
Vgl. Werner (1969). Bekanntlich hat sich auch diese sehr saliente Form der Pluralmarkierung im Deutschen stark ausgebreitet, so dass sie im Neuhochdeutschen auch bei Maskulina Verwendung findet, z.B. Mann – Männer. Hinzu kamen im Gegensatz zum Althochdeutschen weitere morphophonemische Alternanzen durch u-Umlaut, Palatalisierung usw., die die Klarheit der Paradigmen zusätzlich beeinträchtigten. Zum Englischen im Vergleich zum Deutschen vgl. Kastovsky (1994).
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Leser am linken Klammerrand die Erwartung auf ein bestimmtes Morphem bzw. Merkmal oder zumindest eine bestimmte, nicht zu umfangreiche Auswahl an Morphemen bzw. Merkmalen geweckt und am rechten Klammerrand erfüllt wird. Würde diese Auswahl zu groß, wäre die Erwartung zu unbestimmt, und das ganze Verfahren würde nicht mehr funktionieren. Man kann sich leicht davon überzeugen, indem man versuchsweise in einer einigermaßen komplexen Nominalklammer annimmt, dass einzelne Substantive z.B. maskulines oder feminines Genus haben könnten. Wäre das etwa in der oben (in 2.2.) bereits (ohne das entscheidende Komma) behandelten Nominalphrase Dieser kommunikative Distanz meidende Akt beim Substantiv Distanz der Fall, so könnte Dieser statt erst auf Akt auch schon auf Distanz bezogen werden. Dies würde fast unweigerlich zur anfänglichen „Garden-Path-Analyse“ von Dieser kommunikative Distanz als Nominalphrase im Nominativ und folglich als Subjekt des Satzes führen. Deutsche Sprachbenutzer haben durchaus eine Intuition für die Wichtigkeit eines eindeutigen Genus ihrer Substantive. Das zeigt sich z.B. an der Erbitterung, mit der sie darüber streiten können, ob die oder das Nutella „richtig“ sei (vgl. Sick 2004, 19), während sie viele andere sprachliche Zweifelsfälle ungerührt überhören oder dem persönlichen Sprachgebrauch überlassen. Die Sprachgemeinschaft duldet offenbar nur äußerst ungern, dass dasselbe Substantiv verschiedene Genera haben kann.34 Dies gilt sogar dann, wenn der Genusunterschied mit einem Bedeutungsunterschied einhergeht, es sich in semantischer Hinsicht also gar nicht um dasselbe Substantiv handelt. Zwar gibt es einige echte Homonyme wie der Kiefer vs. die Kiefer, die Mark vs. das Mark, aber eine systematisch produktive Quelle solcher Wörter wird nicht geduldet. Eine solche Quelle wäre etwa die Ausnutzung des Genus zur Bezeichnung von männlichen und weiblichen Personen mit derselben Funktion, wie von Pusch (1984, 63) vorgeschlagen: der Student für einen männlichen, die Student für einen weiblichen Studenten. Schon die Tatsache, dass die Autorin diesen Vorschlag wohl selbst nicht ganz ernst genommen hat und er sogar in feministischen Kreisen und von Luise Pusch selbst als „der verrückte Pusch-Vorschlag“ apostrophiert wurde (Pusch 1990), zeigt die grundsätzliche Unvereinbarkeit dieser Struktur mit der deutschen Grammatik. In einem anderen Sprachsystem wie etwa dem französischen bereitet sie dagegen keine Schwierigkeiten. Dort ist sie längst etabliert (un adversaire 'ein Gegner' – une adversaire 'eine Gegnerin') und wird sogar offi_____________ 34
Selbst landschaftlich verschiedener Gebrauch, bei dem die verschiedenen Genera gewissermaßen auf verschiedene Sprachgemeinschaften verteilt sind, wie etwa die Butter vs. der Butter, erzeugt jenseits der jeweiligen Dialektgrenzen starke Abwehrreaktionen.
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ziell als eine von verschiedenen Möglichkeiten zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs empfohlen, z.B. un juge 'ein Richter' – une juge 'eine Richterin' (vgl. Becquer u.a. 1999, 22). Solche so genannten Utra würden einige der sattsam bekannten stilistischen Probleme des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs lösen und außerdem Frauen in der Sprache sichtbarer machen als die entsprechenden genusambigen Formulierungen in anderen germanischen Sprachen wie engl. a teacher 'ein Lehrer oder eine Lehrerin' oder schwedisch en lärare 'dito': Weil diese Sprachen ihre Genusunterscheidung an den Begleitern des Substantivs eingebüßt haben, erfährt man hier erst bei einer eventuellen pronominalen Wiederaufnahme z.B. durch engl. he oder she, schwed. hon oder hun, ob ein Mann oder eine Frau gemeint ist.35 Im Deutschen würde das bereits durch die Artikel deutlich. Trotz aller dieser Vorteile sind solche Utra als systematische paarweise Bezeichnung von männlichen und weiblichen Personen für das deutsche Sprachsystem nicht tragbar, eben weil sie eine systematische und hoch produktive Quelle von genusambigen Substantiven darstellen und damit das Funktionieren der Nominalklammer empfindlich beeinträchtigen würden.36 Aus grammatischer Sicht dürfte das der tiefste Grund sein, warum der deutsche geschlechtergerechte Sprachgebrauch auf der systematischen Kennzeichnung von femininen Personenbezeichnungen durch das Motionssuffix -in besteht.37 Damit soll keineswegs die Funktion dieses Suffixes zur sprachlichen Sichtbarmachung von Frauen geleugnet werden. Tatsächlich wird durch die mehrfache Nennung des femininen Genus am Substantiv und an seinen Begleitern das weibliche Geschlecht der bezeichneten Person besonders deutlich zum Ausdruck gebracht, und im Plural (die Lehrer – die Lehrerinnen) ist das Motionssuffix (mit dem dadurch bedingten Pluralallomorph -en) der einzige Hinweis auf das weibliche Geschlecht der bezeichneten Personen. Aber hinter diesem offensichtlichen und der sprachlichen Intuition leicht zugänglichen Motiv steht das den naiven Sprachbenutzern we_____________ 35 36
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Genaueres in Nübling (2000). Lediglich bei substantivierten, nach stark flektiertem Determinans schwach flektierten Partizipien (der / die Studierende), die ihre Genushomonymie aus ihrer Flexionsart mitbringen, wird diese Lösung geduldet. Daher werden sie gerne zur Umgehung der Probleme mit suffigierten Formen eingesetzt. Man beachte aber, dass der Status als Partizip keinesfalls aufgegeben wird: Nach den unflektierten Formen des unbestimmten Artikels werden sie stark und damit genussensitiv flektiert: ein Studierend-er – ein-e Studierend-e. Tritt ausnahmsweise Lexikalisierung der schwach flektierten Form ein, wie bei der / ein Junge, wird ein eindeutiges Genus zugewiesen. Weiteres in Ronneberger-Sibold (2007). Dies gilt sogar für Entlehnungen aus dem Englischen wie Hairstylist, obwohl sie die Genusneutralität aus ihrer Ursprungssprache gewissermaßen mitbringen könnten. Vgl. Ronneberger-Sibold (2007), auch zu Wörtern wie Guru, die aus phonotaktischen Gründen keine Suffigierung durch -in zulassen.
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niger zugängliche, aber umso langfristiger wirkende grammatische Motiv des klammernden Verfahrens. Sonst wäre ja nicht wirklich zu erklären, warum englisch- oder schwedischsprachige Frauen soviel weniger Wert auf sprachliche Sichtbarmachung legen sollten als deutsche. Vor allem aber wäre sonst nicht zu erklären, warum dieser Unterschied zwischen den drei Sprachen sich bereits durch ihre gesamte Sprachgeschichte hindurchzieht, also auch in Zeiten bereits greifbar war, in denen von geschlechtergerechtem Sprachgebrauch noch nicht die Rede sein konnte. Dies wird im Folgenden in Umrissen gezeigt. Zunächst fällt auf, dass von dem germanischen Motionssuffix *-inju / -unjo zwar auf den ältesten Stufen aller drei Sprachen Reflexe erhalten sind (z.B. in ahd. gutin, aengl. gyden 'Göttin' und an. asynja 'Asin'), von diesen aber nur der deutsche in ungebrochener Tradition bis heute produktiv geblieben ist. Bedingung dafür war eine formale Stärkung im Althochdeutschen durch Benutzung der ursprünglichen Akkusativform -inna auch im Nominativ, so dass der Vollvokal /-i-/ unter dem Nebenton die Vokalreduktion in unbetonter Silbe überdauerte. Aengl. -en und an. -ynja starben dagegen bald aus. Sie wurden zeitweise durch verschiedene andere, teilweise entlehnte Motionssuffixe ersetzt, von denen sich aber keines auf Dauer halten konnte. Heute existieren zwar engl. -esse und schwed. -inna (das germanische Suffix zum zweiten Mal entlehnt aus dem Mittelniederdeutschen), aber beide werden nicht mehr produktiv gebraucht, weil sie negative Konnotationen entwickelt haben (vgl. Wessén 1970; Kastovsky / Dalton-Puffer 2002). Obwohl das ein häufiges Schicksal von Motionssuffixen ist, trat eine entsprechende semantische Veränderung im Deutschen nie ein. Die Geschichte der Movierung durch Wortbildung ist also seit dem Althochdeutschen im Deutschen in bezeichnender Weise anders verlaufen als in den beiden anderen Sprachen. Der grundsätzliche Unterschied in Bezug auf genusambige Personenbezeichnungen ist jedoch sogar noch älter. Das wichtigste Mittel des Germanischen zur Genusdifferenzierung bei Personenbezeichnung waren nämlich noch nicht die Motionssuffixe, sondern verschiedene Flexionsklassen, insbesondere bei den bevorzugt zur Bildung von Personenbezeichnungen verwendeten n-Stämmen. Als indogermanisches Erbe war die n-Stamm-Flexion ursprünglich für alle drei Genera gleich gewesen. Bereits in indogermanischer Zeit traten jedoch Differenzierungen in Abhängigkeit vom Genus auf. Diese wurden im Voralthochdeutschen (und bemerkenswerterweise wiederum im Vorgotischen) bedeutend konsequenter aufgenommen und ausgebaut als im Voraltenglischen und im Urnordischen. Das Althochdeutsche und das Gotische besitzen eine in sich sehr regelmäßige feminine n-Flexion (ahd. zung-a, zung-ūn usw., got. tugg-ō, tugg-ōns
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usw.), die auf eine systematische Durchführung von urgerm. /o:/ im stammbildenden Suffix im ganzen Paradigma zurückgeht (vgl. Krahe / Meid 1969, Bd. II, 48). Dieser Typ unterscheidet sich im Gotischen in allen Formen von den entsprechenden Maskulina, die die ursprüngliche n-Stamm-Flexion beibehalten haben, im Althochdeutschen in allen Formen bis auf den Genitiv und Dativ Plural. Althochdeutsche Beispiele sind etwa: forasaga 'Prophetin' vs. forasago 'Prophet', (gast)geba '(Gast)geberin' vs. gebo 'Geber', später auch zu mask. ja-Stämmen auf -āri gestellt: zuhtāra 'Erzieherin' vs. zuhtāri 'Erzieher'. Zudem gehen viele feminine Personenbezeichnungen ohne direktes maskulines Pendant nach der n-Flexion: wituwa 'Witwe', diorna 'Mädchen', huor(r)a, zaturra, zatara 'Hure' usw. (vgl. Braune / Reiffenstein 2004, 210f.). Gotische Beispiele sind: mawilo 'Mädchen' vs. magula 'Knabe', garazno 'Nachbarin' vs. garazna 'Nachbar', arbjo 'Erbin' vs. arbja 'Erbe' usw. (vgl. Krause 1968, 164). Der Formtyp an sich ist sehr alt (vgl. lat. natiō, natiōnis und griech. α̉γών, α̉γω̃νος mask.(!); vgl. Krahe / Meid 1969, Bd. II, 48). Dass er aber im Germanischen so systematisch zur Bildung von femininen Personenbezeichnungen ausgebaut wurde, liegt nach Krahe / Meid (ebd.) sicherlich daran, dass hier das charakteristische /o:/ dieser Klasse ursprünglich mit dem stammbildenden /o:/ < idg. /a:/ der starken Feminina vom Typ ahd. geba, got. giba 'Gabe' zusammengefallen war, was zu zahlreichen Übertritten von der starken in die schwache Klasse führte. Dieser Vorgang fand im Urgermanischen statt, noch vor der Veränderung dieses /o:/ in Abhängigkeit von der lautlichen Umgebung durch die Auslautgesetze (vgl. Krahe / Meid 1969, Bd. I, 133f.; Bd. II, 48f.). Er musste also in den Vorstufen des Altenglischen und Altnordischen dieselben strukturellen Voraussetzungen geschaffen haben. Trotzdem wurden sie dort nicht in derselben Weise zur Etablierung einer eigenen femininen n-Flexion genützt wie in den Vorstufen des Gotischen und Althochdeutschen. Im Altenglischen unterscheiden sich die maskulinen und femininen n-Stämme nur im Nominativ Singular (wicca 'Zauberer' vs. wicce 'Zauberin, Hexe'). Ansonsten ist die alte Genusindifferenz beibehalten. Im Altnordischen flektieren die beiden Genera zwar verschieden (granni, 'Nachbar' vs. granna 'Nachbarin'), aber diese Unterschiede gehen nicht auf eine konsistente Neuschöpfung einer femininen n-Flexion zurück, sondern auf eine Vielzahl kleinerer Analogiebildungen auch im Bereich der Maskulina. Zudem war keine klare Zuordnung zwischen dem Flexionstyp granni, maskulinem grammatischem und männlichem natürlichem Geschlecht einerseits sowie zwischen dem Flexionstyp granna, femininem grammatischem und weiblichem natürlichem Geschlecht andererseits gegeben (Details in Noreen 1923, 277ff.; s.a. Ronneberger-Sibold 2007 und i. Dr.).
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Wie schon bei der frühen Numerusprofilierung bei den i-Stämmen gehen also auch bei der Vermeidung von Genusambiguität bei den n-Stämmen die Vorstufen des Althochdeutschen und Gotischen einen anderen Weg als die des Altenglischen und Altnordischen.38 In unserem Zusammenhang ist vor allem interessant, dass in beiden Fällen, sowohl bei den i-Stämmen als auch bei den n-Stämmen, bereits in sehr früher Zeit „Bausteine“ geschaffen wurden, die ab dem Althochdeutschen bei der Etablierung des rechten Randes der Nominalklammer Verwendung fanden. Leider ist es eine müßige Frage, ob Ähnliches auch im Gotischen geschehen wäre, wenn diese Sprache nicht untergegangen wäre.
5. Zusammenfassung: Zielgerichteter Sprachwandel? Überblickt man die dargestellten historischen Entwicklungen insgesamt, so entsteht ein fast gespenstischer Eindruck: Es sieht so aus, als hätte ein geheimnisvoller „Spracharchitekt“ vor gut zwei Jahrtausenden beschlossen, die deutsche Nominalklammer zu bauen, und zu diesem Zweck systematisch zunächst einmal die Bausteine für den rechten Rand hergestellt. Dazu dienten 1. die Schöpfung einer femininen Flexion der n-Stämme (noch vor der Wirkung der Auslautgesetze auf /o:/), 2. die Beschränkung der i-haltigen Endungen auf den Plural bei den i-Stämmen als Auftakt der Numerusprofilierung. Danach hätte er sich dem linken Klammerrand zugewandt und 3. die Form der (Nom. Sg. Mask.) für den im Entstehen begriffenen bestimmten Artikel geschaffen, sowie mit dessen Hilfe 4. die „Langformen“ vom Typ guoter, guotiu, guotaz der starken Adjektivflexion. Damit diese ihre Funktion, den linken Klammerrand zu markieren, auch klar erfüllen konnten, hätte er ab der althochdeutschen Periode auch syntaktische Maßnahmen ergriffen. Diese waren _____________ 38
Dieser Befund könnte ein neues Licht auf die alte Frage nach den Verwandtschaftsverhältnissen und frühen Kontakten zwischen den germanischen Sprachgruppen werfen. Dies ist jedoch ein facettenreiches Thema, das eingehenderer Untersuchung bedarf, als es mir möglich ist, zumal in diesem Aufsatz. Ich möchte ihn daher ausdrücklich nicht als ein Plädoyer für eine engere Verwandtschaft des Ostgermanischen mit dem Westgermanischen als mit dem Nordgermanischen verstanden wissen.
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5. die Schaffung einer unflektierten Form des Adjektivs für den prädikativen Gebrauch. Zu diesem Zweck hätte er zunächst im Nom. Sg. Mask. und Fem. sowie im Nom. / Akk. Sg. Neutr. die dort lautgesetzlich entstandenen endungslosen starken Formen vom Typ guot verwendet. Um aber auch im Plural und in den obliquen Formen des Sg. die attributive Verwendung formal deutlich von der prädikativen unterscheiden zu können, hätte er den Gebrauch der endungslosen Formen auch auf diese Fälle ausgedehnt; 6. die Bewahrung der schwachen Adjektivflexion und ihre Einschränkung auf den Gebrauch nach Determinantien, obwohl sie als Zeichen für die Definitheit einer Nominalphrase durch den bestimmten Artikel eigentlich überflüssig geworden war. Sie war aber trotzdem nützlich für die Nominalklammer, weil durch sie auch die attributiven Adjektive in definiten Nominalphrasen formal sowohl von den prädikativen als auch von den stark flektierten Determinantien am linken Klammerrand unterschieden waren. Dem Zweck, dass die so geschaffene Nominalklammer auch wirklich so viel wie möglich gebraucht wurde, diente 7. der schrittweise Verzicht auf die Möglichkeit, ein attributives Adjektiv nachzustellen. Während dieser syntaktischen Veränderungen im Althochdeutschen stand der Lautwandel nicht still. Durch die Phonologisierung der Umlautallophone entstand der Pluralumlaut bei den ehemaligen i- und es- / os-Stämmen. Im Sinne des klammernden Verfahrens war dies eine sehr willkommene Stärkung des rechten Klammerrandes, die selbstverständlich nicht durch Übertragung des Umlauts in den Singular gefährdet werden durfte. Daraus folgt im Althochdeutschen (im Gegensatz zum Altnordischen mit seinem komplizierteren Paradigma) 8. der Verzicht auf paradigmatischen Ausgleich des Umlauts bei den ehemaligen i- und es- / os-Stämmen (gast – geste, kalb – kelber). Der Umlaut erwies sich sogar so nützlich als Pluralkennzeichen, dass unser „Spracharchitekt“ ihn noch in der alt- und mittelhochdeutschen Periode auf verschiedene Weisen, die hier nicht erörtert werden können, weiter im Wortschatz verbreitete. Die Reduktion der unbetonten Vokale hatte jedoch nicht nur positive Auswirkungen für den rechten Klammerrand: Sie drohte, die Opposition zwischen maskuliner und femininer n-Flexion zu zerstören (lautgesetzlich ahd. gebo 'Geber' und geba 'Geberin' > mhd. gebe 'Geber' und 'Geberin')
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und damit massenweise Utra zu schaffen. Dem wirkte unser „Spracharchitekt“ entgegen durch 9. die Stärkung des femininen Motionssuffixes -in mittels Ersatz durch die Akkusativform -inna. Trotz der Numerusprofilierung bei den ehemaligen i- und es- / osStämmen blieben im Mhd. noch viele numerusambige Flexionstypen bestehen (z.B. wort, hirte, gebe). Dieser Zustand war nicht mehr tragbar, als auch noch in der starken Adjektivflexion diu, guotiu (Nom. Sg. Fem. und Nom. / Akk. Pl. Neutr.) mit die, gute (Akk. Sg. Fem. und Nom. / Akk. Pl. Mask. / Fem. sowie dere, guotere (Gen. / Dat. Sg. Fem. und Gen. Pl. aller Genera) mit der, guoter (Nom. Sg. Mask.) zusammenfielen. Die Lösung des Problems war 10. die frühneuhochdeutsche Numerusprofilierung. Damit war, was die Flexion angeht, der moderne Stand erreicht, bei dem die beiden Ränder der Nominalklammer noch mehr aufeinander angewiesen sind als vorher. Nur zusammen drücken sie durch ihre Flexion und das Genus des Kernsubstantivs den Kasus und (in den verbliebenen numerusambigen Fällen) den Numerus der ganzen Nominalphrase aus. Der linke Klammerrand wurde daher gegen weiteren reduktiven Lautwandel geschützt durch 11. die Blockierung der frühnhd. Synkope von /ə/ in der starken Adjektivflexion. Bis zum neuhochdeutschen Stand hatte unser „Spracharchitekt“ nur noch einige syntaktische Bereinigungen durchzuführen: 12. die obligatorische Integration der Erweiterungen von attributiven Adjektiven und Partizipien in die Klammer, 13. die Verschiebung des Genitivattributs hinter sein Bezugssubstantiv, da es nicht mit diesem kongruiert. Selbstverständlich ist der „Spracharchitekt“ eine Erfindung. Die „Architekten“ ihres Sprachsystems sind ja die Sprachbenutzer selbst. Aber anders als wirkliche Architekten planen sie nichts voraus, sie sind sich der Regeln ihres Systems ja nicht einmal bewusst. Alles, was sie tun, ist sprachlich zu handeln, um ihr jeweiliges begrenztes kommunikatives Ziel zu erreichen. Wie aber kann es sein, dass sich aus der riesigen Zahl dieser individuellen, völlig unkoordinierten Sprechakte eine derartig geradlinige, scheinbar zielgerichtete Entwicklung ergibt? Dies ist eine der Grundfragen aller Sprachwandeltheorien, die hier nicht grundsätzlich erörtert werden kann. Wir beschränken uns daher auf einige Bemerkungen im Hinblick
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auf das klammernde Verfahren, obwohl das prinzipielle Problem nicht nur dieses, sondern jede typologische Sprachentwicklung betrifft: 1. Für jede der oben angeführten dreizehn Veränderungen und Bewahrungen gibt es außer ihrer Funktion für das klammernde Verfahren auch andere Motive. Die Sprachbenutzer müssen sie also nicht notwendigerweise direkt für das klammernde Verfahren durchgeführt haben. 2. Ab einem bestimmten Zeitpunkt entdeckten die Sprachbenutzer aber, dass bestimmte Varianten des Sprachgebrauchs, die sie aus ganz anderen Gründen geschaffen hatten, für das klammernde Verfahren verwendbar waren. In diesem Fall hatte eine solche Variante einen Selektionsvorteil vor anderen Varianten. 3. Je mehr solcher Varianten endgültig ins Sprachsystem aufgenommen wurden, umso wahrscheinlicher wurde die Entdeckung weiterer für das klammernde Verfahren verwendbarer Varianten. 4. Schließlich wurden bestimmte Veränderungen möglicherweise direkt oder zumindest vorwiegend durch das klammernde Verfahren motiviert. Es handelt sich also um einen selbstverstärkenden Prozess (das Bild einer Lawine drängt sich auf): Kleine, zufällig entstandene Strukturen werden irgendwann wegen einer ebenfalls zufällig entstandenen funktionellen Gemeinsamkeit miteinander vernetzt, ziehen weitere, ähnliche Strukturen an sich, bilden möglicherweise Makrostrukturen aus, bis sie schließlich ein ganzes System beherrschen. Im Fall der deutschen Nominalklammer steht zu vermuten, dass mindestens die ersten „Bausteine“ für den rechten Klammerrand, also die Veränderungen unter 1. und 2., solche zufälligen Anfänge waren. Sie können sehr gut durch das Bedürfnis nach überschaubar strukturierten Flexionsparadigmen motiviert gewesen sein, wie es immer wieder im Sprachwandel wirkt, auch ohne klammerndes Verfahren im Hintergrund. Auch die Form der kann noch zufällig entstanden sein. Das Personalpronomen der 3. Person und das entsprechende einfache Demonstrativum werden ja bis heute konkurrierend gebraucht: Da geht Peter. Er / der sieht heute krank aus. Eine formale Kontamination ist also nicht unwahrscheinlich. Dass aber der sich gegen de mit seinen verschiedenen Varianten (dhe, the, thie; vgl. Braune / Reiffenstein 2004, 247) durchsetzte, könnte bereits mit seiner Entdeckung als möglicher linker Rand für eine Nominalklammer zusammenhängen. Der entscheidende Schritt könnte hier die Vernetzung der nominalen klammernden Strukturen mit den sicher zunächst unabhängig
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aus ganz anderen Quellen und Motiven entstandenen entsprechenden verbalen Strukturen im Althochdeutschen gewesen sein. Ab diesem Moment, so unsere Vermutung, haben alle weiteren Schritte mindestens von einem Selektionsvorteil durch das klammernde Verfahren profitiert. Übrigens schließt dies weder logisch noch faktisch aus, dass in einem anderen System ähnliche Schritte mit ihren eigenen Motiven unabhängig von der Existenz eines klammernden Verfahrens durchgeführt werden. So hat z.B. im Mittelenglischen auch ohne klammerndes Verfahren eine Art Numerusprofilierung bei den Substantiven durch Verallgemeinerung der Endung -es stattgefunden (vgl. Brunner 1962, 16ff.). Dieser Aufsatz hat mehr Fragen über die Geschichte der deutschen Nominalklammer gestellt als beantwortet. Vieles wäre genauer zu erforschen. Es konnte aber hoffentlich gezeigt werden, dass sich die Suche nach Antworten lohnt – zum besseren Verständnis der deutschen Sprachgeschichte und zum besseren Verständnis von langfristigem, typologisch orientiertem Sprachwandel.
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Zur Herausbildung der Satzklammer im Deutschen Ein Plädoyer für eine informationsstrukturelle Analyse
Roland Hinterhölzl (Berlin)
1. Einleitung Dieser Artikel behandelt die Herausbildung der Satzklammer aus einer informationsstrukturellen Perspektive. Zunächst wird anhand von Differenzbelegen aufgezeigt, dass die Tatian-Übersetzung eine Vielzahl von originären Strukturen in Nebensätzen aufweist, in denen Objekte und Prädikate, die im modernen Deutschen nicht extraponierbar sind, postverbal erscheinen. In Abschnitt 2 wird gezeigt, dass die Verteilung präverbaler und postverbaler Konstituenten nicht gut mit dem Gesetz der wachsenden Glieder erklärt, sondern auf eine informationsstrukturelle Regularität zurückgeführt werden kann, in der nachgestellte Konstituenten Informationsfokus darstellen und vom Hintergrundbereich des Satzes durch das (finite) Verb getrennt werden. In Abschnitt 3 wird erläutert, dass die Grammatikalisierung des definiten Artikels eine entscheidende Rolle in der Herausbildung der Satzklammer des modernen Deutschen gespielt hat, indem präverbale diskursanaphorische determinierte Nominalphrasen zur Abschwächung einer prosodischen Bedingung führen, die das Mittelfeld für schwere und betonte Konstituenten öffnet. In Abschnitt 4 werden die wichtigsten Schlussfolgerungen dieser Analyse zusammengefasst. 1.1. Gemischte Wortstellungen in der Tatian-Übersetzung Die älteren germanischen Sprachen zeichnen sich durch eine Vielzahl von Wortstellungsoptionen aus. So finden sich im Altenglischen (vgl. Pintzuk 1999) und im Altnordischen (vgl. Hróarsdóttir 2009) in eingebetteten Sätzen sowohl OV- als auch VO-Abfolgen. Dieselbe Variation ist auch in
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Texten des Althochdeutschen zu finden. Allerdings ist die Überlieferungssituation im Ahd. eine solche, dass es sich bei den größeren, für syntaktische Untersuchungen geeigneten Texten entweder um Übersetzungen oder um metrische Texte handelt, sodass im Zweifel steht, welche Abfolgen einer autochthonen althochdeutschen Grammatik zugeschrieben werden können. Insbesondere wurden VO-Abfolgen in der Tatianübersetzung oft lateinischem Einfluss zugeschrieben (vgl. Lippert 1974). Neuerdings hat aber die Tatian-Übersetzung, die den umfangreichsten Prosatext vor 850 darstellt, in der Bewertung seiner Lateinabhängigkeit eine Neuinterpretation erfahren (vgl. Dittmer / Dittmer 1998; Fleischer / Hinterhölzl / Solf 2008). Aufgrund der interlinearen Übersetzungsstrategie lassen sich Korrespondenz- und Differenzbelege zum Latein relativ einfach ermitteln. Letztere können dann als hinreichend sichere Quelle für authentische althochdeutsche Strukturen herangezogen werden. In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant festzustellen, dass sich in den Differenzbelegen des Tatian eine nicht geringe Anzahl von nachgestellten Subjekten (1), Prädikaten (2-3) und Objekten (4-5) findet, wie die folgenden Beispiele zeigen. (1)
thaz dass
(2)
[& ecce homo erat In hierusalem.]’/ cui nomen simeon [senonu tho uuas man In hierusalem.]’/ thes namo uuas gihezzan Simeon (T 37, 23ff.) des Namen war geheissen Simeon
(3)
Beati misericordes salige sint thiethar sint miltherze (T 60, 12) selig sind die da sind barmherzig
(4)
ut in me pacem habeatis thaz in mir habet damit in mir habt
(5)
gibrieuit aufgelistet
uuvrdi würde
al these umbiuuerft (T 35,9) all diese Menschheit
sibba (T 290, 8) Frieden
non resistere malo thaz ír niuuidarstant& dass ihr nicht wiedersteht
ubile (T 65, 1) dem Übel
Da Subjekte, Prädikate und Objekte im Neuhochdeutschen nicht ausgeklammert werden können, müssen die Strukturen in (1)-(5) als VO-Abfolgen gelten und werfen daher folgende Fragen auf. 1. Wie sind Sprachen zu charakterisieren, die sowohl OV- als auch VO-Eigenschaften aufweisen? 2. Welche Faktoren sind dafür maßgeblich, ob eine Konstituente im Mittelfeld oder Nachfeld positioniert ist?
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1.2. Erklärungen dieser gemischten Abfolgen In traditionellen Grammatiken werden die gemischten Abfolgen im älteren Germanischen maßgeblich auf stilistische Faktoren zurückgeführt. So bemerkt Behaghel (1932), dass Pronomen und unmodifizierte Nomen dem Verb vorausgehen, während modifizierte Nomen, Präpositionalphrasen und anderes schweres Material diesem nachfolgen und formuliert daraufhin das Gesetz der wachsenden Glieder. (6)
Leichte Elemente gehen im AE, AN und AHD schweren Elementen voraus.
Dabei stellt sich die Frage, was in diesem Zusammenhang mit leicht gemeint ist. Wenn ich Behaghel richtig interpretiere, so ist unter (6) leicht im Sinne von prosodischem Gewicht zu verstehen, da er an anderer Stelle vermerkt, dass ein weiteres machtvolles Gesetz auf die Wortstellung einwirke, das verlange, dass das Wichtige später stehe als das Unwichtige (vgl. Behaghel 1932, 4). Letztere Aussage kann als eine Vorwegnahme der Einsicht gelten, dass die Wortstellung im älteren Germanischen im Wesentlichen informationsstrukturell determiniert war, da Behaghel zwei Zeilen später spezifiziert, was damit gemeint ist: „das heißt, es stehen die alten Begriffe vor den neuen.“ In der Theorie der Informationsstruktur geht man davon aus, dass (kooperative) Sprecher ihrem Gegenüber signalisieren, was sie in ihrer jeweiligen Äußerung als bereits bekannt voraussetzen (Hintergrund) und was sie als wichtige, neue Information assertieren (Fokus). Das Studium der Informationsstruktur einer Sprache involviert daher eine Untersuchung der prosodischen, morphologischen oder syntaktischen Mittel, mit denen diese pragmatischen Rollen der Teilkonstituenten eines Satzes ausgedrückt werden. Dabei sind, was den Begriff des Fokus anbelangt, noch folgende Unterscheidungen von Belang. Wie in (7) illustriert, unterscheidet man zwischen weitem und engem Informationsfokus auf der einen Seite und kontrastivem Fokus auf der anderen Seite. Informationsfokus stellt im jeweiligen Kontext neue Information dar – in (7) durch eckige Klammern angezeigt – und lässt sich am besten anhand eines Fragekontextes veranschaulichen. Während nominale Ausdrücke, die Informationsfokus tragen, stets neue Diskursreferenten einführen, können nominale Ausdrücke, die kontrastiv fokussiert sind, auch bekannte Diskursreferenten bezeichnen. Ausdrücke, die bekannte Diskursreferenten bezeichnen (und nicht fokussiert sind), sogenannte diskursanaphorische Ausdrücke, werden dem Hintergrund zugerechnet.
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(7a) Was hat der Hans gemacht? (weiter Informationsfokus) Hans hat [der Maria ein Buch gegeben]. (7b) Was hat der Hans der Maria gegeben? (enger Informationsfokus) Hans hat der Maria [ein Buch] gegeben. (7c) Hans hat der Maria [das BUCH] gegeben, nicht die Zeitschrift. (kontrastiver Fokus) Eine erste informationsstrukturelle Sichtung der Differenzbelege im Tatian legt nahe, dass die Stellung des finiten Verbs in eingebetteten Sätzen im Wesentlichen dazu diente, Hintergrund und Fokusbereich voneinander zu trennen, wie in (8) illustriert ist. (8)
C
Hintergrund V
Fokus
(wird unten revidiert werden)
In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass sich die Bedingungen in (6) und (8) in ihren Voraussagen teilweise überlappen, da Hintergrundmaterial in der Regel als leicht und Fokusmaterial allein schon wegen des Akzents als prosodisch schwer zu bewerten ist. Daher stellt sich die Frage, ob das Gesetz der wachsenden Glieder nur das oberflächliche Korrelat einer zugrundeliegenden informationsstrukturellen Regelmäßigkeit sein könnte, oder auf ein eigenständiges prosodisches Gesetz zurückzuführen ist, das mit informationsstrukturellen Bedingungen interagiert. Wenn man sich innerhalb des Germanischen die Fälle genauer ansieht, in denen prosodisches Gewicht eine entscheidende Rolle für die Wortstellung spielt, so zeigt sich, dass verzweigende und insbesondere rechtsverzweigende Konstituenten als prosodisch schwer einzustufen sind. Beispielsweise erlaubt das Englische – im Gegensatz zum Deutschen – keine schweren Adverbien im Mittelfeld, wie in (9) gezeigt ist (vgl. Haider 2004). (9a) John carefully read the book Hans sorgfältig las das Buch (9b) *John with care read the book Hans mit Sorgfalt las das Buch (10a) John more often read the book Hans öfter las das Buch (10b)*John more often than Peter read the book Hans öfter als Peter las das Buch Dabei ist interessant, dass diese Adverbien zwar modifiziert – also durchaus verzweigen können – aber nicht rechtswärtig erweitert werden kön-
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nen, wie in (10) illustriert wird. In der Annahme, dass diese Einschränkung auf eine Abbildungsbedingung zwischen syntaktischer Struktur und prosodischer Struktur zurückzuführen ist und dass rechtsverzweigende Phrasen auf rechtsköpfige phonologische Phrasen abgebildet werden, ergibt sich als möglicher Kandidat für den grammatischen Hintergrund des Gesetzes der wachsenden Glieder die Beschränkung in (11). (11) Eine rechtsköpfige prosodische Phrase darf nicht auf einem linken (syntaktischen) Zweig gegenüber dem Verb sitzen, mit dem sie eine gemeinsame prosodische Konstituente bildet. Auf die Relevanz dieser Bedingung für die Herausbildung der Satzklammer werde ich noch genauer in Abschnitt 3 eingehen. Im folgenden Abschnitt soll genauer untersucht werden, ob die Wortstellung in der Tatianübersetzung primär vom Gesetz der wachsenden Glieder oder primär informationsstrukturell bestimmt ist.
2. Die Rolle der Informationsstruktur bei der (Nicht-)Ausklammerung In diesem Abschnitt sollen die Differenzbelege, die Umstellungen einerseits ins Mittelfeld und andererseits ins Nachfeld betreffen, genauer auf ihre informationsstrukturellen Eigenschaften untersucht werden. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass nicht verzweigende Konstituenten als prosodisch leicht und verzweigende Konstituenten als prosodisch schwer (im Sinne des Gesetzes der wachsenden Glieder) zu bewerten sind. Die Grundlage für diese kleine empirische Untersuchung bilden die von Dittmar / Dittmar (1998) aufgelisteten Differenzbelege. Dabei sind vorangestellte schwere Konstituenten und im Nachfeld verbleibende leichte Konstituenten von besonderem Interesse. Dittmar und Dittmar listen insgesamt 142 Belege auf, in denen (in einem eingebetteten Satz) eine Konstituente aus dem Nachfeld ins Mittelfeld vorgerückt wird. Die große Mehrzahl davon (insgesamt 102 Fälle) sind pronominale Subjekte und Objekte, die sowohl als prosodisch leicht als auch eindeutig als diskursanaphorisch zu analysieren sind. Nun ist es interessant festzustellen, dass unter den 30 vorangestellten nominalen Subjekten 23 Belege eine zweigliedrige Konstituente aufweisen, die als prosodisch schwer zu beurteilen ist. Eine Analyse dieser Beispiele im Kontext zeigt aber, dass diese schweren Subjekte ausnahmslos diskursanaphorisch verwendet sind und daher dem Hintergrund zuzurechnen sind. Zwei exemplarische Fälle sind in (12) aufgeführt, wobei jeweils die
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Ausdrücke das Mädchen und die Flut im vorausliegenden Text vorerwähnt sind. (12a) ubi erat puella iacens thar thas magatin lag (T 96, 25) wo das Mädchen lag (12b)donec venit diluuium unc thiu flout quam bis die Flut kam
(T 257, 7)
Wenn wir nun umgekehrt die Differenzbelege betrachten, in denen eine Konstituente aus dem Mittelfeld ins Nachfeld gerückt wird, so zeigt sich, dass sich unter den zehn Belegen sieben Fälle finden, die eine eingliedrige Konstituente aufweisen, die keinesfalls als prosodisch schwer zu beurteilen ist. Wie die Beispiele in (13) und (14) aber zeigen, sind diese Konstituenten eindeutig als fokussiert zu interpretieren. (13) zeigt ein Beispiel, in dem das eingliedrige Objekt nachgestellt wird, während die schwerere (zweigliedrige) PP im Mittelfeld verbleibt. Die informationsstrukturelle Analyse des Beispiels zeigt aber, dass diese Konfiguration durchaus Sinn macht, da hier eine kontrastierende Aussage gemacht wird, in der die PPs kontrastive Topiks und die Akkusativobjekte jeweils Fokus darstellen (analog zu der Diskursfrage „was habt ihr in mir und was habt ihr in der Welt?“). (13) Haec locutus sum vobis
thisu sprahih iu thaz in mir habet sibba (T 290, 10) ut in me pacem habeatis in mundum presuram habebitis in therru weralti habet ir thrucnessi dies sage ich euch, damit ihr in mir Frieden habt, in der Welt habt ihr Unruhe
(14) zeigt, dass die Wortstellungsregularitäten im Tatian nicht nach der einfachen Regel beschrieben werden können, dass Pronomen vorangestellt werden, während DPs gemäß der lateinischen Vorlage in ihrer Position sitzen bleiben. In (11) ist entgegen der Vorlage ein schwaches Pronomen ins Nachfeld gestellt. Allerdings macht der Kontext deutlich, dass dieses Pronomen fokussiert ist. Die Passage ist so zu verstehen, dass die Betonung auf das Pronomen fällt: wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Im modernen Deutschen wird eine Fokuspartikel verwendet (um das nur schlecht betonbare Reflexivum zu verstärken), im Althochdeutschen wird das Pronomen in die rechtsperiphere Fokusposition verschoben.
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Zur Herausbildung der Satzklammer
(14) Quia omnis
bidiu uuanta iogiuuelih (T 195, 16) qui se axaltat thiedar sih arheuit humiliabitur uuirdit giotmotigot qui se humiliat exaltabitur inti therdar giotmotigot sih wirdit arhaban deshalb wird jeder, der sich erhöht, erniedrigt werden und der sich erniedrigt, wird erhöht werden
Zusammenfassend können wir feststellen, dass gewichtiger als gewichtiger im informationsstrukturellen Sinn zu verstehen ist: Mehrgliedrige Konstituenten können vorangestellt werden, wenn sie dem Hintergrund zuzurechnen sind, und eingliedrige Konstituenten können nachgestellt werden, falls sie neue, wichtige Information beisteuern. Eine genauere Sichtung der Differenzbelege zeigt allerdings auch, dass die Generalisierung in (8) verfeinert werden muss, da kontrastive Foki, auch gegen das Latein, wie Beispiel (15) zeigt, generell vorangestellt werden. Dabei ist wiederum interessant, dass kontrastive Foki unabhängig von ihrem prosodischen Gewicht in adjazenter präverbaler Position realisiert werden. PPs erscheinen im Tatian gemäß dem Gesetz der wachsenden Glieder überwiegend im Nachfeld. Wie (16) aber zeigt, wird eine PP, die kontrastiv zu interpretieren ist, präverbal realisiert. Daher muss die informationsstrukturelle Generalisierung in (8) dergestalt revidiert werden, dass sich die syntaktischen Positionen von Kontrastfokus und Informationsfokus, wie in (17) skizziert, von einander unterscheiden. (15) tu autem cum ieiunas/ unge caput tuum/ & faciem tuam laua/ ne uideatis hominibus/ ieiunans. Sed patri tuo thane thu fastes/ salbo thin houbit/ Inti thin annuzi thuah/ zithiu thaz thu mannon nisís gisehan/ fastenti. úzouh thinemo fater (T 68, 28-32) that you to-men not-be seen fasting wenn du fastest, salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, sodass du nicht den Menschen fastend erscheinst, sondern deinem Vater
(16) orantes autem. nolite multum loqui/ sicut &hnici.’/ putant enim quia in multiloquio/ exaudiantur. b&onte nicur& filu sprehan/ sósó thie heidanon mán/ sie uuanen thaz sie in iro filusprahhi / sín gihórte (T 67, 23-26) that they in their many words are heard wenn du betest, verwende keine leeren Wiederholungen wie es die Heiden tun, denn sie glauben, dass sie (nur) durch ihre vielen Wörter gehört werden
(17) C Hintergrund
Kontrastfokus
V
Informationsfokus
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Während die Syntax des Althochdeutschen eine Unterscheidung zwischen kontrastivem und präsentationellem Fokus trifft, ist es zentral hervorzuheben, dass die Prosodie generell zwischen weitem und engem Fokus differenziert, indem das Verb mit einer eng-fokussierten Phrase eine prosodische Konstituente bildet: (18) A narrow focused phrase undergoes phonological restructuring with an adjacent verb (vgl. Nespor / Vogel 1986; Frascarelli 2000). Diese Eigenschaft ist zentral für die Bestimmung der unmarkierten Wortstellung in einer Sprache. Nespor / Guasti / Christophe (1996) stellen fest, dass Kinder im Syntaxerwerb sehr früh für prosodische Muster sensitiv sind und schlagen vor, dass die unmarkierte Wortstellung auf der Basis der Position des starken Elements in phonologischen Phrasen festgelegt wird (rhythmic activation principle). Deswegen kommt (engem) Fokus aufgrund der Erzeugung links- oder rechtsköpfiger phonologischer Phrasen mit dem Verb eine zentrale Rolle in der Bestimmung der unmarkierten Wortstellung bezüglich des Verbs zu. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das frühe Althochdeutsche sowohl OV- also auch VO-Abfolgen erlaubt, da aufgrund von präverbalem Konstrastfokus und postverbalem Informationsfokus vermutlich beide Abfolgen in dieser Grammatik als unmarkiert zu bewerten sind. Dieser Zustand hat sich aber vom späten Althochdeutschen an, wenn auch nur in langsamen Schritten, geändert. Postverbale nicht extraponierbare Konstituenten, wie Objekte und Prädikate wurden sukzessive abgebaut, was letztlich zur Herausbildung der neuhochdeutschen Satzklammer geführt hat. Daher stellt sich in diesem Ansatz die Frage, wie es zum Verlust der postverbalen Fokusposition kam.
3. Die Rolle des definiten Artikels bei der Satzklammerbildung In diesem Abschnitt soll genauer untersucht werden, wie es zum Wandel von OV / VO zu OV im Deutschen kam. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, wie man von dem System in (17), in dem die Definitheit eines nominalen Ausdrucks im Wesentlichen positionell ausgedrückt wird, zum neuhochdeutschen System kommt, in dem der Artikel die definite beziehungsweise indefinite Interpretation eines nominalen Ausdrucks anzeigt. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die Grammatikalisierung
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des definiten Artikels dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben könnte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich klar zu machen, dass das neue lexikalische System nicht ganz deckungsgleich mit der Unterscheidung zwischen diskursgegebenen und diskursneuen Referenten des alten syntaktischen Systems ist. Im heutigen Deutsch signalisiert der definite Artikel, dass der Diskursreferent, ob gegeben oder neu, eindeutig im Kontext identifizierbar ist, wie das Beispiel in (19) zeigen soll. (19) Maria hat sich ein kleines Häuschen am Land gekauft. Nächstes Wochenende will sie die Hütte abreißen. In dem Minitext in (19) kann die Nominalphrase die Hütte sowohl diskursanaphorisch sowie als einen neuen Diskursreferenten einführend interpretiert werden. In diskursanaphorischer Verwendung, unter Deakzentuierung, wird die Referenz des Ausdrucks die Hütte mit dem vorerwähnten Häuschen identifiziert und der semantische Gehalt des Nomens Hütte appositiv dazu interpretiert. Daneben gibt es eine Lesart, in der der nominale Ausdruck eine Hütte bezeichnet, die zu dem kleinen Häuschen gehört (bridging). In diesem Fall führt der Ausdruck die Hütte einen neuen Diskursreferenten ein und wird dabei betont. Der definite Artikel legitimiert sich durch die eineindeutige logische Relation zum vorerwähnten Häuschen. Bevor im Abschnitt 3.2. die Rolle des definiten Artikels in der Herausbildung der Satzklammer näher beleuchtet wird, wollen wir uns zunächst über den grammatischen Status dieser Entwicklung im Klaren werden. 3.1. Die Herausbildung der Satzklammer als grammatische Entwicklung Die Herausbildung der Satzklammer im Deutschen wird in der gesamten Literatur als rein stilistische Entwicklung dargestellt. Traditionelle Grammatiker betrachten diese Entwicklung als ein nichtgrammatisch bedingtes Phänomen der Stilentwicklung, für das soziokulturelle Faktoren verantwortlich gemacht wurden: das Vorbild des Humanistenlatein (vgl. Behaghel 1892), der Einfluss der Schulgrammatik (vgl. Biener 1922 / 23) sowie – zuletzt – die Verbreitung von Kanzleistilen (vgl. Ebert 1986). Die Möglichkeit, dass Stilpräferenzen auch eine grammatische Basis haben könnten, bleibt dabei unbeachtet. Selbst Lenerz (1984) argumentiert in seiner generativen Studie zur Entwicklung der Wortstellung im Deutschen, dass der besagte Wandel kein kategorieller oder grammatischer sein kann, da man selbst im heuti-
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gen Deutsch noch Argumente ausklammern kann, wie das Beispiel in (20) zeigen soll. (20) Auf Gleis 5 fährt ein | der IR nach Straubing Der Satz in (20) zeigt ein nachgestelltes fokussiertes Subjekt. Er ist zwar als grammatisch zu bewerten, aber in höchstem Grade prosodisch markiert, da er nur in Form von zwei getrennten Intonationsphrasen realisiert werden kann, wie in (21) gezeigt ist, und damit die Schnittstellenbedingung in (22) verletzt. (21) [iP (Auf Gleis 5) (fährt ein) ] [iP (der Interregio) (nach Straubing)] (22) Focus constituents are mapped into the intonational phrase which contains the verb (Nespor / Vogel 1986). Daher ist (21) auf Grund seiner Markiertheit nur in speziellen kommunikativen Situationen einsetzbar. Diese Diagnose legt nahe, dass der allmähliche Abbau nachgestellter Argumente und Prädikate auf eine grammatische Änderung zurückzuführen ist, die zur Folge hat, dass ein postverbaler Fokus nicht mehr in die Intonationsdomäne des Verbs integriert werden kann. Wir werden auf diese grammatische Regel in Sektion 3.3. zurückkommen. Auf Grund der beiden Fokuspositionen und auf der Basis von Fokusrestrukturierung können wir annehmen, dass das Ahd. zwei unmarkierte Wortstellungen aufwies: Präverbaler Fokus ist verantwortlich für prosodische Phrasen vom Typ (s w) und postverbaler Fokus ist verantwortlich für prosodische Phrasen vom Typ (w s). Das heißt, wenn wir einen Faktor identifizieren können, der zu einer verstärkten Verwendung von fokussierten und damit betonten präverbalen Konstituenten führt, können wir eine langsame Entwicklung voraussehen, in der gewisse prosodische Muster mehr und mehr marginalisiert werden, bis ein Punkt erreicht wird, an dem postverbale betonte Konstituenten so stark markiert sind, dass sie nur noch eingeschränkt auf spezifische Kontexte verwendet werden können, wie das der Fall im Beispiel (20) ist. Im folgenden Abschnitt soll dargelegt werden, dass dieser unabhängige Faktor in der Grammatikalisierung des definiten Artikels zu finden ist. 3.2. Die Grammatikalisierung des definiten Artikels im Deutschen Es gibt drei Gründe, die dafür sprechen, dass die Grammatikalisierung des definiten Artikels tatsächlich der Auslöser für die Herausbildung der Satzklammer im Deutschen war.
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Erstens stimmen neuere Studien zur Grammatikalisierung des definiten Artikels (vgl. Oubouzar 1992, Leiss 2000, Demske 2001) darin überein, dass der definite Artikel, der auf ein Demonstrativpronomen zurückgeht, zuerst in Kontexten mit pragmatisch definiter Interpretation auftaucht. Diese Studien beziehen sich auf die Unterscheidung Löbners (1985) zwischen pragmatischen und semantischen Definita. Semantische Definita sind nominale Ausdrücke, deren Referenzobjekte allein auf Grund ihrer lexikalischen Bedeutung eindeutig identifizierbar sind. Einfache Beispiele für semantische Definita sind sogenannte funktionale Konzepte, wie Sonne, Himmel, Ehefrau oder Präsident. Pragmatische Definita hingegen sind nominale Ausdrücke, deren Referenzobjekt erst durch Zuhilfenahme des Kontextes eindeutig identifizierbar ist. Die Hauptverwendungen pragmatischer Definita sind in (23) kurz illustriert. (23a) Ich kann das Ufer erkennen. (deiktische Verwendung) (23b)Das Arbeitszimmer hat ein großes Fenster. Das Fenster geht nach Süden. (anaphorische Verwendung) (23c) das Fenster, das nach Süden geht (endophorische Verwendung im Relativsatz) Die Grammatikalisierung des definiten Artikels setzt in den ältesten althochdeutschen Texten ein und ist mit Notker (frühes 11. Jh.) abgeschlossen. Bei ihm erscheinen alle semantischen Gruppen von Nomen, inklusive Abstrakta und eindeutig referierender Ausdrücke, mit dem definiten Artikel. Der langsame, stufenweise Prozess der Grammatikalisierung des definiten Artikels kann anhand von Otfrids Evangelienharmonie exemplifiziert werden. In diesem Text tritt der definite Artikel bereits regelmäßig mit pragmatischen Definita auf, also in diskurs-anaphorischen Verwendungen, wie in (24) illustriert ist, fehlt allerdings noch bei semantischen Definita, wie in (25) gezeigt wird. Die Beispiele stammen von Demske (2001). (24) ein burg ist thar in lante…(O.I 11.23) eine Stadt ist da im Lande zi theru steti fuart er thia druhtines muater (O.I.11.26) zu dieser Stadt führt er die Gottes Mutter
(25a) tho ward himil offan (O.I.25.15) da wurde der Himmel offen (25b)inti iz hera in worolt sante (O.I.13.5) und es hier in die Welt sandte
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(25c) in ira barm si sazta [barno bezista] (O.I.13.10) in ihren Schoß sie setzte [das meist-geliebte Kind] Zweitens stimmt die oben konstatierte stufige Grammatikalisierung des finiten Artikels mit der Beobachtung von Behaghel (1932) überein, dass Nominalphrasen mit dem definiten Artikel zuerst präverbal auftauchen – vgl. (26) – da diskursanaphorische NPen im Ahd. typischerweise präverbal realisiert werden – vgl. (17). Daher können wir eine Entwicklung in zwei Phasen annehmen, wie sie in (27) spezifiziert ist. (26) Behaghel (1932, 79): „Substantiva mit Pronomen stehen auf der Seite der einfachen Wörter; zum Teil mag das daher rühren, daß ihnen der Artikel früher fehlte.“ (27) Phase 1: Der Artikel wird bei diskursgegebenen Referenten präverbal eingeführt. Phase 2: Die Setzung des Artikels wird auf alle eindeutig identifizierbaren NPen ausgedehnt, wobei diese dem Muster aus Phase 1 folgend präverbal erscheinen. In diesem Zusammenhang sind zwei Konsequenzen von Interesse. Stimmt das Szenario in Phase 2, so hätte das zur Folge, dass präverbal mehr betonte Nominalphrasen auftreten, die aufgrund von Fokusrestrukturierung das prosodische Muster (s w) verstärken. In diesem Szenario kann angenommen werden, dass, wenn die vermehrte Anzahl von präverbalen betonten Nominalphrasen einen gewissen Schwellenwert übersteigt, der IS-prosodische Parameter in (28) auf den Wert F > V (will heißen, das Verb restrukturiert ausschließlich nach links) gesetzt wird. Dies hätte zur Folge, dass postverbale fokussierte Konstituenten, wie in (21) gezeigt, prosodisch ausgeklammert werden müssen. Ob dies der Fall ist, soll in Abschnitt 4 genauer diskutiert werden. (28) IS-requirements on the prosodic mapping of syntactic structures: A focussed constituent introduces an IP-boundary on one side and restructures with the adjacent verb on its other side (generalisiert nach Frascarelli 2000). Trifft das Szenario in Phase 2 nicht zu, so hätte bereits die Einführung des Artikels mit diskursanaphorischen Nominalphrasen in Phase 1 einen tiefgehenden Effekt auf die Prosodie der Sprache, da präverbale determinierte Nominalphrasen rechtsverzweigende Konstituenten auf einem linken Zweig (gegenüber dem Verb) einführen und damit auch das Mittelfeld für schwere Konstituenten öffnen. Dabei können wir annehmen, dass, wenn der Artikel zuerst in diskursanaphorischen Kontexten eingeführt wird, dieser betont ist, wobei das
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diskursanaphorische Nomen deakzentuiert sein dürfte, sodass die ursprüngliche Einführung des Artikels in der präverbalen Domäne die prosodische Bedingung in (11) nicht verletzt haben würde. Im Verlauf der Grammatikalisierung wird der Artikel deakzentuiert und die Betonung fällt per default auf das Nomen (auf der Basis, dass lexikalische Köpfe stärker sind als funktionale), sodass mehr und mehr rechtsverzweigende Konstituenten in der präverbalen Domäne entstehen. Drittens wird das Gesamtszenario in (27) durch den parallelen Zeitrahmen dieser Entwicklungen gestützt. Bolli (1975) und Borter (1982), die die Entwicklung der Satzklammer im Deutschen untersuchen, stellen fest, dass im spätalthochdeutschen Notker verstärkt die Voranstellung von Akkusativobjekten einsetzt. Dies deckt sich genau mit der Periode, in der der definite Artikel vollständig grammatikalisiert wird. Bevor wir uns an die Überprüfung des Szenarios in (27) machen, wollen wir zunächst feststellen, ob die Artikelhypothese auch im weiteren germanischen Kontext tragbar ist. 3.3. Die Entwicklung des definiten Artikels in den anderen germanischen Sprachen Wenn sich das Szenario in (27) als richtig erweist, so stellt sich die Frage, warum die Einführung des definiten Artikels nicht denselben Effekt in der Geschichte der anderen germanischen Sprachen zeitigte. Auch im Ae. (vgl. Kroch / Pintzuk 1989) und im An. (vgl. Hróarsdóttir 2009) gehorcht die Wortstellung dem Gesetz der wachsenden Glieder: Leichte Elemente (typischerweise Pronomen und bloße Nomen) gehen dem Verb voraus, schwere Elemente (inklusive fokussierter Konstituenten) folgen dem Verb. In diesem Zusammenhang ist zu erklären, warum in diesen Sprachen die Grammatikalisierung des definiten Artikels nicht gleichermaßen zur Einführung schwerer Konstituenten im Mittelfeld geführt hat. Dabei ist, was diese Fragestellung anbelangt, zumindest das Nordgermanische unproblematisch, da bereits Leiss (2000) feststellt, dass der definite Artikel im Altisländischen zunächst bei diskursneuen NPen eingesetzt wird, um anzuzeigen, dass diese entgegen ihrer syntaktischen Position als definit zu interpretieren sind. Nicht so einfach zu erklären ist aber, warum im Englischen nicht derselbe Effekt eintritt wie im Deutschen. Philippi (1997) stellt fest, dass das Ae. noch keinen definiten oder indefiniten Artikel besitzt, sondern Pronomen benutzt, die noch eindeutig als Demonstrativa oder Numeralia zu klassifizieren sind. Wenn die Aussage von Philippi tragfähig ist und auf die gesamte altenglische Periode zutrifft, könnte dies bedeuten, dass die
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Grammatikalisierung des Artikels im Englischen später als im Deutschen, nämlich erst im Me. erfolgt ist. Das Ae. hatte zwei unterschiedliche Demonstrativpronomen, se ('that') und þes ('this'). Hróarsdóttir (2006) berichtet, dass das Demonstrativpronomen se, das im Ae. mehrere Kasusformen hatte, im Übergang vom Ae. zum Me. in zwei invariante Formen the (Artikel) und that (Demonstrativum) aufgespalten wurde. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass der englische definite Artikel einen anderen Grammatikalisierungspfad genommen hat als der deutsche Artikel. Wenn wir annehmen, dass the unbetont war, so würde daraus folgen, dass es mit dem zugehörigen Nomen gemäß der Bedingung (11) postverbal eingesetzt wird. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Artikelhypothese, was das Deutsche und das Skandinavische anbelangt, die richtigen Voraussagen für die globale Wortstellungsentwicklung der beiden Sprachen macht: Die Einführung des definiten Artikels führt im Skandinavischen zur Verstärkung, im Deutschen aber zur Abschwächung der prosodischen Bedingung in (11). Für das Englische kann gesagt werden, dass mit dem, was man über die Grammatikalisierung des definiten Artikels im Englischen weiß, die Hypothese kompatibel ist. Im folgenden Abschnitt soll abschließend diskutiert werden, ob das in Phase 2 skizzierte Szenario in (27) tatsächlich für die Entwicklung des Deutschen maßgeblich gewesen sein könnte.
4. Die Veränderung der Wortstellung von Tatian zu Notker Das Gesamtszenario in (27) macht folgende Voraussagen. Wir erinnern uns, dass in der Tatian-Übersetzung Konstituenten mit Informationsfokus, das heißt im Wesentlichen Prädikate und diskursneue NPen, postverbal realisiert werden. Falls der Effekt der Grammatikalisierung des definiten Artikels in Phase 2 tatsächlich der ist, dass auch diskursneue determinierte Nominalphrasen präverbal realisiert werden, dann sollte es ein Stadium geben, in dem eine gesteigerte Anzahl von fokussierten DPen präverbal auftaucht, während fokussierte Prädikate (prädikative Adjektive, Nomen und Partizipien) noch mehrheitlich postverbal auftreten. Dieses Stadium sollte mit der vollständigen Grammatikalisierung des Artikels, also bei Notker, erreicht sein.
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4.1. Eine quantitative Analyse der Veränderungen Einer genaueren informationsstrukturellen Analyse der Wortstellung in den Nebensätzen Notkers vorgreifend, habe ich zur Überprüfung dieser Voraussage rein quantitativ die Stellung der Komplemente (Objekte plus Prädikate) gegenüber dem finiten Verb in den Nebensätzen in der TatianÜbersetzung (linke Spalte) und im 1. Buch von Notkers Consolatio (rechte Spalte) miteinander verglichen. Die Daten sind in (29) angegeben. Da die Anzahl der relevanten Belege im 1. Buch von Notkers Consolatio beispielsweise bei Prädikatsnomen relativ gering ist, habe ich diese Zahlen mit der Auswertung von Näf (1979) in (30) und (31) verglichen, der den Gesamttext von Notkers Consolation analysiert. Daraus geht hervor, dass die Zahlen in (29) durchaus aussagekräftig sind. (29)
• • • •
direkte Objekte:
33 % postverbal (von 100 Belegen) indirekte Objekte: 33 % postverbal (von 21 Belegen) Prädikatsnomen: 33 % postverbal (von 31 Belegen) Partizipien: 55 % postverbal (von 46 Belegen)
25 % postverbal (v. 124 B.) 20 % postverbal (v. 54 B.) 20 % postverbal (v. 26 B.) 15 % postverbal (v. 15 B.)
(30) Stellung der Subjekte und Komplemente in Nebensätzen laut Näf • Subjekte: 8 % postverbal (von 339 Belegen) • direkte Objekte: 28 % postverbal (von 233 Belegen) • indirekte Objekte: 32 % postverbal (von 53 Belegen) • Prädikatsnomen: 21 % postverbal (von 56 Belegen) (31) Stellung der Subjekte und der direkten Objekte in Hauptsätzen laut Näf • Subjekte: 32 % postverbal • Direkte Objekte: 53 % postverbal Während die Daten in (29) einen allgemeinen Rückgang postverbaler Komplemente ausweisen, kann nicht festgestellt werden, dass die Objekte als determinierte NPen den Prädikaten in dieser Entwicklung vorausgehen. Im Gegenteil, rein quantitativ betrachtet, scheint die Entwicklung vornehmlich von den Prädikaten angestoßen zu werden. Jedenfalls ist der Rückgang postverbaler Partizipien am deutlichsten. Natürlich müssen diese Zahlen in einer qualitativen Analyse erst bestätigt werden. Beispielsweise sind die Zahlen, was die Objekte und Sub-
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jekte anbelangt, gemäß definiter und indefiniter Lesart zu differenzieren. Dabei könnte sich herausstellen, dass die überwiegende Anzahl definiter Objekte bereits präverbal realisiert wird und dass die relativ hohe Anzahl postverbaler Objekte auf indefinite Nominalphrasen zurückzuführen ist. Ein weiterer interessanter Aspekt, der sich aus dem Vergleich der Zahlen in (30) und (31) bei Näf ergibt, ist die Beobachtung, dass es eine eklatante Diskrepanz in der Herausbildung der Satzklammer zwischen Hauptsätzen und Nebensätzen zu geben scheint. In (31) wird die Stellung von Subjekten und Objekten bezüglich der aus Auxiliar und Partizip beziehungsweise aus Modal und Infinitiv gebildeten verbalen Klammer gezeigt. Dabei ist erklärungsbedürftig, warum in Hauptsätzen Subjekte viermal so oft und Objekte immerhin noch fast doppelt so oft wie in Nebensätzen ausgeklammert sind. 4.2. Schlussfolgerungen Was immer eine differenzierte Analyse, die definite und indefinite nominale Ausdrücke separat behandelt, ergibt, die Daten in (29) und (30) legen nahe, die Rolle der Stellungsveränderungen der Prädikate in einer umfassenden Erklärung zur Herausbildung der Satzklammer zu berücksichtigen. Dabei ist von der Artikelhypothese ausgehend zunächst einmal abzuklären, ob die gesteigerte Anzahl präverbaler Prädikate bei Notker auf eine größere Anzahl präverbaler schwerer Prädikate gegenüber den Zahlen im Tatian zurückzuführen ist. In dem Fall könnte nämlich die Stellungsveränderung der Prädikate indirekt wiederum auf die Grammatikalisierung des Artikels bezogen und als eine Konsequenz der Abschwächung der prosodischen Bedingung durch diskursanaphorische Nominalphrasen interpretiert werden. Unabhängig davon ist es wichtig festzustellen, dass die gesteigerte Anzahl präverbaler Prädikate denselben Effekt wie präverbale DPen auf die Polung der IS-prosodischen Bedingung in (28) hat, da Prädikate regelhaft eine phonologische Phrase mit dem Verb bilden und somit gleichermaßen das prosodische Muster (s w) bezüglich des Verbs verstärken. Als ein weiterer wichtiger Aspekt der Daten in (29) bis (31) ist zu untersuchen, welche Faktoren für die Diskrepanz zwischen verbaler Klammer im Hauptsatz und der Satzklammer im Nebensatz verantwortlich zu machen sind. Diese Fragestellung erfordert, so wie die Untersuchung der Stellung der Prädikate und Objekte bei Notker, eine qualitative Detailanalyse, die die informationsstrukturelle Rolle der relevanten Konstituenten berücksichtigt.
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Ich hoffe gezeigt zu haben, dass wir durch die Berücksichtigung informationsstruktureller Kategorien zu einem tieferen Verständnis von Sprachwandelprozessen wie der Herausbildung der Satzklammer im Deutschen kommen können, da eine derart angereicherte Analyse es uns erlaubt, grammatische und (text-)funktionale Aspekte und Faktoren aufeinander zu beziehen.
Quellen [O] = Otfrids Evangelienbuch (1973), Oskar Erdmann (Hrsg.), (Althochdeutsche Textbibliothek 49), Tübingen. [T] = Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. 56 (1994), Achim Masser (Hrsg.), (Studien zum Althochdeutschen 25), Göttingen.
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vnd schwermen so waidlich / als jemandt anders schwermen kan Nominalphrasen mit jemand und niemand in der Geschichte des Deutschen
Ursula Götz (Rostock)
1. Einleitung Das grammatische Phänomen, dessen Geschichte im Folgenden untersucht werden soll, kann anhand von zwei gegenwartssprachlichen Pressebelegen vorgestellt werden. (1)
Noch jemand Bedeutendes fehlte beim Boxabend. (Hamburger Morgenpost, 4.7.2005)1
(2)
Ob in der ASG-Zentrale in Innsbruck auch nominell jemand Neuer Einzug halten wird, ist aber offen. (Tiroler Tageszeitung, 12.02.2000)2
Beide Belege enthalten eine Verbindung von jemand mit einem substantivierten Adjektiv. In Beispiel (1) hat das Adjektiv die Endung -es, wie das die Adjektive im Nominativ Singular Neutrum haben, im zweiten Beispiel ist die Adjektivendung -er wie im Nominativ Singular Maskulinum. Dabei handelt es sich, wie durch die Auswahl einer Hamburger und einer Tiroler Zeitung für die Belegpräsentation gezeigt werden sollte, um eine regionale Variante der Standardsprache. Die Formen auf -es treten vor allem im Norden des deutschen Sprachgebiets auf, die -er-Formen im Süden. Diese Verteilung gilt nicht nur für das substantivierte Adjektiv nach jemand (und niemand), sondern auch, wie die Belege (3) und (4) zeigen, für ander. In der Hamburger Morgenpost heißt es jemand anderes, in der Süddeutschen Zeitung dagegen jemand anderer. _____________ 1 2
Online im Internet: http://www.ids-mannheim.de/cosmas2 (Cosmas-Recherche 27.04.2006). Ebd.
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Ursula Götz
(3)
Am Mittwoch beim VfL Gummersbach könnte es dann so aussehen, dass zunächst vereinsintern jemand anderes auf der Trainerbank Platz nimmt. (Hamburger Morgenpost, 17.10.2005)3
(4)
Thannhuber behauptet, dass er in dieser Firma nichts zu sagen hatte; jemand anderer sei Geschäftsführer gewesen. (Süddeutsche Zeitung, 15.12.2003)4
Interessant ist dabei, dass die regionale standardsprachliche Verteilung nicht die dialektalen Verhältnisse abbildet. Das zeigt etwa der einschlägige Eintrag in Johann Andreas Schmellers Bayrischem Wörterbuch: „eppƏ, eƏm.d Fremms, jemand Fremder“.5 J.A. Schmeller gibt die Dialektform auf -s (eppƏ, eƏm.d Fremms) mit der Südstandardform auf -er (jemand Fremder) wieder. Weder die Arbeiten zu den regionalen Varianten der Standardsprache6 noch die gegenwartssprachlichen Grammatiken,7 soweit sie die Variante überhaupt erwähnen, geben eine Erklärung für die regionale Verteilung. Dies gilt auch für die Untersuchung „Zur Nominalflexion in der deutschen Literatursprache nach 1900“ von Ivar Ljungerud, der eine Vielzahl von Belegen anführt und dabei auch auf die regionalen Unterschiede hinweist.8 Insofern liegt es nahe, der Geschichte dieser Fügungen nachzugehen und dort nach möglichen Erklärungen zu suchen. Dabei soll es im vorliegenden Beitrag zunächst und vor allem um die Darstellung und Erklärung der überlieferten Formen seit der althochdeutschen Sprachperiode gehen. Der letzte Abschnitt befasst sich mit der Frage, wann und wie die heutige regionale Verteilung zustande gekommen ist.
_____________ 3 4 5 6 7
8
Ebd. Online im Internet: www.sueddeutsche.de/muenchen/artikel/539/23516/article.htm (Stand 20.5.2006). Schmeller (1985, Sp. 820). Ebner (1998, 31); Meyer (1989, 44). Die regionale Variante wird nur in der Dudengrammatik (vgl. Abschnitt 2) und bei Johannes Erben (1980, 239) erwähnt sowie in den früheren Auflagen der Grammatik von Ulrich Engel (1996, 672 und 680). In der Neubearbeitung (2004, 375 und 379) werden die regionalen Unterschiede nicht mehr erwähnt. Zur Berücksichtigung dieser und anderer regionaler grammatischer Varianten der Standardsprache vgl. auch Götz (1995, 222ff.). Vgl. Ljungerud (1955, 191ff.). Die vermutlich jüngste Arbeit zum Thema, Roehrs (2008, 1ff.), spricht die Regionalität des Phänomens nicht an, sondern erklärt das Nebeneinander von jemand anderer und jemand anderes als „variation in the preference of individual speakers“ (3). Der Beitrag von Dorian Roehrs ist mir erst nach Abschluss meiner Untersuchung bekannt geworden. Interessant ist, dass Dorian Roehrs, der sich aus sprachvergleichender generativer Perspektive mit dem Problem beschäftigt, in einem wichtigen Punkt eine ähnliche Einordnung vornimmt wie die vorliegende Darstellung. Vgl. dazu Anm. 37.
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Nominalphrasen mit jemand und niemand
2. Gegenwartssprachlicher Befund Bevor die Geschichte der einschlägigen Fügungen betrachtet wird, sollen die gegenwartssprachlichen Verhältnisse anhand der Darstellung in der Dudengrammatik kurz umrissen werden. Peter Gallmann schreibt hier: Nach den Pronomen jemand, niemand und wer kann eine enge Apposition stehen, gewöhnlich in Form eines substantivierten Adjektivs. Solche Substantivierungen weisen im Nominativ und Akkusativ standardsprachlich meist die Endung -es auf […]. Es handelt sich um einen ursprünglichen Genitiv, der jedoch heute meist als Nominativ / Akkusativ Neutrum empfunden wird. Vor allem im Süden des deutschen Sprachraums sind daneben auch maskuline Formen üblich. [...] Beim Adjektiv andere tritt außerdem die unveränderliche Form anders auf (auch im Dativ), es besteht also teilweise die Wahl zwischen drei [...] Varianten.9
Im Text werden sehr viele Beispiele genannt; die darin enthaltenen einschlägigen Formen sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt.
Nom. Dativ Akk.
Nom. Dativ Akk.
Nord
Süd
Neutrum
Maskulinum
jemand Unbekanntes jemand Unbekanntem jemand Unbekanntes
jemand Unbekannter jemand Unbekanntem jemand Unbekannten
Neutrum
unverändert
Maskulinum
jemand anderes jemand anderem [kein Beleg]
jemand anders jemand anders jemand anders
jemand anderer jemand anderem jemand anderen
Übersicht 1: In der Dudengrammatik angeführte Möglichkeiten der Flexion von ander oder einem substantivierten Adjektiv nach jemand / niemand
Nicht in die Tabelle aufgenommen sind die Formen mit flektiertem jemand, niemand also etwa ich sehe jemanden Unbekannten, weil sie für die hier behandelte Frage keine Rolle spielen. Entscheidend sind die grundsätzlichen Typen, die P. Gallmann anführt: für den Norden die neutralen Formen, für den Süden die maskulinen und bei anders zusätzlich die unveränderten Formen. _____________ 9
Duden (2005, Nr. 1587).
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Ursula Götz
3. Zur Geschichte der Nominalphrasen mit jemand und niemand 3.1. Der Genitiv bei jemand und niemand Peter Gallmann erwähnt beiläufig auch die Geschichte des Phänomens, wenn er über Formen wie jemand Schönes etc. schreibt: „Es handelt sich um einen ursprünglichen Genitiv, der jedoch heute meist als Nominativ / Akkusativ Neutrum empfunden wird.“10 Ein „ursprünglicher Genitiv“ lässt sich in einer ganzen Reihe heutiger Sprachformen ausmachen, da in früheren Sprachstufen Pronomen, Quantitätsadjektive und ähnliche Wörter häufig mit dem Genitiv verbunden wurden. Dies gilt, wie die Belege (5) und (6) zeigen, unter anderem auch für jemand und niemand bzw. ihre Vorformen. (5)
nemet balde disen rucke hin! kome ieman armer liute her, der es geruoche oder ger, dem teilet disen rucke mite (Gottfried von Straßburg, Tristan, V. 2989)11
(6)
daz die herren von dem Cl=ster / nîeman der B[ur]ger hîe ze Jsine sFlit adersuva biclagen / dan vor ir amman (Urkunde, Isny 1. Juni oder 2. Juli 1290)12
Der hier vorliegende Typ des adnominalen Genitivs wird im Allgemeinen als partitiver Genitiv bezeichnet, als Teilungsgenitiv. In der Gegenwartssprache würde man in diesen und vergleichbaren Sätzen eine andere Konstruktion verwenden, da der Gebrauch des partitiven Genitivs im Lauf der Sprachgeschichte stark zurückgegangen ist.13 Teilweise wird der Genitiv durch andere Konstruktionen ersetzt, etwa durch eine Präpositionalphrase mit von (also nicht Gib mir etwas des Brotes, sondern Gib mir etwas von dem Brot o.Ä.).14 Häufig wird bzw. wurde der ursprüngliche Genitiv aber auch um-
_____________ 10 11
12 13 14
Duden (2005, Nr. 1587). Dieser Beleg findet sich auch bei Paul (2007, § S 79) und 1DWB IV,II, Sp. 2302, als Beispiel für partitiven Genitiv. Die Belege werden jeweils nach den im Quellenverzeichnis angegebenen Ausgaben zitiert. CaOU, II, Nr. 1262 (504, 28). Vgl. Kiefer (1910) und die in den folgenden beiden Fußnoten jeweils exemplarisch genannten Darstellungen. Vgl. Behaghel (1923, § 384); Demske (2001, 266f.).
Nominalphrasen mit jemand und niemand
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gedeutet, reanalysiert. Dieser seit langem bekannte sprachgeschichtliche Vorgang15 soll kurz an schematisierten Beispielen vorgeführt werden. Der deutliche partitive Genitiv in Phrasen wie etwas der Liebe oder viel der Hühner war seit dem Spätmittelhochdeutschen, wenn er ohne Artikel auftrat, im Femininum und im Plural nicht mehr eindeutig als Genitiv zu erkennen: etwas Liebe, viel Hühner. Diese Formen konnten dann auch als Nominativ aufgefasst werden. Davon ausgehend wurden dann auch ‚echte‘ Nominativ-Anschlüsse gebildet, wie etwas Brot (trotz eindeutigem mhd. etwaz (des) brôtes), oder es wurden auf der Basis dieser ‚Schein-Nominative‘ auch flektierte Formen in anderen Kasus gebildet, wie mit viel Hühnern. Auch bei den Adjektiven gibt es Umdeutungsmöglichkeiten, auf die P. Gallmanns Aussage vom „ursprünglichen Genitiv“ offenbar abzielt. Das Flexionsparadigma der Adjektive im Alt- und Mittelhochdeutschen zeigt im Genitiv Singular die Endung -es, im Genitiv Plural zunächst -ero, später dann aber -er.16 Dabei unterscheidet sich die Genitivendung zunächst lautlich von der Endung im Nominativ Singular Neutrum (ahd. -az, mhd. -ez), im 13. Jahrhundert fallen die s-Laute aber zusammen,17 so dass die Endungen lautlich übereinstimmen. Fasst man die bisher angeführten sprachhistorischen Befunde zusammen, so ergibt sich ein im Hinblick auf die Erklärung von jemand Neues / Neuer vielversprechendes Bild: Jemand und niemand werden in früheren Sprachstufen häufig mit dem Genitiv verbunden. Zum Neuhochdeutschen hin werden ältere Genitivanschlüsse oft umgedeutet, reanalysiert. Die mittelhochdeutschen Genitivendungen lauten -es im Singular und -er im Plural. 3.2. Unterschiedliche Erklärungsansätze der Forschungsliteratur zur Entstehung der heutigen Formen Die angeführten sprachhistorischen Befunde dürften die Basis für den ersten der im Folgenden angeführten Erklärungsansätze der Forschungsliteratur darstellen. Der Bearbeiter des Artikels niemand im Deutschen Wörterbuch, Matthias von Lexer, schreibt: besonders gerne steht aber in der alten sprache bei niemand (wie bei jemand) ein adjectivischer genitiv pluralis oder singularis […], welche genitivische fügung
_____________ 15 16 17
Vgl. Dal (1966, § 25, 25f.); Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, § S 35). Vgl. Paul (2007, § M 23). Vgl. ebd., § L 123.
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Ursula Götz
noch nhd. erhalten ist in verbindungen wie niemand guter, niemand fremder, niemand fremdes, niemand anders u.s.w.18
Diese Darstellung wirkt zunächst plausibel; es wäre nur noch zu klären, warum im Süden die Genitiv-Plural-Formen erhalten bzw. reanalysiert sind, im Norden dagegen die Genitiv-Singular-Formen. Zweifel an M. von Lexers Darstellung ergeben sich, wenn man seinen Wörterbuchartikel zu niemand mit dem zu jemand vergleicht, der von Moriz Heyne verfasst wurde. Auch hier findet sich eine Aussage zur Verbindung mit dem Genitiv: „besonders gern steht in der alten sprache der gen. plur. von adjectiven bei jemand.“19 M. von Lexer übernimmt M. Heynes Aussage wörtlich, ergänzt allerdings den „genitiv singularis“, was – als Erklärung für die modernen -es-Formen (jemand Gutes) – auch sehr gut passen würde. Überprüft man allerdings die Belege, die M. von Lexer bietet, dann finden sich keine Belege im Genitiv Singular wie iemen guotes oder ähnliche, sondern nur Belege im Genitiv Plural sowie ein Beleg für anders: besonders gerne steht aber in der alten sprache bei niemand (wie bei jemand) ein adjectivischer genitiv pluralis oder singularis (gramm. 4,456,739): ahd. nieman guotero. Notker ps. 80,8; nieman anderro. 21.12; mhd. nieman, niemen guoter. Walther 18,33. Wigal. 180,16; ander niemen. Nibel. 437,6. 1084,4; niemen anders Iwein 3223, 6237, welche genitivische fügung noch nhd. erhalten ist in verbindungen wie niemand guter, niemand fremder, niemand fremdes, niemand anders u.s.w.20
Auch die Überprüfung anderer Wörterbücher und Grammatiken sowie verschiedener alt- und mittelhochdeutscher Texte erbrachte fast nur Belege für den Genitiv Plural, und zwar sowohl bei den (seltenen) substantivierten Adjektiven als auch bei ander. (7)
hân ich getriuwer iemen, dine sól ich niht verdagen (Nibelungenlied 147,3)21
(8)
Vnde verzihen vns aller der gnaden / die wir haben an vnseren hantvestinon / von dem babiste oder von ieman anderer (Urkunde, Reichenau 5. November 1270)22
Daneben gibt es einige wenige Belege, in denen ander eine Flexionsendung zeigt, die mit dem Pronomen übereinstimmt. (9)
So uuer se sachun sinu [...] uuemo andremo uersellan uuilit [...] uuizzetathia sala ce gedune geulize. (Trierer Kapitulare)23
_____________ 18 19 20 21 22
1DWB
VII, Sp. 826. IV,II, Sp. 2302. 1DWB VII, Sp. 826. Dieser Beleg findet sich auch bei Paul (2007, § S 129) als Beispiel für Genitivanschluss nach ieman. CaOU, I, Nr. 145B (180, 26). 1DWB
Nominalphrasen mit jemand und niemand
145
Genitiv-Singular-Formen treten nicht auf, außer eben – und zwar recht häufig – anders. Insofern ist zu fragen, ob es sich hier wirklich um einen Genitiv Singular handelt. Zweifel an dieser Einordnung äußerte bereits Jacob Grimm. In der Deutschen Grammatik heißt es: Unschlüssig ist die beurtheilung des mhd. ander bei iemen, niemen und manec. […] wenn Reimar Ms. 1, 63b sagt: ‚und w#r ich ander iemen alsô unm#re manigen tac, dem h#t ich gelâzen den strît,‘ so kann hier ander nur gen. pl. sein, abhängig von dem dat. iemen. […] auch steht der sg. anders: ûf niemen anders Iw. 3223; nieman anders sach Iw. 6237, oder soll dies, wie im nhd. jemand anders, niemand anders, das adv. sein?24
J. Grimm schlägt also vor, anders in iemen anders und vergleichbaren Fügungen als Adverb zu klassifizieren. Adverbien, die insgesamt eine sehr heterogene Wortart bilden,25 werden insbesondere dazu verwendet, den Verbalvorgang semantisch zu modifizieren. (10) Wir müssen die Sache anders erklären. Entsprechende Verwendungen des Adverbs anders sind schon im Althochdeutschen belegt. (11) soso mir iz bi druncanheidi giburidi, soso mir iz anderes geburidi (Reichenauer Beichte)26
Dabei ist das Adverb anders historisch auf einen Genitiv Singular zurückzuführen,27 wie dies für eine ganze Reihe von Adverbien, etwa auch das neuhochdeutsche Temporaladverb morgens, gilt.28 Anhand des gegenwartssprachlichen Beispiels morgens kann auch die auf ein Substantiv bezogene, attributive Verwendung des Adverbs gezeigt werden. (12) Das Aufstehen morgens fällt mir schwer. Wenn nicht, wie im vorliegenden Beispiel, die Wortstellung eine entsprechende Einordnung nahelegt, bleibt häufig offen, ob das Adverb sich nur auf das Substantiv oder auf den ganzen Satz bezieht. (12a) Mir fällt das Aufstehen morgens schwer.
Solche Belege lassen sich auch in früheren Sprachstufen finden: _____________ 23 24 25 26 27 28
Von Steinmeyer (1916, 305, 7f.). Grimm (1999, 456). Vgl. Eisenberg (2006, 208). Von Steinmeyer (1916, 332, 31). Nach AWB (1968, I, Sp. 506f.) ist dies einer der ältesten Belege für das Adverb anders. Vgl. AWB (1968) I, Sp. 506); FWB, I, Sp. 1068. Vgl. Paul (2007, 231).
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Ursula Götz
(13) swes ieman anders phlac, diz enkam von ir herzen nie, unz man des andern nahtes gie slâfen nâch gewonheit. (Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, V. 512) (14) Wann es mit der Religion hincken / vnnd auff faulen Beinen stehen wil / so hincken sie mit / vnd schwermen so waidlich / als jemandt anders schwermen kan. (G. Müller, Ein Christliche Predigt, Regensburg 1592, Bl. Cijr)
In derartigen Sätzen ist womöglich auch der Ursprung der adsubstantivischen Verwendung von anders im Alt- und Mittelhochdeutschen zu sehen. Formal ist nicht zu entscheiden, ob in Belegen wie iemen anders eine solche adsubstantivische Verwendung des Adverbs anders vorliegt oder ob anders hier ein adnominaler Genitiv ist, da das Adverb aus der Genitiv-SingularForm entstanden ist und formal völlig mit ihr übereinstimmt.29 Die Einordnung als Adverb trägt der Tatsache Rechnung, dass nach jemand und niemand normalerweise nur der Genitiv Plural auftritt, und zwar nicht nur von Substantiven30 und substantivierten Adjektiven, sondern auch von ander. Entsprechend wird anders in Fügungen wie jemand anders auch in der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs oder im Wörterbuch der Mittelhochdeutschen Urkundensprache als Adverb eingeordnet.31 Im Hinblick auf die Vorgeschichte von jemand anders / jemand anderer und jemand Neues / jemand Neuer kann man also für eine erste Phase, die vom Althochdeutschen bis zum älteren Frühneuhochdeutschen gilt, Folgendes festhalten. Niemand und jemand verbinden sich entweder mit dem Genitiv Plural von ander oder einem substantivierten Adjektiv oder mit dem Adverb anders. Neben diesen beiden Haupttypen gibt es noch einige Belege mit kongruierendem ander, die allerdings zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen.
_____________ 29 30
31
Die formale Unterscheidung von Adverb anders und flektierter Adjektivform anderes bzw. andres erfolgt erst im 19. Jahrhundert. Vgl. 1DWB, I, Sp. 306, 311f. Das Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache enthält in den Artikeln etewer, ieman und nieman neben einer Vielzahl von pluralischen Belegen einen einzigen Beleg mit einem Substantiv im Genitiv Singular: „also, daz wir noch vnsers létes nieman noch enheiner vnser erben siv dar an vérbaz me besw(ren vñ geirren svln“ (WMU, II, 1309). Vgl. 2DWB, I, Sp. 809; WMU, II, 913 und 1309. Dagegen wird bei BMZ, I, 36, anders in niemen anders als „genit. des singul.“ klassifiziert.
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Nominalphrasen mit jemand und niemand
jemand / niemand + ander
substantiviertes Adjektiv
im Genitiv Plural
im Genitiv Plural
Adverb anders Übersicht 2: Anschlüsse von ander oder substantiviertem Adjektiv an jemand und niemand bis zum älteren Frühneuhochdeutschen
Dieser Befund gilt bis ins ältere Frühneuhochdeutsche. Ab dem 16. Jahrhundert tritt dann ein neuer Belegtyp auf. In Beispielen wie (15) zeigt das substantivierte Adjektiv nicht die Genitiv-Plural-Endung, sondern geht auf -s aus, im Beispiel also jemand Fremds. (15) VND Eleasar der Priester / nam die ehernen Pfannen [...] Zum Gedechtnis der kinder Jsrael / das nicht jemands frembds sich erzu mache (LutherBibel 1545, Num. 16, 40)32 Eine mögliche Erklärung für diese Formen auf -s liefert M. Heyne im Artikel jemand im Deutschen Wörterbuch. Zunächst weist er darauf hin, dass „in verbindungen wie jemand anders u. ähnl. […] das beiwort ursprünglich ebenfalls genitivisch zu nehmen“ sei, wodurch sich die unveränderte Form auch in den obliquen Kasus erkläre. Nachdem er einige Beispiele für niemen anders, jemanden anders u.Ä. angeführt hat, kommt M. Heyne auf Belege mit substantivierten Adjektiven zu sprechen. „aber man scheint doch frühe schon dieses anders als neutrum gefaszt zu haben [...], denn man bildete nun analog auch jemand vertrautes zu seiner lieb zu schicken“.33 M. Heyne geht nicht direkt auf die Frage ein, ob das „ursprünglich genitivische“ anders als Adverb oder als Genitiv Singular von adjektivischem ander zu klassifizieren ist. Allerdings nimmt er wohl eher letzteres an, weil damit die Uminterpretation der Endung -(e)s als neutrale Adjektivendung plausibler erscheint. Diese reanalysierte Endung wäre dann nach M. Heyne auch auf die Adjektive übertragen worden, so dass jemand Fremdes als Verbindung von jemand mit dem Nominativ Singular Neutrum des substantivierten Adjektivs zu klassifizieren wäre. _____________ 32 33
Die Luther-Bibel (2003, 606). IV, II, Sp. 2302f.
1DWB
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3.3. Alternativer Erklärungsvorschlag für jemand Fremdes Dem Ansatz von M. Heyne ist in vielen Punkten zuzustimmen, allerdings lassen sich die Adjektivformen auf -s auch ohne die Annahme einer Umdeutung von anders als Neutrum erklären. Grundsätzlich kann das Auftreten analoger Bildungen in diesem Bereich nicht erstaunen. Da der adnominale partitive Genitiv im 16. Jahrhundert stark zurückgeht, stehen die Genitiv-Plural-Formen für den Anschluss von ander oder ein substantiviertes Adjektiv an jemand oder niemand nicht mehr zur Verfügung. Während es bei ander aber eine nicht (mehr) genitivische Konstruktion als Alternative gibt, nämlich die Verbindung von jemand / niemand mit dem Adverb anders, fehlt eine solche Möglichkeit für die substantivierten Adjektive zunächst. Die Annahme M. Heynes, dass die neuen Adjektivkonstruktionen auf -s in Analogie zu den Formen jemand / niemand anders gebildet sind, scheint vor diesem Hintergrund absolut plausibel. Allerdings muss man nicht unbedingt davon ausgehen, dass die andersFormen als Neutra aufgefasst und dass nach diesem Vorbild neutrale Adjektivformen gebildet wurden. Ohne den Umweg einer Uminterpretierung der Adverbformen kommt man aus, wenn man annimmt, dass analog zu den unveränderten anders-Formen auf -s auch unveränderte Adjektivformen auf -s gebildet wurden. Dabei besteht der Unterschied zwischen unveränderten Formen und Neutrum-Formen nur an einer Stelle im Paradigma, nämlich im Dativ: Neutrum
Unverändert
Nom.
jemand Fremdes
jemand Fremdes
Dativ
mit jemand Fremdem
mit jemand Fremdes
Akk.
jemand Fremdes
jemand Fremdes
Übersicht 3: jemand + neutrales Adjektiv / jemand + unverändertes Adjektiv
Wenn also die Adjektivformen in Analogie zur Adverbform anders gebildet sind, müssten sich entsprechende Dativbelege auf -s nachweisen lassen. Im Hinblick darauf, dass die Verbindung von jemand / niemand + substantiviertes Adjektiv von vornherein kein allzu häufiges Phänomen darstellt und der Dativ im Vergleich zu Nominativ und Akkusativ grundsätzlich wesentlich seltener auftritt, ist hier allerdings nicht mit großen Belegmen-
Nominalphrasen mit jemand und niemand
149
gen zu rechnen. Immerhin finden sich aber doch einige einschlägige Beispiele. M. Heyne selbst führt einen Goethebeleg an: (16) Da ist ein Brief; er muß von jemand Hohes sein (J. W. v. Goethe, Die Mitschuldigen, I, 6)34 Auch das Schwäbische Wörterbuch weist entsprechende Dativformen auf: „Mod. stets n[iemand] -s: n[iemand] rechtes, braves, gutes, auch von, bei n[iemand] -s“.35 Schließlich erbringt eine einfache Internetsuche für die Gegenwartssprache zahlreiche Belege in informeller Schriftlichkeit, wie etwa Beleg (17): (17) Wem Fremdes bringt man aber nicht solch ein Vertrauen entgegen, den regulären Betrieb abzublocken.36
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn sich eine größere Anzahl einschlägiger historischer Belege finden ließe. In jedem Fall spricht aber das Vorhandensein der anders nur schwer erklärbaren unveränderten Dativbelege für die hier vorgetragene These von der Bildung analoger unveränderter Adjektivformen nach dem Muster des Adverbs anders.37
_____________ 34
35 36
37
Vgl. von Goethe (1990, 38). Heyne, 1DWB IV, II, Sp. 2303, stellt diesen Vers als die Form der „erste[n] abfassung“ einer späteren Fassung „er muss von jemand hohem sein“ gegenüber. Die entsprechende Änderung lässt sich wohl auf Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zurückführen, die unten (Abschnitt 4) angesprochen werden. Schwäbisches Wörterbuch (1904-1936, Sp. 2040). Online im Internet: http://www.nostria-saga.de/forumscroll/ [etc.] (Stand 20.04.2006). Auch in Duden. Richtiges und gutes Deutsch, 491 und 651, wird die Variante von jemand Fremdes, niemand Fremdes akzeptiert, allerdings werden keine Belege angeführt; die Form mit flektiertem Adjektiv (von jemand Fremdem) gilt aber als „verbreiteter“. Dass -s nicht als neutrale Endung aufgefasst wurde, legt auch der Befund des Niederdeutschen nahe, wo heute ebenfalls die Formen auf -s gelten, vgl. Lindow / Möhn / Niebaum / Stellmacher / Taubken / Wirrer (1998, 182), obwohl das Adjektiv im Neutrum, soweit es nicht endungslos ist, wegen der nicht durchgeführten zweiten Lautverschiebung hier auf -t ausgeht (191f.), so dass die Endungen von Genitiv Singular und Nominativ Neutrum also nie zusammengefallen waren. Kiefer (1910, 68) nimmt an, dass die Formen auf -s aus dem Süden übernommen wurden. Roehrs (2008, 3) sieht in der Endung des Adjektivs in Konstruktionen wie jemand Nettes ebenfalls keine neutrale Flexionsendung, sondern klassifiziert -s hier ebenso wie in Fällen wie etwas Schönes als „special -s“. Allerdings führt Roehrs dieses special -s nicht auf das Adverb anders zurück. Ander wird bei Roehrs immer nur als Adjektiv angesprochen, an keiner Stelle der Untersuchung wird das Adverb anders erwähnt; bei der Konstruktion jemand / niemand + ander nennt Roehrs nur die Varianten jemand anderer oder jemand anderes, nicht aber die Variante jemand anders.
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Ursula Götz
4. Ausblick: Zur Entstehung der regionalen Varianten
jemand Fremdes / jemand Fremder Die folgende Übersicht fasst die bisher besprochene Entwicklung noch einmal zusammen:
ander
I. Bis ca. 15. Jahrhundert jemand / niemand + substantiviertes Adjektiv
im Genitiv Plural
im Genitiv Plural
Adverb anders
ander
II. Ab ca. 16. Jahrhundert jemand / niemand + substantiviertes Adjektiv
Adverb anders
unverändert (auf -s)
Übersicht 4: Anschlüsse von ander oder substantiviertem Adjektiv an jemand und niemand vom Althochdeutschen bis zum 18. Jahrhundert
Das bis ins ältere Frühneuhochdeutsche gültige System, in dem nach jemand und niemand entweder das Adverb anders oder Genitiv Plural-Formen von ander und substantivierten Adjektiven auftreten, wird (nach einer gewissen Übergangszeit) im Laufe des 16. Jahrhunderts durch ein System ersetzt, in dem auf jemand und niemand nur mehr das Adverb anders oder analog dazu gebildete Adjektivformen auf -(e)s folgen. Dieses System gilt im Großen und Ganzen bis ins 18. Jahrhundert. Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts treten – neben den unveränderten Formen – auch flektierte Belege auf, die als maskuline oder neutrale Formen von ander oder den substantivierten Adjektiven einzuordnen sind. Der Unterschied zwischen maskulinen und neutralen Formen besteht
Nominalphrasen mit jemand und niemand
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natürlich nur im Nominativ Singular, wo neutralem niemand anderes (18) maskulines niemand anderer (19) oder jemand Fremder (20)38 gegenübersteht. (18) Denn der Adam, um den es sich in dem Romane handelt, ist eben kein wirklicher Adam, sondern in jedem Sinn ein Kostüm-Adam und in Wahrheit niemand anderes als der Abbé Mouret selbst (Theodor Fontane, Graf Petöfy)39 (19) Zu meinem Erstaunen erblickte ich jetzt auch mitten im Wasser eine größere schwarze Gestalt, die niemand anderer als der arme Pfarrer im Kar war. (Adalbert Stifter, Bunte Steine)40
(20) und vielleicht rührte meine Schüchternheit als Knabe zum Teile daher, daß ich in große Verlegenheit geriet, sooft mich jemand Fremder ansprach (Franz Grillparzer, Selbstbiographie)41 Und die maskulinen Formen finden sich tatsächlich nur im Süden.42 Diese er-Formen können natürlich keine Fortsetzer der alten Genitiv-PluralFormen sein, da diese bereits im 16. Jahrhundert vollständig verschwunden waren. Es muss sich also um eine neuere Entwicklung handeln. Bei grammatischen Entwicklungen, die im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert auftreten, ist – stärker als in den vorangehenden Sprachstufen – mit einem Einfluss der normierenden Grammatikschreibung oder auch nur mit Standardisierungs- und Systematisierungsbestrebungen im Bereich der Schule oder der literarischen Öffentlichkeit zu rechnen.43 Dass die einschlägigen Standardisierungsbestrebungen im Süden des deutschen Sprachraums zu einem anderen Ergebnis führten als im Norden, lässt sich möglicherweise mit der Sprechereinstellung, und hier ganz besonders mit dem unterschiedlichen sprachlichen Selbstbewusstsein in Nord und Süd erklären. Im sprachlich selbstbewussten Norden nahm man die überkommenen unveränderten Formen so, wie sie waren. Im Rahmen der stärkeren grammatischen Systematisierung werden die formal an Neutra erinnernden Formen dann entsprechend flektiert, ohne dass die grammatische Korrektheit dieser Formen in Zweifel gezogen worden wäre. Der Süden war und ist dagegen mit einem sprachlichen Minderwer_____________ 38 39 40 41 42 43
Die Adjektivform auf -es (jemand Fremdes) kann als neutrale oder unveränderte Form aufgefasst werden. Bertram (2004, 27868). Ebd., 157470. Ebd., 62826. Daneben treten im Süden auch Formen auf -es auf. Vgl. die Belegzusammenstellung bei Ljungerud (1955, 191ff.). Vgl. von Polenz (1999, 229f.) und die entsprechenden Hinweise im Abschnitt „Entwicklungstendenzen der Standardsprache“, 338ff.
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tigkeitsgefühl behaftet. Hier verbindet sich das Streben nach grammatisch richtigen Formen mit dem Bewusstsein, dass die dialektal gebräuchlichen Formen meistens falsch sind. Insofern werden im Süden häufig maskuline Formen des substantivierten Adjektivs verwendet. Diese kongruieren mit dem Pronomen jemand und wirken insofern besonders korrekt,44 zudem unterscheiden sie sich stark von den dialektalen -s-Formen, was ebenfalls als Indiz für Standardsprachlichkeit gewertet wird.
5. Fazit Der Nachweis für die zuletzt vorgetragene These dürfte nicht ganz leicht zu führen sein, da ein vergleichsweise selten auftretendes Phänomen wie die Verbindung von jemand oder niemand mit substantiviertem Adjektiv oder ander in der einschlägigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wohl nicht allzu häufig thematisiert worden ist.45 In jedem Fall bleibt aber festzuhalten, dass es sich bei den Formen auf -er und -es (jemand Neuer / Neues bzw. anderer / anderes) nicht um Fortsetzer der alten Genitivformen handeln kann, sondern dass wesentlich differenziertere sprachgeschichtliche Entwicklungen vorliegen. Die regionalen Varianten der Standardsprache zeichnen sich also nicht nur durch eine besondere Stellung im Varietätengefüge der Gegenwartssprache aus, sie dürfen auch in sprachgeschichtlicher Hinsicht besonderes Interesse beanspruchen.
_____________ 44
45
Diese Auffassung wird offenbar nicht von allen Sprachbenutzern bzw. Sprachpflegern geteilt. Im Sprachratgeber des Dudenverlags jedenfalls wird die er-Form eindeutig abgelehnt: „Nicht standardsprachlich ist der Gebrauch des Maskulinums im Nominativ: Das ist jemand Fremder.“ Vgl. Duden (2007, 491). Bei einer ersten Überprüfung verschiedener Grammatiken und Wörterbücher des 18. und 19. Jahrhunderts (J. Chr. Adelung, C. F. Aichinger, H. Braun, J. Chr. Gottsched, J. S. V. Popowitsch) fanden sich einige Aussagen, die durchaus mit dem hier untersuchten Thema in Verbindung stehen. So lehnt J. Chr. Adelung Fügungen wie niemand Vornehmes ab und empfiehlt dafür die Formulierung kein Vornehmer, vgl. Adelung (1971, 691). Für eine umfassende Analyse der Herausbildung des Nebeneinanders jemand / niemand Fremder / Fremdes bzw. anderer / anderes reicht das Material bisher allerdings nicht.
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_____________ 46
Das Quellenverzeichnis enthält nur die Texte, aus denen Belege zitiert werden. Auf eine Nennung der für allgemeine Häufigkeitsangaben oder zur (erfolglosen) Ermittlung weiterer Belege geprüften Texte wird aus Raum- und sonstigen Praktikabilitätsgründen verzichtet.
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Nominalphrasen mit jemand und niemand
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Abkürzungsverzeichnis AWB
= Althochdeutsches Wörterbuch, aufgrund der v. Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen bearb. u. hrsg. v. Elisabeth Karg-Gasterstädt / Theodor Frings / Rudolf Große, Leipzig 1968ff.
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BMZ
= Mittelhochdeutsches Wörterbuch, mit Benutzung des Nachlasses v. Georg Friedrich Benecke ausgearb. v. Wilhelm Müller / Friedrich Zarncke, IIII, Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1854-1866, Stuttgart 1990.
CaOU
= Corpus der Altdeutschen Originalurkunden, begründet v. Friedrich Wilhelm, fortgeführt v. Richard Newald / Helmut de Boor / Diether Hacke / Bettina Kirschstein, Lahr, Berlin, 1932ff.
2DWB
= Deutsches Wörterbuch v. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Neubearbeitung, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften / Göttinger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Stuttgart, Leipzig 1965ff.
1DWB
= Deutsches Wörterbuch v. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Nachdruck d. Ausg.Leipzig 1854-1971, München 1999.
FWB
= Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Robert Anderson / Ulrich Goebel / Oskar Reichmann (Hrsg.), Berlin, New York 1989ff.
WMU
= Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, unter Leitung v. Bettina Kirschstein / Ursula Schulze erarb. v. Sibylle Ohly / Peter Schmitt, Berlin 1994ff.
Bedingungsstrukturen im Älteren Deutsch Rosemarie Lühr (Jena)
1. Einleitung Im Neuhochdeutschen gibt es bei den Konditionalsätzen zwei unterschiedliche Typen, der eine ist mit Konjunktion eingeleitet, der andere hat das finite Verb an erster Stelle: (1a) Wenn ich den Bus erwischt hätte, müsste ich nicht zwanzig Minuten warten. (1b) Hätte ich den Bus erwischt, müsste ich nicht zwanzig Minuten warten.1 Wenn man einen Sprecher des heutigen Deutsch fragt, wann er welchen der beiden Typen verwendet, bekommt man keine klare Antwort, da konditionale V1-Sätze in vielen Fällen mit den wenn-Sätzen funktionsgleich sind.2 Umso auffallender ist, dass es in den älteren Sprachstufen des Germanischen offenbar feste Regeln dafür gibt. Ein Beispiel ist die mittelalterliche Rechtsprosa. Wie Hans Ulrich Schmid3 nachgewiesen hat, wird in uneingeleiteten Konditionalsätzen ein rechtsrelevanter Sachverhalt genannt, wobei eine Handlungsfokussierung vorliegt. Dagegen werden in den mit ob 'wenn' eingeleiteten Konditionalsätzen einschränkende oder zusätzliche Bedingungen genannt. Voraus geht aber ein agensbezogener verallgemeinernder Relativsatz, ein sogenanntes Irrelevanzkonditionale:
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3
Gallmann (2005, 876). Vgl. König / Auwera (1988); Zifonun u.a. (1997, 2113 und 2349) interpretieren daher die konditionalen V1-Sätze analog zu den kanonischen wenn-Sätzen mit Verbendstellung als eingebettete Sätze, die das Vorfeld ihres deklarativen V2-Bezugssatzes (Apodosis) besetzen. Vgl. Schmid (2005, 360f.), anders Iatridou / Embick (1993).
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Rosemarie Lühr
(2)
Schwabenspiegel II 46,1 Swer sô werkit eynis anderen mannis lant unwizzende, wirt her dâ umme beschuldegit die wîle her iz eret, sîn arbeit virlûsit her dâ an, ob iz jene behalt Wer eines anderen Mannes Land unwissentlich bearbeitet [allgemeiner = konditionaler Relativsatz], wird er dessen angeklagt [uneingeleiteter Konditionalsatz], während er es pflügt, so verliert er den Ertrag daran, sofern jener es beansprucht [mit ob eingeleiteter Konditionalsatz im Sinne einer Zusatzbedingung].
Dass hier eine germanische juristische Fachsprachensyntax vorliegt, wurde auch in Lühr (2007) gezeigt: Die altfriesischen Rechtstexte haben ebenfalls derartige Abfolgen. Zur Interpretation habe ich aber die Informationsstruktur herangezogen, also die Gliederung nach Topik und Kommentar sowie Fokus und Hintergrund. •
Mit Konjunktion eingeleitete Bedingungssätze haben in den mit Irrelevanzkonditionalia beginnenden Textabschnitten eine besondere textstrukturelle Funktion: Sie lenken auf das Topik zurück oder führen ein neues Diskurstopik ein, wozu dann in der Apodosis neue Information hinzukommt. Geht ein Konditionalsatz mit Verbspitzenstellung einem solchen mit Konjunktion eingeleiteten Bedingungssatz voraus, so ist dieser enger an den vorausgehenden Text angeschlossen.4
(3)
Die gemeinfriesischen Siebzehn Küren 14 Thit is thiv fiuwertinde liodkest: sa hwersa en ungeroch kind ut of londe lat werth thruch sellonge tha thruch hirigongar, werth sin god ieftha sin erue urset tha urseld, jef thet kind to londe kumth and to sina liodon, mi hit thenne bikanna brother and swester and to nomande wet sine nesta friond and sinne feder and sine moder, mi hit sines eina erues enigene ekker bikanna, sa hach thet kind […] Dies ist die vierzehnte Volksküre: Wann auch immer ein unmündiges Kind aus dem Lande weggeführt wird durch Verkauf oder durch Heergang, wird sein Gut oder sein Grundbesitz (darauf) verpfändet oder verkauft, so soll, wenn das Kind (später wieder) ins Land zu seinen Leuten kommt und es dann Bruder und Schwester wiedererkennen kann und seine nächsten
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Nach Szadrowsky (1961, 117) ist jedoch die dritte Bedingung der zweiten deutlich untergeordnet.
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Verwandten und seinen Vater und seine Mutter zu nennen weiß und es irgendeinen Acker seiner Grundstücke erkennen kann, das Kind [...]5
Somit ergibt sich für das Altfriesische folgendes Schema: 1. Universales Irrelevanzkonditionale zur Einführung eines indefiniten Diskursreferenten oder zur Rahmensetzung in einem allgemeinen Rechtsfall. 2. Mit Verb eingeleiteter Konditionalsatz mit anaphorischer Referenz zur Bezeichnung einer Präzisierung des allgemeinen Falls. 3. Mit Konjunktion eingeleiteter Konditionalsatz mit anaphorischer Referenz oder einem neuen Diskursreferenten zur Rücklenkung oder Neuetablierung des Topiks.6 Zu überprüfen ist nun, ob derartige Regeln auch außerhalb der germanischen juristischen Fachsprache gelten. Dies scheint zumindest im Althochdeutschen nicht der Fall zu sein. So findet sich bei Dieter Wunder (1965, 165) zu den Konditionalsätzen bei Otfrid: „[...] im oba-Gefüge geht man vom Hauptsatz aus und gibt für diesen eine hypothetische Bedingung an; im konjunktionslosen Gefüge wird die Bedingung gesetzt und aus ihr ergibt sich der Sachverhalt des Hauptsatzes [...]“. Wunder nennt solche Bedingungssätze demgemäß setzende Bedingungssätze. Nach Richard Schrodt (2004, 156) bleibt jedoch „der funktionelle Unterschied zu vorangestellten oba-Sätzen [...] kaum nachvollziehbar, so dass eine eigene inhaltliche Kategorie nicht ausreichend begründet ist.“ Aber auch Schrodts These, bei vorangestellten konjunktionslosen Konditionalsätzen erscheine die Bedingung als eine vorausgesetzte Annahme, der Inhalt des anschließenden Hauptsatzes als Folge, hilft nicht viel weiter, da diese Beschreibung auch für konjunktionshaltige Konditionalsätze zutrifft.7 Versuchen wir daher in Anschluss an Schmids Beschreibung und die oben erwähnten Regeln, die Informationsstruktur zur Erklärung für den Wechsel der beiden Typen von Konditionalsätzen heranzuziehen. Bleibt man dabei wegen seiner weitgehenden Unabhängigkeit vom Latein bei Otfrids Evangelienbuch, so ist die These, dass konjunktionshaltige und konjunktionslose Konditionalsätze bei Otfrid eine irgendwie geartete voneinander verschiedene textstrukturelle Funktion haben. Um dieser Funktion näher zu kommen, ist _____________ 5 6
7
Buma / Ebel (1963, 38ff.). Szadrowsky (1961, 119) drückt dies folgendermaßen aus: „Man muss ganze Satzungen lesen, um zu prüfen, was die ungebrochene Wucht des Hauptsatzes bedeutet. Atem schöpft der Gesetzsprecher zu markigem Einsatz der Hauptsache.“ Nach Reis / Wöllstein (2007) ist hier zwischen semantisch independent (Ursache / Conditio) und semantisch dependent (Wirkung / Consequens) zu unterscheiden.
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die Textgestaltung des Evangelienbuchs zu berücksichtigen. Ein Strukturierungsmittel ist hier auf jeden Fall der Unterschied zwischen direkter Rede einerseits und Erzählung und Kommentar andererseits.8 Wir betrachten zuerst die direkte Rede und da den Redebeginn. Denn der Redebeginn markiert jeweils einen Neuansatz. Der Sprecher möchte, dass sich der Hörer auf ihn einstellt. Da hierbei perspicuitas 'Durchsichtigkeit' besonders wichtig ist, könnte der Sprecher auch zu Beginn von Reden syntaktische Strukturen in ihrer Grundfunktion verwenden, einfach um sicher zu gehen, dass der Hörer ihn versteht. Wir beschränken uns auf die vorausstehenden Konditionalsätze, weil diese insgesamt weitaus häufiger als die nachgestellten Konditionalsätze sind.
2. Konjunktionshaltige Konditionalsätze 2.1. Zu Beginn der direkten Rede Da fällt nun auf: Die vorangestellten, eine direkte Rede einleitenden Konditionalsätze sind bei Otfrid mit der Konjunktion ob oder oba 'wenn' eingeleitet:9 (4)
II 4, 53ff. Er ínan in thie wénti sazta in óbanenti, thar ríaf er ímo filu frúa thrato rúmana zúa: „Oba thu sís“, quad, „gótes sun, laz thih nídar hérasun in lúfte filu scóno, so scal sún frono. Er setzte ihn auf die Zinne auf die Spitze, da rief er ihm bald zu: „Wenn du“, sagte er, „Gottes Sohn bist, lass dich hier nieder in die Luft recht schön, wie es dem heiligen Sohn geziemt.“
In diesem wie in den folgenden Beispielen liegt eine kontextuell deutlich erschließbare Kontrastivität vor. Der Satan distanziert sich von dem, was _____________ 8 9
Vgl. dazu Lühr (2005, 177ff.). Einmal findet sich am Kapitelanfang oba. Auch hier erscheint ein impliziter Kontrast: Ich widme dieses Buch, nachdem ich es vollendet habe, den St. Gallener Mönchen Hartmut und Werinbert. Dennoch ist es möglich, dass ich einige Textstellen falsch gedeutet habe. Hartmuat 1ff.: Oba íh thero búacho gúati hiar iawiht missikérti, gikrúmpti thero rédino thero quít ther evangélio: Thuruh Krístes kruzi bimíde ih hiar thaz wízi, thuruh sína gibúrt; Wenn ich (aber) etwas aus den heiligen Büchern falsch erklärt habe, habe ich den Sinn, den das Evangelium aussagt, verdreht, so möge ich durch Christi Kreuz, durch seine Heilsgeburt hier der Züchtigung entgehen.
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Jesus gesagt hat: Wenn du tatsächlich, d.h. anders als ich annehme, Gottes Sohn bist. Ähnlich auch in der Anrede des einen Räubers am Kreuz: (5)
IV 31,1ff. Thero scáchoro (ih sagen thir) éin, want er hángeta untar zuéin, deta ímo, so man wízzi, thia selbun ítwizzi. „Oba thu Kríst“, quad er, „bíst, hílf thir, nu thir thúrft ist; joh dúa thar thina gúati, hilf úns ouh hiar in nóti!“ Der eine von den Räubern (ich sage dir), denn er hing zwischen zweien, trieb mit ihm, wie man weiß, eben jenes Gespött. „Wenn du der Geweihte bist, hilf dir, wenn du es nötig hast; ja zeige deine Göttlichkeit, hilf auch uns hier in der Not.“
Wenn du wirklich, d.h. wenn du aber, anders als ich annehme, der Geweihte bist. In der Tat enthält der redeeinleitende wenn-Satz gegebenenfalls ein Wort wie aber. Vgl. mit Bezug auf Johannes: (6)
I 27,23ff. fragetun s3+ ávur thuruh nót, so man in héime gibot: „Oba thu Helías avur bíst, ther uns kúnftiger ist, thaz gizéli thI uns nu sár, thaz wír iz avur ságen thar.“ Sie fragten aber voll Ungestüm, wie man ihnen zu Hause auftrug: „Wenn du aber Elias bist, der zu uns kommen wird, das sage uns nun sofort, damit wir es dort wiederum sagen.“
Das Subjekt ist in diesen Sätzen das Personalpronomen du, dem die Kopula und ein Prädikatsnomen folgen. Das Prädikatsnomen trägt dabei sicher einen Kontrastakzent. Es handelt sich um eine implizite Korrektur mit einem Kontrastfokus: Wenn du aber Elias (und nicht Christus) bist (vgl. auch (13)). Nun noch zu dem Wort aber. Für die Bedeutungsanalyse des Wortes aber passt von den vielen Vorschlägen der von Ewald Lang10 am ehesten für unsere Deutung der oba-Sätze. Nach Lang ist aber Indikator einer Behauptung entgegen anders liegender Erwartung. •
Es gilt: Satz S1 aber S2: S1 wird behauptet und dann S2, und zwar auf dem Hintergrund, dass S1 Neg-S2 erwartet lässt. Die Satzbedeutung SB1 zieht normalerweise SB3 nach sich, die Negation von SB2.
_____________ 10
Lang (1977, 170). Vgl. aber Brauße (1982, 11).
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(7a) Renate ist krank, S1
aber sie arbeitet. S2
(7b) Renate ist krank,
und sie arbeitet nicht. S3
Der Auffassung Langs zufolge steht dabei S[atz]B[edeutung]3 der SB1 näher als der SB2, da SB3 eine implizite Folgerung aus SB1 ist. SB2 ist mit SB3 unverträglich. Verbindet man nun dieses Schema mit einer impliziten Korrektur, ergibt sich folgende semantische Struktur: (7c) Renate ist krank; es ist aber nicht der Fall, dass sie, wie man erwarten würde, nicht arbeitet, sondern sie arbeitet. 2.2. Innerhalb der direkten Rede Kehren wir nun zu Otfrid zurück, so kommt auch innerhalb der direkten Rede die Verbindung ob avur vor: (8)
IV 21,15ff. Ther líut ther thih mír irgab, zálta in thih then rúagstab; thie selbun záltun alle mír thesa béldi fona thír. Ob ávur thaz so wár ist, thaz thu iro kúning nu ni bíst: bi híu ist thaz sie thih námun, sus háftan mir irgábun? Die Menge, die dich mir überhab, erhob gegen dich Anklage; sie nannten mir alle diese Kühnheiten von dir. Wenn aber das so wahr ist, dass du ihr König nun nicht bist, wie kommt es, dass sie dich gefangen nahmen, (dich) mir so gefesselt übergaben?
Auch hier lässt sich eine implizite Korrektur annehmen: Wenn das aber wahr (und nicht falsch) ist. Vgl. auch: (9)
III 3,23ff. Er wolta sínes thankes wíson thar thes scálkes; zemo súne, sih nu zálta, giládoter ni wólta. Ob únsih avur ladot héim man ármer thehéin, thuruh úbarmuati in wár so suíllit uns thaz múat sar; Freiwillig nämlich wollte er dort jenen Diener besuchen, zum Sohn, wie ich nun erzählte, da wollte er nicht eingeladen sein. Wenn uns hingegen irgendein armer Mensch einlädt, schwillt uns wahrlich aus Hochmut alsbald das Herz.
Gemeint ist: Wenn uns aber irgendein armer Mensch (und nicht ein reicher) einlädt.
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Wie am Redenanfang kann auch in der Rede das Wörtchen avur fehlen. Dennoch wird ein Gegensatz ausgedrückt; vgl. die Übersetzung von Kelle: (10) I 19,25ff. Thia gilóub%, ih sagen thir wár, thia láz ih themo iz lísit thar; ni scríbI ih hiar in úrheiz thaz ih giwísso ni weiz. Ob ih giwísso iz wésti, ih scríbi iz hiar in fésti; thoh mag man wízan thiu jár, wío man siu zélit thar. Den Glauben, ich sage dir es aufrichtig, den gebe ich jedermann, der dieses liest, hier völlig frei; Ich schreibe ja nicht in Schwärmerei, was ich nicht völlig sicher weiß. Doch wüsste ich es für gewiss, so machte ich es hier bekannt. Doch wissen mag man immerhin, wie man die Jahre dort zählt.
Vgl. wieder mit impliziter Korrektur: Wenn ich es für gewiss (und nicht für ungewiss) wüsste. 2.3. In Anreden an den Leser Implizite Kontraste in konjunktionshaltigen Konditionalsätzen findet man des Weiteren in Anreden an den Leser: (11) III, 20, 135ff. Wir wizun álle thaz gimáh thaz got zi Móysese sprah, joh ougt er ímo follon then sinan múatwillon. Wanana thérer avur íst, thes wíht uns sar io kúnd nist; ni wízun wir in wára sínes selbes fúara.“ Oba thu scówost thaz múat, thánne nist thaz wórt guat, wanta wántun harto thés thaz síe mo batin úbiles. Wir kennen alle die Tatsache, dass Gott zu Moses sprach, und er hat ihm ganz und gar seinen Willen offenbart. Von wann aber dieser ist, das ist uns völlig unbekannt; wir kennen in Wahrheit seinen Verlauf nicht. Wenn du (aber) auf ihren Willen schaust, so war der Ausspruch nicht gut, sie glaubten nämlich, dass sie den Blindgeborenen verfluchten, wenn sie ihm zuriefen.
Wenn du aber ihren Willen (und nicht nur ihre Worte) betrachtest.
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Umfangreicher ist die Paraphrase für (12): (12) Hartmuot 103ff. Thó sie thaz gifrúmitun, thie júngoron firjágotun: so war sunna líoht leitit so wúrtun sie zispréitit. Óba thu es bigínnis, in búachon thu iz fíndis, thaz wír nu niazen thráto thero drúhtines drúto. Nachdem sie (die Juden) dieses ausgeführt hatten, vertrieben sie die Jünger: soweit die Sonne ihr Licht verbreitet, wurden sie zerstreut. Wenn du dich (aber) darum bemühst, findet du es in der Bibel, was wir uns nun eifrig zu Nutzen machen sollen in Bezug auf die Freunde Gottes.
Wenn du dich aber darum bemühst und die Sache nicht aufgibst, weil sie zu aufwendig ist. 2.4. In Kommentaren Den gleichen implizite Kontraste betreffenden Sprachgebrauch findet man in Kommentaren: (13) II 4, 69 Ním nu gouma hárto thes sátanases wórto, wialicha únredina er zi ímo sprah hiar óbana. Ob er spráchi ubar ál, so man zi gótes sune skál, spráchi thanne in thésa wis, thaz wári so gizámlih: „Oba thu sis gótes sun, far thanne héimortsun hina ubar hímil% alle; so irkénnit man thih thánne.“ Richte nun deine Aufmerksamkeit auf des Satans Worte, welche Ungereimtheit er zu ihm hier oben sprach. Wenn er (aber) überall gesprochen hätte, wie man zu Gottes Sohn (sprechen) soll, hätte er dann folgendermaßen gesprochen, das wäre geziemend gewesen: „Wenn du Gottes Sohn bist, dann begib dich nach Hause, hin über den Himmel; so erkennt man dich dann.“ (Zum zweiten oba-Satz vgl. (4), (5), (6).)
Wenn er aber überall gesprochen hätte, wie man zu Gottes Sohn (sprechen) soll und nicht so, wie er es in Wirklichkeit getan hat. Es lässt sich somit festhalten: Mit Konjunktion eingeleitete, vorausstehende Konditionalsätze haben bei Otfrid eine klare Funktion: Zu Beginn von Reden, also an einer Stelle, wo man Deutlichkeit in besonderem Maße erwartet, aber auch in Anreden an den Leser und in Kommentaren, also alles Textpartien, die klar an einen Hörer oder Leser appellieren, drücken mit oba eingeleitete Konditionalsätze aus, dass der Sprecher eine Bedingung formuliert, die
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zu anderen als den erwarteten Folgehandlungen oder zu einer Revision von bisherigen Annahmen führt. Diese Umkehrung kommt dadurch zustande, dass diese Konditionalsätze Kontrastfoki enthalten, die implizite Korrekturen auslösen.
3. Gegenbeispiele Nachdem dieser Befund eindeutig zu sein scheint, müssen auch vermeintliche Gegenbeispiele betrachtet werden. Dabei möchte ich ausdrücklich nicht von Reimzwang sprechen; denn ein so sprachgewaltiger Autor wie Otfrid hätte sicher die Reime so gebildet, dass sie den Sprachregeln entsprechen. Nun findet sich in der Redeeinleitung folgender Satz mit Verberststellung, der von Behaghel11 als Konditionalsatz aufgefasst wird. Da aber redeeinleitende Konjunktionalsätze bei Otfrid eine Konjunktion haben12, muss (14) eine andere syntaktische Struktur haben: Es handelt sich um keinen Konditionalsatz, sondern um eine Frage: (14) I 27, 13ff. Sie thaz árunti giríatun joh iro fért3 iltun. tho spráchun sie bi hérton sus thésen worton: „Bistu Kríst guato? ság+ uns iz gimúato, tház wir hiar ni duéllen, thaz árunti ni mérren.“ _____________ 11 12
Behaghel (1928, 636). Eine weitere Ausnahme gibt es. Marthas Worte in einer Anrede an den Herrn, in der nach einem Vokativ ein Konditionalsatz mit Verberststellung folgt, werden einige Verse später mit der umgekehrten Reihenfolge ‚Konditionalsatz mit Verberststellung – Vokativ‘ wiederholt: (a) III 24, 11ff.: Mártha sih tho kúmta, so si zi Kríste giilta, sérlichero wórto; sia rúartaz filu hárto. „Drúhtin“, quad si, „quamist thu ér, wir ni thúltin thiz sér; ginádaz thin ni hángti thaz tód uns sus io giángti; Martha klagte da, als sie zu Christus eilte, mit Worten voller Schmerz; sie war sehr bewegt. „Herr“, sprach sie, „wärest du früher gekommen, wir würden nicht diesen Schmerz erleiden“. (b) III 24,50: (irbéit si thes er kúmo); joh sprah zi drúhtine thó: „Wárist thu híar, druhtin Kríst, ni thúltin wír nu thesa quíst; ther brúader min nu lébeti, joh ih thiz léid ni habeti!“ Kaum konnte sie es erwarten; und sie sprach da zu dem Herrn: „Wärst du hier gewesen, Herr, wir duldeten nicht diese Qual; mein Bruder würde noch leben; und ich hätte dieses Leid nicht!“. (b) ist hier aber offensichtlich (a) nachgebildet.
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Sie beratschlagten diese Botschaft und beschleunigten ihre Fahrt. Da sprachen sie wechselweise mit diesen Worten so: „Bist du der heilige Christ? Sage es uns aus dem Grunde deines Herzens, damit wir hier nicht verweilen, die Nachricht nicht verzögern.“
Anders liegt der Fall in (15). In der direkten Rede wird einmal ein redeeinleitender konjunktionshaltiger Konditionalsatz durch einen konjunktionslosen Konditionalsatz fortgeführt: (15) IV 19, 17ff. Mit wángon tho bifílten bigán er ántwurten, mánota sie thes náhtes thes wízzodes réhtes: „Ob íh hiar úbilo gispráh, zéli thu thaz úngimáh; spráh ih avur alawár, ziu fíllist thu mih thanne sár?“ Nachdem er auf die Wangen geschlagen worden war, begann er zu antworten, er erinnerte sie an das rechte Gebot. „Wenn ich hier unrichtig sprach, so nenne du das, was sich nicht gehört; sprach ich aber wahr, warum schlägst du mich dann gleich?“
Wie in den vorher besprochenen Beispielen kommt auch in (15) klar ein Kontrast zum Ausdruck, diesmal aber ein explizit ausgedrückter: unrichtig und wahr bilden Kontrastfoki, wie auch das Wörtchen aber bezeichnet. Nur noch einmal erscheint bei Otfrid in einem konjunktionslosen Konditionalsatz das Wörtchen aber: (16) III 18, 45f. Íh irkennu inan ío; spríchu ih avur álleswio, bin ih thanne in lúginon, gilicher íuen redinon; Ich aber kenne ihn jeder Zeit, und spräche ich es aber anders aus, bin ich dann ein Lügner, ganz ähnlich euerm Lügenwort.
Vergleicht man nun diese beiden Textstellen, so erscheint jedes Mal das Wort sprechen, bezogen auf eine vorausgehende Sprachhandlung. In (15) wird sogar im konjunktionslosen Nebensatz das Verb sprechen vom konjunktionshaltigen ersten Nebensatzteil übernommen, d.h. gegebenes Material wird wieder aufgenommen, wodurch die beiden Teilsätze eng verbunden sind. Daher kann man folgende Regel für die konjunktionslosen Konditionalsätze in (15) und (16) formulieren: Bei besonders engem An-
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schluss an den vorausgehenden Text können auch konjunktionslose Konditionalsätze einen Kontrast ausdrücken.13
4. Konjunktionslose Konditionalsätze Dass aber der enge Anschluss an den vorausgehenden Text tatsächlich ein Merkmal der konjunktionslosen Konditionalsätze ist, soll nun gezeigt werden. Konjunktionslose Konditionalsätze bezeichnen bei Otfrid oftmals einen Einzelfall,14 dem die Bezeichnung eines allgemeinen geltenden Sachverhalts vorausgeht. Einige wenige Beispiele genügen: (17) L 23ff. Riat gót imo ofto in nótin, in suaren árabeitin; gigiang er in zála wergin thár: druhtin hálf imo sár In nótlichen wérkon, thes scal er góte thankon; Gott stand ihm oft in Gefahr und in schwerer Mühsal bei; kam er irgendwo in Not, der Herr half ihm sofort bei schwierigen Werken: dafür soll er Gott danken.
_____________ 13
14
Ein enger Anschluss des zweiten Teils eines Konditionalsatzes begegnet auch in folgendem Beispiel. Der Sinn ist hier aber konzessiv. Hinzu kommt die Topikalisierung einer NP (mit suórgon): III 18, 37 Er gáb in thes mit thúlti suazaz ántwurti, ríhta sies in war mín, thoh wíht sies ni firnámin: „Óba ih mih mit rúachon biginnu éino gúallichon, mit suórgon dúan ouh thanne tház, thaz ist niwíht allaz.“ Geduldig gab er ihnen darauf die Antwort voller Süßigkeit; er klärte sie hierüber auf, obwohl sie es nicht verstanden. „Wenn ich es versuchen wollte, mich allein zu verherrlichen, mit Sorgfalt täte ich auch das, das ist alles nichts.“ Eine andere Funktion ist die des konjunktionslosen Temporalsatzes: I 1, 21ff.: joh mézent sie thie fúazi, thie léngi joh thie kúrti, theiz gilústlichaz wúrti. Éigun sie iz bithénkit, thaz síllaba in ni wénkit, sies álleswio ni rúachent, ni so thie fúazi suachent; Was sie schaffen, ist erfüllt von süßem Wohllaut; sie messen die Versfüße, nach Länge und Kürze, damit es Wohlgefallen errege. Haben sie geprüft, ob nicht eine Silbe gegen die Ordnung verstößt, dann gilt ihr Hauptaugenmerk der Füllung der Versfüße. (VollmannProfe 1976, 81).
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(18) I 5, 53ff. Nist in érdriche thár er imB ío instríche, noh wínkil untar hímile thár er sih ginérie. Flíuhit er in then sé, thar gidúat er 3mo wé, gidúat er imo frémidi thaz hoha hímilrichi. Auf der Erde gibt es keinen Ort, wohin er [der Satan] vor ihm entfliehen und unter dem Himmel keinen Winkel, wo er sich in Sicherheit bringen könnte. Und stürzt er sich flüchtend ins Meer, so erreicht ihn seine Strafe selbst dort, und das hohe Himmelreich verschließt er vor ihm.15
Vor Gott kann der Satan nicht fliehen. Flüchtet er ins Meer, wird er auch dort bestraft. Ähnlich in (19): (19) I 15, 41ff. Óffan duat er tháre thaz wir nu hélen híare; ist iz úbil odowar: unforhólan ist iz thár. Offenkundig macht er da, was wir hier nun verhehlen. Ist es etwa böse, ist es da nicht verborgen.
Die Menschen können Gott nichts verbergen. Ist es etwas Böses, wird es auch offenkundig. In allen diesen Fällen kann man die Bezeichnung des Einzelfalls mit z.B. anschließen: (20) V 1, 27ff. Mit thíu ist thar bizéinit, theiz ímo ist al giméinit in érdu joh in hímile inti in ábgrunte ouh hiar nídare. Bi thiu níst in themo bóume thaz mánnilih gilóube, thes fríuntilih giwís si, thaz thar úbbiges si. Leg iz nídarhaldaz – iz zeigot ímo iz allaz, fíar hálbun umbiríng állan thesan wóroltring; Damit ist dort gemeint, dass es alles ihm gegeben ist auf Erden und im Himmel und selbst im Abgrund unten dort. Darum ist nichts an diesem Baum, das glaube jeder, davon sei jeder überzeugt, was da bedeutungslos ist. Leg du es [das Kreuz] [z.B.] wagrecht hin, so weist es ihm alles zu, was nach vier Seiten ringsherum ist, diesen ganzen Weltenkreis.
Auch in Gleichnissen – das sind Textpartien, die auf besondere Beispiele Bezug nehmen – werden konjunktionslose Konditionalsätze verwendet. Z.B. _____________ 15
Ebd., 193.
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betrachtet Otfrid die steinernen Gefäße, die bei der Hochzeit von Kana verwendet werden, als gleichnishaft für die leeren Herzen der Diener Gottes, die wie die Krüge durch Wasser erst durch die Heilige Schrift und geistlichen Wein gefüllt werden: (21) II 9, 21ff. Séhsu sint thero fázzo, tház thu es weses wízo, thaz wórolt ist gidéilit, in séhsu giméinit. Irsúachist thu thiu wúntar inti ellu wóroltaltar, erzélist thu ouh thia gúati, waz íagilicher dáti: Tharana maht thu irthénken, mit brúnnen thih gidrénken, gifréwen ouh thie thíne mit géistlichemo wíne. Sechs sind der Krüge, damit du es genau wissest, die Welt ist geteilt, in sechs Elemente festgesetzt. Durchsuchst du [z.B.] die Wunder und alle Weltalter, gehst du auch das Edle durch, was hier jeder getan hat, so sollst du daran denken, dich mit Wasser zu erfrischen, zu erfreuen auch die deinen mit geistlichem Wein.
Ebenso wie die Krüge mit Wein gefüllt sind, sollen sich also die Menschen mit göttlichem Wein erfrischen; und die Bezeichnung eines konkreten Einzelfalls wird hier wieder durch konjunktionslose Konditionalsätze eingeleitet. Sucht man nun auch diesen Gebrauch informationsstrukturell zu beschreiben, so bieten sich hier die Diskursrelationen von Asher / Lascarides (2003)16 an: Es handelt sich um die Relation Elaboration. •
Elaboration (α, β) liegt dann vor, wenn β weitere Information zu dem in α genannten Ereignis bereitstellt. Dabei herrscht zwischen den zwei Ereignissen eine temporale Inklusion, und Diskursmarker sind Wörter wie zum Beispiel.
Genau diese Diskursmerkmale sind in den Belegen (18) bis (21) gegeben. Hinzu kommt aber noch Folgendes: Die Diskursrelation Elaboration ist eine unterordnende Relation;17 d.h. dadurch findet eine enge Verknüpfung mit dem vorausgehenden Satz statt. Überlegt man sich, ob in solchen Fällen eher ein konjunktionshaltiger oder ein konjunktionsloser Konditionalsatz mit Verberststellung diese Verknüpfung signalisiert, so ist es sicher
_____________ 16 17
Vgl. auch Reese u.a. (2007). Jedenfalls haben die altgermanischen konditionalen V1-Sätze keinen narrativen Charakter. In diesem Punkt stimmen sie mit den neuhochdeutschen überein (vgl. Reis / Wöllstein 2007).
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der konjunktionslose Konditionalsatz. Wie in vielen anderen Sprachen auch steht hier Verberststellung für engen Anschluss an den Vordersatz. 18
5. Fazit Für die untersuchten konjunktionshaltigen und konjunktionslosen Konditionalsätze hat sich folgende Verteilung ergeben: Von diesen beiden Arten erscheinen zu Redebeginn, also wenn der Sprecher neu ansetzt und sich klar ausdrücken sollte, in der Regel konjunktionshaltige Konditionalsätze. Sie bezeichnen implizite Korrekturen mit Kontrastfoki und weisen bestimmte Erwartungen hinsichtlich Folgehandlungen oder mögliche Annahmen zurück. Auch innerhalb von direkten Reden, in Anreden an den Leser und in Kommentaren, Textpartien mit einer besonderen Appellfunktion, konnte diese Informationsstruktur bei den konjunktionalhaltigen Konditionalsätzen aufgezeigt werden. Dagegen dienen uneingeleitete Konditionalsätze der Bezeichnung von Einzelfällen und führen einen allgemeinen Fall weiter aus; sie sind mit z.B. anschließbar, und es herrscht die subordinierende Diskursrelation Elaboration. 19 Wie lässt sich nun aber dieser Befund mit dem der mittelhochdeutschen und altfriesischen Rechtssprache vereinen? Die Nennung eines rechtsrelevanten Sachverhalts weist auf den Einzelfall und zeigt durch die Verberststellung im Konditionalsatz wie bei Otfrid einen engeren Anschluss an das Vorhergehende. Dagegen passt die Einschränkungsfunktion der mit ob 'wenn' eingeleiteten Konditionalsätze in den Rechtstexten zum Ausdruck von impliziten Kontrasten in den konjunktionshaltigen Konditionalsätzen bei Otfrid. Denn durch solche Konditionalsätze kommen zusätzliche Bedingungen ins Spiel. Es scheint also, als ob die konjunktionshaltigen und konjunktionslosen Konditionalsätze bei Otfrid der allgemein im Germanischen bei diesen Sätzen geltenden Informationsstrukturierung entsprechen. 20
_____________ 18 19
20
Vgl. etwa das Altgriechische; vgl. Bornemann / Risch (1973). Vgl. Günthner (1999, 220), die in konditionalen V1-Sätzen eine mögliche Thematisierungsstrategie sieht. Es ist zu prüfen, ob sich die konditionalen V1-Gefüge hinsichtlich Fokussierung wie parataktische Gefüge verhalten. So nimmt Reis (2000, 217) hier zwei FokusHintergrund-Gliederungen an. Zur Entwicklung der linksperipheren eingeleiteten Adverbialsätze zu Gliedsätzen vgl. Axel (2002) und (2007, 227ff.).
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Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik Eine Schnittstelle zwischen der Handlungsstruktur und der syntaktischen Organisation von Texten∗
Thomas Gloning (Gießen) Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.) (L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 11)
1. Ausgangspunkt: Umrisse einer funktionalen, historischen Texttheorie In diesem Beitrag stelle ich Überlegungen an, wie man die funktionalen Aspekte historischer Texte mit der Frage nach ihrer syntaktischen Gestaltung verbinden kann. Ein Anknüpfungspunkt dafür sind sog. funktionale Textbausteine mit ihren mehr oder weniger typischen syntaktischen Realisierungsformen. Der Rahmen für diese Überlegungen ist eine funktionale und evolutionäre Textauffassung, die ich im Folgenden kurz skizziere. Texte kann man einer verbreiteten Auffassung zufolge betrachten als Werkzeuge der Kommunikation, als Mittel zur Lösung kommunikativer Aufgaben.1 Ein Kochrezept ist in dieser Perspektive ein Werkzeug, um eine kulinarische Zubereitungsweise zu beschreiben, ältere medizinische Rezepte dienen dazu, die Zubereitung und Anwendungsweise eines Heilmittels zu charakterisieren. Pflanzenmonographien in Kräuterbüchern werden verwendet, um medizinische und zum Teil auch botanische Eigen_____________ ∗ 1
Für Hinweise und Unterstützung danke ich Gerd Fritz, Anita Langenhorst, Hsin-Yi Cheng, Kerstin Vieritz, Kristina Schneider, Bastian Schmidt und Marc Kuse sehr herzlich. Vgl. Strecker (1986), (1994); Fritz (1993); IDS-Grammatik (1997). In vielen zeitgenössischen Textlinguistik-Konzeptionen ist auch die Frage nach den grammatisch-syntaktischen Mitteln integriert. Für kommunikationsbezogene und grammatische Aspekte in der historischen Textlinguistik vgl. zum Beispiel Grund (2003); Ziegler (2003); Schuster (2004).
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schaften von Kräutern zu beschreiben, mit Zeitungsmeldungen kann man über aktuelle Ereignisse informieren. Texte sind manchmal auch Mehrzweckwerkzeuge, mit denen unterschiedliche Funktionen gleichzeitig realisiert werden können. So dienen Theaterkritiken in vielen Fällen dazu, über unterschiedliche thematische Aspekte von Aufführungen zu informieren, sie unter bestimmten Gesichtspunkten zu beurteilen und für die Leser Handlungsorientierungen zu geben. Wer sich heute daran macht, ein Kochrezept, eine Theaterkritik oder eine Zeitungsmeldung zu schreiben, kann sich einerseits auf etablierte Lösungsverfahren stützen, er oder sie kann aber auch kreative und neuartige textuelle Lösungen anwenden. Die in einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft mehr oder weniger stark etablierten textuellen Lösungsverfahren kann man als Texttypen betrachten. Texttypen sind etablierte Lösungsmuster für wiederkehrende textuelle Aufgaben, man kann sie ansehen als mehr oder weniger stark verfestigte Traditionen des sprachlichen Handelns mit Texten. Es gehört zum Wesen von Traditionen, dass sie nur im Handeln selbst laufend aktualisiert und dabei stabilisiert oder verändert werden − und sei es nur geringfügig und in kleinen Schritten. Bei der Beschreibung von Texttypen bzw. von textuellen Mustern und ihrer Entwicklung kann man eine Reihe von grundlegenden Parametern der Textorganisation nutzen, durch die Texttypen charakterisiert sind. Diese Parameter sind gleichzeitig Aspekte der Textorganisation und auch Aspekte möglicher Veränderungen bzw. möglicher historischer Verfestigungen. Die im Folgenden genannten Aspekte hängen teilweise auch untereinander zusammen. Zu den grundlegenden Parametern der Textorganisation gehören in erster Linie: 1. der Zweck / die Funktion von Texten eines Typs; 2. typische sprachliche Handlungen (Züge), die mit Textteilen realisiert werden, und ihre Abfolge; 3. Themen, Teilthemen, Formen der Themenentfaltung und des Themenmanagements; 4. Äußerungsformen (im Hinblick auf Lexik und Syntax), Formulierungs- und Vertextungsstrategien; 5. Kommunikationsprinzipien (zum Beispiel Verständlichkeit, Originalität, Aktualität, Informativität); 6. Handlungsbedingungen (zum Beispiel Personenkonstellation, Wissen); 7. Aufmachungsformen, zum Beispiel formale Textbausteine;
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8. Aspekte der Einbettung in die weiteren Zusammenhänge einer Lebensform. Historische Texttypen, wie sie zu einem bestimmten Zeitschnitt belegt sind, kann man betrachten als eine jeweils spezifische Ausprägung von Konstellationen dieser Parameter. Ein Texttyp verändert sich, wenn sich mindestens einer der Parameter in seiner typischen Belegung dauerhaft verändert. Will man in dieser Perspektive einen historischen Texttyp zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben, kann oder muss man die typische Belegung dieser Parameter, aber auch ihre Realisierungsspielräume und ihr Zusammenwirken beschreiben.2 Die Variation und die Spielräume bei der Belegung der Parameter gehören mit zur Tradition. Will man Texttypen-Dynamik, also die Entwicklung und möglicherweise die Veränderung eines historischen Texttyps beschreiben, muss man die Entwicklungen in den gerade genannten Parametern, in ihren veränderten Spielräumen und ihrem veränderten Zusammenwirken beschreiben. Textmusterwandel kommt dadurch zustande, dass eine etablierte textuelle Praxis durch Innovation oder kleinschrittige Variation verändert wird, die von anderen Nutzern aufgegriffen wird und die sich schließlich weiträumig verbreitet und etabliert. Auf dem Weg von der Innovation bis zur Etablierung gibt es allerdings auch möglicherweise nur eingeschränkte Verbreitungsdomänen und Grade der Verfestigung.
2. Kompositionalität kommunikativ: Das Handlungspotenzial von Texten, kommunikative Aufgaben und funktionale Textbausteine Die Beantwortung der Frage, wie Verständigung funktioniert und funktionieren kann, ist eine der zentralen sprachtheoretischen Aufgaben. Eine Teilfrage bezieht sich auf das Problem, wie komplexe sprachliche Ausdrücke, zum Beispiel Sätze oder Texte, zu ihrer Bedeutung kommen und wie Verständigung mit komplexen Ausdrücken dieser Art möglich ist. Eine wichtige Grundannahme, das sog. Kompositionalitätsprinzip, besagt, dass die Bedeutung komplexer Ausdrücke sich systematisch ableiten lässt aus der _____________ 2
Eigene Arbeiten liegen vor u.a. zu Kochrezepten (14.-18. Jh.), zu Urkunden, zu Pflanzenmonographien in Kräuterbüchern (12.-18. Jh.), zur Zeitungsberichterstattung und zu Streitschriften des 16. und 17. Jahrhunderts, zu Spielarten der Theaterkritik und zu Texttypen im Bereich der Medizin des 19. Jahrhunderts. Vgl. die Nachweise im Literaturverzeichnis.
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Bedeutung des Gesamtausdrucks und aus der syntaktischen Organisation der Gesamtausdrucks. Gottlob Frege hat das Prinzip erstmals mit einiger Klarheit formuliert und in Bezug auf einzelne Erscheinungen (Referenzausdrücke, Wahrheitswertpotenziale elementarer Propositionen, Formen der Koordination in Gedankengefügen) auch schon behandelt. Er schreibt: Erstaunlich ist es, was die Sprache leistet, indem sie mit wenigen Silben unübersehbar viele Gedanken ausdrückt, daß sie sogar für einen Gedanken, den nun zum ersten Male ein Erdbürger gefaßt hat, eine Einkleidung findet, in der ihn ein anderer erkennen kann, dem er ganz neu ist. Dies wäre nicht möglich, wenn wir in dem Gedanken nicht Teile unterscheiden könnten, denen Satzteile entsprächen, so daß der Aufbau des Satzes als Bild gelten könnte des Aufbaues des Gedankens. Freilich sprechen wir eigentlich in einem Gleichnisse [...] Sieht man so die Gedanken an als zusammengesetzt aus einfachen Teilen und läßt diesen wieder einfache Satzteile entsprechen, so wird es begreiflich, daß aus wenigen Satzteilen eine große Mannigfaltigkeit von Sätzen gebildet werden kann, denen wieder eine große Mannigfaltigkeit von Gedanken entspricht. (Frege 1923, 36)
Das Kompositionalitätsprinzip gilt einerseits als ein hochrangiges sprachtheoretisches Prinzip, das unter anderem für die Erklärung von Verständigungsleistungen benötigt wird. Eine offene Frage ist derzeit, inwiefern das Prinzip der freien Kombinatorik von Äußerungseinheiten beschränkt bzw. ergänzt wird durch stärker festgelegte komplexe Muster, „prepatterned speech“, Wendungen, Konstruktionen usw. (vgl. u.a. Goldberg 2003; Günthner / Imo 2006; Feilke 2007). Das Kompositionalitätsprinzip ist zum anderen eine wichtige Grundlage im Rahmen der formalen Semantik, wo versucht wird, Repräsentationen des syntaktischen Aufbaus von Äußerungsformen mit semantischen Repräsentationen in mehr oder weniger strenger Form zu parallelisieren. Eine prominente Formulierung des Kompositionalitätsprinzips verdanken wir Barbara Partee (1984, 281): The compositionality principle, in its most general form, can be expressed as follows: The meaning of an expression is a function of the meanings of its parts and of the way they are syntactically combined. [...] In its most general form, the principle is nearly uncontroversial; some version of it would appear to be an essential part of any account of how meanings are assigned to novel sentences. But the principle can be made precise only in conjunction with an explicit theory of meaning and of syntax, together with a fuller specification of what is required by the relation ‚is a function of‘.
Man kann die zentrale Passage dieses Zitats im Deutschen versuchsweise so wiedergeben: Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks hängt systematisch ab von der Bedeutung der Teilausdrücke und der Art, wie die Teilausdrücke syntaktisch organisiert sind. Wichtig ist in diesem Zitat auch der Hinweis darauf, dass es bei der Durchführung des Kompositionalitätsprogramms von entscheidender Bedeutung ist, welche Bedeutungskonzeption zugrunde gelegt wird, welche Art von syntaktischem
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Beschreibungsrahmen gewählt wird und wie man die systematischen Zusammenhänge zwischen Formaufbau und Bedeutungsaufbau genauer bestimmt. Wenn man eine instrumentelle Textauffassung vertritt, steht das konventionelle Handlungspotenzial von Texten im Mittelpunkt, die Möglichkeit also, mit Texten komplexe kommunikative Handlungen zu vollziehen und mit Teiltexten und kleineren Äußerungseinheiten auf geeignete Weise dazu beizutragen. Eine der zentralen Fragen lautet in dieser Perspektive dann, wie das konventionelle Handlungspotenzial von Texten zustande kommt. Man kann eine kommunikativ gewendete Version des Kompositionalitätsproblems vielleicht so formulieren: Wie kommen kommunikative Handlungspotenziale von Texten zustande? Welche Rolle spielt dabei die syntaktische Organisation und wie wirken Syntax und andere textuelle Organisations- und Verwendungsprinzipien zusammen? Das konventionelle Handlungspotenzial eines Textes besteht darin, dass man mit der Verwendung des betreffenden Textes bestimmte komplexe Text-Handlungen realisieren kann und dass diese Texthandlungen durch sprachliche Gepflogenheiten weitgehend gestützt sind.3 Zu den TextHandlungen gehört auch der Ausdruck von Propositionen, die Behandlung thematischer Aspekte und die Realisierung kommunikativer Aufgaben wie zum Beispiel der Ausdruck von Sprechereinstellungen, die Angabe von Quellen oder Gewissheitsgraden, Querverweise im Text usw. Will man zeigen, wie komplexe Handlungspotenziale beim Aufbau von Texten aus kleineren Texteinheiten zustande kommen, dann ist die Idee der funktionalen Textbausteine ein nützliches Werkzeug bei der Erledigung dieser Aufgabe, das auch Anknüpfungspunkte für historische Entwicklungen bietet.
_____________ 3
Mit dem Verweis auf konventionelle Aspekte sollen Fälle zunächst ausgeschlossen werden, bei denen Texte aufgrund von bestimmten Handlungsbedingungen für weiterführende Ziele verwendet werden. So kann man unter bestimmten Bedingungen mit einem Kurztext wie „Du hast verloren. Goethe ist 1832 gestorben“ jemandem mitteilen, dass er bzw. sie 1000 Euro bezahlen muss (weil er bzw. sie eine Wette verloren hat), das gehört aber nicht zum konventionellen Handlungspotenzial, sondern gehört zum Bereich der Indirektheit, der konversationellen Implikaturen, der weiterführenden Handlungszusammenhänge und der dafür notwendigen Verständigungsressourcen.
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3. Funktionale Textbausteine Funktionale Textbausteine stellen eine Schnittstelle dar zwischen der pragmatisch-funktionalen Organisation und der grammatisch-lexikalischen Realisierung von Texten. Funktionale Textbausteine sind Textteile unterschiedlicher Komplexität mit einer bestimmten kommunikativen Teilfunktion im Rahmen einer Texthandlung. Sie werden in vielen Fällen, aber nicht immer, auch mit mehr oder weniger stereotyp organisierten Realisierungsmitteln bestritten. Ihre Rolle für die historische Textlinguistik lässt sich in drei Abschnitten charakterisieren: 1. Funktionale Textbausteine und ihre Rolle für die Handlungsstruktur; 2. Funktionale Textbausteine und syntaktische Muster; 3. Funktionale Textbausteine, syntaktische Muster und Aspekte der historischen Entwicklung. 3.1. Funktionale Textbausteine und Handlungsstruktur Ich bespreche zunächst den Zusammenhang von Handlungsstruktur und funktionalen Textbausteinen und kommentiere zur Veranschaulichung ein Textbeispiel des Typs Spezifizierung einer Heilanzeige. Der folgende Textausschnitt ist Teil der Beschreibung des Heilpotenzials in einer Pflanzenmonographie zum Wermut aus der Dioscurides-Übersetzung von 1610: (1a) Wermut mit Honig vnnd Niter vermischet ist nütz angestrichen wider die Halßgeschwer (Anginas) vnd mit Wasser wider die Blattern oder Geschwer Epinyctidas (Kräuterbuch 1610, 164) Der Textbaustein Spezifizierung einer Heilanzeige erfüllt eine bestimmte Funktion: Er dient dazu, über eine einzelne Heilanwendung einer Pflanze zu informieren. In den Pflanzenmonographien von Kräuterbüchern sind in der Regel mehrere Textteile dieser Art in einem thematischen Abschnitt zum gesamten Heilpotenzial zusammengestellt. Der zitierte Textausschnitt enthält zwei Angaben mit jeweils einer Heilanzeige, die mit vnd koordiniert sind. Der Textbaustein Spezifizierung einer Heilanzeige ist intern komplex strukturiert, er enthält kleinere Textbausteine, die ihrerseits eine spezifische Funktion erfüllen. Die Teilfunktionen bzw. die kommunikativen Teilaufgaben im Rahmen dieses Textbausteins sind: 1. eine bestimmte Heilwirkung spezifizieren (ist nütz wider Y); 2. eine Zubereitungsweise beschreiben und dabei die nötigen Ingredienzien nennen (Wermut mit Honig vnnd Niter vermischet); 3. eine Anwendungsweise spezifizieren (angestrichen; mit Wasser).
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Wenn man die funktionalen Einheiten durch Klammerung kennzeichnet und mit den Ziffern für die drei genannten Teilaufgaben versieht, ergibt sich folgendes Bild: (1b) 2[ Wermut mit Honig vnnd Niter vermischet ] 1a[ ist nütz ] 3[ angestrichen ] 1b[wider die Halßgeschwer (Anginas)] vnd 2[ <Wermut> mit Wasser ] 1[ wider die Blattern oder Geschwer Epinyctidas ] Solche Teilfunktionen und die darauf bezogenen Textelemente sind in der medizinischen Textgeschichte bekannt unter Stichwörtern wie Indikation, Aufzählung der Ingredienzien, Herstellungsanweisung und Applikationsanweisung (vgl. Goltz 1976, 15ff.). In unserem Beispiel ist erkennbar, dass die funktionalen Bausteine zum einen weiter zerlegbar sind, zum anderen intern weiter ausbaubar sind und zum dritten auch ineinander eingeschachtelt werden können. Bei der Angabe der Heilwirkung besteht die Möglichkeit, kleinere Teile zu identifizieren, etwa die Angabe einer Krankheit, gegen die eine Pflanze wirkt, in anderen Fällen können auch positive Heilwirkungen bestimmt sein. Den Bestandteil eine Krankheit spezifizieren kann man ausbauen, indem man zusätzlich ein Äquivalent zur Krankheitsbezeichnung in einer anderen Sprache angibt (die Blattern oder Geschwer Epinyctidas). Die Möglichkeit der Einschachtelung wird im Beispiel verdeutlicht durch die Tatsache, dass sowohl die Herstellungsanweisung als auch die Angabe zur Anwendungsweise Bestandteile der Angabe zur Indikation sind. Nur ein auf bestimmte Weise zubereitetes und angewendetes Heilmittel hat das entsprechende Heilpotenzial. Ein weiteres Beispiel ist das Verfahren, die nötigen Ingredienzien im Rahmen der Spezifizierung der Arbeitsschritte zu nennen und nicht in einen eigenen Textblock auszulagern, ein textuelles Verfahren, das in medizinischen Rezepten ebenfalls häufig belegt ist. Das Textbeispiel zeigt weiterhin, dass Textbausteine diskontinuierlich stehen können. So wird die Spezifizierung der Heilwirkung unterbrochen durch die Angabe zur Anwendungsweise: 1a[ ist nütz ] 3[ angestrichen ] 1b[ wider die Halßgeschwer (Anginas) ]. Das Beispiel soll zunächst verdeutlichen: Aus kleineren funktional bestimmbaren Textbausteinen unterschiedlicher Ausdehnung lassen sich größere funktionale Einheiten aufbauen, die für die Handlungsstruktur und die damit zusammenhängende thematische Struktur von Texten von zentraler Bedeutung sind. Die Kombinations- und Aufbaumöglichkeiten funktionaler Textbausteine sind vielfältig und von unterschiedlichen Graden der Offenheit bzw. der Schematisierung geprägt. Pflanzenmonographien, Kochrezepte, Zeitungsberichte, Streitschriften um 1600 zum Beispiel haben jeweils typische Aufbauschemata mit eher engen Variationsspielräumen. Es kann ein
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aufschlussreicher Aspekt der Charakterisierung von Texttypen sein, den jeweiligen Schematisierungsgrad bzw. den Grad der Offenheit zu bestimmen. Die Handlungsstruktur von Texten umfasst den Aspekt der Art von sprachlichen Handlungen und die damit verbundenen thematischen Aspekte (vgl. Schröder 2003). So gibt es zahlreiche Textbausteine, die charakterisiert sind durch funktionale und thematische Gesichtspunkte. Ein wesentliches Aufbauprinzip von Film- oder Theaterkritiken ist beispielsweise eine Kombinatorik von wenigen zentralen Handlungsformen wie Informieren, Bewerten, Veranschaulichen einerseits und zahlreichen, vom jeweiligen Gegenstand ableitbaren thematischen Aspekten andererseits (vgl. Stegert 1993). Für Theaterkritiken sähe eine solche erweiterbare Kombinationsmatrix folgendermaßen aus, sie erzeugt Textbausteine des Typs Informieren über die Publikumsreaktion oder die Publikumsreaktion veranschaulichen usw.: (...) informieren über bewerten beschreiben veranschaulichen (...)
(...) den Autor des Stücks den Inhalt des Stücks das Regiekonzept die Zuordnung Rolle / DarstellerIn die schausp. Leistung eines Darstellers das Publikum, die Publikumsreaktionen (...)
Darstellung 1: Kombinationsmatrix für Theaterkritiken
Die einzelnen Äußerungseinheiten für solche illokutionär-thematischen Einheiten können auf vielfältige Weise kombiniert und auf ebenso vielfältige Weise syntaktisch realisiert werden. Im folgenden Beispiel wird eine Einheit Informieren über den Inhalt syntaktisch als Nominalphrase realisiert und mit einer Einheit Informieren über die Publikumsreaktion kombiniert.4 (2)
Die Geschichte des Veroneser Liebespaares, das verfeindeten Häusern angehört und in diesem Umfeld aus Hass und Intoleranz zugrunde geht, wurde vom Premierenpublikum mit viel Applaus aufgenommen.
_____________ 4
Die Markierungen besagen folgendes: = hier fängt ein Baustein mit dem Profil Informieren über den Inhalt an, = hier hört er auf, = hier fängt ein Baustein mit dem Profil Informieren über die Publikumsreaktion an usw. Quelle: Marburger Neue Zeitung, 16.2.2004.
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Die Vielfalt in den Gestaltungsmöglichkeiten solcher Texte, die den Textlinguisten so viel Kopfzerbrechen macht(e), ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Textproduzenten große Spielräume in mindestens drei Hinsichten haben: 1. bei der Auswahl solcher illokutionär-thematischer Bausteine; 2. bei ihrer Sequenzierung und Kombinatorik sowie 3. bei ihrer syntaktisch-lexikalischen Realisierung. Ein Beispiel für einen sehr viel stärker standardisierten Texttyp ist die Pflanzenmonographie in den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts: Das illokutionäre Profil der Textbausteine liegt vorwiegend beim Beschreiben, es gibt ein in der Abfolge stark standardisiertes Schema von thematischen Aspekten und ein sehr viel übersichtlicheres Spektrum syntaktisch-lexikalischer Realisierungsformen.5 3.2. Funktionale Textbausteine und syntaktische Muster Funktionale Textbausteine müssen mit bestimmten Äußerungsformen sprachlich realisiert werden, die eine grammatisch-syntaktische Struktur und lexikalische Eigenschaften haben. Auch auf dieser Ebene ist zu beobachten, dass sich für wiederkehrende funktionale Textbausteine ein Repertoire von Realisierungsmustern mit jeweils eigener grammatisch-lexikalischer Typik herausbilden kann. Wenn man auf die syntaktische Organisation von Texten in funktionaler Perspektive blickt, könnten einige darauf bezogene Leitfragen lauten: •
Welchen Beitrag leisten einzelne syntaktische Muster zur Realisierung typischer funktionaler Textbausteine?
•
Gibt es prototypische syntaktische Muster für einzelne kommunikative Aufgaben?
•
Wie ist der Zusammenhang von funktionalen Textbausteinen und grammatisch-lexikalischen Realisierungsmustern in historischen Texttypen ausgeprägt, wie entwickelt er sich in der Zeit?
Ich will diese Zusammenhänge nun zunächst an einigen Beispielen aus dem Bereich der Fach- und Gebrauchstexte veranschaulichen.
_____________ 5
Vgl. Habermann (2001, Kap. 9); Gloning (2007, Abschnitt 4.1.).
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3.2.1. Syntaktische Muster für die Formulierung von Arbeitsschritten Wie oben bereits erwähnt, ist der Textbaustein Spezifizierung einer Heilanzeige grundlegend für die Funktion von älteren Kräuterbüchern als medizinische Informationstexte. Dementsprechend ist dieser Textbaustein beim gewaltigen Umfang der Kräuterbücher sehr häufig belegt. Ein ebenso häufig belegter Bestandteil innerhalb dieses Textbausteins ist die Formulierung von Arbeitsschritten als Teil der Spezifizierung einer Zubereitungsweise. Der Textbaustein Formulierung von Arbeitsschritten kommt auch in anderen Texttypen mit handlungsanleitendem Charakter sehr häufig vor. Für die syntaktische Realisierung des Textbausteins steht eine Reihe von Mustern zur Verfügung, zum Beispiel Imperative (Nimm), Infinitivkonstruktionen (den Hecht schuppen) oder man-Konstruktionen (man nimmt). Daneben finden sich aber auch Konstruktionen, die in dieser Funktion bislang kaum beachtet wurden: Partizipien. Im folgenden Beispiel einer Heilanzeige, die nur aus einer Spezifizierung der Zubereitung und einer Angabe der Indikation (... hilfft ...) besteht, dient eine Nominalphrase mit nachgestelltem Partizipialattribut der Formulierung des Arbeitsschritts, wobei die nötigen Ingredienzien ebenfalls genannt werden. (3)
[ Lattich würczel, gesoten mit starkem wein oder mit ezzig ], daz hilfft dem, der czüpleet ist (15. Jh.; Greifswald 8° Ms 875, 68r; ed. Baufeld 2002)
Auch im folgenden Beispiel wird im Zubereitungsbaustein der Arbeitsschritt mit einem nachgestellten Partizipialattribut realisiert, allerdings sind die beiden Bausteine eingebettet in eine komplexere Spezifizierung einer Heilanzeige, die aus vier funktionalen Textbausteinen besteht: der Angabe einer Quelle (1), der Spezifizierung der Zubereitung (2), der Spezifizierung der Anwendung (3) und der Angabe der Indikation (4): (4)
Der wirdig meister Auicenna in synem andern buoch in dem capitel Altea spricht ] ... daz 2[ die wuortzel gesotten mit dem krude ] vnde 3[ uff die harten geswer geleyt ] 4[ weichet sye ]. (Gart der gesuntheit 1485)
1[
Das Muster X gemacht begegnet als Formulierungsmuster für Arbeitsschritte auch in älteren Kochrezepten. Die folgende Liste zeigt in schematisierter Form die wichtigsten Formulierungstypen für Arbeitsschritte in älteren Kochrezepten (vgl. detaillierter Ehlert 1990):
Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik •
schneide X
•
X schneiden
•
man schneidet X
•
man soll / muss X schneiden
•
man schneide X
•
X geschnitten
•
X wird geschnitten
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Das folgende Rezept aus einem handschriftlichen Kochbuch vom Ende des 18. Jahrhunderts zeigt, dass die unterschiedlichen (im Textbeispiel kursivierten) Formulierungstypen für Arbeitsschritte auch in unmittelbarer textueller Nachbarschaft vorkommen konnten: (5)
Eingemachte Lung Bradl und anderes. Saubere diesen, und ein wenig gebükelt und etwas gesalzen, in reindl ein stükl Butter heiß werden lassen und Dämpfen ['dämpfe ihn'] schön ob, hernach giebt man ein wenig Mairon Roßmarin, Lorberblätter, Zwiefel Knobloch, nach diesen ein wenig Essig und Suppen, wanß darmit genug gekocht hat, gieb auch Gewurz, und sauern Schmeten, wann es nicht dick genug wer, so thut man es ein wenig einbrennen, und giebt ein wenig Citroniplatel, auch geschnitene Citronischalen oder Caperl zuletzt darein, und lasset es aufkochen. [...] die Soß wird durchgetrieben, [...] (hs. Kochbuch Theresia Lindnerin, c. 1780)
Diese Aspekte habe ich in den beiden Beiträgen zu Kräuter- und Kochbüchern schon behandelt, ich möchte nun eine weitere exemplarische Erkundung machen im Fachgebiet der Geburtshilfe. Als Text wähle ich Rößlins Rosegarten (1513) und Georg Wilhelm Steins Theoretische Anleitung zur Geburtshülfe (1797a), dessen Gegenstand die normale Geburt ist, während seine Practische Anleitung zur Geburtshülfe aus demselben Jahr die Lehre von der „Geburtshülfe, in widernatürlichen und schweren Fällen“ (1797b, XIX) umfasst. Ich beginne mit Steins Büchern. Der erste Befund ist, dass in beiden Werken Formulierungen von Arbeitsschritten bzw. Handlungsweisen eine untergeordnete Rolle spielen. Im Vordergrund stehen vielmehr medizinische Grundlagen wie zum Beispiel anatomische Verhältnisse. In den Kapiteln, in denen der Textbaustein zu erwarten wäre und sich auch in mäßiger Frequenz findet, werden aber nicht die schematisch genutzten älteren syntaktischen Muster gebraucht, sondern freier formulierte Texte. Hier ein Beispiel aus dem Abschnitt „Von der Untersuchung oder dem Angriffe und dessen Nutzen“ (1797a, 65):
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(6)
§. 201. Die bisher gewöhnliche Untersuchung durch den innerlichen Angriff mittelst der Finger (Exploratio interna, seu uterina), als das nöthigste und nützlichste Geschäft in der Geburtshülfe, verrichtet man am besten mit dem Zeige- und Mittelfinger, welche man von unten her gegen die Mitte der großen Lefzen ansetzt, und damit durch den Schließmuskel der Mutterscheide dergestalt in der Mutterscheide selbst krumm heraufgeht, daß der Daumen über die Schoosbeine zu liegen komme, der Ring- und Mittelfinger aber gestreckt über den Damm weg laufe, und man solchergestalt bis zu dem Muttermunde selbst gelange.
Die eigentliche Beschreibung der Verfahrensweise ist syntaktisch realisiert in einer komplexen Präpositionalphrase (mit dem Zeige- und Mittelfinger, welche ...). Innerhalb der Beschreibung sind die Handlungsweisen mit manKonstruktionen realisiert (man setzt an, man geht krumm herauf). Im Unterschied zu den Formulierungen von Arbeitsschritten in den Kräuterbüchern enthält dieser Textbaustein auch Angaben zu den Resultaten bei erfolgreicher Ausführung (daß der Daumen über die Schoosbeine zu liegen komme), ein textuelles Verfahren, das zum Beispiel auch in älteren Kochbüchern und in modernen Gebrauchsanleitungen vorkommt, dort etwa in Form der Erläuterung von Ergebnisbildschirmen in Computerhandbüchern. Der zweite Befund lautet also, dass von einer weitreichenden syntaktischen Standardisierung bzw. Schematisierung dieses Textbausteins in Steins Geburtshilfe-Text nicht die Rede sein kann.6 Die beiden Befunde zur Frequenz und zum Grad der syntaktischen Schematisierung des Textbausteins tragen mit bei zur sprachlichen Charakterisierung dieser Art von Lehrbüchern, wie sie zum Teil in mehreren Auflagen begleitend zu Vorlesungen über längere Zeiträume verwendet wurden. Sehr viel stärker schematisiert sind demgegenüber die Hand_____________ 6
Ein zweites Großkapitel, das ich daraufhin geprüft habe, ist „Das neunte Capitel. Von der Hülfe, die man Kreissenden in der natürlichen Geburt schuldig ist“ (1797a, 203ff.). Zu den hier belegten Ausdrucksweisen gehören auch solche mit Nominalisierungen als Kern der Konstruktion: „Es besteht aber dieser durch die zweyte und dritte Zeit (§. praec.) anwendbare Handgriff in [ einer peripherischen, allmäligen und sanften Erhebung des Muttermundes über diejenigen Theile, welche in ihm stehen ], damit diese in ihm so herunter sinken, wie jener sich über sie hinauf begiebt“ (208; Herv. TG). Auf Seite 209 schreibt der Verfasser, es sei „dieses ganze Manuel freylich bey der Geburt besser zu zeigen, als hier zu lehren“ (Manuel 'Handgriff; Verfahrensweise, die mit der Hand ausgeführt wird'). Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Formulierungen von Arbeitsschritten in diesem Buch insgesamt eine untergeordnete Rolle spielen. Eine weitere Beobachtung ist, dass durch die sog. aphoristische Darstellungsweise zum Teil Aspekte, die zu ein und demselben Arbeitsschritt gehören, auf unterschiedliche Abschnitte verteilt werden, z.B. §. 676, wo ein Arbeitsschritt formuliert wird, und §. 677, wo die zeitlichen Aspekte dieses Arbeitsschrittes separat behandelt werden (1797a, 211); dagegen §. 680 auf S. 212, wo beide Aspekte sich im selben Paragraphen befinden.
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lungsanleitungen und die darin enthaltenen Formulierungen von Arbeitsschritten in Eucharius Rößlins Der Swangeren Frauwen vnd hebammen Rosegarten (1513), die im Abschnitt über die Vorgehensweisen bei unterschiedlichen Kindslagen typischerweise diesem Muster folgen: Wo / So / Ob (aber) So sol man / sol die hebamm : (7)
Jtem ob das kind sich mitt dem hindern erzeugte/ So soll die hebamm mit yngelaßner hand das kind vbersich heben/ vnd mit den fue ssen vßfue ren (E2a)
Diese ersten Beobachtungen zur syntaktischen Gestaltung des Textbausteins Formulierung von Arbeitsschritten bezogen sich auf dreierlei Dimensionen: 1. die Frage nach den mehr oder weniger typischen syntaktischen Realisierungsmustern für eine kommunikative Aufgabe; 2. die Frage nach den Zusammenhängen von Texttyp, Frequenz und Realisierungsformen des Textbausteins; 3. die Frage nach historischen Verhältnissen bzw. Entwicklungen. 3.2.2. Funktionale Textbausteine und syntaktische Muster in Theaterkritiken Aktuelle Theaterkritiken können als Beispiel dafür dienen, wie standardisierte Realisierungsformen für Textbausteine neben freieren Konkurrenten gebraucht werden. Ein wiederkehrender Textbaustein in Theater- und Filmkritiken ist die Zuordnung von Darsteller/-in und Rolle, die vielfach im Rahmen von Nominalphrasen realisiert wird. Das Bild, das sich hier ergibt, ist weitgehende Standardisierung mit einem übersichtlichen Spektrum von Haupttypen, für das folgende Beispiele stehen mögen:7 (8)
Romeo (Robert Stadlober); Romeo (glänzend Robert Stadlober)
(9)
Robert Stadlober (Romeo)
(10) Guido Lambrecht (in der Rolle) als verdatterter Tybalt (11) Bruder Lorenzo, bei Jörn Ratjen ein flotter Mönch mit Wollmütze (12) Julia, Ensembleneuzugang Jana Schulz (13) der Diener Theodor Daneggers Daneben findet man aber immer wieder auch weniger schematisierte, kreativere Lösungen: _____________ 7
Nachweise in Gloning (2008) zu den Spielarten der Theaterkritik.
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(14) Denn kein Geringerer als der süße ‚Sonnenallee-Wuschel‘, Kinoliebling Robert Stadlober mühte sich dort oben ... als Romeo ab. (15) Endlich – den jungen Maler Dubedat gab Moissi: der vor drei Jahrzehnten erschaffen worden ist, um diese Rolle zu spielen. Um dieser Mensch in diesem Werk zu sein. (Alfred Kerr, 1908) Die Realisierung mit Nominalphrasen ist tendenziell stärker schematisiert, die satzförmigen Realisierungen erlauben tendenziell mehr Gestaltungsspielraum und größere Originalität, wie insbesondere das Zitat von Alfred Kerr zeigt, das eine ganz ungewöhnliche Formulierung darstellt und deshalb die herausragende Bewertung der schauspielerischen Leitung unterstützt. Es scheint sich hier um ein Verfahren zu handeln, das auch aus der Theorie der sprachlichen Höflichkeit bekannt ist: Erhöhter sprachlicher Aufwand signalisiert Wertschätzung. Ein weiterer Grund, nicht Standardformulierungen wie (8) bis (13) zu verwenden, ist die sehr viel bessere Möglichkeit, weitere sprachliche Aufgaben im Vorbeigehen zu realisieren. Zwar kann man auch im Rahmen von Nominalphrasen andere Funktionen anlagern, zum Beispiel die Bewertung in (8) oder die Rollencharakterisierung in (10) und (11), aber satzförmige Realisierungen wie (14) erlauben es, Aspekte der Charakterisierung auch im Prädikat unterzubringen (mühte sich ab für den Aspekt der schauspielerischen Leistung). In historischer Perspektive stellt sich die Frage, wie sich das Repertoire der sprachlichen Realisierungsformen für die Zuordnung von Rolle / DarstellerIn herausgebildet und entwickelt hat. Eine erste Sichtung von Theaterkritiken des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts8 ergibt zunächst, dass in diesem Zeitraum ein breites Spektrum von Realisierungsformen zu belegen ist, zu dem auch viele der oben genannten Muster gehören. So finden sich bei Fontane, der ein fleißiger Theaterkritiker war, unter anderem satzförmige Muster („Herr Kahle gab den Brutus“, 1969, 395), Nominalphrasen mit Genitivattribut („Fräulein Stollbergs Tullia“, ebd., 396), die erwähnten Klammerausdrücke wie „Fräulein Meyer (Lucretia)“ (ebd.), andererseits aber auch die Zuordnung über Verfahren des Rückbezugs: „Die Rolle des Tarquinius Superbus ist nicht bedeutend; Herr Klein machte, was daraus zu machen war. Als sein glänzendster Moment erschien mir der, wo er ...“ (ebd., 395f.). Die Beispiele mit der kursiven Hervorhebung zeigen auch, dass hier eine Vertextungsstrategie wirkt, die an den einzelnen Schauspielern und ihrer Leistung orientiert ist. Es gibt aber auch Formulierungsstrategien von den Rollen her: „Die Besetzung der Titelrolle mit Herrn Klöpfer war insofern nicht glücklich, als der Künstler in seiner Naturanlage die romanische Wesensart des Hans nicht _____________ 8
Vgl. Fontane (1969); Rühle (1988).
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herausbringen konnte; dafür spielte er ...“ (1916; Rühle 1988, 49). In diesem Beispiel ist die Zuordnung Rolle / DarstellerIn mit einer Nominalphrase realisiert (Die Besetzung der Titelrolle mit Herrn Klöpfer), die funktional mit einer Beurteilung der Besetzungsentscheidung kombiniert ist. Insgesamt erscheint das Repertoire um 1900 reichhaltig, nur zum Teil schematisiert, die Bausteine mit den Zuordnungen Rolle / DarstellerIn sind häufig mit anderen Bausteinen kombiniert und in einem eigenen thematischen Abschnitt konzentriert. Beim Gebrauch von syntaktischen Mustern für die Zuordnung von Rolle / DarstellerIn ist vielfach ein Prinzip der Variation erkennbar. Auch die Abfolge der Elemente für SchauspielerInnen / Rollen ist variabel. Im folgenden Beispiel sind zwei Zuordnungen jeweils mit Nominalgruppen realisiert, deren Kern sich im ersten Fall auf den Darsteller, im zweiten Fall auf die Rolle bezieht. Ich kennzeichne den Zuordnungsbestandteil SchauspielerIn / Rolle mit <S-R>, die Teile zum Schauspieler mit <S>, die Teile zur Rolle mit : (16) <S-R> <S>Der Schauspieler Gustav Rodegg, welcher den älteren Bruder spielte, zeigte sich sehr gewachsen. [...] Ausgezeichnet. <S-R> Sein jüngerer Bruder, <S>Herr Bildt, war nicht aus dem Elsaß. Zu sehr aus Norddeutschland. Ansonsten jedoch straff und wacker. (Rühle 1988, 51f.) Eine kommunikative Einflussgröße, die den Zusammenhang von funktionalen Textbausteinen und ihrer Realisierung mit beeinflusst, sind die Kommunikationsprinzipien. Für die syntaktische Gestaltung gilt in unterschiedlichen Texttypen ein Prinzip der syntaktischen Komprimierung, zum Beispiel in juristischen Texten oder der Zeitungsberichterstattung. Auch in Theaterkritiken finden sich Formen der syntaktischen Verdichtung von funktional-thematischen Bausteinen. Der folgende Abschnitt aus einer Theaterkritik von 1973 ist ein Beispiel dafür, wie ein Trägersatz Angaben zu Genre (Ballettkomödie), Titel (‚Der Bürger als Edelmann‘), Regisseur (von Barrault) und Regiekonzept (entfesseltes Spektakel) beinhaltet, eingelagert − als Apposition zur einleitenden Nominalphrase − ist eine komprimierte Inhaltsangabe in Form einer weiteren, komplexen Nominalphrase (die Geschichte ... liebt): (17) [...] Die Ballettkomödie ‚Der Bürger als Edelmann‘, die Geschichte des reichen, aber höchst bürgerlichen Herrn Jourdain, der verzweifelt nach aristokratischen Allüren strebt, Fechten, Singen, Tanzen und Philosophieren studiert, von einem bankrotten Hochgeborenen schamlos ausgenützt und schließlich durch einen gewaltigen Mummenschanz alla turca dazu gebracht wird, seine Tochter dem Jüngling zu verheiraten, den
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sie liebt, war von Barrault zum entfesselten Spektakel aufbereitet worden. [...] ( Pizzini 1973) In ähnlicher Weise bietet die folgende kurze Passage komprimierte und integrierte Angaben zur Zuordnung von Darsteller und Rolle, zur Publikumsreaktion (mit Jubel begrüßt), zwei positive Bewertungen (ganz und gar köstlich; allergrößtes Pepi-Format), eine wiedergegebene Bewertung (die Sache mit dem Jubel), eine negative Bewertung (Outrage), Angaben zur Charakterisierung der Rolle (von liebenswerter, kindlicher Großmannssucht) und zum sonstigen Profil des Darstellers (die sonst seine Sache nicht sind), die auf ganz unterschiedliche syntaktische Elemente verteilt sind: (18a) Selbst Josef Meinrad, mit Jubel begrüßt, ein ganz und gar köstlicher Jourdain von liebenswerter, kindlicher Großmannssucht, der im ersten Teil zu allergrößtem Pepi-Format vorstieß, mußte sich in diesem Türkenbild zu Outragen zwingen lassen, die sonst durchaus seine Sache nicht sind. (ebd.) Um den Komprimierungsaspekt herauszustellen, kann man die Passage versuchsweise umformulieren und jeder der hier integriert realisierten kommunikativen Aufgaben einen eigenen Satz und einen damit vollzogenen eigenen, selbstständigen Sprechakt widmen: (18b)Joseph Meinrad spielte die Rolle des Jourdain. Er wurde mit Jubel begrüßt. Er spielte den Jourdain köstlich. Wenn Sie mich nach dem Ausmaß der Köstlichkeit fragen, kann ich sagen: ganz und gar. Er spielte einen Jourdain von liebenswerter, kindlicher Großmannssucht. Im ersten Teil stieß er zu allergrößtem PepiFormat vor. Dazu gab es einen Gegensatz. Im Türkenbild mußte er sich zu Outragen zwingen lassen. Joseph Meinrad spielt normalerweise nicht Rollen, die outragiert (übertreiben, überzogen) angelegt sind. So schreibt natürlich kein Mensch, und wir alle sehen die Vorteile der tatsächlich praktizierten Schreibweise. Gleichwohl muss man sagen, dass die Geschichte der syntaktischen Komprimierung als einer janusköpfigen Schreibstrategie − das eine Augenpaar richtet sich auf die Syntax, das andere auf die Texttypen und die damit verbundenen kommunikativen Aufgaben − erst in Ansätzen geschrieben ist und noch nicht wirklich auf der Tagesordnung der historischen Syntax, der historischen Textlinguistik und der darauf bezogenen Integrationsdisziplinen steht. Seit wann gibt es syntaktische Formen der Komprimierung? Für welche kommunikativen Aufgaben und Zwecke? In welchen Texttypen? Mit welchen Realisierungsstrategien? Wie entwickeln sie sich historisch? Und: Wie spielen
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funktionale Textbausteine, die darauf bezogenen syntaktischen Muster und die dafür verwendeten lexikalischen Realisierungsmittel zusammen? 3.3. Funktionale Textbausteine, syntaktische Muster und Aspekte der historischen Entwicklung Die Frage nach funktionalen Textbausteinen, nach syntaktischen Mustern, nach ihren textuellen Zusammenhängen und nach Aspekten der historischen Entwicklung hat einerseits stärker empirisch orientierte und andererseits stärker prinzipienorientierte Ausrichtungen. Einige dieser Fragestellungen will ich hier wenigstens aufzählungsweise nennen: •
Wie wurden einzelne funktionale Textbausteine in bestimmten Sprachstadien und in bestimmten Texttypen realisiert?9
•
Wie und unter welchen Bedingungen haben sich einzelne funktionale Textbausteine im Lauf der Zeit entwickelt?
•
Wie haben sich die einzelnen syntaktischen Realisierungsweisen und das gesamte Spektrum der Realisierungen für einen funktionalen Textbaustein entwickelt?
•
Inwiefern kann man die Realisierungscharakteristik für funktionale Textbausteine nutzen, um historischer Texttypen und ihrer Entwicklung zu charakterisieren?
•
Inwiefern tragen die Befunde zu einzelnen Texttypen und Textbausteinen auch dazu bei, unser Wissen über das Funktionspotenzial einzelner grammatischer Konstruktionen zu bereichern (zum Beispiel Partizipien zur Formulierung von Arbeitsschritten; selbstständig verwendete Nominalgruppen als Ereignisangaben in Tagebüchern)?10
•
Welche Faktoren und evolutionären Muster lassen sich für die Entwicklung funktionaler Textbausteine, ihrer syntaktischen Muster und ihres Zusammenhangs beschreiben? Wie lassen sich Entwicklungen erklären?
_____________ 9 10
Vgl. z.B. zu Formen der Quellenkennzeichnung: Fritz (1991), (1993); Schröder (1995); Haß-Zumkehr (1998). Zu Querverweisen: Gloning (2003, Kap. 4.). Zur funktionalen Syntax von Tagebüchern vgl. Admoni (1988).
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Wie lässt sich der gesamte Fragenkomplex des Zusammenhangs von textueller und syntaktisch-lexikalischer Organisation in eine evolutionäre Theorie der Sprachentwicklung11 integrieren?
Die Bearbeitung dieser teils stärker empirisch, teils stärker theoretisch ausgerichteten Fragestellungen gehört mehrheitlich noch zu den Zukunftsaufgaben im Schnittbereich von historischer Textlinguistik und funktionaler historischer Syntax.
4. Zusammenfassung und Ausblick Das Konzept der funktionalen Textbausteine ist ein nützliches Werkzeug bei der Beschreibung der Handlungsstruktur (einschließlich der Themenstruktur) von historischen Texten und bei der Beschreibung des Zusammenspiels von Handlungsstruktur und syntaktischer Organisation von Textbausteinen, auch in ihrer historischen Entwicklung. Im vorliegenden Beitrag habe ich versucht zu zeigen und anhand von Beispielen zu verdeutlichen, dass die Untersuchung der historischen Ausprägung und Entwicklung funktionaler Textbausteine, die Analyse der dafür verwendeten syntaktischen Muster und die Bestimmung ihres Beitrags zur Charakteristik historischer Texttypen und ihrer Entwicklung lohnende Unternehmungen an der Schnittstelle von historischer Textlinguistik und historischer Syntax sind, die auch Ausstrahlungen zur historischen Lexikologie aufweisen. Die textuell-syntaktischen Fragen im Schnittbereich von Grammatik und Textpragmatik sind darüber hinaus auch ein lohnendes Feld für eine evolutionäre Texttheorie, für die Frage nach der Rolle von „Konstruktionen“ und für die Frage nach der Mechanik und den Bedingungsfaktoren des Sprachwandels.
Quellen Fontane, Theodor (1969), Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. 2: Theaterkritiken, Walter Keitel / Siegmar Gerndt (Hrsg.), München. Gart der gesuntheit (1966), Mainz: Peter Schöffer 1485, Nachdruck München-Allach.
_____________ 11
Vgl. hierzu u.a. Keller (1990), (1995); Heringer (1998).
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Kräuterbuch Deß vralten vnnd in aller Welt brühmtesten Griechischen Scribenten Pedacii Dioscoridis Anazarbaei, Von allerley wolriechenden Kräutern, Gewürtzen/ [...] Erstlich durch Ioannem Danzium von Ast [...] verteutscht/ Nun mehr aber von Petro Vffenbach [...] Auffs newe vbersehen [...] (1964), Frankfurt a. M. 1610, Nachdruck Grünwald. Lindner, Theresia (um 1780), Koch Buch zum Gebrauch der Wohlgebohrenen Frau Frau Theresia Lindnerin, Handschrift (süddeutsch). Pizzini, Duglore (1973), „Burgtheater. Pepi ist der Größte. ‚Der Bürger als Edelmann‘ von Molière“, in: Wochenpresse, Nr. 8, 21.2.1973, Kultur, 11. Rößlin, Eucharius (1513), Der Swangern Frauwen vnd hebammen Rosegarten, Straßburg: Martin Flach d.J. Rühle, Günther (1988), Theater für die Republik im Spiegel der Kritik, Erster Band: 19171925, Zweiter Band: 1926-1933, überarb. Neuaufl., Frankfurt a. M. Stein, Georg Wilhelm (1797a), Theoretische Anleitung zur Geburtshülfe. Zum Gebrauche der Vorlesungen. Mit zwölf Kupfertafeln, 5. verbesserte u. vermehrte Aufl., Marburg. Stein, Georg Wilhelm (1797b), Practische Anleitung zur Geburtshülfe. Zum Gebrauche der Vorlesungen. Mit zwölf Kupfertafeln, 5. verbesserte u. vermehrte Aufl., Marburg.
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Wie eine historische Grammatik der temporalen Relationen aussehen könnte ... Maxi Krause (CRISCO) ∗
1. Vorbemerkung Der Vergleich der alt-, mittel- und auch noch frühneuhochdeutschen Sprachdenkmäler mit dem heutigen Deutsch ist prinzipiell problematisch, da er dialektale Zeugnisse mit einer ziemlich stark normierten Standardform konfrontiert. Methodisch sauberer wäre es, die Entwicklung von den alten Sprachstadien zu den entsprechenden Dialektvarianten der heutigen Zeit aufzuzeichnen und diese dann der Norm der Standardsprache gegenüberzustellen. Dies ist an dieser Stelle leider nicht möglich. Da das Thema sehr komplex ist, lassen sich Zusammenhänge hier nicht in Einzelheiten kommentieren; die zeitweise tabellarische Darstellung dürfte aber genügen, das zentrale Anliegen anhand dreier Fallstudien deutlich zu machen.
2. Einleitung Was sind eigentlich temporale Relationen? Oder besser: Was wird im Folgenden als temporale Relation angesehen? Ich verstehe darunter das Einordnen von Prozessen in einen zeitlichen Rahmen, ihre Datierung, sei sie nun vage oder genau, absolut oder relativ (2008, damals, vorhin, am Sonntag, in drei Stunden …). Dies kann verbunden sein mit dem Ausdruck von Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit – es handelt sich dabei prinzipiell um ein Verhältnis des Aufeinanderfolgens, das eben unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden kann (erst wird zugehört, dann wird diskutiert / vor dem Essen bitte Hände waschen.) – sowie von Gleichzeitigkeit (er studiert und nebenher fährt er Taxi / beim Frühstück Zeitung lesen). Zum dritten verstehe ich darunter die _____________ ∗ Universität Caen Basse-Normandie.
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Angabe der Dauer (Er hat den ganzen Winter über / zwei Jahre lang nichts geschrieben). Ein Grenzfall einer temporalen Relation wäre die Präzisierung dessen, was zum wievielten Mal stattfindet oder stattgefunden hat, d.h. Reihenfolge und Frequenz (sie war zum ersten Mal in Graz, er schon mehrmals). Temporale Relationen können auf vielfältige Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden, sei es durch ein einziges, sei es durch mehrere, kooperierende Mittel: Durch Verbformen (er hatte gegessen und legte sich ins Bett.); durch temporale Nebensätze, die entweder durch ausschließlich temporale Subjunktionen eingeleitet werden (solange es regnet, bleiben wir hier) oder durch Subjunktionen, die nur unter bestimmten Bedingungen temporalen Wert haben (wenn er da war, war sie glücklich / während sie arbeitet, geht er einkaufen.); durch Präpositionen, Postpositionen und Circumpositionen in Verbindung mit bestimmten Kasus, wobei es auch hier ausschließlich temporale Adpositionen gibt (seit 2005) neben solchen, die nur unter bestimmten Bedingungen temporal sind, was sehr viel häufiger ist (nach / vor dem Mittagessen); durch eindeutig und ausschließlich temporale Adverbien (gestern, heute, damals, seither) sowie Adverbien und Adverbkombinationen, die nur in bestimmten Kontexten temporal sind (danach, hinterher, darüber hinaus); durch Nominalgruppen im Genitiv und Akkusativ (letztes Jahr, jeden Dienstag / eines schönen Tages); und schließlich durch verbale und nominale Lexeme (folgen, Folge / Anfang, Ende). Lässt man Tempora, Nebensätze sowie flektierende Lexeme einmal beiseite, bleiben invariable Elemente übrig (Adpositionen, Adverbien), die hier vorerst im Vordergrund stehen sollen, auf die sich eine historische Grammatik der Relationen aber nicht beschränken sollte. Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten, sich der Geschichte dieser Relationsträger zu nähern: (1) Einmal die isoliert morpho-phonetische Beschreibung, d.h. die Etymologie einzelner Signifikanten. Sie lässt Syntax und Semantik – notgedrungen – weitgehend beiseite. So steht beispielsweise unbestreitbar fest, dass nhd. seit auf mhd. sît und ahd. sîd zurückgeht. (2) Zum zweiten eine die Syntax und Semantik berücksichtigende Beschreibung ohne Bezug auf irgendeine Systematik. Eine solche Herangehensweise vernachlässigt Distributionsregeln. Falls entsprechende Kapitel in Grammatiken überhaupt existieren, ist Verzicht auf Systematik fast der Regelfall.1 (3) Und schließlich eine Beschreibung, in der die unterschiedlichen sprachlichen Mittel eingeordnet werden in eine Systematik der Relationen; dies ist eine Vorgehensweise, die es gestattet, Fälle von Kooperation und Komplementarität aufzudecken und Gebrauchsbedingungen (Distributionsre_____________ 1
Ich beschränke mich hier auf die Standardgrammatiken der von W. Braune begründeten Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte; eine Ausnahme bildet die Althochdeutsche Grammatik II. Syntax von R. Schrodt.
Historische Grammatik der temporalen Relationen
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geln) auf die Spur zu kommen. Bei einem solchen Ansatz wird schnell deutlich, dass die oben genannten Kriterien (Vor- / Nach- / Gleichzeitigkeit; Dauer, Reihenfolge und Frequenz) der Ergänzung und Verfeinerung bedürfen. Die drei Möglichkeiten seien anhand der folgenden Beispiele kurz illustriert. Das Beispiel sīt – sîd – seit: Die Etymologie ist unbestritten. Allerdings erfährt man2 damit nichts über die Art der Verwendung von seit / sît und sîd. Weder etwas darüber, dass mittelhochdeutsches sît auch als Adverb auftreten konnte, z.B. im Nibelungenlied (NL) (1)
sît wart sie mit êren eins vil küenen recken wîp (NL I,18) [Später wurde sie in allen Ehren eines sehr kühnen Recken Weib]
(2)
mit dem jungen künege swert genâmen sie sît. (NL II,28) [mit dem jungen König erhielten sie später / danach das Schwert.]
noch etwas darüber, dass althochdeutsches und mittelhochdeutsches sîd / sît nur selten durch neuhochdeutsches seit wiedergegeben werden kann. (3)
Pilatus giang zen liutin sid tho thesen datin | wolt er in gistillen thes armalichen willen. (Otfrid IV 23,11) [Danach ging Pilatus wieder zu den Leuten...]
(4)
Sid tho thesen thingon fuar Krist zen heimingon, (Otfrid II 14,1) [Danach begab sich Christus wieder heimwärts...]
Das Beispiel nach: Nach geht rein morphologisch auf mhd. nâch und ahd. nâh zurück, aber temporales nhd. nach hat als semantischen Vorgänger zwar mhd. nâch, ahd. jedoch after und sīt (vgl. zu letzterem supra die Beispiele (3) und (4)): (5)
After worton managen joh leron filu hebigen | [...] so giang er in den oliberg (Otfrid III 17,1) [Nach vielen Worten / Reden und vielen Belehrungen […] ging er zum Ölberg]
(6)
er hete sich nâch dem slage | hin vür geneiget unde ergeben (Iwein 1108) [Er hatte sich nach dem Schlag vorgeneigt / verbeugt und ergeben]
Aus dem bisher Angedeuteten ergibt sich die zweite Möglichkeit, sich der Geschichte der temporalen Relationsträger zu nähern, nämlich über ihre Semantik und ihr syntaktisches Verhalten. Relativ einfach ist dies, wenn ein Signifikant ersetzt wird durch einen anderen (so zum Beispiel ahd. after durch mhd. und nhd. nach). Weniger einfach ist es in Fällen wie sīt – sîd – _____________ 2
Zum Beispiel in Kluge (2002, 839).
198
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seit, wo der Signifikant erhalten bleibt, sein semantischer Gehalt und unter Umständen auch seine kategoriale Zugehörigkeit sich jedoch ändern. Und hier klafft eine riesenhafte Lücke. Schlägt man in sprachwissenschaftlichen Lexika nach unter dem Stichwort Bedeutungswandel, findet man zwar Beispiele zu Substantiven und Verben, seltener zu Adjektiven (vgl. bei Glück 2005; Bussmann 2002), aber nicht eines zu invariablen Lexemen wie in, an oder eben seit und nach. Und in der Tat gibt es unzählige Untersuchungen zum Bedeutungswandel einzelner sogenannter Autosemantika, allerdings bisher relativ sehr wenig zum Bedeutungswandel sogenannter Synsemantika (hierzu vor allem Publikationen in den Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur). Ich verwende die beiden Begriffe Auto- und Synsemantikon hier der Einfachheit halber, im Grunde neige ich eher dazu, diese Unterteilung als ungerechtfertigt zu betrachten. Es bedarf also eines Instrumentariums und einer Systematik, die es gestatten, dem Bedeutungswandel so unauffälliger Lexeme wie es Partikeln zu sein scheinen, auf die Spur zu kommen. Grundgedanke ist dabei, dass ein invariabler Signifikant X im Prinzip ein einziges Signifikat hat, d.h. eine Menge von Merkmalen, die entweder alle gleichzeitig oder aber auch nur teilweise aktualisiert werden und zwar je nach Funktionsbereich (Raum, Zeit, Abstraktion), nach Zugehörigkeit zu einem System oder Subsystem von Relationen sowie nach Erscheinungsweise (als Adposition, Adverb oder Teil von Adverbien, trennbare oder untrennbare Verbalpartikel). Der zweite Grundgedanke ist, dass Relationen sich systematisieren lassen, zum einen nach den oben genannten Funktionsbereichen, zum andern nach bereichsspezifischen Kriterien, wie zum Beispiel ± Achsenbezug (Raum), lineare oder punktuelle Bezugsgröße (Zeit), noch zu entwickelnde Kriterien (Abstraktion). Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts gab es eine solche Systematik nicht. 1972 erschien die Habilitationsschrift eines französischen Germanisten, Philippe Marcq, mit dem Titel Prépositions spatiales en allemand ancien, in welcher er anhand der Untersuchung des Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen bis Berthold von Regensburg eine Systematik der spatialen Relationen entwickelte, die er in späteren Publikationen auch aufs Neuhochdeutsche und Französische ausdehnte und um den Bereich der temporalen Relationen erweiterte.3 1978 erscheint die erste Arbeit Marcqs zu den temporalen Relationen im Tatian, 1988 der Band Spatiale und temporale Relationen im heutigen Deutsch und Französisch. 1992 folgt aus meiner Feder eine Arbeit zu den Zeitangaben bei Otfrid, 1994 zu den _____________ 3
Für die spatialen Relationen liegt eine durchgehende Behandlung bis zum Neuhochdeutschen vor durch die Arbeit eines Schülers von Marcq; vgl. Desportes (1984). Punktuelle Ergänzungen zum Neuhochdeutschen finden sich in meinen eigenen Arbeiten.
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Zeitangaben im Gotischen, 1997 Konkurrenz und Komplementarität in einem Teilbereich der temporalen Relationen sowie 2000 der Aufsatz Binnenstruktur temporaler Nominalgruppen im Akkusativ und Genitiv. Alle genannten Arbeiten bauen auf Marcq auf, desgleichen die Magisterarbeit von Sébastien Guillardeau Les prépositions et cas dans la localisation temporelle chez Gottfried von Straßburg et Hartmann von Aue (Caen, 2000). Es fehlt also bislang eine durchgehende Untersuchung der temporalen Relationen vom Althochdeutschen bis zum Neuhochdeutschen. Außerdem blieben in den genannten Arbeiten die Adverbien weitgehend ausgeschlossen. Hier besteht also Forschungsbedarf.
3. Die Systematik von Philippe Marcq Die Systematik der temporalen Relationen ergab sich für Marcq aus der Systematik der spatialen Relationen. Temporale Relationen sind prinzipiell abstrakter Natur; da sie sich jedoch leicht abgrenzen lassen von anderen abstrakten Relationen wie beispielsweise dem Ausdruck der Finalität oder Kausalität, ist es berechtigt, sie als einen besonderen Untersuchungsgegenstand zu behandeln. Zudem basieren die allermeisten der von Adpositionen getragenen temporalen Relationen auf spatialen Bildern.4 Hier muss nun kurz die Marcq'sche Systematik erläutert werden, etwas gerafft und mit Beispielen aus dem heutigen Deutsch: Da Zeit, im Vergleich zum Raum, eindimensional ist, kann sie mittels einer (per conventionem nach rechts orientierten) Achse dargestellt werden. Prozesse (inklusive des Prozesses sein) werden auf dieser Achse lokalisiert und zwar im Verhältnis zu mindestens einer, häufig auch zwei Bezugsgrößen. Die eine Bezugsgröße, die notwendigerweise immer vorhanden ist, kann entweder als Punkt oder als Segment auf der Zeitachse verortet werden und wird im Folgenden als Bezugstermin bezeichnet. Ob dieser (z.B. Ferien) als Punkt oder als Segment aufgefasst wird, hängt ausschließlich von der Intention des Sprechers ab: vor den Ferien (7a)
nach den Ferien ●
vor der Reise / dem Essen
nach der Reise / dem Essen in den Ferien
(7b) auf der Reise / beim Essen _____________ 4
Vgl. dazu Krause (2008, 15ff.).
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Dieser immer vorhandene Bezugstermin (Punkt oder Segment) kann entweder ein Zeitabschnitt sein (z.B. Ferien, Weihnachten) oder ein Prozess (z.B. Reise, Essen). Personennamen sowie Orte repräsentierende Nomina (Toponyme und andere) können einen Zeitabschnitt vertreten: (8)
vor Hitler (= vor 1933) Er kennt ihn von der Universität / Berlin her (= seit seinem Studium / seit seiner Zeit in X)
Die zweite Bezugsgröße, die in manchen Fällen von Belang ist, ist die Bezugsperson, welche entweder der Sprecher selbst sein kann oder eine andere Person. (9)
Seit fünf Uhr regnet es.
Bezugstermin ist fünf Uhr; die Bezugsperson befindet sich irgendwo rechts davon und ist im obigen Beispiel identisch mit dem Sprecher / Denker.5 Marcq unterscheidet vier Systeme:6 •
Ein System I mit punktuellem Bezugstermin; in diesem System wird der Prozess entweder links oder rechts des Bezugspunkts lokalisiert.
•
Ein System II mit linearem Bezugstermin; hier wird der Prozess innerhalb des Bezugssegments lokalisiert.
•
Ein System der Ko-Okkurrenz (in dem bestimmte Oppositionen aufgehoben sind); die Opposition Punkt – Segment spielt hier keine Rolle.
•
Ein kleines, nur zwei besondere Relationen beinhaltendes System des Aufeinanderfolgens und Erwartens.
Es gibt prinzipiell vier Relationen,7 in denen sich der lokalisierte Prozess zur Bezugsgröße befinden kann, eine statische und drei dynamische: •
die statische Relation: lokalisierter Prozess und Bezugsgröße befinden sich in einem statischen Verhältnis zueinander: (10) Vor den Ferien hat er wahnsinnig viel gearbeitet. In den Ferien ” ” ” ” ”
(System I) (System II)
_____________ 5
6 7
Der Terminus Sprecher wird hier im weitesten Sinne verwendet: Auch die Person, deren Gedanken wiedergegeben werden (innerer Monolog bzw. berichtete Rede) fällt darunter (daher die Erweiterung auf Denker), ebenso wie der Autor schriftlicher Äußerungen. Teilweise wurden diese von Schrodt (2004) übernommen. Zuzüglich der Relation des Aufeinanderfolgens und der Relation des Erwartens.
201
Historische Grammatik der temporalen Relationen •
die direktive Relation, d.h. der lokalisierte Prozess bewegt sich auf den Bezugstermin zu: (11) Wir arbeiten bis 16 Uhr. Wir arbeiten bis in die Nacht hinein.
•
die perlative Relation, d.h. der lokalisierte Prozess bewegt über den Bezugstermin hinaus (System I) bzw. füllt ihn aus (System II): (12) Wir planen über das Jahr 2015 hinaus. Wir arbeiten die ganze Nacht hindurch.
•
(System I) (System II)
(System I) (System II)
die ablative Relation: der lokaliserte Prozess beginnt beim bzw. im Bezugstermin: (13) Wir arbeiten ab 8 Uhr. Wir haben von Kind auf gearbeitet.
(System I) (System II)
Die drei dynamischen Relationen implizieren den Begriff der Dauer; die statische Relation impliziert Gleichzeitigkeit (was in System II und im System der Ko-Okkurrenz deutlicher zum Ausdruck kommt als in System I). Nun gibt es häufig mehrere sprachliche Mittel, die ein und dieselbe Relation tragen können. Diese Mittel verhalten sich zueinander entweder komplementär oder konkurrierend, teilweise auch kooperierend. Ein schönes Beispiel für komplementäre Distribution bieten heutzutage in + DAT. und an + DAT. im System II: (14) Am Sonntag waren wir in Paris. Im Winter waren wir in Paris. Ein Beispiel für die Konkurrenz zweier Signifikanten bieten z.B. von + Adv. + an sowie von + Adv. + ab: (15) Von jenem Tag an rauchte er nicht mehr. Von jenem Tag ab rauchte er nicht mehr. Und Kooperation besteht im zweiten Satz in (16) zwischen ab und von: (16) Ab heute rauche ich nicht mehr. Von heute ab rauche ich nicht mehr. Stehen für ein und dieselbe Relation mehrere Signifikanten zur Verfügung, schränken im Allgemeinen Distributionsregeln die Auswahl ein. Übergeordnetes Kriterium ist die Art der Bezugsgröße: Zeitspanne oder Prozess.
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(17) im Winter (Zeitspanne) - *in der Fahrt (Prozess) *auf dem Winter - auf der Fahrt den Winter über - *die Diskussion über Weitere Differenzierung erfolgt •
durch die Eingrenzung der Mittel, welche die Bezugsgröße bezeichnen: bestimmte Wortarten (z.B. Substantiv oder Adverb) und semantische Gruppen innerhalb einer Wortart sowie einzelne Wörter;
•
gruppenintern durch notwendige Zusätze (bzw. Weglassung) von Determinativen, Quantoren und anderen Elementen, durch Kategorien wie Numerus, zählbar – unzählbar etc.;
•
gruppenextern durch Verbform (einfach oder zusammengesetzt) und Art des Verbs (punktuell oder linear);
•
durch Differenzierung der syntaktischen Mobilität (frei bzw. fixiert).8
Mit anderen Worten: Das Regelgeflecht weist – ausgehend von relativ übergeordneten Kriterien über speziellere – feinste Verästelungen auf, an deren Endpunkten festgefügte Einheiten stehen können, wie z.B. auf der Stelle und auf einmal; selbst für solche Einheiten kann es jedoch noch Differenzierungen geben, wie z.B. folgende: (18) Auf einmal wurde es dunkel. [System II; statische Relation; + inchoativ; syntaktisch relativ mobil: ausgeschlossen ist die Position, die für auf einmal = gleichzeitig reserviert ist.] (19) Bitte nicht mehr als drei Personen auf einmal. [System II; statische Relation; + quantitative Konnotation; syntaktisch fixiert auf den Platz unmittelbar hinter der Nominalgruppe mit – obligatorischem – Quantor.] Festzuhalten ist, dass sich die lexikalisierten Einheiten in das allgemeine Schema einordnen. Zu den bisher genannten Kriterien kommt noch ein weiteres, welches schwerer zu fassen ist, nämlich das der Stilebene und / oder Textsorte: (20) Binnen eines Jahres hat er Englisch gelernt. In einem Jahr hat er Englisch gelernt. _____________ 8
Vgl. zum Neuhochdeutschen Krause (1997, 225ff.).
Historische Grammatik der temporalen Relationen
203
Beide Sätze liefern dieselbe Information, aber – um es vorsichtig auszudrücken – binnen ist weniger umgangssprachlich als in, dem jedoch keinesfalls im Umkehrschluss das Etikett nur umgangssprachlich anzuheften ist. Des Nachts ist eindeutig nicht umgangssprachlich, etc. Die meisten temporalen Präpositionen und temporal gebrauchten obliquen Kasus haben nicht von sich aus temporalen Wert (eine Ausnahme ist seit), sie erhalten diesen erst in der Kombination mit anderen Elementen – umgekehrt werden aber auch letztere durch ihr Umfeld eingegrenzt, präzisiert, festgelegt. Beispiel: Lesen kann temporale Bezugsgröße sein in (21) Über dem Lesen hab ich das ganz vergessen. aber auch eine Fähigkeit bezeichnen: (22) Lesen gehört zu den Grundfertigkeiten. Die Festlegung erfolgt also immer in zwei Richtungen. Rein strukturelle – auf welcher Ebene auch immer angesiedelte – Kriterien reichen oft nicht aus, Eindeutigkeit herzustellen; sie sind unabdingbar, aber genauso unverzichtbar ist Welt- und Kontextwissen: (23) Erster Bosnien-Hilfstransport der Reutlinger Caritas nach Dayton. [Schwäb. Tagblatt 11.5.96] Nach kann nur dann als temporal erkannt werden, wenn der Leser weiß, dass Dayton ein US-amerikanischer Ortsname ist, dass an diesem Ort politische Absprachen getroffen wurden und dass somit der Ortsname einen Zeitpunkt repräsentiert.
4. Die Systematik nach Marcq, tabellarisch (20. Jh.) Ausführliche Kommentare sind hier nicht möglich.9 4.1. System I : punktuelle Bezugsgröße (Bezugstermin) Bei der statischen Relation (4.1.1.) sind zwei Konstellationen zu unterscheiden.
_____________ 9
Vgl. dazu Marcq (1988) und Krause (1994b), (1997), (1998) sowie (2002a).
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4.1.1. Statische Relation hinter + DAT.
vor + DAT.
Bezugsperson = Bezugstermin (Verben: nur liegen, haben, sein) (24) Endlich hatte ich das hinter mir. / Das liegt noch vor dir. vor + DAT.; gegen + A
nach + DAT.
Bezugstermin [Position der Bezugsperson rechts oder links vom Bezugstermin] (25) vor Weihnachten; gegen Ende des Jahres / nach Weihnachten; nach dem Essen, nach der Reise Sonderfall: In die Zukunft oder Vergangenheit versetzte statische Relation: vor + DAT. (+ Quantor)
in + DAT. (+ Quantor)
Bezugstermin [± heute, gestern; Montag…] und Bezugsperson befinden sich am gleichen Punkt. (26) (heute / gestern / Montag) vor drei Tagen / in drei Tagen 4.1.2. Direktive Relation auf + AKK. + zu / hin auf + AKK. (selten) Bezugstermin (27) Es geht auf Weihnachten zu; er paukt auf die Prüfung hin.
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Historische Grammatik der temporalen Relationen
DAT. + entgegen Bezugsperson
Bezugstermin
(28) Wir gehen schweren Zeiten entgegen. 4.1.3. Perlative Relation vorbei / vorüber [+ gehen oder sein]; um oder rum [+ sein] Bezugstermin = Bezugsperson (29) Es geht alles vorüber / vorbei; endlich war die Stunde (r)um. über + AKK. hinaus Bezugstermin [Position der Bezugsperson ist belanglos] (30) Wir planen über das Jahr 2015 hinaus. 4.1.4. Ablative Relation von + DAT. / ADV. + an [am häufigsten] von + DAT. / ADV. + ab [weniger häufig] ab + DAT. / ADV. [Relikt] Bezugstermin [Position der Bezugsperson ist belanglos] (31) Von da an / ab konnte er das Wort „Präposition“ nicht mehr hören. / Ab morgen gibt es nur noch Wasser. seit + DAT. / ADV. Bezugstermin
Bezugsperson
(32) Seit Weihnachten / gestern regnete es / hat er nicht mehr angerufen.
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seit + DAT. (+ Quantor)10 Bezugstermin Bezugsperson ([es + her + sein] + AKK. [Quantor + Subst.]) (33) Seit drei Tagen regnete es. / Es ist keinen halben Tag her, da hat er noch gesungen… 4.1.5. Sonderfall: Lokalisierung in Bezug auf zwei punktuelle Bezugstermine Nur statische Relation: zwischen + DAT. 1. Bezugstermin
2. Bezugstermin
(34) Das machen wir zwischen Weihnachten und Neujahr. Statische Relation (sporadisch realisierter Prozess): von + DAT. X + zu + DAT. X [identischer Dativ: ausschließlich Zeit] 1. Bezugstermin
2. Bezugstermin
n-ter Bezugstermin
(35) Von Zeit zu Zeit treffen sie sich zum Kaffee. Übergang von einem punktuellen Bezugstermin zu einem andern: von + DAT. X + zu + DAT. X [identischer Dativ ohne Determinativum] [+ Ausdruck des Zunehmens oder Abnehmens] 1. Bezugstermin
2. Bezugstermin
n-ter Bezugstermin
(36) Sie wurde von Tag zu Tag schöner. / Ihre Angst wuchs von Minute zu Minute.
_____________ 10
Andauernder Prozess oder iterativ + abgeschlossen.
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4.2. System II (lineare Bezugsgröße)11 4.2.1. Statische Relation AKK., GEN., an + D, in + D, auf + D, während + G, unter + D, über + D, auf einmal
(37) Letztes Jahr waren wir auf Ischia. Eines schönen Tages kam er zurück. Am Montag / am Abend gehen wir ins Kino. Im Winter / auf der Fahrt; während des Winters / der Fahrt. Unter verlegenem Räuspern verließ er den Salon. Über dem Kochen hab’ ich das ganz vergessen. Auf einmal waren alle weg. / Redet doch nicht alle auf einmal! In die Zukunft versetzte statische Relation: auf + A, für + A, in + A
(38) Die Sitzung verschieben wir auf nächsten Montag. Die Konferenz war für Dienstagnachmittag angesetzt. Das verlegen wir in die Zeit vor Weihnachten. Der lokalisierte Prozess umschließt die Grenzen des Segments: um + A
(sehr kurzes Segment: präzise Angabe) (langes Segment: vage Angabe) (39) um 20 Uhr 30 / um die Jahrhundertmitte
_____________ 11
Distributionsregeln, vgl. Krause (1997, 236ff.); A = Akkusativ; D = Dativ; G = Genitiv.
208
Maxi Krause
4.2.2. Direktive Relation:12 bis + A, bis (in + A) ± hinein, bis (an + A), (bis) auf + A
(40) Bis 1989 gab es quer durch Europa den „Eisernen Vorhang“. Sie schufteten bis in die Nacht (hinein). Ich bleibe bei euch bis ans Ende aller Tage. Damit machte er sich unvergesslich bis auf den heutigen Tag. 4.2.3. Perlative Relation in + D, innerhalb + G / von, binnen + D / G, auf+ A, für + A, durch + A [sehr selten], während + G / D, AKK (± lang), AKK + (hin)durch, AKK + über, über + A (± hinweg)
(41) Ich weiß nicht, ob ich das in drei Tagen schaffe. Innerhalb kürzester Zeit / von drei Tagen hatte er sich das Notwendige angeeignet. Binnen weniger Sekunden war es stockdunkel geworden. Sie hat ihn auf / für drei Wochen in die Berge geschickt. Dieses Buch hat mich durch all die Jahre immer wieder getröstet. Während längerer Zeit / der ganzen Fahrt herrschte Ruhe. Wir bleiben den ganzen Tag am Strand. Er war fünf Tage (lang) verschüttet. Der Motor ist die Nacht durch gelaufen. Ich habe die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Über Ostern bleiben wir zu Hause. Über mehrere Jahre hinweg waren junge Taschendiebe aus Südosteuropa ein Topthema der Boulevardpresse.
_____________ 12
Überschneidung mit dem System der Ko-Okkurrenz.
Historische Grammatik der temporalen Relationen
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4.2.4. Ablative Relation13 aus + D, seit + D, von + D + auf, von + D / Adv. + her
(42) Ein Märchen aus uralten Zeiten / eine Kirche aus dem 9. Jahrhundert; dazu wurde er von Kind / klein auf angehalten; er kennt ihn von der Uni / vom Krieg her. 4.3. System der Ko-Okkurenz (Neutralisatoren)14 4.3.1. Statische Relation bei + D, mit + D, zu + D. (43) Bei Ostwind bleibt das Fenster zu; beim Frühstück liest er Zeitung; mit der beginnenden Dämmerung zündet die Mutter die Kerzen an. Zur Zeit nicht vorrätig. 4.3.2. Direktive Relation bis [± andere Präp.+ DAT.]+AKK (meist nicht zu erkennen) oder bis + ADV. (44) Der Schnee blieb bis zum späten Vormittag liegen. / bis nächsten Montag. (vgl. System II) 4.3.3. Ablative Relation Vgl. System II.
_____________ 13 14
Überschneidung mit dem System der Ko-Okkurrenz. Einzelheiten bei Krause (1998), (2002b), (2002c) und (2002d).
210
Maxi Krause
4.4. System des Aufeinanderfolgens und Erwartens Aufeinanderfolgen:
auf + A
(45) Auf Regen folgt Sonnenschein. Erwarten:
auf + A
(46) Er ist gespannt auf die neue Lehrerin.
5. Diachronie der Relationen: Drei Fallstudien Wie bereits erwähnt, ist eine systematische diachronische Studie der temporalen Relation bislang ein Desideratum. Was im Folgenden ausschnitthaft dargestellt wird, basiert auf wenigen Texten, die allerdings – soweit es die Adpositionen betrifft – vollständig ausgewertet wurden. Für Substitute, Sub- und eventuell Konjunktionen ist die Auswertung noch zu leisten. Fürs Althochdeutsche steht hier Otfrids Evangelienbuch (O), fürs Mittelhochdeutsche stehen Gottfried von Straßburg (Go) sowie Hartmann von Aue (Ha). Die Befunde fürs Mittelhochdeutsche sind jene der Abschlussarbeit von Sébastien Guillardeau; Beispiele aus dem Nibelungenlied wurden von mir gesammelt. Fürs Neuhochdeutsche stehen Autoren des 20. Jahrhunderts sowie Zeitungsartikel (vor allem Schwäbisches Tagblatt und Die Zeit), teils von mir selbst zusammengetragen, teils Krause 1994, 1998, 2002a-d entnommen. 5.1. Fallstudie I: System I, statische Relation (Position der Bezugsperson belanglos), diachron Adpositionen: ahd. er + D; fora + D; fora + Instr. (thiu) mhd. vor + D; wider + (?); gegen / gein + D nhd. vor + D; gegen + A
after + D, after + INSTR. (thiu); sid + D nâch + D nach + D
Substitute (teilweise Adverbien):15 ahd. fora thiu (referiert auf Sachverhalte) tharfora (? Spat. od. temp. ?)
after thiu (referiert auf Sachverhalte) sīd
_____________ 15
Vgl. dazu Krause (2003, 101ff.) und (2007, 453ff.).
211
Historische Grammatik der temporalen Relationen
mhd. dâ vor nhd. davor [ziemlich selten] vorher; zuvor
sît danach; (später); (hernach); hinterher
(47) So was io wort wonanti er allen zitin worolti […] (O II 1,5); Was iz ouh giwisso fora einen ostoron so, theso selbun dati, fora theru wihun ziti. (O III 6,13.14); Sehs dagon fora thiu quam er zi Bethaniu, […] (O IV 2,5); After worton managen joh leron filu hebigen […] so giang er in then oliberg (O III 17,1); Was siu after thiu mit iru sar thri manodo thar (O I 7,23); Pilatus giang zen liutin sid tho thesen datin (O IV 23,1); Er muases sid gab follon fiar thusonton mannon (O III, 6,53) (48) Vor einer vesperzîte huop sich grôz ungemach (NL 814,1); […] vor disen sunewenden sol er und sîne man sehen hie vil manigen, der im vil grôzer êren gân. (NL 7751,3); Bî der sumerzîte und gein des meien tagen […] (NL 295,1); hiute ist der ahte tac nach den sunewenden (I 2941); Sold' er rehte wizzen, wie es nâch der stunt zer hôhgezîte ergienge […] (NL 781,2); ir vater der hiez Dancrât, der in diu erbe liez sît nach sime lebene […] (NL 7,3); Kriemhilt in ir muote sich minne gar bewac. sit lebte diu vil guote vil manegen lieben tac (NL 18,2) (49) vor Weihnachten; vor dem Essen; vor 2008; gegen Ende des 19. Jahrhunderts; gegen 20 Uhr; nach Weihnachten; nach dieser Rede; nach dem Fest 5.2. Fallstudie 2: System I, statische Relation (synchron, 20. Jh.) Die Bezugsperson befindet sich links oder rechts des Bezugstermins Adpositionen: vor + DAT.; gegen + A Substitute: davor; vorher; zuvor Subjunktionen: bevor
nach + DAT.
danach; (später); (hernach) hinterher nachdem
212
Maxi Krause
In die Zukunft oder Vergangenheit versetzte statische Relation: Bezugstermin = Bezugsperson: Adpositionen: vor + D [+ Quantor bzw. NPlur.]
in + D [ + Quantor]
Substitute: vorhin / [gerade] / [kürzlich] davor
nachher / [gleich] / [später] darin / danach
Subjunktionen: (kurz) bevor …
wenn … (dann) nachdem
Aus dieser Übersicht geht hervor, dass für den links der Bezugsgröße befindlichen Teil der Zeitachse in beiden Fällen die Präposition vor zuständig ist, ein Substitut davor allerdings nur dann stehen kann, wenn die Position der Bezugsperson belanglos ist. Sie zeigt auch, dass mit da- gebildete Substitute nur sehr eingeschränkt einsetzbar sind.16 Ähnliches scheint für Subjunktionen zu gelten. Durchgestrichene Signifikanten zeigen, dass ihre Verwendung hier ausgeschlossen ist. (50) Das Rigorosum war gut gelaufen, obwohl er die Nacht davor fast nicht geschlafen hat / Na, da bist du ja endlich. Wo warst du denn vorhin? – *Wo warst du denn davor? Nachdem er promoviert hatte, fand er erst mal keine Stelle. / Wenn du dann einkaufen gehst, bring mir bitte Milch mit. Aber vorher solltest du noch schnell die Wäsche abhängen. – *Aber vorhin solltest du noch schnell die Wäsche abhängen. 5.3. Fallstudie 3: System II (diachronisch) In eckigen Klammern wird einerseits die Art der Bezugsgröße präzisiert (Zeitspanne oder Prozess) oder aber – bei eingeschränkter Auswahl möglicher (Pro-)Nomina – die entsprechenden Lexeme. Kurzkommentare geben Hinweise auf die Kombinatorik. DET steht für Determinativum. Mit initialem Ausrufezeichen sind diejenigen Signifikanten gekennzeichnet, die entweder ganz verschwunden sind oder heute nicht mehr genau in derselben Funktion oder in denselben Kombinationen auftreten. Neu hinzukommende Signifikanten(-gruppen) sind durch Unterstreichung gekennzeichnet. Ø bedeutet, dass es im betreffenden Korpus keinen entspre_____________ 16
Vgl. dazu Krause (2007, 458ff.).
Historische Grammatik der temporalen Relationen
213
chenden Beleg gibt; was nicht heißt, dass dazu innerhalb der Gesamtheit einer Sprachstufe keine sprachlichen Mittel zur Verfügung standen. Ziffern präzisieren die Anzahl der Belege. 5.3.1. Statische Relation ahd.
AKK. [+ sar (io) thia wîla] !DAT. (nur 5 Belege) [Zeitspanne] GEN. [Zeitspanne; genau messbare Einheiten] !GEN. [Prozess: fart] in + DAT. (am häufigsten) [Zeitspanne; „Lebensabschnitt“] in + DAT. (Prozess / DAT. = Gerundivum + sîn; Prozess] !in + AKK. (weit weniger häufig) [Zeitspanne; „Lebensabschnitt“] !innan + GEN. [thes] (häufig) [→ nhd. indes] !innan + INSTR. [thiu] (2 Belege)
mhd.
AKK. [40 bei Go / Ha; Zeitspanne; rechtsdeterminiert nur morgen, ohne Links-DET.; alle übrigen linksdeterminiert] GEN. [65 bei Go / Ha; Zeitspanne, auch wîle; ± DET. (links) sowie links- und rechtsdeterminiert] an + DAT. [Zeitspanne (49, davon 30 stunt); + DET.; Prozess (14 Belege); insg. 67 Belege; 1 Beleg mit Bezugstermin „Lebensabschnitt“] in + DAT. [Zeitspanne; Prozess (relativ selten); + DET.; 97 Belege; 10 Belege mit Bezugstermin „Lebensabschnitt“] [in und an konkurrierend; im Nhd. komplementär] binnen + DAT. [Go, 1; Prozess; + DET.] ûf + DAT. [8 Belege; Prozess; + DET.] under + DAT. [7 Belege; Zeitspanne (2); Prozess (5)] !under + INSTR. [thiu, (3)]
nhd.
AKK. [nur Zeitspanne; Namen der Wochentage; Woche, Monat, Jahr, Namen der Jahreszeiten + oblig. dies-, letzt-; nächst-; kommend-; vergangen-; bei Namen von Wochentagen fakultativ; referiert auf Gegenwart der Bezugsperson = Sprecher); + jed- referiert nicht auf die Gegenwart des Sprechers] GEN. [sehr selten; Zeitspanne; Tageszeiten; Tag; + ein-: einmaliger Prozess; + des: kann repetitiv sein (allerdings nicht mit Tag)] an + D [Zeitspanne: Tageszeiten (außer Nacht) + Wochentage; Tag; Namen von Feiertagen u. allg. Festen; falls i. Plural: jede Teilmenge fungiert isoliert als Bezugsgröße] an + D [Prozess: subst. Infinitiv; Prädikat: sein oder bleiben]
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Maxi Krause
in + D [Zeitspanne; alles, was nicht mit an kombinierbar; falls Plural: Teilmengen konstituieren zusammen eine einzige Bezugsgröße] in + D [Prozess: subst. Infin. / Subst.; Prädikat: nicht sein oder bleiben] auf + D [Prozess („veranstaltet“); Subjekt ist am Prozesse der Be zugsgröße direkt beteiligt] während + G [Prozess; Subjekt ist am Prozesse der Bezugsgröße nicht unbedingt beteiligt] während + G [Zeitspanne; im Prinzip keine Einschränkungen] unter + D [Zeitspanne; marginal; nur mit Woche, Jahr; Konnotation: Bezugsgröße ist Arbeitszeit] unter + D [Prozess; + subst. Infinitiv / anderes Subst; bes. nomina actionis; Bezugsprozess linear; + modale Funktion; WIE?] über + D [ Prozess; + subst. Infinitiv, selten andere Subst., bes. nomina actionis; lokalisierter Prozess linear im Vergleich mit dem Bezugsprozess; + kausale Funktion: WARUM?] auf einmal [lexikalisiert; Bezugsprozess u. lokalis. Prozess sind identisch; = gleichzeitig]
5.3.2. Direktive Relation ahd.
!unz + ... [Überschneidung mit System I; wohl der Ko-Okkurrenz zuzuordnen] !unz + AKK. (2) [Zeitspanne] !unz + DAT. (1) [Zeitspanne] !unz + anan + AKK. (2) [Zeitspanne] !unz + in + AKK. (8)[Zeitspanne] !unz + in + ADV. (1) [unz in nu] !unzan + DAT. od. AKK.? (1 Beleg; „Lebensabschnitt“)
mhd.
!unz an + ACC. [34; Zeitspanne] !unz ûf + ACC. [4; Zeitspanne] !uns vür + ACC. [1; Zeitspanne]
nhd.
} Problem: System I oder II (bzw. Ko-Okkurrenz)?
bis [± andere Präp.+ AKK. / DAT.]+AKK [meist nicht zu erkennen] oder bis (in + A) ± hinein,), bis (an + A), bis (auf + A) bis + ADV.
Historische Grammatik der temporalen Relationen
215
5.3.3. Perlative Relation ahd.
AKK. (40) [Zeitspanne] !GEN. (2) [Zeitspanne] !GEN. (1) [Prozess] [es muss offen bleiben, ob hier eine perlative Relation – während der ganzen Reise – oder eine statische Relation vorliegt: auf der Reise] in + DAT. [Zeitspanne] !in + AKK. (nur 1 Beleg) [Zeitspanne] ubar + AKK. (7) [Zeitspanne] !untar + DAT. (1) [Prozess]
mhd.
AKK. [102; Zeitspanne; ohne DET. nur naht unde tac; sonst fast immer linksdeterminiert, nur 1-mal rechtsdeterminiert]17 AKK. + alsô lanc [1; den tac alsô lanc] !GEN. [7; Zeitspanne; ohne DET. nur nahtes (2); sonst LinksDET.] in + DAT. [20; Zeitspanne; Ø + ADJ. (kurz, 19; unlanc, 1] innerhalp + DAT. [Go; 4; Zeitspanne; + NUMkard.] !innen + dis- + DAT. [Go, 2; Zeitspanne; + NUMkard.] !inner + DAT. [Go, 1; Zeitspanne; + NUMkard.]
nhd.
AKK (± lang) [Zeitspanne, + ein-, halb- oder ganz- bzw. NUM kard.] AKK + (hin)durch [Zeitspanne; im Prinzip ohne Zahl; + best. Art.] AKK + über [Zeitspanne; ohne Zahl; + best. Art. bzw. Name von Feiertagen u. ä.] in + D [Zeitspanne; i. Sing. + ein- + halb-; i. Plur.: Zahl ; im Prinzip ohne Art.] innerhalb + G / VON [Zeitspanne; wie IN] binnen + D / G [Zeitspanne; wie IN] auf + A / + ADV. (immer / ewig) [Zeitspanne; Zahl mögl., nicht notwendig] für + A / + ADV. (immer) [Zeitspanne; Zahl möglich, nicht notwendig] durch + A [sehr selten] über + A [Zeitspanne; ohne Zahl; best. Art. eher selten; wenn ohne Art., dann Name von Feiertagen (häufig) und Nacht] über + A + hinweg [Zeitspanne]
_____________ 17
Im Folgenden: LinksDET., RechtsDET.; NUMkard = Kardinalzahl; Art. = Artikel; best. = bestimmt.
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während + G / D [Zeitspanne; Zahl möglich bzw. anderer Quantor]
während + G / D [Prozess; ohne Zahl; best. Art. + ganz-] 5.3.4. Ablative Relation Sie ist nicht leicht zu trennen vom System der Ko-Okkurrenz, eventuell dort anzusiedeln. Die Opposition Punkt – Segment ist neutralisiert. ahd.
fon + DAT. [„Lebensabschnitt“; Prozess]
mhd.
von + DAT. [4; [„Lebensabschnitt“: von kinde / von Kanêles jâren (3); Zeitspanne + LinksDET. (1)]
nhd.
aus + D seit + D von + D + auf von + D + her von + Adv + her
6. Fazit Der Unterschied zwischen der Herangehensweise von Marcq und seinen Nachfolgern einerseits und andererseits den Vorgängern, die sich punktuell sehr ausführlich mit Präpositionen und Kasus beschäftigten, ist folgender: Bis 1972 liegen Einzeluntersuchungen zu bestimmten Signifikanten, auch Signifikantengruppen vor, die häufig ungemein detailgenau und ausführlich sind und in denen auch schon anklingt, dass die genaue Bedeutung und Funktion eines Elementes X des Vergleichs mit einem oder mehreren semantisch und funktionell benachbarten Element(en) Y und / oder Z bedarf.18 Marcq bezeichnet diese Art von Arbeiten als „atomistisch“.19 Sein Ansatz ist, ohne ausdrücklich so bezeichnet zu werden, eher ein onomasiologischer Ansatz, indem sein Hauptaugenmerk darauf gerichtet ist, bestimmte Raster (Systeme) herauszuarbeiten, denen dann jeweils einzelne Bedeutungsträger zugeordnet werden können. Allerdings ergeben sich solche Raster erst aus der genauen Untersuchung einzelner Signifikanten. Auch hier erfolgt also Erkenntnis und Zuordnung immer im Wechselspiel. _____________ 18 19
So zum Beispiel die Arbeiten von Krömer (1959, 323ff.) [sowie weitere Beiträge von Krömer in anderen Nummern]. Marcq (1972, 2a).
Historische Grammatik der temporalen Relationen
217
Systematisierung ist unabdingbar für den Vergleich unterschiedlicher Signifikanten (→ Distributionsregeln), unterschiedlicher Sprachen (synchronisch; kontrastiv) sowie unterschiedlicher Sprachstadien (diachronisch). Erst die Systematisierung gestattet präzise Aussagen zu Sprachwandelprozessen. Eine historische Grammatik der temporalen Relationen sollte also Adpositionen, Adverbien und Sub- bzw. Konjunktionen zusammenhängend darstellen, nach Relationen geordnet (und gegebenenfalls mit Querverweisen zu Verbalpartikeln). Wenn eine derartige Grammatik Teil einer alles umfassenden historischen Grammatik wird – und wenn vergleichbare Teilgrammatiken bzw. Großkapitel zu den spatialen und abstrakten Relationen erarbeitet sind –, dann lässt sich das, was bisher unter Syntax firmiert und sehr Unterschiedliches enthält, prinzipieller gestalten mit Aussagen zur Verbstellung in Haupt- und Nebensatz, zur Herausbildung von Klammerkonstruktionen etc. Grundsätzlich bleibt jedoch festzuhalten: Syntax ohne Semantik hat wenig Sinn – und: Semantik ohne Syntax ist unvollständig.
Quellen Otfrids Evangelienbuch (1965), nach der Ausgabe von O. Erdmann, Tübingen. Das Nibelungenlied (1979), nach der Ausgabe von Karl Bartsch, H. de Boor (Hrsg.), 21. Aufl., Wiesbaden. Gottfried von Straßburg (1969), Tristan, nach der Ausgabe von Karl Morold, Berlin. Hartmann von Aue (1998), Der arme Heinrich, nach der Ausgabe von Ursula Rautenberg, Stuttgart. Hartmann von Aue (1958), Gregorius, nach der Ausgabe von Friedrich Neumann, Wiesbaden. Hartmann von Aue (1968), Iwein, nach der Ausgabe von G.F. Benecke und K. Lachmann, Berlin. Schwäbisches Tagblatt, Tübingen. Die Zeit, Hamburg.
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Maxi Krause
Literatur Bußmann, Hadumod (Hrsg.) (2002), Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Aufl., Stuttgart. Desportes, Yvon (1984), Das System der räumlichen Präpositionen im Deutschen. Strukturgeschichte vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Heidelberg. Glück, Helmut (Hrsg.) (2005), Metzler Lexikon Sprache, 3. Aufl., Stuttgart, Weimar. Guillardeau, Sébastien (2000), Les prépositions et cas dans la localisation temporelle chez Gottfried von Straßburg et Hartmann von Aue, Mémoire de maîtrise, Université de Caen, Caen. Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2002), bearb. von Elmar Seebold, 24. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin, New York. Krause, Maxi (1992), „Zeitangaben bei Otfrid“, in: Yvon Desportes (Hrsg.), Althochdeutsch. Syntax und Semantik. Akten des Lyonner (sic) Kolloquiums zur Syntax und Semantik des Althochdeutschen, Lyon, 49-68. Krause, Maxi (1994a), „Zeitangaben im Gotischen“, in: Yvon Desportes (Hrsg.), Philologische Forschungen. Festschrift für Philippe Marcq, Heidelberg, 18-42. Krause, Maxi (1994b), Eléments pour une grammaire des prépositions, substituts et particules verbales de l’allemand. AB, AN, IN / EIN, ÜBER, UM, UNTER, VOR, Stuttgart. Krause, Maxi (1997), „Konkurrenz und Komplementarität in einem Teilbereich der temporalen Relationen“, in: Hervé Quintin / Margarete Najar / Stephanie Genz (Hrsg.), Temporale Bedeutungen. Temporale Relationen, Tübingen 1997, 225-239. Krause, Maxi (1998), Eléments pour une grammaire des prépositions, substituts et particules verbales de l'allemand. Bd. 2: AUF, DURCH, NACH, ZU, Stuttgart. Krause, Maxi (2000), „Binnenstruktur temporaler Nominalgruppen im Akkusativ und Genitiv“, in: Yvon Desportes (Hrsg.), Zur Geschichte der Nominalgruppe im älteren Deutsch. Festschrift für Paul Valentin. Akten des Pariser Kolloquiums März 1999, Heidelberg, 71-97. Krause, Maxi (2002a), „AUS – élément prépositionnel, élément constitutif de particules diverses et particule verbale“, in: Cahier du CRISCO 10 / 2002, Section 1, 1106. Krause, Maxi (2002b), „VON – préposition et élément constitutif d'adverbes et de tournures adverbiales“, in: Cahier du CRISCO 10 / 2002, Section 2, 1-77. Krause, Maxi (2002c), „BEI – préposition, élément constitutif de particules diverses et particule verbale“, in: Cahier du CRISCO 10 / 2002, Section 3, 1-61. Krause, Maxi (2002d), „MIT – préposition, élément constitutif de particules diverses et particule verbale“, in: Cahier du CRISCO 10 / 2002, Section 4, 1-59.
Historische Grammatik der temporalen Relationen
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Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen∗ Isabel Buchwald-Wargenau (Kassel)
1. Einleitung Die doppelten Perfektbildungen, d.h. Konstruktionen des Typs ich habe vergessen gehabt und ich bin angekommen gewesen sind in den letzten Jahren vermehrt Gegenstand linguistischer Betrachtung geworden (z.B. Litvinov / Radčenko 1998, Hennig 1999 u. 2000, Ammann 2005, Buchwald 2005, , Rödel 2007 u. Topalovic 2009). Dabei konnte gezeigt werden, dass es sich bei den doppelten Perfektbildungen nicht um eine sprachliche Neuerung der Gegenwartssprache, sondern um ein wenigstens 600 Jahre altes Phänomen handelt, welches (zumindest in der Gegenwartssprache) weder diatopische noch diastratische Markierungen aufweist und sich bei weitem nicht nur der ‚Umgangssprache‘ zuschreiben lässt.1 Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage nach der Herausbildung der doppelten Perfektbildungen. Die Herausbildungshypothesen der bisherigen Doppelperfektforschung werden dabei zunächst vorgestellt, woran sich der Versuch anschließt, die jeweils dargelegte Hypothese anhand eines historischen Korpus doppelter Perfektbildungen zu überprüfen. Dem Anliegen des Textes, einen Beitrag zur Erklärung der Doppelperfektentstehung zu leisten, geht die Überzeugung voran, dass es sich bei doppelten Perfektbildungen um ein Phänomen handelt, dessen Entstehungsursachen im Kontext von Umstrukturierungs- und Reorganisationsprozessen (Terminus nach Leiss 1992) im Verbalbereich zu suchen sind. _____________ ∗ 1
Für Hinweise und Korrekturen danke ich Vilmos Ágel, Mathilde Hennig und Claudia Telschow. Anhand eines Zitates aus der IdS-Grammatik, das später angeführt wird, wird deutlich, dass die doppelten Perfektbildungen in gegenwartssprachlichen Grammatiken durchaus als diatopisch markiert ausgewiesen werden, was jedoch anhand von Korpora der doppelten Perfektbildungen widerlegbar ist.
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2. Herausbildungshypothesen Sich in der bisherigen Literatur zum Doppelperfekt einen Überblick über die vorhandenen Herausbildungshypothesen zu verschaffen, anhand derer die Genese des Phänomens erklärt wird, stellt keine Schwierigkeit dar. Es lassen sich zwei wesentliche Grundpositionen ausmachen, wovon in vorliegendem Beitrag die erste als ‚traditionelle‘, die zweite als ‚innovative‘ Hypothese bezeichnet wird. Im Folgenden (Kap. 2.1.) soll Hypothese I vorgestellt und überprüft werden. Die Darstellung und der Überprüfungsversuch von Hypothese II finden im Anschluss in Kap. 2.2. statt. 2.1. ‚Traditionelle‘ Hypothese: Die Präteritumschwundhypothese 2.1.1. Erklärung der Hypothese Die Herausbildung der doppelten Perfektbildungen in direktem Zusammenhang mit dem Präteritumschwund und dem damit verbundenen Verlust des Plusquamperfekts zu sehen, scheint in der germanistischen Linguistik so etwas wie eine Tradition geworden zu sein. Bereits in den frühesten Grammatiken (z.B. bei Ölinger 1574, 154) werden die doppelten Perfektbildungen in diesem Sinne als Plusquamperfektäquivalent charakterisiert. Die der Präteritumschwundhypothese zugrunde liegende Argumentation sieht folgendermaßen aus: Präteritum- führt zum schwund
Schwund des führt zur Plusquamperfekts
Herausbildung der doppelten Perfektbildungen
Abbildung 1: Herausbildung der doppelten Perfektbildungen nach der Präteritumschwundhypothese
Die Erklärung des Phänomens Doppelperfekt mithilfe des Präteritumschwundes setzt sich in deutschen Grammatiken über Jahrhunderte bis hin zu den jüngsten Grammatiken fort, was es legitimiert, die Präteritumschwundhypothese als ‚traditionell‘ zu bezeichnen. Exemplarisch wird im Folgenden die IdS-Grammatik (1997, 1687) für das 20. Jahrhundert angeführt: In der Übersicht nicht aufgenommen sind die sogenannten ‚superkomponierten Formen‘ aus finitem Hilfsverb + Partizip II des Hilfsverbs + Partizip II des Vollverbs, z.B. Gestern habe ich geschlafen gehabt. Solche Formen sind regional als Ersatzformen des Präteritumperfekts da gebräuchlich, ‚wo die präteritale Form ganz geschwunden ist oder zugunsten des [Präsens-]Perfekts in starkem Maße zurück-
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen
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tritt‘ (Hauser-Suida / Hoppe-Beugel 1972, 257). Dies ist laut Hauser / Hoppe in den oberdeutschen Mundarten der Fall, aber auch in den ost- und westmitteldeutschen.
Die dargelegte Argumentation lässt sich nicht nur in Grammatiken, sondern auch in der einschlägigen Literatur zum Doppelperfekt ausmachen. Gersbach stellt in seiner Monographie zu den Vergangenheitstempora des Oberdeutschen fest, „[d]aß dopp.Perf. ganz überwiegend als Ersatz für Pl.perf. fungiert“ (1982, 228). Auch Trier (1965, 201) deutet das Doppelperfekt in dieser Art und Weise: Wenn man erzählendes Perfekt als süddeutsche Weise zugibt, dann muß man einsehen, daß ein solcher Erzähler im Rückblick aus dem Kreuzungspunkt seines Erzähltempus noch ein Tempus braucht, das die Leistung übernimmt, die beim Rückblick vom hochsprachlichen Imperfekt aus das hochsprachliche Plusquamperfekt zu erfüllen hat. Es bleibt ihm nichts übrig, als hinter dem Perfekt ein zweites, gesteigertes Perfekt, ein doppeltes Perfekt, eben ein Ultraperfekt, aufzubauen.
In den letzten Jahren mehren sich jedoch auch kritische Stimmen in Bezug auf die Präteritumschwundhypothese. So stellt bspw. Dorow (1996, 78) fest, „daß sich die Doppelumschreibungen ganz unabhängig vom Phänomen des oberdeutschen Präteritumschwundes betrachten lassen“.2 Vermutet man, dass sich die doppelten Perfektbildungen durch den Präteritumschwund als funktionales Äquivalent zum Plusquamperfekt herausgebildet haben, dann lässt sich folgende anfängliche Belegsituation theoretisch konstruieren: 1. Die ersten doppelten Perfektbildungen dürften ca. in der Mitte des 15. Jahrhunderts erscheinen. 2. Es dürften sich zunächst nur Doppelperfektbelege finden. 3. Die Belege dürften zunächst nur aus dem Oberdeutschen stammen. 4. Es dürften zunächst nur haben-Belege erscheinen. Wenn die frühesten doppelten Perfektbildungen Eigenschaften gemäß diesen vier Bedingungen aufweisen, sind klare Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Hypothese gewonnen. Ist dies nicht der Fall, ist die Hypothese in Frage zu stellen. Im Folgenden werden die Bedingungen näher charakterisiert: _____________ 2
Es wird an dieser Stelle auf eine Auseinandersetzung mit den in der Forschung jeweils angeführten Argumenten für oder gegen die Präteritumschwundhypothese verzichtet und stattdessen auf die einschlägige Literatur verwiesen, da deren exhaustive Darstellung nicht Anliegen des Beitrages ist.
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Ad 1.: Wenn zwischen Präteritumschwund und Herausbildung der doppelten Perfektbildungen ein monokausaler Zusammenhang anzunehmen ist, dann muss das erste Auftreten doppelter Perfektbildungen mit dem Beginn der Präteritumschwundphase zusammenfallen. Das Einsetzen des Schwundes lässt sich nach Lindgren (1957), dessen Studie nach wie vor als richtungsweisend gelten kann, auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datieren. Doppelperfektbelege dürften dementsprechend erstmals zu dieser Zeit erscheinen. Ad 2.: Da die Doppelperfektherausbildung in engem Zusammenhang gesehen wird mit dem Präteritum- und dem daraus resultierenden Plusquamperfektschwund, ergibt sich zwingend, dass die als Plusquamperfektersatz dienende doppelte Perfektbildung über keine präteritale Komponente verfügen darf. Das ist bei Doppelperfekt, aber nicht bei Doppelplusquamperfekt der Fall, so dass im Rahmen der vorliegenden Herausbildungstheorie lediglich frühe Doppelperfektbelege erklärbar sind. Frühe Doppelplusquamperfektbelege wären ein klarer Beweis für die Nichthaltbarkeit der Hypothese. Ad 3.: Da der Präteritumschwund im Oberdeutschen aufkam, dürften zunächst nur Belege aus dem Oberdeutschen auftreten. Ad 4.: Im Oberdeutschen ist das Präteritum nicht von allen Verben kategorisch ge- oder verschwunden. Die Präteritalformen von sein und einigen Modalverben sind bis heute erhalten (vgl. Maiwald 2002, 91). Da das Plusquamperfekt der Verben, die das Auxiliar sein selegieren, somit noch bildbar ist, dürften nur Doppelperfektbelege mit dem Auxiliar haben zu erwarten sein. 2.1.2. Überprüfung der Hypothese Der Überprüfung liegt ein selbst erstelltes historisches Korpus3 an doppelten Perfektbildungen zugrunde, das 225 Belege mit haben und 326 Belege _____________ 3
Als Grundlage der Korpuserstellung diente v.a. das an der Universität Kassel im Rahmen eines Projektes zur Erstellung einer neuhochdeutschen Grammatik unter Leitung von Vilmos Ágel und Mathilde Hennig aufgebaute Nähekorpus, das den Zeitraum 1650-2000 umfasst. Die Bezeichnung ‚Nähekorpus‘ verrät bereits die konzeptuelle Besonderheit des Korpus: Es umfasst historische Texte, die konzeptionell gesprochensprachliche Merkmale aufweisen. Um frühere Zeiträume berücksichtigen zu können, wurden zudem die im Internet zugänglich gemachten Texte des Bonner Korpus Frühneuhochdeutsch ausgewertet sowie Belege aus Grammatiken und Sekundärliteratur einbezogen.
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen
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mit sein umfasst.4 Im Folgenden wird nun dargelegt, wie der empirische Abgleich mit den oben formulierten Bedingungen aussieht: Ad 1.: ‚Die ersten doppelten Perfektbildungen erscheinen ca. in der Mitte des 15. Jahrhunderts‘: Für die haben-Belege kann diese Bedingung bejaht werden, denn Belege, die vor dem 15. Jahrhundert datiert sind, wurden nicht gefunden. Es ließ sich jedoch ein ripuarischer sein-Beleg5 aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Bonner Korpus Frühneuhochdeutsch ausmachen: (1)
Item in desem Sexterne sall men vynden die geschychte ind verhandelunge, die van den ghenen, die sych noement van den geslechten, bynnen Coelne vurtzijtz verhandelt haint, darumb dat vplouffe ind mancherleye vngelucke bynnen der Stat van Coelne vntstanden geweyst synt. Item in desem Sexterne steit ouch dat Instrument sulchs bekentnisse, as her Heynrych vam Staue in syme lesten gedain hait. (Bonner Korpus Fnhd 151)
Die Tatsache, einen Doppelperfektbeleg aus dem 14. Jahrhundert vorzufinden, muss nicht sofort die Präteritumschwundhypothese in Frage stellen. Vielmehr ist es möglich, dass der Präteritumschwund im gesprochenen Frühneuhochdeutsch bereits früher einsetzte, als die in der Lindgren’schen Analyse verwendeten (ausschließlich medial geschriebensprachlichen) Textsorten vermuten lassen. Diese Vermutung äußert auch Jörg (1976). Dass hier jedoch ein solch alter Beleg aus einem Dialektraum vorliegt, der nicht vom Präteritumschwund erfasst war, lässt erste ernsthafte Zweifel an der Hypothese aufkommen. Ad 2.: ‚Es finden sich zunächst nur Doppelperfektbelege‘: Im analysierten Korpus überwiegen die Doppelperfektbelege und die afiniten Belege, bei denen die Tempusbestimmung des Auxi_____________ 4
5
Hierbei ist anzumerken, dass nicht alle sein-Belege doppelte Perfektbildungen darstellen. Aufgrund einer zunächst rein formalen Belegsuche sind neben doppelten Perfektbildungen auch solche sein-Prädikationen erfasst worden, die Passiv- bzw. Kopulakonstruktionen darstellen. Bei vorliegender sein-Prädikation handelt es sich eindeutig um ein Doppelperfekt. Da mit dem Verb entstehen ein intransitives Verb vorliegt, ist eine Interpretation als Passivkonstruktion nicht möglich. Auch die Interpretation von entstanden als adjektivisch (womit die vorliegende sein-Prädikation als Kopulakonstruktion interpretierbar wäre) ist selbst im Gegenwartsdeutschen unwahrscheinlich, da das Partizip weder durch Gradpartikeln wie sehr oder so ergänzbar noch durch un- präfigierbar ist.
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liars nicht präzise rekonstruierbar ist. Es findet sich jedoch auch folgender Doppelplusquamperfektbeleg aus dem 15. Jahrhundert: (2)
Det konig Tybor und die sin wurden sere erfert vnd stalten sich zu der werde das beste sie mochten, want der konig selbe ein gut ritter alle sin tage gewesen waß, vnd werte sich so lange, sonder daß er sich nit gefangen wolt geben, mit daß er erslagen wart inn siner eygen statt, als ir wol verstanden hant, wie yme die von den hyden angewonnen waß worden, das ein grosser schande waß, nachdem als er alle sin zyt wol herkommen waz vnd nach grossen eren gelebt hatte gehabt. Da nun leyder die konigynne gesach, daß ir herre erslagen, statt vnd die burg verloren waß, da mocht sie nit betrupter noch truriger gesin. (Pontus und Sidonia 48)
Der Beleg stammt aus einer anonymen Übersetzung aus dem Französischen, was Zweifel an dessen Beweiskraft hervorruft. Da es im Französischen analoge Konstruktionen zu den doppelten Perfektbildungen gibt (die sog. temps surcomposés), werfen auch Litvinov / Radčenko (1998, 92) die Frage auf, ob „der Übersetzer nach dem Prinzip der wortgetreuen Wiedergabe verfuhr und das Original an diesen Stellen kopierte“. Sie wenden daraufhin jedoch ein, dass „irgendwie [...] die Möglichkeit der DPF [Doppelperfektformen] im Deutschen also bereits im 15. Jahrhundert vorgegeben gewesen sein [muß]“ (Litvinov / Radčenko 1998, 93), um solche in einem deutschen Text zu verwenden. Es ist somit festzuhalten, dass ein sehr früher Doppelplusquamperfektbeleg existiert, dessen Überzeugungskraft jedoch durch die Tatsache, dass es sich um eine möglicherweise wortwörtliche Übersetzung aus dem Französischen handelt, geschmälert wird. Ad 3.: ‚Die Belege stammen zunächst nur aus dem Oberdeutschen‘: Für diese Bedingung konnten klare Gegenbelege im Korpus gefunden werden. Für doppelte Perfektbildungen mit sein liegt, wie bereits dargelegt, ein ripuarischer Beleg aus dem 14. Jahrhundert vor. Der früheste mitteldeutsche haben-Beleg stammt aus dem 16. Jahrhundert. Im Folgenden wird ein Beleg aus einem ostmitteldeutschen Text des 17. Jahrhunderts angeführt:6 _____________ 6
Die Einordnung des Textes als ostmitteldeutsch basiert auf der Identifizierung von einschlägigen Dialektmerkmalen.
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen
(3)
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Von solchen Spargement war nun die gantze Stadt voll! Ich hatte mich auch gäntzlichen resolviret, sie zu heyrathen und hätte sie auch genommen, wenn sie nicht ihr Herr Vater ohne mein und ihrer Wissen und Willen einen andern Nobel versprochen gehabt. Was geschahe? Damigen bath mich einsmahls, daß ich mit ihr muste an einen Sonntage durch die Stadt spazieren gehen, damit mich doch die Leute nur sähen [...]. (Reuter 17)
Sowohl die Tatsache, dass eine doppelte Perfektbildung in einem nicht-oberdeutschen Text vorkommt als auch der Textausschnitt an sich, der neben dem afiniten Doppelperfektbeleg Präteritum und Plusquamperfekt als weitere Tempora aufweist, stellen klare Indizien gegen die Präteritumschwundhypothese dar. Ad 4.: ‚Es finden sich zunächst nur haben-Belege‘: Auch diese Bedingung ist klar zu verneinen. Es wurde bereits dargestellt, dass der erste vorliegende Beleg überhaupt ein sein-Beleg aus dem 14. Jahrhundert. ist. Die Existenz doppelter Perfektbildungen mit sein trotz nach wie vor realisierbarem Plusquamperfekt stellt ein weiteres Indiz dafür dar, dass der Präteritumschwund allein keine hinreichende Begründung für die Herausbildung doppelter Perfektbildungen darstellen kann. Als Ergebnis der Überprüfung lässt sich daher festhalten, dass die vorliegende Hypothese durch 2. in Frage gestellt, durch 1., 3. und 4.) sogar entkräftet werden konnte. Der Präteritumschwund kann demzufolge nicht (alleinige) Entstehungsursache der doppelten Perfektbildungen sein. 2.2. ‚Innovative‘ Hypothese: Die Aspekthypothese 2.2.1. Erklärung der Hypothese Obwohl die bisherige Doppelperfektforschung bereits auf die Unzulänglichkeiten der Präteritumschwundhypothese aufmerksam geworden ist, sind weitere Herausbildungshypothesen bisher bis auf Rödel (2007) nicht formuliert worden. Erst Rödel (2007) arbeitet eine neue Hypothese heraus, die daher als ‚innovativ‘ bezeichnet und im Folgenden charakterisiert werden soll. Ausgehend von seiner Auffassung, dass mit den doppelten Perfektbildungen eine nicht temporale, sondern aspektuelle Erscheinung vorliegt, formuliert Rödel die These, dass es sich bei den Partizipien gehabt und
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gewesen „um einen Erweiterungsmechanismus handelt, der in der Perfektkonstruktion angelegt ist und unabhängig von Tempus und Modus des finiten Verbs funktioniert“ (2007, 193). Schon allein die Interpretation der doppelten Perfektbildungen als ein aspektuelles Phänomen verlangt nach einer Herausbildungstheorie, die der zugewiesenen aspektuellen Bedeutung Rechnung tragen kann. Rödels Ausgangspunkt ist der Verlust des aspektuell gegliederten Verbalsystems, das in älteren Sprachstufen durch die Opposition Ø – Präfix ge/ga/gi- bestanden hat (2007, 185).7 In engem Zusammenhang damit steht die Grammatikalisierung des Perfekts. Den ersten Grammatikalisierungsschritt vollzieht das Perfekt durch die Aufgabe der Kongruenz von perfektivem Partizip8 und Objekt. Die zunehmende Deaspektualisierung des Präfixes ge- (das sich nun zum Verbalflexiv entwickelt) ermöglicht im Weiteren auch nichtperfektiven Verben, ein Perfekt zu bilden. Die Konstruktion öffnet sich für temporale Lesarten und kann damit in Konkurrenz zum Präteritum treten.9 Für Rödel ist diese Grammatikalisierungssituation des Perfekts ausschlaggebend für die Herausbildung der doppelten Perfektbildungen, in denen er die perfektiven Partner des nun aspektuell neutralen Perfekts (sprachtypologisch jetzt eher ein past als ein perfect) sieht. Damit wird die Aspekthypothese auch nicht vollkommen losgelöst vom Präteritumschwund betrachtet. Das Verhältnis von Präteritumschwund und doppelten Perfektbildungen ist jedoch ein anderes: Wird in Hypothese I ein direkter kausaler Zusammenhang angenommen, so stellen in Hypothese II sowohl Doppelperfekt als auch Präteritumschwund Folgen der Perfektgrammatikalisierung dar.
_____________ 7
8
9
Die Frage, ob ältere Sprachstufen des Deutschen tatsächlich ein aspektuell gegliedertes Verbalsystem besaßen, wird durchaus kontrovers diskutiert. Auf einen Überblick über die Forschungsliteratur wird an dieser Stelle verzichtet. Siehe hierzu z.B. Schrodt / Donhauser (2003). Das Perfekt ist zu diesem Zeitpunkt nur mit perfektiven Verben bildbar. Erst ab dem 13. Jahrhundert wird die Perfektbildung mit durativen Verben häufiger. Vgl. hierzu Oubouzar (1974). Die Grammatikalisierung des Perfekts kann hier nur sehr verkürzt dargestellt werden. Ausführlicher widmen sich dieser Problematik bspw. Oubouzar (1974 u. 1997), Leiss (1992), Kuroda (1997) und Teuber (2005).
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Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen
Verlust des Aspektsystems
Grammatikalisierung des Perfekts, temporale Komponente mit wachsendem Gewicht
Konkurrenz zum Präteritum
Doppelte Perfektbildungen
Präteritumschwund
Möglichkeit des Rückgriffs auf aspektuelle Ausdrucksmöglichkeiten zur Realisierung von Vorvergangenheit
Abbildung 2: Herausbildung der doppelten Perfektbildungen nach Rödel (2007, 195)
Für die Aspekthypothese fällt es schwer, Bedingungen für die Beschaffenheit der frühesten Doppelperfektbelege zu konstruieren. Vielmehr erscheint es sinnvoll, sich der Herausbildungsfrage über den Grammatikalisierungsstatus des ge-Präfixes zu nähern. Im Folgenden soll eine erste Idee hierzu formuliert werden. Bei Rödel ist die Entstehung von Doppelperfekt an den Aspektverlust gekoppelt. Aspektverlust heißt hier, dass eine fortschreitende Grammatikalisierung und Deaspektualisierung des ge-Präfixes hin zum obligatorischen Verbalflexiv der Perfektkonstruktionen stattfindet. Indiz für die Deaspektualisiertheit von ge- stellt dessen Vorkommen am Partizip aller Verbtypen dar. Kommen Verbtypen noch ohne ge- vor, so kann geschlussfolgert werden, dass ge- mit dem vorliegenden Verbtyp (noch) nicht kompatibel ist, d.h. dass deren Bedeutungen redundant sind. Das ist vor allem bei perfektiven Verben zu vermuten, bei denen die Verbsemantik mit einer (Rest-)Perfektivbedeutung des Präfixes ge- kollidieren würde. Eine solche Unvereinbarkeit von ge- und perfektivem Verb lässt sich als Zeichen für die noch nicht vollständige Grammatikalisierung von ge- werten. Umgekehrt lässt sich daraus schließen, dass Perfektkonstruktionen
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mit perfektiven Partizipien ohne ge- selbst noch über eine (die temporale Lesart) dominierende aspektuelle Semantik verfügen.10 Deutet man nun die doppelten Perfektbildungen gerade als Möglichkeit, die in den Hintergrund getretene aspektuelle Bedeutung der Perfektkonstruktionen zu kompensieren, dürften doppelte Perfektbildungen erst bei stark überwiegendem Gebrauch von ge- mit Partizipien aller Verbtypen vorkommen. 2.2.2. Überprüfung der Hypothese Als Überprüfungsgrundlage für die Hypothese dient zunächst die Chronik des Elias Laichinger (S. 178-258), ein oberdeutscher (alemannischer) Text aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, einer Zeit also, in der doppelte Perfektbildungen bereits seit zwei Jahrhunderten belegt sind. Im Text konnten vier doppelte Perfektbildungen nachgewiesen werden, ein Doppelperfekt mit haben, zwei afinite Konstruktionen mit haben und ein Doppelperfekt mit sein. Darunter finden sich auch doppelte Perfektbildungen perfektiver Verben: (4)
den 5 diß Ist Vnßer gnädiger Landtsfürst Vnd herr, Nachdem er In dem schönen holtz Vff die 45 wilder schwein Inn eim Jagen gefangen gehabt, Vnd 3 Reh alhero komen (Laichinger 199)
Die Bildung des Partizips mit ge- von einem perfektiven Verb scheint also im vorliegenden Text prinzipiell möglich. Weitere Textbeispiele sollen dies untermauern: (5)
Den 15 Aperellen als am Ostertag Ist der hanß Jacob Veter hürsch wirtt In der herrlichen herberg Vorm thor Zu todt gefallen. In die Stieg hinab (Laichinger 193)
(6)
Anno 1662 Den 3 Jenner wie auch noch Vorherr ist ein rechte früelings Zeit geweßen als daß man Die frielings Bliemlein, als feigelein Vnd dergleichen hat in gärtten Vnd waßen gefunden, gott geb daß es Etwas guotts Bedeith. (Laichinger 220)
In der Chronik finden sich jedoch auch zahlreiche Partizipbildungen perfektiver Verben ohne ge-. Diese erscheinen, ohne genaue statistische An_____________ 10
Vgl. Ebert u.a. (1993, 238), die den Ausfall von ge- „im Zusammenhang der ‚perfektiven‘ Verben auch als Indiz für das noch bestehende Nebeneinander einer Verwendung als Wortbildungspräfix oder einer Verwendung als paradigmatisch eingebundenen Flexivbestandteils“ werten. Des Weiteren wird auf phonotaktisch und morphologisch motivierte ge-Ausfälle aufmerksam gemacht (vgl. ebd.).
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen
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gaben erhoben zu haben, sogar häufiger als Partizipien perfektiver Verben mit ge-. Im Folgenden werden einige Beispiele angeführt: (7)
den 14 februari Ist der Bernhardt Veter Megxer oder Starckh geNandt, Oberhalb Eißlingen todt In einem graben funden worden. (Laichinger 195)
(8)
Den tag Ist der Marttin Mayer meßer Schmidt, mit frauw Pflegerin, Nacher Blawbeiren gefahren Zu Ihrem Sohn welcher Im Closter, da mahl wahr Vnd hat er Vnderwegs, Vnglickh gehabt Vnd ist Im ein Bein Brochen. (Laichinger 206)
Zuweilen erscheinen mit ge- versehene Partizipien, deren Bildung sich später im standardsprachlichen Gebrauch ohne ge- durchsetzt: (9)
Den 18 Jener Ist Der herr Comensari wider weckh gmarschiert. (Laichinger 200)
Diese Belege lassen die Schlussfolgerung zu, dass ge- hier möglicherweise noch als Präfix zur Herstellung perfektiver Semantik genutzt wird, also als Möglichkeit, die ‚Tätigkeit des Wegmarschierens‘ in (9) als abgeschlossen zu kennzeichnen.11 Die uneinheitliche Bildung der Partizipien in vorliegendem Text weist auf eine noch nicht vollständige Grammatikalisierung von ge- hin. Dass dennoch doppelte Perfektbildungen vorkommen, scheint zunächst die Aspekthypothese in Frage zu stellen. Bevor jedoch weitreichendere Schlussfolgerungen gezogen werden, soll ein weiterer Text untersucht werden. Als zweiter Text wurde das Tagebuch eines Fähnrichs aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ausgewählt. Der Text stammt aus nichtoberdeutschem Sprachgebiet.12 Es finden sich darin 18 doppelte Perfektbildungen mit haben und 17 Bildungen des Typs sein + Partizip + gewesen.13 Ein Beispiel für vorkommende doppelte Perfektbildungen mit haben wird im Folgenden angeführt: _____________ 11
12
13
Leiss (2002, 14) weist darauf hin, dass es „Relikte von ge-Verben [...] bis heute in süddeutschen Dialekten, etwa im Bairischen [gibt]: Danke, des glangt jetzt vs. nhd. Danke, das langt jetzt; Do muaßma zuoglanga vs. Da muss man zulangen.“ In obigem Beispiel gmarschiert ist jedoch auch die Möglichkeit einer Bildungsunsicherheit aufgrund des Lehnwortstatus nicht zu vernachlässigen. Die regionale Einordnung des Textes soll hier nur grob als nicht-oberdeutsch erfolgen, da die Herkunft des Verfassers unklar ist und Dialektmerkmale eine Einordnung sowohl in mitteldeutsches als auch in niederdeutsches Sprachgebiet zulassen. An dieser Stelle wird ganz bewusst der Terminus ‚doppelte Perfektbildungen‘ vermieden, da es sich nicht bei allen sein-Formen um solche handelt. Vgl. Fußnote 3.
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(10) Diesen Morgen wurden 2 Dragoner von dem Corbonschen Regiment aufgehenkt, welche sich von 9, so durchgehen wollen, ausgespielet gehabt, wozu von jeder Nation etliche Manschaft commendiret wurden, der Execution beyzuwohnen. (Hannoversche Rotröcke 95) Auch in vorliegendem Text lassen sich Partizipien ohne ge- belegen, wie folgendes Beispiel zeigt: (11) Die Kranken von allen drey Regimentern wurden hierselbst ins Hospital bracht. (Hannoversche Rotröcke 35) Der stark überwiegende Teil der Partizipien wird jedoch im Gegensatz zur zuvor betrachteten oberdeutschen Laichinger Chronik sehr regelmäßig mit ge- gebildet. Das trifft auch auf die Partizipien perfektiver Verben zu: (12) Diese Nacht wurden viel Bomben hineingeworfen; weilen es aber übel geworfen, thaten sie schlechte Würkung, nunmehr wird mit 18 Mörsern zu werfen angefangen. (Hannoversche Rotröcke 84) (13) Wurd bey allen Regimentern etwas alt Kupfer von deme, was man in Modon gefunden, auf jedes regiment 170 Pfund, ausgetheilet, welches verkaufet und davor Wein, denen Soldaten zu vertrinken gegeben, sollte gekaufet werden. (Hannoversche Rotröcke 101) Es kann festgestellt werden, dass die ge-Verwendung als Verbalflexiv im nicht-oberdeutschen Text weiter fortgeschritten ist als in der oberdeutschen Chronik. Im Umkehrschluss lässt das vermuten, dass eine Verwendung von ge- als aspektuelles Präfix im nicht-oberdeutschen Text nicht mehr in dem Maße gegeben ist, wie das im oberdeutschen der Fall zu sein scheint.14 Dass in dem Text, der eine fortgeschrittenere ge-Grammatikalisierung aufweist, eine deutlich höhere Anzahl an doppelten Perfektbildungen belegt werden konnte,15 stellt ein bekräftigendes Argument für die Aspekthypothese dar. Um die Möglichkeit einer rein zufälligen Korrelation von ge-Grammatikalisierung und Vorkommen der doppelten Perfektbildungen auszuschließen, sind natürlich detailliertere Analysen weiterer historischer Texte notwendig. _____________ 14 15
Auch Leiss (2002, 14) weist im Zusammenhang mit dem Abbau der Aspektverben auf ein Nord-Süd-Gefälle hin. Der unterschiedliche Umfang der Texte wurde beim Vergleich der Anzahl doppelter Perfektbildungen natürlich berücksichtigt.
Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen
233
3. Fazit und Ausblick Der vorliegende Beitrag widmete sich der Herausbildungsfrage der doppelten Perfektbildungen. Es wurden zwei Hypothesen vorgestellt und anhand eines historischen Korpus doppelter Perfektbildungen überprüft. Dabei hat sich die Präteritumschwundhypothese v.a. aufgrund von frühen nicht-oberdeutschen Belegfunden sowie frühen sein-Belegen als nicht haltbar erwiesen. Auch die Aspekthypothese schien durch die Ergebnisse der untersuchten oberdeutschen Chronik fragwürdig zu sein. Zweifel an der Hypothese erweckte v.a. die Tatsache, dass trotz noch nicht vollständiger Grammatikalisierung von ge- als Verbalflexiv doppelte Perfektbildungen auftraten. Die Untersuchung eines zweiten, nicht-oberdeutschen Textes ergab jedoch ein anderes Bild. Hier konnte sowohl eine fortgeschrittenere Grammatikalisierung von ge- als auch eine größere Anzahl an doppelten Perfektbildungen festgestellt werden. Somit scheint das untersuchte empirische Material kompatibel mit der Hypothese, dass doppelte Perfektbildungen sich zur Kompensation der mit der ge-Grammatikalisierung verloren gegangenen Möglichkeit zur Wiedergabe aspektueller Bedeutung herausbildeten. Die Ergebnisse der Untersuchungen tragen ebenso Erkenntnissen aus der Grammatikalisierungsforschung Rechnung, die bei Sprachwandelprozessen ein vorübergehendes Nebeneinander neuer und alter Formen für eine bestimmte Kategorie bis zum ‚Sieg‘ der neuen Form konstatieren. Unter diesem Gesichtspunkt stellen auch die Ergebnisse aus der oberdeutschen Chronik keinen Widerspruch mehr zur zugrunde liegenden Hypothese dar. Es sei abschließend betont, dass die Beantwortung vieler Fragestellungen im vorliegenden Beitrag lediglich fragmentarisch erfolgen konnte. Zur kritischen Überprüfung und Bewertung der hier gewonnenen Eindrücke sind weitere Untersuchungen anhand größerer Textmengen aus verschiedenen Dialektgebieten und Zeiträumen erforderlich.
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Aspekte diachronischer Fundierung Historische Linguistik und mentale Repräsentation flexionsmorphologischen Wissens∗
Andreas Bittner (Münster) Was sich im Wandel durchsetzt, muss … psychisch real sein Für Gustav und Willi
1. Einleitung An Fakten der historischen linguistischen Forschung und Standards der historischen Grammatikschreibung sollen im folgenden Text Ergebnisse und Überlegungen aus dem Spracherwerb überprüft werden, aus denen sich über die Form der mentalen Repräsentation grammatischen Wissens zwar tendenzielle, aber keineswegs eindeutige Aussagen ableiten lassen. Bei der Analyse der diachronischen Daten aus Sprachgeschichte und Sprachwandel geht es nicht um eine Diskussion der Detailgenauigkeit und tatsächlichen Haltbarkeit der in den Grammatiken postulierten sprachhistorischen Entwicklungen. Im Zentrum steht vielmehr die Herausarbeitung verallgemeinerbarer Tendenzen und auf ihnen basierender Schlussfolgerungen für eine sprachtheoretische Modellierung. Diesem Vorgehen liegt die Überzeugung zugrunde, dass sprachtheoretische Beschreibungen und Hypothesen nur durch die Einbeziehung von Wissen über Sprachgeschichts- und Sprachwandelprozesse, vom „Erkenntnispotential der diachronischen Grammatik“ (Wurzel 2000, 418), dem Gegenstand Sprache gerecht werden können. Die Idee, in diesem Beitrag die theorierelevante Rolle der historischen Linguistik zu betonen und sie ganz selbstverständlich als Instanz der Entscheidung über die Adäquatheit von Aussagen über die Sprache heranzuziehen, geht auf zwei Aufsätze zurück, Mayerthaler _____________ ∗
Für die Diskussion und für kritische Hinweise danke ich besonders den Teilnehmern des Kongresses ‚Historische Textgrammatik und historische Syntax des Deutschen‘. Gewidmet ist der Beitrag dem Andenken an Willi Mayerthaler und Gustav Wurzel.
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(1981b) und Wurzel (2000), die leider kaum rezipiert wurden. Deren zentrale Überlegungen werden hier in die Diskussion um die mentale Repräsentation von grammatischem Wissen eingebracht. Die Beispielfälle entstammen der deutschen Verbflexion, behandelt werden also Fakten aus dem Bereich des morphologischen Wandels, wobei eine Beschränkung auf die Fragen des Auftretens und der Rolle von paradigmatischen Kennformen und deren Verknüpfung mit spezifischem, paradigmatisch organisiertem Flexionsverhalten vorgenommen wird. Aus den jeweiligen Wandelbeobachtungen werden Schlüsse für die mentale Repräsentation grammatischen Wissens gezogen.
2. Ausgangsüberlegungen: Spracherwerb – mentale Repräsentation Den konkreten Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen stellen Untersuchungen zum späten Spracherwerb im Bereich der Verbmorphologie des Deutschen dar, die Antworten auf Fragen zur mentalen Repräsentation grammatischen Wissens und ihrer Modellierung geben sollten. Die Datengrundlage lieferte eine Pilotstudie mit ausnahmslos muttersprachlich Deutsch sprechenden Schülern einer 5. Jahrgangsstufe, die 2005 in Münster durchgeführt wurde. Dabei waren fünf Kunstverben in jeweils vier morphosyntaktische Kontexte (Singular Präsens, Singular Präteritum, Konjunktiv II, Partizip II) einzubetten (zu den Details vgl. Bittner / Köpcke 2007). Überprüft werden sollte, ob die mentale Repräsentation morphologischen Wissens auf der Grundlage eines gebrauchsbasierten Modells (‚Usage-Based Model‘) erfolgt, das von einer schematischen Repräsentation ausgeht, und ob ein solches Modell den empirischen Tatsachen eher gerecht wird als ein Regel-und-Listen-Modell. Es wurde also weder angenommen, dass die Sprecher nur zwischen regulärer (regelmäßiger, -geleiteter) und irregulärer (einzeln speichernder) Flexionsweise unterscheiden, noch dass auftretende unbekannte Verben ausnahmslos schwach flektiert werden. Wichtige Grundannahmen gebrauchsbasierter Modelle lassen sich so formulieren: •
Der Gebrauch sprachlicher Formen in Produktion und Perzeption beeinflusst die mentale Repräsentation sprachlichen Wissens,
•
Wörter und Wortformen schließen sich im mentalen Gedächtnis des Sprechers zu Mustern (oder Schemata) zusammen; Mus-
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Aspekte diachronischer Fundierung
ter / Schemata sind mehr oder weniger starke Abstraktionen konkreter Wörter / Wortformen, •
die Stärke eines Musters / Schemas („lexikalische Stärke“) bestimmt sich aus seiner Type-Frequenz, seiner Token-Frequenz und seiner Validität.
Verifiziert wurden auf dieser Basis zwei Hypothesen. Zum einen die Hypothese, dass nicht jede (neue) phonematische Struktur automatisch als Kandidat für schwaches Flexionsverhalten interpretiert wird, sondern Sprecher Muster / Schemata identifizieren, also gespeichert haben, die mehr oder weniger eindeutig mit schwachem oder starkem Flexionsverhalten assoziiert werden können. Welche phonologischen Strukturen, von denen angenommen werden kann, dass sie direkt als Muster / Schemata starker Flexion fungieren können, Gegenstand der Untersuchung waren, wird anhand der fünf Testitems deutlich, die hinsichtlich ihrer Prototypikalität für starke Flexion geordnet in Abbildung 1 dargestellt sind. schwach [[#__/a/__#]St ən]V
schlasen (blasen)
stark [[#__/ai/__#]St ən]V
schleiten (gleiten)
[[#__/i+NASAL+(KONS)/]St ən]V
[[#__/i+n/]St ən]V
[[#__/i+nk/]St ən]V
[[#__/i+ŋ/]St ən]V
pfrinnen (rinnen)
prinken (trinken)
wingen (singen)
Abbildung 1: Prototypikalitätsskala starker phonematischer Muster / Schemata (5 Testitems)
Zum anderen wurde die Hypothese überprüft, dass die Favorisierung des starken Flexionsmusters gegenüber dem schwachen nicht nur von der spezifischen lexikalischen Stärke eines phonematischen Musters / Schemas abhängig ist, sondern auch von der jeweils stark realisierten grammatischen Kategorie. Treten starke Flexionsformen im Singular Präsens auf, dann sollten starke Formen auch im Präteritum, Konjunktiv II und Partizip II auftreten. Ist das Präteritum stark realisiert, sollten auch Konjunktiv II und Partizip II stark flektiert werden, nicht aber notwendigerweise der Singular Präsens usw. Daraus ergibt sich wiederum eine Prototypikalitätsskala (vgl. Abbildung 2, zu den Details nochmals Bittner / Köpcke 2007).
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Andreas Bittner
stark
schwach 3.Ps.Sg.Präsens Präteritum (Konjunktiv II) Partizip II
Präteritum (Konjunktiv II) Partizip II
(Konjunktiv II) Partizip II
Partizip II
Abbildung 2: Prototypikalitätsskala starker phonematischer Muster / Schemata (Kategorienbezug)
Die Ergebnisse ließen in der Tendenz Hypothese 1 plausibel erscheinen, dass die Items als Muster / Schemata starker Flexion interpretiert und umso eher wie starke Verben behandelt werden, je weiter rechts sie auf der Prototypikalitätsskala (1) angeordnet sind. Sie verwiesen darüber hinaus im Sinne von Hypothese 2 auch auf eine Verknüpfung der analysierten Muster / Schemata mit spezifischem Flexionsverhalten in implikativen, wenn-dann-bestimmten Strukturkombinationen. Die starken Verben sind diesen Überlegungen zufolge im mentalen Lexikon1 der Sprecher nicht als sprachliche Einzeltatsachen abgelegt und als Ausnahmen zu Regeln gekennzeichnet. Vielmehr werden Verben allgemein von Sprechern zu unterschiedlich großen Gruppen zusammengeschlossen, die auf validen und für das Flexionsverhalten relevanten gemeinsamen Eigenschaften beruhen (vgl. Bittner / Köpcke 2007). Trotz der deutlich werdenden Tendenz der Sprecher zu eher konnektionistisch beschreibbaren Verfahrensweisen blieben die Evidenzen für die Präferierung einer schematischen Repräsentation (assoziative Netze) gegen ein bloßes Wörter- und Regelmodell (bzw. eine umgekehrte Präferenz) doch relativ vage. Die Ergebnisse sprachen eher für die Annahme eines Nebeneinanders von Techniken, die von Sprechern einzeln auf die jeweils für sie einschlägige Gruppe angewandt werden. Das reicht von der generellen Regel über motivierte Muster / Schemata, (mehr oder weniger) direkter Analogie geschuldete Cluster bis zu Einzelspeicherung. Die Relation, in der die einzelnen Techniken zueinander stehen, und die konkrete Verknüpfung von Mustern / Schemata mit Bündeln von Kategorienrealisierungen (Wort- bzw. Flexionsformen) blieben dabei allerdings unklar und bedürfen einer genaueren Untersuchung. Außerdem stellt die Gerichtetheit (hierarchische Implikativität) sowohl des Kontinuums als auch der Kategorienrealisierungen ein Problem für die theoretische Beschreibung und Erklärung besonders auch im Rahmen assoziativer Netzwerke dar. _____________ 1
Der Begriff mentales Lexikon steht hier für den Speicherort, an dem die Sprecher flexionsmorphologisches Wissen ablegen.
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Ich möchte im Folgenden die Überlegungen auf einen weiteren Faktenbereich ausdehnen, um die dargestellten Ergebnisse und Tendenzen überprüfen und vertiefen zu können, und die genannten Defizite zu beleuchten. Was liegt näher, als sich dazu Prozessen der Sprachveränderung als Prüffeld grammatiktheoretischer Überlegungen und für Hypothesen zur mentalen Repräsentation sprachlichen Wissens zuzuwenden? Wo sonst als im Sprachwandel sollten die tatsächlich etablierten, psychisch realen, d.h. vom Sprecher angewandten grammatischen Strukturen und Zusammenhänge deutlich sichtbar werden?
3. Sprachgeschichte / Sprachwandel als zentraler Modellierungs-, Testund Faktenbereich Noch vor dem Spracherwerb und der Kindersprache stellt die Sprachveränderung den zentralen Faktenbereich2 dar, um Einsichten in die Struktur einer Sprache (und von Sprache generell) und ihr Funktionieren und damit in die Organisation von Grammatik – um die es hier im Wesentlichen geht – zu gewinnen. Dabei werden sich in der Sprachgeschichte manifestierende grammatische ‚Gesetzmäßigkeiten‘ angenommen, Sprachgeschichtsprozesse nicht als zufällig und unmotiviert bzw. als Sonderfälle sprachlicher Entwicklung verstanden. Variabilität, zumal diachronische, ist eine grundlegende universelle Eigenschaft von Sprache. In ihr und in der auf ihr basierenden Veränderung von Sprache werden grammatische Zusammenhänge erfahrbar. Auf den unmittelbaren Zusammenhang von Sprachwandel und Spracherwerb weist nicht nur Mayerthalers (1981, 25) Statement, „was sich im Wandel durchsetzt, muß erworben, also auch psychisch real sein. [...] [E]s [gibt] kein adäquates Verständnis des Sprachwandels ohne das des kindlichen Spracherwerbs [...]“, hin. Auch für den Aspekt, dass an die Sprachgeschichte, enger gefasst: an die historische Grammatikforschung, als empirische und theoretische Wissenschaft auch hinsichtlich der Ausschöpfung ihrer sprachtheoretischen Potenzen Forderungen zu formulieren sind, können seine provokanten Überlegungen herangezogen werden: „Eine wohlverstandene historische Sprachwissenschaft macht empirisch überprüfbare [falsifizierbare] _____________ 2
Weitere einschlägige Faktenbereiche für falsifizierbare sprachtheoretische Hypothesen (nicht nur bezogen auf die Flexionsmorphologie) sind z.B. die Behandlung von neuen Wörtern bzw. die von Kunst- oder Nonsenswörtern, die Fehlerlinguistik, die Akzeptabilität grammatischer und ungrammatischer Formen, aphasische Störungen und der ungesteuerte Fremdsprach- bzw. Zweitspracherwerb, vgl. z.B. Bittner (1996, 66ff.).
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Prognosen und trägt deshalb in einem wissenschaftstheoretisch relevanten Sinn [...] zur Sprachtheorie bei [...]“ (ebd., 37). Die Basis dafür und damit für den generell ‚experimentellen‘ Charakter von historischer Sprachentwicklung und Sprachveränderung ist einleuchtend: Welch besseren und vielfältigeren Testbereich für das Problem der psychischen Realität kann es eigentlich geben? [...] Man verfügt über hinreichend große Populationen, über Beobachtungszeiträume, welche diejenigen üblicher psycholinguistischer Experimente als im Grenzwert gegen Null tendierend erscheinen lassen und die Experimente einer immer wieder versuchten Sprachoptimierung werden seit hunderten von Jahren in kontrollierbarer Weise reproduziert. Was will man mehr von einer Versuchsanordnung als einer solchen, wie sie Sprachwandel konstituiert? (ebd., 24)
Im Sinne Mayerthalers sollen nun also Daten aus der Sprachveränderung (Sprachentwicklung) zur Verifizierung der Hypothesen herangezogen werden, die auf der Basis von Spracherwerbsdaten postuliert wurden. 3.1. Grundannahmen zur sprachtheoretischen Relevanz von Sprachveränderung Einschlägig sind dabei natürlich Sprachveränderungen, die die Folge von Konflikten im Sprachsystem selbst sind, die „im System angelegt“ sind (Paul 1975), und somit grammatisch (und nicht sozial) initiiert sind. Abbildung 3 gibt eine Übersicht über Sprachwandeltypen und ihre Abhängigkeiten und macht deutlich, dass die hier behandelten Veränderungen unter der Bezeichnung system-initiierter Wandel firmieren. Grammatisch initiierter Wandel ist dadurch motiviert, dass durch ihn grammatische Komplexität, die die menschliche Sprachkapazität hinsichtlich bestimmter Eigenschaften – diese Einschränkung bzw. Konkretisierung ist wichtig – belastet (auch Markiertheit genannt), im Bereich von Phonologie, Morphologie und Syntax abgebaut wird.3 Er führt damit zu weniger komplexen, präferenteren grammatischen Strukturen. Das theoretisch Konzeptionelle, das die folgende Auswahl von Untersuchungsinstrumentarien und Erklärungsmustern steuert, ist vor allem im Rahmen von Natürlichkeits- und Präferenztheorien unter dem Gesichtspunkt der Markiertheit grammatischer Erscheinungen und ihrer Rolle im Sprachwandel entwickelt worden (vgl. für den Zusammenhang hier z.B. Bailey 1973; Mayerthaler 1981a; Vennemann 1983, 1990; Wurzel 1984, 1994; Dressler u.a. 1987; Bittner 1996). _____________ 3
Für den semantisch initiierten Wandel ist das bisher wenig untersucht.
morphol. Wandel
syntakt. Wandel
Grammatikalisierung
semantisch initiierter W.
lexikalischsemant. Wandel
Abbildung 3: Sprachwandeltypen (nach Bittner, A. in Wurzel 1994, 99)
phonol. Wandel
grammatisch initiierter W.
systeminitiierter Wandel
Kontakt
lexikalischsemant. Wandel zur Beseitigung v. Bezeichnungsdefiziten
außersprachlich initiierter Wandel
nichtintendiert
Entlehnung
gelehrt
Sprachmischung
sprachkontaktinitiierter W.
Pidgin / Kreolisierung
Sprachwandel
Sprachnormierung, -planung, -politik; Schaffung von Fachsprachen / Terminologien
sozialinitiierter Wandel
intendiert
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Andreas Bittner
Die folgende konkrete Analyse sprachlicher Daten erfolgt ausschließlich auf der Basis historischer Grammatiken (vgl. Literaturliste), dem Duden und Bittner (1996, 1998). Sie übernimmt außerdem Daten aus und orientiert sich an Wurzel (1999, 2000). Die Problematik dieser Quellenauswahl (vgl. dazu z.B. Wegera 1990, Leiss 1998) wird dabei bewusst in Kauf genommen. Der Fokus der Erörterungen liegt auf der Interpretation sprachhistorischer Fakten hinsichtlich ihrer Bedeutung für die linguistische Theoriebildung und in Bezug auf die Art und Weise ihrer Einbindung in sprachtheoretische Überlegungen. Aus möglichen Ungenauigkeiten der Daten, die der unzureichenden Quellenlage zuzuschreiben sind, sollten keine grundsätzlichen Gegenargumente zur vorgenommenen Interpretation resultieren – es sei denn, man stellte die bisherige Sprachgeschichtsschreibung insgesamt zur Disposition. Genereller Untersuchungsbereich ist die deutsche Verbmorphologie, konkret sollen Aspekte der mentalen Repräsentation grammatischen Wissens mit Fakten des Übertritts von den starken zu den schwachen Verben konfrontiert werden. 3.2. Hypothesen zum Wandel Zunächst sollen die o.g. Hypothesen für eine Überprüfung im Rahmen des Sprachwandels angepasst und konkretisiert werden. •
Hypothese 1: Sprachhistorische Veränderungen / Sprachwandelprozesse verweisen bezogen auf die segmentale Repräsentation der Lexeme im mentalen Lexikon (Repräsentation morphologischen Wissens) darauf, dass diese Repräsentation auf der Basis prädiktiver Kennformen (Muster / Schemata) erfolgt, sie ist außerdem wortund nicht (stamm)morphembasiert.
•
Hypothese 2: Sprachhistorische Veränderungen / Sprachwandelprozesse verweisen bezogen auf die Repräsentation morphologischen Wissens darauf, dass die Spezifizierung des flexionsmorphologischen Verhaltens (Prinzipien der Zuordnung zu Flexionsklassen) auf der Basis nichtmorphologischer Eigenschaften dieser prädiktiven Kennformen (Muster / Schemata) und im Rahmen gerichteter paradigmatischer Strukturbedingungen erfolgt.
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4. Verifizierung der Hypothesen: Beobachtung einschlägiger Sprachveränderungen 4.1. Wandelbeobachtung 1 zu Hypothese 1 Es genügt ein Blick auf die bekannten Standardbeispiele, den auch Wurzel (2000) bereits vorgenommen hat. Das Ahd. weist vier relativ stabile verbale Flexionsklassen auf. Die Verben der einzelnen Klassen mit (partiell) unterschiedlichem Flexionsverhalten unterscheiden sich in der phonologischen Form der Infinitive: Die Klasse der starken Verben (geban) steht drei schwachen Klassen gegenüber, der jan-Klasse (suochen),4 der ōnKlasse (salbōn) und der ēn-Klasse (habēn).5 Wie zu sehen ist, liegt die phonologische Distinktivität nicht im Wortstamm, sondern in den morphologischen (‚wortartspezifizierenden‘) Endungen. Phonologischer Wandel (Neutralisation der Vokale unbetonter (Neben-)Silben) führt dann im Übergang zum Mhd. zur Vereinheitlichung aller Infinitivmarker zu phonetisch [-ən], vgl. mhd. geben, suochen, salben, haben. Nach dieser Neutralisierung beginnen Sprecher ursprünglich starke Verben schwach zu flektieren, was auch noch im Gegenwartsdeutschen geschieht, wenn auch sprachpflegerisch, durch Normierungsdruck und schulische Sozialisation behindert; vgl. frnhd. bellen, kreischen, schmiegen – Präteritum boll, krisch, schmog > nhd. Präteritum bellte, kreischte, schmiegte (Bsp. nach Wurzel 2000, 419). Gegenwärtig vollzieht sich bei mehr als 50 Verben dieser Übergang zur schwachen Flexionsweise, vgl. z.B. fechten, gären, hauen, melken, schallen und saugen – Präteritum focht, gor, hieb, molk, scholl, sog > fechtete, gärte, haute, melkte, schallte, saugte (vgl. Bittner 1996, 111). Dies lässt sich folgendermaßen interpretieren: Es drängt sich bei der durch die Fakten skizzierten Abfolge die Schlussfolgerung auf, dass das Auftreten dieses morphologischen Wandels von der phonologischen Form des Wortes abhängig ist, die sich im Deutschen in der Form des Infinitivs (und teilweise in den abgeleiteten Wortformen) bestens manifestiert. Wurzel (2000, 420) konstatiert, dass der Wandel dann einsetzt, „wenn man dieser Form die Flexionsklassenzugehörigkeit der Lexeme“ und damit die Flexionsweise „nicht mehr ansehen kann“. Solange der Infinitiv eines Verbs auf -an endet, kann das entsprechende Verb nicht schwach flektiert werden. Deshalb treten Wandelerscheinungen wie die _____________ 4 5
Starke j-Präsentia, die im Infinitiv und in der Präsensflexion wie schwache jan-Verben aussehen, sind ahd.: intrīhhen (I), bitten, liggen, sitzen (V), swerien, scephen, heffen, intseffen (VI) und erien (reduplizierend); vgl. (Braune 1987, 282f. und 264ff.). Bei den drei schwachen ahd. Verbklassen finden sich Reste einer jeweiligen semantischen Motivierung: Intensiva, Iterativa (ōn-Verben); Durativa, Inchoativa (ēn-Verben); Kausativa (en-(< jan)Verben).
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Andreas Bittner
Übergänge von starken Verben zu den schwachen erst nach den phonologischen Neutralisierungen auf, wenn also z.B. das schwache Verb leben und das starke Verb geben in der Form des Infinitivs hinsichtlich der Flexionsweise nicht mehr unterschieden werden können. Plausibel erscheint die Annahme Wurzels (vgl. ebd., 420f.), dass ein starkes Verb wie geban und ein schwaches Verb wie suochen im mentalen Wissen der Sprecher des Ahd. als [[geb]BM an]V bzw. [[suox]BM en]V abgelegt sind6 und nicht als [geb]VBM, stark bzw. [suox]VBM, schwach (also als Stammmorphem mit diakritischer Flexionsangabe), weil bei letzterer Repräsentation „das Auftreten des Wandels gerade zum Zeitpunkt der phonologischen Neutralisierung [...] sich [...] nicht sinnvoll erklären [läßt]“ (ebd., 420). Daraus folgt, dass die mentale Repräsentation der Verben im Ahd. in der Form des Infinitivs realisiert wird, die damit die lexikalische Grundbzw. Kennform darstellt, die als Basis für die Ableitung sämtlicher Flexionsformen fungiert. Die ahd. Verbflexion ist auf dieser Faktenbasis von den Sprechern „wortbasiert und nicht morphembasiert organisiert“ (ebd., 421). Diese strikte Annahme über die Organisation flexionsmorphologischen Wissens in Sprachen mit ausgeprägter Flexionsmorphologie könnte für das Deutsche ab dem Mhd., also nach der phonologischen Neutralisierung der Vokale der morphologischen Endungen, angezweifelt werden. Es wird zu zeigen sein, dass auch in den auf das Ahd. folgenden Sprachperioden eine Form wie [[geb]BM mn]V als Kennform und Ableitungsbasis dient, also keine Stammmorphembasierung der Verbflexion vorliegt (vgl. auch Bittner / Köpcke 2007). Der Infinitiv trägt also nicht nur strukturelle Merkmale der wortartspezifischen Flexion und fungiert über eindeutige grammatische Morpheme als Auslöser der entsprechenden Flexionsweise und -klassenzugehörigkeit. Mit diesen Trägern grammatischer Information muss auch ein Bündel distinktiver, gerichteter Flexionsformen verknüpft sein. Da die Sprecher des Mhd. dem Verlust dieses Indikators für Flexionsverhalten durch phonologischen Wandel nichts entgegengesetzt haben, liegt die Vermutung nahe, dass das Zulassen dieses phonologischen Wandels Teil eines morphologischen Wandelprozesses ist, bei dem das bisherige mindestens aus vier Klassen bestehende, ursprünglich semantisch motivierte Zuordnungssystem verändert, (wieder) eindeutiger gemacht werden soll. Die Sprecher hatten wohl den Eindruck, dass die Komplexität der semantischen Motivierung dieses morphologischen Teilsystems und die ihr innewohnenden Überschneidungen und Mehrdeutigkeiten, die _____________ 6
Sie werden dann mhd. phonologisch zu [[geb]BM mn]V bzw. [[suox]BM mn]V neutralisiert (V – Verb, BM – Basismorphem, VBM – verbales Basismorphem), vgl. Wurzel (2000, 420).
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eine entsprechende Komplexität der morphologischen Kennzeichnung erforderten, die Handhabbarkeit des morphologischen Codesystems unnötig erschweren. Merkmale der phonologischen Struktur bzw. ihrer Realisierung sollen als Indikatoren möglichst eindeutiger, distinkter Inhalte bzw. Funktionen dienen, zumal sie ständig der Gefahr artikulatorischer Aufwandsbeschränkung ausgesetzt sind. Der so motivierte morphologische Veränderungsprozess orientiert sich an der morphologischen Kennzeichnung der Unterscheidung der ‚Wortart‘ Verb von anderen ‚Wortarten‘ und zunehmend weniger an der Binnendifferenzierung von Verbtypen. Das Zulassen der phonologischen Neutralisation signalisiert die morphologische Umorganisation in Richtung der Flexionsweise bzw. -klasse, die hinsichtlich unterscheidender Merkmale für Inhalte / Funktionen eindeutiger ist und den Sprecherkriterien Uniformität, Transparenz und Ikonizität (vgl. Mayerthaler 1981a; Dressler u.a. 1987; Wurzel 1984) besser entspricht. Das geht in der Regel damit einher, dass diese das System dominieren bzw. Systemangemessenheit erlangen und auch hinsichtlich der Type-Frequenz die jeweils mächtigere Flexionsweise darstellen (vgl. Bittner 1996, 20ff.). Damit sind universelle Kriterien morphologischer Kategorienkennzeichnung benannt, wobei noch einmal hervorgehoben werden soll, dass Sprachnutzer morphologische Eigenschaften an nichtmorphologische binden, also nichtmorphologische Eigenschaften von Lexemen nutzen, und zu einer relativen (funktional gesteuerten) Vereinheitlichung von Kennzeichnungsmitteln und -systemen tendieren. 4.2. Wandelbeobachtung 2 zu Hypothese 1 Der skizzierte morphologische Wandel führt nach der phonologischen Veränderung des Infinitivs (und abgeleiteter Formen) tendenziell, d.h. keineswegs unmittelbar und ausnahmslos, zu einer Veränderung der Flexionsformen des Singulars Präsens, des Präteritums, des Konjunktivs Präteritum (Konjunktiv II) und des Partizips Perfekt (Partizip II), was zunächst einmal darauf hinweist, dass nicht alle Formen eines Paradigmas einfach lexikalisch gespeichert bzw. nach einheitlichen Regeln erzeugt sein können, vgl. die Übersichten 4 und 5, außerdem Bittner (1996) und Bittner / Köpcke (2007).
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4.3. Schlussfolgerungen zu 4.1. und 4.2. Aus den beiden Wandelbeispielen lassen sich für die mentale Repräsentation von grammatischem Wissen folgende Schlüsse ziehen, die gleichzeitig eine Verifikation der Hypothese 1 beinhalten: 1. Flexionsmorphologisches Wissen ist in Form von Kennformen (Grundformen; Mustern / Schemata) repräsentiert. Das geschieht durch konkrete Wortformen (nicht durch Stammmorpheme). Außerdem weist die Wandelbeobachtung 2 darauf hin, dass nicht sämtliche Flexionsformen des Paradigmas lexikalisch gespeichert sind, das dürfte lediglich bei starker Suppletion der Fall sein. 2. Die prädiktive Kennform (Muster / Schema) für die deutsche Verbflexion ist der Infinitiv. Die Schlussfolgerung, dass der Infinitiv, eigentlich eine Nominalform (?), die Kennform des deutschen Verbs bilden soll, wird nicht so ohne Weiteres auf Akzeptanz stoßen. Ein kurzer Exkurs soll für einige, die Feststellung plausibel machende Fakten sorgen. 4.4. Exkurs: Probleme mit dem Infinitiv Welche Zweifel sind am Infinitiv zu hegen? Man kann argumentieren, dass der Infinitiv eine Nominalform und damit gar nicht Teil des Verbparadigmas ist, also auch nicht dessen Kennform sein kann. Er steht außerdem in Konkurrenz zur 3.Ps.Sg.Präs.Ind., die eine hohe Token-Frequenz aufweist, bzw. zu einer anderen singularischen Präsensform, z.B. der 1.Ps.Sg.Präs.Ind. Auch hier soll ein Blick auf einschlägige Wandelprozesse zu Antworten führen. 4.4.1. Wandelbeobachtung: Richtung von Wandelprozessen Auf der Suche nach entsprechenden Gegenargumenten sollen die Ausgleichsprozesse im Präsensvokalismus und -konsonantismus der starken Verben betrachtet werden. Im Frnhd. erfahren starke Verben mit ie-eu-Wechsel im Präsens einen Ausgleich des Präsensvokalismus durch den Vokal [ī] (vgl. z.B. frnhd. fliegen, fliege, fleug(e)st, fleug(e)t, (wir) fliegen > nhd. fliegen, fliege, fliegst, fliegt, (wir) fliegen). Im Paradigma des starken Verbs sehen bspw. wird ebenfalls im Frnhd. die (konsonantische) Alternation zwischen [ç] und ∅ (vgl. frnhd. sehen, sehe, sichst, sicht, (wir) sehen) zugunsten der ∅-Formen aufgegeben (vgl.
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nhd. sehen, sehe, siehst, sieht, (wir) sehen). Das deverbale Nomen Sicht wird davon nicht erfasst. Was auffällt ist, dass beide Alternationstypen zugunsten einer Form aufgegeben werden, die (auch) die des Infinitivs ist, aber nicht die der 3.Ps.Sg.Präs.Ind. Die starke Verbklasse und die (größere) Klasse der schwachen janVerben stimmen im Ahd. in ihrer Präsensflexion überein. Es finden aber keine Übergänge zwischen den Klassen statt. Wäre die 1.Ps.Sg.Präs.Ind. oder eine andere Form des Präsens Indikativs die Kennform, sollten solche Übergänge zumindest tendenziell auftreten.7 4.4.2. Grundform vs. Stammflexion Auf eine notwendig durch die Kennform zu erfüllende strukturelle Eigenschaft muss explizit hingewiesen werden. Die deutsche Verbflexion (vom Ahd. bis zum Nhd.) funktioniert nach dem Prinzip der Stammflexion (vgl. ahd. nëm-an – nim-u (1.Ps.Sg.Präs.Ind.) und nhd. nehm-en – nehm-e). Für eine wortbasierte morphologische Repräsentation ist es also wichtig, dass die Kennformen (Muster / Schemata) morphologisch gegliedert repräsentiert sind, Flexionsregularitäten Zugriff auf den Stamm haben (z.B. ahd. nëman als [[nëm]St an]V, nhd. nehmen als [[ne:m]St mn]V, vgl. Wurzel 1999).8 4.4.3. Interpretation der Beobachtungen Der Infinitiv der Verben im Deutschen erfüllt offensichtlich wichtige Anforderungen an eine Kennform (Muster / Schema), indem er ganz oder partiell ([[ge:b]St mn]V) die Eingabevoraussetzungen für die Anwendung von Flexionsregularitäten (ob Regelmodell oder Vernetzung) liefert, hinsichtlich seiner Kategoriensemantik wenig komplex ist (vgl. Mayerthaler 1980, 11ff.) und weitgehende Informationen über das Flexionsverhalten des jeweiligen Lexems enthält. _____________ 7
8
Nicht alle Ausgleichsprozesse innerhalb eines Paradigmas müssen in Richtung Kennform verlaufen. So kommt es im Frnhd. zur Entwicklung von zemen – es zimt zu ziemen – es ziemt, wobei der Vokal der 3.Ps.Sg., der bei unpersönlichen Verben häufigsten Personalform, verallgemeinert wird. Da solche Ausgleichsprozesse nur innerhalb eines Flexionsparadigmas stattfinden, spricht das für die Zugehörigkeit des Infinitivs zum verbalen Paradigma. Auch für das Erkennen der Kunstverben und die Schemaidentifikation auf der Basis von Eigenschaften der phonologischen Struktur im Rahmen der Tests zum späten Spracherwerb war die Präsentation als ganze Wortform, die dann von den Kindern mühelos gegliedert wurde, notwendig (vgl. Bittner / Köpcke 2007).
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Andreas Bittner
4.5. Erklärungsansatz für die Übertritte der starken zu den schwachen Verben Ausgangspunkt für diesen Typ von Wandel sind die Sprecher / Hörer einer Sprache mit ihrer Kapazität zur Sprachverarbeitung und ihrem sprachlichen Agieren. Sprachliche Strukturen und systematische Zusammenhänge werden von ihnen hinsichtlich ihrer Komplexität, ihrer Eindeutigkeit und ihrer Funktionalität einer ökonomischen Analyse unterworfen, die immer eine auf spezifische Eigenschaften einer Ebene des Sprachsystems bezogene, skalare Ergebnisorientierung hat. Wenn man sich fragt, weshalb in den skizzierten Fällen Übergänge von starker zu schwacher Flexionsweise tatsächlich eintreten, bietet sich als plausibles Erklärungsmuster an, dass grammatisch initiierter phonologischer, morphologischer und syntaktischer Wandel dadurch motiviert ist, dass durch ihn immer die menschliche Sprachkapazität belastende grammatische (hier morphologische) Komplexität (Markiertheit) abgebaut wird (vgl. Wurzel 1994). Bei den sprachhistorischen Veränderungen der Flexionsweise deutscher Verben würde somit ein Abbau ‚zusätzlicher‘ Spezifikationen im mentalen Lexikon der Sprecher diese Verringerung belastender Komplexität bewirken. Welcher Art sind diese ‚zusätzlichen‘ Spezifikationen? An die phonologische Struktur der gegliederten Kennform knüpfen Sprecher Informationen hinsichtlich des Flexionsverhaltens mit unterschiedlichem Spezifikationsgrad. Außerdem müssen auch da, wo man den jeweiligen Kennformen nicht mehr eindeutig ansehen kann, wie das Lexem flektiert wird, Verben im mentalen Lexikon distinkt repräsentiert sein, wenn sie unterschiedlich flektiert werden sollen. Aus den Beispielen wird deutlich, dass da, wo Verben mit den gleichen außermorphologischen (phonologischen) Eigenschaften unterschiedlich konjugiert werden, jeweils die weniger normale Flexionsweise im mentalen Lexikon durch das Einbeziehen spezifischerer Eigenschaften (z.B. spezifische Konstellationen der phonologischen Struktur) bzw. durch zusätzlich gespeicherte Kennformen und / oder Marker spezifiziert ist. Bei dieser Motivierung von Veränderungen treten Lexeme immer zur weniger zusätzlicher Komplexität bedürfenden Flexionsweise über (vgl. ausführlich Bittner 1996). Da bei den bisherigen Beispielen nur die Nutzung von phonologischen Eigenschaften der Kennformen als Schlüssel für die zu realisierende Flexionsweise diskutiert wurde, soll kurz auf weitere Möglichkeiten der Verknüpfung mit unabhängigen außermorphologischen Eigenschaften hingewiesen werden: Seit dem Frnhd. benutzen Sprecher das ursprüngliche Vollverb brauchen ('benötigen, genießen, sich einer Sache bedienen') in Kontexten mit Negation mit einer modalen Bedeutung. Bei diesem modalen Gebrauch
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findet im gesprochenen Nhd. häufig eine Veränderung in der 3.Ps.Sg.Ind.Präs. statt: (er) braucht > (er) brauch. Es handelt sich dabei nicht um einen phonologischen, sondern um einen morphologischen Wandel, denn die 2.Ps.Pl.Ind.Präs. ((ihr) braucht) ist davon nicht betroffen (*(ihr) brauch). Modal genutztes brauchen ('gezwungen sein, etwas zu tun') wird mit der Präsensflexion der übrigen Modalverben versehen, vgl. (er) darf, kann, muss, obwohl es im Nhd. nur sieben Verben gibt, die die 3.Ps.Sg.Ind.Präs. ohne -t bilden (dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen, wissen), während ca. 4000 Verben den Marker -t aufweisen (letzteres sollte eindeutig für eine größere ‚Normalität‘ der t-Klasse sprechen). Für die Zuweisung der Flexionsweise wird aber die Eigenschaft, Modalität auszudrücken, favorisiert. Brauchen mit modaler Bedeutung tendiert auch syntaktisch dazu, wie ein Modalverb behandelt zu werden, z.B. bei Er brauch nicht kommen für Er brauch nicht zu kommen (vgl. Bittner 1996). Es sind also nicht nur phonologische Eigenschaften der Kennform, sondern auch syntaktische und semantische Eigenschaften, die von den Sprechern genutzt werden. Wenn sich solche Eigenschaften verändern, führt das tendenziell zu Übertritten zu einer anderen Flexionsweise. Wie stark das Bestreben der Sprecher ist, unabhängig gegebene Eigenschaften der Lexeme (und ihrer Kennformen) für ihre Zuordnung zu den Flexionsklassen zu nutzen, zeigen die Herausbildung der Klasse der Modalverben und der an brauchen illustrierte aktuell verlaufende Wandel. 4.6. Wandelbeobachtung 1 zu Hypothese 2 – schrittweiser Übergang von starken zu den schwachen Verben Beim Übergang starker Verben zur schwachen Flexion werden im Deutschen häufig nicht alle Flexionsformen eines starken Verbs auf einmal durch schwache Formen ersetzt. Der Übergang erfolgt vielmehr schrittweise (vgl. Abbildung 4 und Bittner 1996).
+ -
+ -
-
-
+
+ +
+ + +(-)
+ + + -(+) -(+) -
+ +(-) +(-) -(+) -(+)
Part.Perf. (Ablaut, -en)
Abbildung 4: Beispiele für (schrittweise) Übergänge von starker zu schwacher Flexion (Mhd. – Nhd.; nach Grimm 1854ff., +: starke Form belegt, -: schwache Form belegt, ( ): weniger häufig)
+ -
-
+ -
-
-
16. 18.
∅
+(-)
malen
+ + -
+ + -
+ +(-) -
-
+ +(-) -
13. 16. 17.
+
-
smiegen
+ + +(-) -(+) -(+) -
+ + +(-) -(+) -(+) -
+ +(-) + + +(-) -(+) -(+) -
+ -
+ +(-) -
15. 16. 17. 18. 19. 20.
bellen
dentallose Prät.- Ablaut Umlaut Konj. form und/oder ∅- Prät. Prät. Endung 1./3. Sg.Prät.
+/-
-
-
1.P. 2.P. 3.P.
Vokalwechsel Sg.Präs. bzw. 2./3. Sg.Präs.
+ +/-
13. 14. 15. 16. 18.
bannen
Stammvokal 1./3. -i- und/oder ∅-Endg. Sg.Prät. Sg.Imp. ≠ Stammvokal 2.Sg. & 1.-3. Pl.Prät.
+ +/-
Jh.
Verben
Charakteristika
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Solche partiellen Übernahmen einer anderen Flexionsweise, bei denen quasi gerichtet ‚Mischflexionen‘ entstehen, wie z.B. bei melken, melke, (er) melkt, (er) melkte, (er) melkte, gemolken (schwacher Imperativ, schwaches Präsens (ohne Vokalwechsel), schwaches Präteritum, schwacher Konjunktiv II, Beibehaltung des starken Partizips II) oder gebären, gebäre, (sie) gebärt, (sie) gebar, (sie) gebäre, geboren (Imperativ und Präsens schwach, Beibehaltung starker Präterital-, Konjunktiv- und Partizipformen), sind zumal in institutionell normierten Sprachen durchaus Konstrukte sprachlicher Entwicklung von langfristigem Bestand, was an Beispielen wie backen, laden, raten, mahlen, winken, salzen, schinden deutlich wird (vgl. Bittner 1996, 90ff. und Wurzel 1998). Status und Veränderung der genannten Verben werden in Bittner (1996, 184ff.) über zusätzliche Markereinträge und deren Veränderung beschrieben: melken [VW/Imp.Sg.] > melken [Abl, -ən/Part. II], gebären [VW/Imp.Sg.] > gebären [Abl/Prät.], mahlen, winken, … [Abl, -ən/Part. II]. Diese Fakten sprechen dafür, dass die Wörter im mentalen Lexikon, dass flexionsmorphologisches Wissen schlechthin – wenn es sich nicht eindeutig aus Eigenschaften der Kennform (Muster / Schema) ergibt – hinsichtlich des Auftretens bestimmter Flexionsformen in ihren Paradigmen spezifiziert sind. Nicht prädiktables, komplexeres (aber nicht suppletives) Flexionsverhalten drückt sich im Auftreten spezifischer Marker im mentalen Lexikon aus, prädiktables in deren Nichtauftreten. Darauf nimmt auch die ‚minimalistische‘ Hypothese Bezug, dass Lexikoneintragungen der Wörter keine Angaben prädiktabler Eigenschaften enthalten (vgl. Wunderlich / Fabri 1995).9 Ein zentraler Aspekt der Erörterungen dieses Abschnitts soll noch einmal hervorgehoben und in einen generelleren Zusammenhang gestellt werden: Im Fall von nicht prädiktabler, ‚zusätzlicher‘ Komplexität sind im mentalen Lexikon Kennformen bzw. Kategorienmarker als Indikatoren des Flexionsverhaltens spezifiziert. Wenn beim hier dargestellten Wechsel der Flexionsweise von stark zu schwach Spezifikationen (Einträge) im mentalen Lexikon der Sprecher getilgt bzw. durch andere ersetzt werden, heißt das auch, dass es Grade von Komplexität (Markiertheit) hinsichtlich des Flexionsverhaltens gibt. Eine graduelle Komplexität wird aber durch eine binäre Distinktion ,regulär‘ vs. ‚irregulär‘ (bzw. ‚markiert‘ und ‚unmarkiert‘) – sie stellt den Normalfall in der einschlägigen Fachliteratur dar _____________ 9
Bei suppletiven Verben, d.h. Verben, in deren Paradigmen mehrere Stämme auftreten, die (synchron) nicht durch phonologische Regeln aufeinander beziehbar sind, müssen natürlich die Stämme im mentalen Lexikon repräsentiert sein, die eine vom Infinitiv abweichende Ableitungsbasis für weitere Flexionsformen bilden, also wiederum den Charakter von Kennformen haben, oder Einzelformen sind, vgl. z.B. gehen, ging(en), ?(ge)gang(en); denken, dacht(en), (ge)dacht; sein, bin, ist, war(en), (ge)wes(en).
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Andreas Bittner
– nur unzureichend reflektiert. Es existiert vielmehr eine Skala der Regularität zwischen der am stärksten regulären (unmarkierten) Flexion und der am stärksten irregulären (am stärksten markierten) Flexion durch Bezugnahme auf konkrete Flexionseigenschaften der Lexeme. Das soll am schon diskutierten Beispiel des stufenweisen Übergangs von starken zu den schwachen Verben in einem zweiten Schritt noch deutlicher herausgearbeitet werden. 4.7. Wandelbeobachtung 2 zu Hypothese 2 Beim Übergang von starken Verben zur schwachen Flexion, der, wie gesagt, nicht konsequent geschieht, sondern zunächst (oder auch dauerhaft) nur bestimmte Formen des Paradigmas betrifft, werden die Flexionsformen in einer bestimmten Reihenfolge vom Übergang erfasst (interessant und hier aufgelistet sind vor allem die Paradigmenformen, in denen sich schwache und starke Flexionsweise unterscheiden (vgl. Bittner 1996, passim). Nach den jeweils vom Wandel betroffenen bzw. nicht betroffenen Formen lassen sich die in Abbildung 5 dargestellten ‚Übergangstypen‘ ausmachen (werfen steht für ein konsequent stark gebliebenes Verb; die im Wandel entstandenen schwachen Formen sind hervorgehoben): Infinitiv
Imperativ
Präsens
Präteritum
Konj.II
Part.Perf.
werfen graben heben schinden melken bellen
wirf
(sie) wirft (sie) gräbt (sie) hebt (sie) schindet (sie) melkt (sie) bellt
warf grub hob
wärfe /würfe grübe höbe schünde
geworfen gegraben gehoben geschunden gemolken
grabe hebe schinde melke belle
schindete melkte bellte
melkte bellte
gebellt
Abbildung 5: Auftretende Paradigmentypen bei Übergangsprozessen von starker zu schwacher Flexion
Die ‚Übergangstypen‘ beschreiben eine gerichtete Abfolge des Wandels. Sofern etwa ein starkes Präteritum nachweisbar ist, sollte auch starke Flexion beim Konjunktiv II und beim Partizip II auftreten, nicht aber notwendig bei der 3.Ps.Sg.Präs.Ind. usw. Andere Kombinationen von starken und schwachen Formen gibt es in den vom Wandel erfassten Verbparadigmen nicht. Aus diesen Fakten können für den Aufbau der Paradigmen deutscher Verben hinsichtlich eines speziellen Strukturaspekts, nämlich der möglichen Verteilung von schwachen und starken Flexionsformen im Übergangsbereich zwischen starker und schwacher Konjugation, zwei mehrstu-
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Aspekte diachronischer Fundierung
fige, gegenläufige Implikationen abgeleitet werden (vgl. Abbildung 6), mit denen Sprecher operieren. Die Implikationsmuster basieren auf Bittner (1996, 80).10 (1)
(a) (b) (c) (d)
st.Imp. ⊃ st.Präs. st.Präs. ⊃ st.Prät. st.Prät. ⊃ st.Konj.II st.Konj.II ⊃ st.Part.Perf.
(2)
(a) (b) (c) (d)
sw.Part.Perf. ⊃ sw.Konj.II. sw.Konj.II. ⊃ sw.Prät. sw.Prät. ⊃ sw.Präs. sw.Präs. ⊃ sw.Imp.
Abbildung 6: Implikative Paradigmenstrukturbedingungen starker und schwacher Verben
Flexionsparadigmen in Systemen mit mehreren Flexionsklassen haben eine auf implikativen Relationen beruhende hierarchische formale Struktur. Das bedeutet, dass die einzelnen Flexionsformen innerhalb der Paradigmen einen unterschiedlichen Status aufweisen. Bestimmte Flexionsformen fungieren dort, wo der Infinitiv für die Erschließung der Flexion nicht ausreicht, als Kennformen der Paradigmen und sind (s. o.), im mentalen Lexikon als Indikatoren der Flexionsklassenzugehörigkeit spezifiziert. Die implikativen Relationen zwischen den Flexionsformen bzw. ihren Markern strukturieren die Flexionsparadigmen (sind Paradigmenstrukturbedingungen, vgl. Wurzel 1984). Die Implikationen führen zu einem Kontinuum der deutschen Verben auf der Basis der Übereinstimmung mit bzw. der Abweichung von der präferierten / unmarkierten schwachen Bildungsweise (für Details vgl. Bittner 1996). Der so determinierte Paradigmenaufbau stellt den Rahmen möglicher Sprachveränderungen dar und äußert sich steuernd im Erwerbsprozess (vgl. Bittner 1991).11 Die Grenzen eines Paradigmas ergeben sich in Sprachen wie dem Deutschen aus den Paradigmenstrukturbedingungen, d.h. aus den formalen Relationen zwischen den einzelnen Wortformen. Im Deutschen sind Infinitiv-, Imperativ- und Partizip II-Formen Teil des Verbparadigmas (anders als vom Verb abgeleitete Nomina wie z.B. Sicht, Wurf, Schwur).
_____________ 10 11
Die Modalverben, die eine eigene semantisch motivierte Flexionsklasse bilden (vgl. Bittner 1996, 104ff.), und die Rückumlautverben (vgl. z.B. Bittner 1996, 99f.; Nübling / Dammel 2004, 185f.) bleiben hier unberücksichtigt. Flexionsparadigmen haben somit eine reale Existenz; sie sind keine Erfindungen von Grammatikern. Ihr auf Implikationen der Wortformen beruhender hierarchischer Aufbau ist wohl ein generelles Strukturprinzip von Flexionsparadigmen.
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Andreas Bittner
5. Zusammenfassung und vorläufiges Fazit – mentale Repräsentation Ausgehend von den im Spracherwerb gewonnen Erkenntnissen lässt die sprachhistorische Überprüfung der Hypothesen 1 und 2, mit denen eine Beschränkung der Analyse der mentalen Repräsentation grammatischen Wissens auf das Vorhandensein und die Rolle morphologischer Kennformen (Muster / Schemata) von Lexemen und die Art ihrer Verknüpfung mit den eine spezifische Flexionsweise dokumentierenden paradigmatischen Wortformen vorgenommen wurde, folgende Schlussfolgerungen zu: •
Flexionsmorphologisches Wissen ist in Form von Kennformen (Mustern / Schemata) repräsentiert, d.h. durch konkrete, gegliederte Wortformen, die als Ableitungsbasis dienen;
•
nicht sämtliche Flexionsformen des Paradigmas sind lexikalisch gespeichert;
•
als prädiktive Kennform (Muster / Schema) fungiert der Infinitiv;
•
die Flexionsweise der Lexeme ist tendenziell durch phonologische und / oder syntaktische und / oder semantische Eigenschaften ihrer Kennform bestimmt;
•
davon abweichendes Flexionsverhalten wird im mentalen Lexikon der Sprecher durch zusätzliche Kennformen bzw. Kategorienmarker (oder Einzelformen) spezifiziert, die als Indikatoren der Flexionsweise (-klassenzugehörigkeit) fungieren, prädiktables Flexionsverhalten wird nicht spezifiziert;
•
Komplexität (Markiertheit) hinsichtlich des Flexionsverhaltens ist graduell;
•
Relationen zwischen Flexionsformen (bzw. ihren Kategorienmarkern) sind implikativ (gerichtet) und bilden die Strukturregularitäten (Paradigmenstrukturbedingungen) von Flexionsparadigmen.
5.1. Blick auf Theorienkonzepte Im Hinblick auf die Repräsentation grammatischen Wissens im mentalen Lexikon müssen sich Erklärungstheorien den diskutierten sprachhistorischen Befunden stellen. Dabei ergeben sich unterschiedliche Schwierigkeiten, von denen einige sehr kurz zusammengefasst werden sollen:
Aspekte diachronischer Fundierung
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Konnektionistische Netzwerke haben bspw. Probleme mit der Gerichtetheit von Strukturbedingungen und Wandelprozessen. Während die Darstellung der schwachen Verbflexion im Rahmen der Netze (entgegen der allgemeinen Diskussion in der Literatur) nicht nur in dieser Hinsicht unproblematisch ist, da die einzelnen Formen relativ gleichwertig sind und sich wechselseitig implizieren, müssen für die nichtschwache Flexion Ähnlichkeitskriterien der Muster / Schemata hervorgehoben und die mit ihnen verknüpften Formen in spezifischer Reihenfolge aktiviert werden. Hierzu reicht Frequenz als Kriterium nicht aus. Wörter und Regel-Modelle sind in ihrer Regel- vs. Ausnahmestruktur zu grob, können (und wollen) historisch gewordene und werdende Zustände dadurch nur unzureichend abbilden und die diskutierten Mischformen nicht erklären. Minimalistische Modelle haben durch ihre ausschließlich synchrone Strukturaspekte reflektierende Ausrichtung Probleme mit der diachronen Abfolge und der Gewichtung sprachlicher Entwicklungsprozesse, die mit den Repräsentationen in Wechselbeziehung stehen. Optimalitätsmodelle weisen bei der Begründung von Rankingprozessen grundsätzliche Defizite auf. Sie sind Produkt sprachlichen Wandels, sollen aber gleichzeitig Wandel motivieren und erklären. Schema- und Markiertheitsmodelle scheinen im Gegensatz dazu in der Lage zu sein, durch einheitliche Prozesse und außermorphologische Motivierung Gerichtetheit, paradigmatische Verankerung, Abbildung von Komplexität und Reduktion ganzheitlicher Speicherung auf den so genannten Nahbereich miteinander zu verbinden. 5.2. Präsentation, Kennform / Schema und Paradigmenstrukturbedingungen Untersucht wurde, wie Indikatoren, die eine spezifische Flexionsweise auslösen, und ihre Verknüpfung mit diesem Flexionsverhalten mental repräsentiert sind, wenn sie sich nicht direkt (eindeutig) aus dem jeweiligen Muster / Schema ableiten lassen, wie z.B. bei werden, heben, schinden, und ob spezifische, die Komplexität der Prozedur erhöhende ‚Einträge‘ im mentalen Lexikon denkbar sind, mit denen die Abweichungen vom unmarkierten Flexionsverhalten – in diesem Fall der schwachen Konjugation – gekennzeichnet werden. Der von mir favorisierte Ansatz geht für die deutschen Verben davon aus, dass jeweils Gruppen (Klassen) von ihnen eine einheitliche flexionsmorphologische Behandlung erfahren. Diese kann in der Anwendung einer unspezifischen abstrakten Regel, in der Nutzung spezifischerer und
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weniger abstrakter Muster / Schemata oder noch spezifischerer und noch weniger abstrakter analogischer Cluster bzw. Ableitungen bestehen. Daneben stehen wenige wortspezifische Einzelfälle. Für die im Nhd. mit 95 % mehr als deutlich überwiegende Gruppe (Klasse) der schwachen Verben reicht also die auf keine weiteren Eigenschaften Bezug nehmende Identifikation der phonologischen Struktur der Kennform (Infinitiv) als ‚Verb‘ aus, um die entsprechende schwache Flexionsweise anzuwenden. Ein neues bzw. unbekanntes Verb wird also generell schwach flektiert, wenn die Sprecher keine spezifische Muster- bzw. Schemaähnlichkeit usw. feststellen. Andernfalls nehmen sie ‚Einträge‘ in ihrem mentalen Lexikon vor. Die unspezifizierte Form des Infinitivs als ganz abstrakter semantisch-funktionaler Ausdruck des grammatischen Konzepts ‚Verb‘ ist also strikt mit schwachem Flexionsverhalten verknüpft. Hier spielt TypeFrequenz eine große Rolle. Bei Identifikation als einem Muster / Schema, einem analogischen Cluster usw. zugehörig (bzw. als Einzelfall erkannt) erfolgt von der schwachen Bildungsweise ganz oder partiell abweichende (starke) Flexion. Die Muster / Schemata, Cluster usw. gewinnen an Konkretheit, die Type-Frequenz wird schrittweise von der Token-Frequenz überlagert, wobei die mit den Mustern / Schemata, Clustern usw. verknüpften implikativen Merkmale die entsprechende Einordnung im Rahmen des skizzierten Verbkontinuums fixieren. Sie bestimmen, bei welcher Kategorie der Eintritt in die nichtschwache Konjugation erfolgt. Die konkretesten Muster / Schemata sind letztlich direkte (reimende) Analogiebildungen (während die unspezifische abstrakte Regel sozusagen das abstrakteste Muster / Schema darstellt), Einzelfälle (oft suppletiv) sind keine Muster / Schemata. Die Veränderungsrichtung verläuft von konkretem zu abstrakterem Muster- / Schemabezug. Damit kann der Zusammenhang von Muster / Schema und Kontinuum formal charakterisiert werden (vgl. Bittner 1996).
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Adjektive in Inventarlisten – Beobachtungen zur Syntax und zum Textsortenwandel Markus Denkler (Münster)
1. Attributiv und prädikativ verwendete Adjektive Adjektive können bekanntlich attributiv, prädikativ und adverbial gebraucht werden. Die Verwendung als Attribut und die Verwendung als Prädikativum sind dabei näher miteinander verwandt, denn bei beiden bezieht sich das Adjektiv auf eine nominale Konstituente. Typisch für den attributiven Gebrauch eines Adjektivs sind die Voranstellung vor das Substantiv und die Flexion: ein zartes Spinnlein. Als obligatorisch wird man diese Merkmale allerdings nicht ansehen, denn auch ohne Flexiv – ein zart Spinnlein – kann das Adjektiv attributive Funktion erfüllen und die postnominale Stellung kommt ebenfalls vor: ein Spinnlein zart.1 Vor allem aus sprachhistorischer Perspektive ist dies bedeutsam, denn zum einen sind etwa die ‚starken‘ pronominalen Flexive -er (Mask.) und -es (Neutr.) beim attributiven Adjektiv in einem langwierigen Diffusionsprozess im deutschen Sprachraum übernommen worden. Dieser Prozess nahm seinen Ausgang vom Oberdeutschen und war im 18. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen, sodass man in norddeutschen Texten jener Zeit durchaus noch flexivlose pränominale Adjektive verwendete (vgl. Voeste 1999; Ebert u.a. 1993, § M 35; Denkler 2005, 81ff.). Zum anderen stellt sich die Frage, wann und in welchen Kontexten die Nachstellung als markiert zu gelten hat (vgl. Behaghel 1930). Die prädikative Funktion eines Adjektivs wird durch eine Kopula, z.B. ‚sein‘, hergestellt: Die Touristen sind wieder frei. In bestimmten Kontexten
_____________ 1
Zum postnominalen Adjektiv im Deutschen vgl. Dürscheid (2002), die die markierte Nachstellung des Adjektivs vor allem als Mittel der Informationsgliederung analysiert; weiter Hellwig (1898), Paul (1919 / 1968, § 72), Behaghel (1930), Marschall (1992).
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Markus Denkler
kommen aber auch Konstruktionen ohne Kopula vor: Touristen wieder frei.2 Auch hierbei handelt es sich um eine Topik-Kommentar-Struktur, d.h. semantisch gesehen sorgt das Adjektiv für eine Prädikation. Solche Strukturen weisen eine gewisse Nähe zu attributiven Konstruktionen mit postnominalem Adjektiv auf, sodass bisweilen schwer zu entscheiden ist, ob ein Adjektiv als attributiv oder prädikativ einzustufen ist,3 z.B. bei Produktbezeichnungen wie Körbchen rechteckig oder Rahmspinat tiefgefroren: „Syntagmen dieser Art finden sich auf Speisekarten, in Versandhauskatalogen, in Kleinanzeigen, Prospekttexten, auf Schildern, auf Etiketten, auf alphabetisch geordneten Listen“ (Dürscheid 2002, 62). Nach Weinrich (1993, 480), der aus textgrammatischer Perspektive argumentiert, handelt es sich sowohl bei der Attribution als auch bei der Prädikation um eine Determination. Die prädikative Funktion ist demnach eine besondere Form der Determination, bei der eine „ausdrückliche, argumentativ relevante Feststellung“ einer Eigenschaft gemacht wird. Auf diese funktionale Definition soll im Folgenden zurückgegriffen werden. In dem vorliegenden Beitrag geht es um den Gebrauch von TopikKommentar-Strukturen, die aus einer Nominalphrase und einem Adjektiv bestehen. Dabei soll insbesondere die Kontrastierung mit funktionsähnlichen attributiven Konstruktionen (mit pränominalem Adjektiv) Aufschluss über funktionale Zusammenhänge geben. Als Grundlage der Analysen dient ein Korpus von Nachlassinventaren aus der Frühen Neuzeit. Nachlassinventare sind in bestimmten, rechtlich umrissenen Kontexten erstellte Verzeichnisse hinterlassener Mobilien, gegebenenfalls auch hinterlassener Haustiere und Immobilien, die also im Kern aus Listen bestehen. Wir finden dort Listeneinträge wie 1 Mey Kalb schwartz. Das historische, diachron angelegte Quellenkorpus sowie die verwendete Textsorte werden im folgenden Abschnitt kurz vorgestellt. Anschließend werden die Sprachdaten ausgewertet; zeitliche Konturen des Gebrauchs der untersuchten Konstruktion sowie die Adjektivsemantik stehen dabei im Mittel_____________ 2
3
Dürscheid (2002, 73) schreibt hierzu: „Prinzipiell kann jedes postnominale Adjektiv als prädikativer Teil einer Kopulakonstruktion analysiert werden, sofern es nicht-idiomatisiert ist.“ Vgl. hierzu auch Sprachen ohne Kopula wie das Russische oder das Arabische, in denen das prädikative Adjektiv allein das Prädikat bildet (vgl. Hentschel / Weydt 2003, 205, 340). Die meisten Definitionen der prädikativen Funktion der Adjektive könnten sich auch auf die attributive Funktion beziehen und umgekehrt, vgl. etwa: „Sie [Prädikativkomplemente] weisen diesen [durch Subjekt- oder Akkusativkomplement denotierten Gegenständen] eine Eigenschaft zu und weisen sie damit als Elemente oder Teilmengen einer Klasse aus“ (Zifonun u.a. 1997, 3, 1106). Wenn es bei Eisenberg (2004, 235) heißt: „Die primäre Leistung der Attribute besteht darin, das von einem Substantiv bezeichnete ‚näher zu bestimmen‘“, dann sind hiermit nur restriktive Attribute abgedeckt, die die Referenzleistung des Substantivs beeinflussen, nicht aber nicht-restriktive Attribute.
Adjektive in Inventarlisten
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punkt. Der vierte Abschnitt bietet einen Erklärungsversuch für die auffälligen Verwendungsmuster. Hierbei rücken textlinguistische Aspekte in den Fokus; es soll gezeigt werden, dass Elemente des Textsortenwandels mit dem Wandel im Gebrauch der adjektivischen Determination in einem näheren Zusammenhang stehen.
2. Westfälische Nachlassinventare Die zugrunde gelegten Nachlassinventare stammen aus Westfalen aus der Zeit von 1500 bis 1800 (vgl. Denkler 2006, 35ff.). Das Korpus besteht aus 1.618 Inventaren, die im Zusammenhang der Erhebung einer leibherrlichen Abgabe von unfreien Bäuerinnen und Bauern, den so genannten Eigenbehörigen, erstellt wurden. Diese Abgabe wurde beim Tod eines oder einer Eigenbehörigen fällig und in Relation zu dem jeweiligen Nachlass erhoben. Die Abgabe wird Sterbfall genannt, die Inventare dementsprechend auch Sterbfallinventare (vgl. Hüffmann 1966; Homoet u.a. 1982). Das Rechtsgeschäft, durch das die Höhe dieser Abgabe festgesetzt wurde, die die Nachkommen und Hoferben dem Leibherrn zu entrichten hatten, geschah zunächst mündlich. Ab dem Ende des 15. Jahrhunderts wurde es dann auch schriftlich festgehalten, häufig in Form eines Inventars, das die materielle Grundlage der zu entrichtenden Abgabe, den Nachlass, dokumentierte. Dies lässt sich allerdings kaum als ein reiner Medienwechsel beschreiben, da die volkssprachige mündliche Praxis nun mit der traditionellen – in der Regel lateinischen – Schriftpraxis zusammenkam; d.h. bei der Textsortenentstehung flossen traditionelle Muster der Schriftpraxis ein (vgl. Frank 1996, 18). Diese Muster sind zum einen Elemente der Textsorte (Gerichts)Protokoll und zum anderen die primo-itemListe. Züge der Textsorte (Gerichts)Protokoll (vgl. hierzu Mihm 1995; Niehaus / Schmidt-Hannisa 2005; Topalović 2003; Hille 2008) haben sich in vielerlei Hinsicht mit der zugrunde liegenden mündlichen Praxis verbunden. Techniken der Wiedergabe wörtlicher Rede und des raffenden und transformierenden Notierens können auf die Musterwirkung der Textsorte (Gerichts)Protokoll zurückgeführt werden (vgl. Denkler 2006, 29ff., 118f.). In den frühen Inventaren des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts erscheinen in den Metatexten, die den Inventarlisten vorangestellt sind, die Syntagmen Erbtag gehalten (erffdach geholden) und ist geerbteilt worden (vgl. Denkler 2006, 47ff.), die darauf verweisen, dass das Rechtsgeschäft bereits an Ort und Stelle beendet wurde. Daraus wird gleichzeitig ersichtlich, dass solche Texte allein zu Dokumentationszwecken angefertigt und
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aufbewahrt wurden; für die Durchführung des Vorgangs – der Erhebung der leibherrlichen Abgabe – hatten sie weiter keine Bedeutung (vgl. auch Mersiowsky 2000, 340 zur Textsorte Rechnung). Dies sollte sich im Laufe der Zeit ändern (s.u., Abschnitt 4). Bedeutender als das Protokoll ist für die Entwicklung der Textsorte Nachlassinventar die primo-item-Liste gewesen.4 Eine Profilierung in diese Richtung lässt sich sehr deutlich erkennen, auch wenn teils widersprüchliche Entwicklungstendenzen auszumachen sind. Hierzu als Beispiel ein Ausschnitt aus einem Nachlassinventar des Jahres 1542:5 Jt(em) noch syntt Dar vij wassel svyne Jt(em) nocht syntt Dar xxij vercken Jt(em) nocht syntt Dar vij syden speckes Jt(em) nocht syntt Dar ij swyne De he nocht mest Jt(em) nocht syntt dar xxxx honder Jt(em) nocht synt dar xvj gosse vnd ey(n) gant Jt(em) nocht synt Dar ij yme Mit Peter Koch lässt sich festhalten, dass in Listen syntaktischsemantische Kohärenz durch das „Prinzip der syntagmatischen Similarität“ (Koch 1997, 69) hergestellt wird, d.h. durch die Gleichartigkeit des Aufbaus der Listeneinträge, durch die Serialisierung der Informationssparten.6 In diesem Beispiel ist die syntagmatische Similarität sehr deutlich erkennbar. Sie wird nicht nur durch die gleichartige Reihung der Informationssparten hergestellt, sondern auch durch die syntaktische Struktur der Listeneinträge sowie durch lexikalische und optische Mittel. Als lexikalisches Gliederungssignal dient Jtem bzw. Jtem noch (vgl. Schirmer 1911, 89; Denkler 2006, 70f.): Jeder Listeneintrag ist durch Jtem noch als solcher gekennzeichnet. Dies kann insbesondere dadurch Wirkung entfalten, dass jeder Listeneintrag in einer eigenen Zeile steht, das Inventar also als Einzelbuchungsinventar aufgebaut ist und nicht als Textblockinventar mit voll geschriebenen Zeilen (vgl. Denkler 2006, 66ff.; Mersiowsky 2000). Die räumliche Anordnung der Einträge auf der Seite ist demnach, besonders _____________ 4
5 6
Vgl. etwa die Reliquienliste in einem lateinischen Inventar des Stiftes St. Egidius und St. Erhard in Schmalkalden vom 13. Januar 1389: Primo brachio sancti Egidii cum annulo et magno saphiro. Item reliquas sancti Erhardi cum cycla aurea in pede argenteo. Item digitum sancti Andree cum monstrancia cristallina […] (Wendehorst 1996, 72). Landesarchiv NRW Staatsarchiv Münster, Kloster Benninghausen, Akten 10, fol. 35v-36r. Im Unterschied dazu sind Textsorten wie Briefe oder Predigten durch „syntagmatische Kontiguität“ (Koch 1997, 70) gekennzeichnet.
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wenn es um Texte mit „similaritätsbasierende[m] Ordnungsprinzip“ (Koch 1997, 67) geht, mit ins Kalkül zu ziehen.
3. Determinierende Adjektive in Inventarlisten Im Fokus der Untersuchung stehen Adjektive und Partizipien wie in den folgenden Beispielen: 1 Mey Kalb schwartz (Burgsteinfurt 1676) 2. beschlag wagen halb geschlitten (Münster 1714) 2 Eymers holtzern (Bramsche 1757) 1 alt(en) beschmiedete wag(en) unbrauchbar (Quernheim 1767) In die Analyse einbezogen werden auch mit einem Adverb erweiterte Adjektive wie im zweiten Beispiel. Nicht selten erscheinen in solchen Strukturen auch pränominale Adjektive, hier im vierten Beispiel. Wie bereits zu Beginn dargelegt, kann das Adjektiv in diesen Beispielen „als Prädikativum gelesen werden“ (Dürscheid 2002, 73),7 das für eine „ausdrückliche, argumentativ relevante Feststellung“ (Weinrich 1993, 480) einer Eigenschaft verwendet wird. Diese Konstruktion wird dementsprechend als zweigliedrige Topik-Kommentar-Struktur aufgefasst. Bisweilen werden die beiden Elemente der Konstruktion durch ein Komma getrennt: 1. Brandtruthe, schlecht (Quernheim 1786), was als Indiz dafür gelten kann, dass hier kein attributiver Gebrauch vorliegt – der Charakter des ‚ausdrücklichen Kommentars‘ ist hierbei hervorgehoben (anders Dürscheid 2002, 74). Es findet sich eine Reihe weiterer syntaktischer Formen, die dem behandelten Typ sehr nahe stehen: 4. silberne leffelß so alt (Münster 1714) Ein schaabellen und 2 schoß Stühle N(ota)B(ene) alt (Bielefeld 1799) j leibstücke von schwartzen wande ist verschließen (Sassenberg 1599) ein alt Wandt Liffke(n), ist zerbrochen (Stromberg 1631) Jt(em) ey(n) haluen wagen vnd ey(ne) halue ploch vnd iß olt (Liesborn 1540) _____________ 7
Vereinzelt lassen sich Belege wie die folgenden finden: 1 tisch langer (Münster 1788), 4 Hemde alte (Herford 1793). Hier könnten die Flexionsendungen als Argument dafür angeführt werden, dass die Adjektive als Attribute aufzufassen sind, was sie auch vermutlich sind. Zu beachten ist allerdings, dass in den westfälischen Inventaren die starken Langformen im Maskulinum und Neutrum Singular erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts üblich werden (vgl. Denkler 2005, 81ff.) und sich damit ein typologischer Unterschied zwischen pränominaler (flektierter) und postnominaler (unflektierter) Attribuierung manifestiert. Im Zuge dieses Prozesses ist mit Hyperkorrektionen zu rechnen, also mit der Ausweitung des Gebrauchs der Flexionsendungen auf prädikative Adjektive.
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Markus Denkler
Als Signale für die Kommentarfunktion der Adjektive dienen hier das Relativwort so, das kanzleisprachige Lexem Nota Bene und natürlich das Kopulaverb sein.8 Das Komma im vorletzten und die Konjunktion und im letzten Beispiel sind Zeichen dafür, dass hier jeweils zwei eigenständige Teile vorliegen und diese Einträge nicht als ‚normale‘ Sätze aufzufassen sind. Dies hat damit zu tun, dass die Listeneinträge funktional und teilweise auch syntaktisch (vgl. Denkler 2006, 59f.) in den gesamten Text eingebettet sind – sie dienen der Beschreibung des jeweiligen Nachlasses. Die in den Listeneinträgen verzeichneten Gegenstände sind dabei nur in den seltensten Fällen bereits vorerwähnt, daher sind solche Einträge doppelt rhematisch. Ein Eintrag wie 6 hemde schlecht wäre also zu paraphrasieren: 'Hier befinden sich sechs Hemden. Diese sind in einem schlechten Zustand.' In diesem Beispiel wird durch das Adjektiv eine Eigenschaft ins Spiel gebracht (schlecht), die in gewisser Weise eine ‚Einschränkung‘ der ersten Aussage darstellt: Nicht sechs Hemden als solche sollen hier verbucht werden, sondern deren Zustand ist ausdrücklich mit zu berücksichtigen. Dies ist von entscheidender Bedeutung für die Taxierung der Gegenstände, die hierauf Rücksicht zu nehmen hat. Angesprochen ist damit die Textfunktion, die Bereitstellung einer soliden und transparenten Grundlage für die Festlegung einer Abgabe. Der ‚einschränkende‘ Charakter des Kommentars wird auch oftmals durch die Partikel aber signalisiert, wie in den beiden folgenden Beispielen: Noch ein Jser(n) Kettel Vo(n) 2 ½ eimer(n) nates aber gantz nichts wurdigh (Münster 1621) 1 Bette spane und eine für den Knecht Aber gar schlegt (Herford 1687) Um diese Struktur besser beurteilen zu können, werden nun zwei Fragen untersucht: 1. Wird in solchen Konstruktionen ein bestimmter Adjektivtyp bevorzugt verwendet? 2. In welchem Zeitraum tritt dieses Format hauptsächlich auf? Zur Beantwortung der ersten Frage werden exemplarisch vier Adjektivgruppen untersucht. Dies sind erstens Stoffadjektive (relationale Adjektive) wie blechern, kupfern oder steinern,9 zweitens Farbadjektive (qualifizie-
_____________ 8
9
Solche Konstruktionen werden im vorliegenden Beitrag nicht behandelt. Der Zusammenhang des hier besprochenen Formats mit den Kopula-Konstruktionen liegt natürlich auf der Hand. Im Einzelnen: blechern, ehern, eisern, gläsern, holzen / hölzern, irden, kupfern, porzellanen, silbern, steinen / steinern und zinnen / zinnern.
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Adjektive in Inventarlisten
rende Adjektive) wie braun, fuchsig oder fahl,10 drittens qualifizierende Adjektive der räumlichen Dimension wie breit, groß oder lang11 und viertens Zustandsadjektive (qualifizierende Adjektive) wie unbrauchbar, gut oder verschlissen.12 Zum Vergleich ist auch die attributive (pränominale) Verwendung der Adjektive ausgezählt worden. Die beiden Zahlen lassen sich so zueinander in Relation setzen. Das Ergebnis der Auszählung zeigt die folgende Tabelle: Adjektivgruppe
Beispiel Format 1 Format 2 Summe
Stoffadjektive kupfern Farbadjektive grün Dimensionsadjektive groß Zustandsadjektive schlecht
2965 1364 915 1288
10 22 37 324
2975 1386 952 1612
Anteil Format 2 0,3 % 1,6 % 3,9 % 20,1 %
Tabelle 1: Auszählung nach Adjektivtypen13
Von den untersuchten Adjektiven werden vor allem die Zustandsadjektive in einer Topik-Kommentar-Struktur verwendet. Der entsprechende prozentuale Anteil ist weit größer als bei den anderen drei Gruppen. Stoff-, Farb- und Dimensionsadjektive kommen nicht einmal auf 5 %; von den Zustandsadjektiven werden hingegen über 20 % in diesem Format verwendet. Es lassen sich also deutlich zwei Gruppen erkennen: Auf der einen Seite charakterisierende Adjektive, die fast ausschließlich attributiv (pränominal) verwendet werden, und auf der anderen Seite evaluierende Adjektive, die in beträchtlichem Ausmaß auch in einer Topik-Kommentar-Konstruktion zum Einsatz kommen.14 Eine Erklärung für diesen Befund wird demnach die Semantik der beteiligten Adjektive berücksichtigen müssen.
_____________ 10 11 12 13 14
Im Einzelnen: braun, fuchsig / gefuchst, grau, grün, rot, schwarz und weiß. Neben den Farbadjektiven im engeren Sinne wurden in diese Gruppe aufgenommen: couleurt, fahl, hell, licht 'hell' und gestreift. Im Einzelnen: breit, groß, klein, kurz und lang. Nicht berücksichtigt sind hier Adjektive mit Maßangaben (3. voet lanck) und Paarformeln (kort vnd lanck 'von verschiedener Länge'). Im Einzelnen: alt, (un)brauchbar, gut, löchrig / gelöchert / durchlöchert / zerlöchert, mittelmäßig, neu, nichtswürdig, nutz(e) / nütz(e) / nutzend / nützig / abgenutzt, schlecht, verschlissen / geschlissen, (un)tauglich / tüchtig und ziemlich 'angemessen, geeignet, ordentlich'. Format 1: Nominalphrase mit attributivem (pränominalem) Adjektiv: 1 langer tisch; Format 2: Topik-Kommentar-Struktur mit Adjektiv: j. kettell iseren Von ihrer Semantik her sind evaluierende Adjektive für eine Determination des Typs ausdrückliche, argumentativ relevante Feststellung prädestiniert (vgl. Weinrich 1993, 528).
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Die zeitliche Entwicklung des Anteils der Zustandsadjektive im Format 2 zeigt das folgende Diagramm. Eingetragen ist der gleitende Mittelwert. Abgebildet ist der Zeitraum von 1500 bis 1800.
Diagramm 1: Anteil der Zustandsadjektive in der Topik-Kommentar-Konstruktion
Zu Beginn des Untersuchungszeitraums, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, ist der Anteil evaluierender Adjektive in der Topik-KommentarKonstruktion verschwindend gering. Er steigt in der Folge an, sinkt aber zunächst immer wieder auf Werte unter 5 %. Erst im 18. Jahrhundert erreicht er zuerst die 20%- und dann um 1770 sogar die 40%-Marke. In der zweiten Jahrhunderthälfte wird also mehr als ein Drittel der untersuchten Zustandsadjektive in den Listeneinträgen zur argumentativ relevanten Feststellung einer Eigenschaft gebraucht, andere Adjektive, wie gezeigt, dagegen kaum. Eine Erklärung für diesen Befund soll auf Beobachtungen zum Wandel der Textsorte Nachlassinventar aufbauen.
4. Textsortenwandel In dem Inventarausschnitt, der in Abschnitt 2 als Beispiel gegeben wird, fällt auf, dass die Listeneinträge als vollständige Sätze organisiert sind: Jtem nocht syntt dar xxxx honder. Die Nominalphrasen, mit denen die Gegenstände bezeichnet werden, bilden das jeweilige Subjekt der Sätze und stehen an letzter Stelle. Zusammen mit Jtem noch sorgt das in jedem Listeneintrag des Textausschnitts verwendete Prädikat syntt dar für einen sehr hohen Grad an Gleichartigkeit der Listeneinträge. Den Anteil der Inventare im Korpus mit diesen Merkmalen zeigt das folgende Diagramm:
Adjektive in Inventarlisten
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Diagramm 2: Profilierung der Textsorte Nachlassinventar in der Mitte des 16. Jahrhunderts (Anteil der Inventare mit ausgewählten textlichen Merkmalen)
Mit durchgezogener dunkler Linie eingetragen ist der gleitende Mittelwert des Anteils der Inventare, die satzförmige Listeneinträge mit ist / sind dar bzw. dar ist / sind enthalten. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts steigt der Anteil an; in der Mitte des Jahrhunderts weist mehr als ein Viertel der Inventare Listeneinträge mit dar ist / sind auf; der Anteil nimmt danach allerdings rasch wieder ab. Der letzte Beleg stammt aus dem Jahr 1589 (vgl. Denkler 2006, 75f.). Die helle Linie zeigt die Entwicklung der Einzelbuchung – die Verwendung einer eigenen Zeile für jeden Listeneintrag – und die gepunktete Linie die Verwendung von item bzw. item noch als lexikalische Markierung der Listeneinträge. Man erkennt, dass sich diese drei Merkmale in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts – wenn auch nicht im gleichen Maße, so doch zeitgleich – zu Merkmalen der Inventarlisten entwickeln, bevor sie ab etwa 1550 wieder abgebaut werden.15 Die Kennzeichnung des Listenanfangs durch ein lexikalisches Gliederungssignal (verschiedene volkssprachige Entsprechungen von lateinisch primo) _____________ 15
Der Abbau der genannten (und weiterer) Textsortenmerkmale lässt sich als Teil eines umfassenden Prozesses der kulturellen Neuorientierung interpretieren (vgl. hierzu etwa Lasch 1910 / 1972; Maas 1988), mit dem sich die sprachhistorische Forschung im Zuge der Untersuchung des Schreibsprachenwechsels vom Niederdeutschen zum Neuhochdeutschen beschäftigt. In den westfälischen Inventaren werden ebenfalls ab der Mitte des 16. Jahrhunderts sprachliche Neuerungen, zunächst vor allem im lautlich-graphischen Bereich, übernommen, die aus dem hochdeutschen Sprachraum stammen. Zeitgleich kommt es zur Übernahme weiterer Kulturtechniken aus dem Süden, wie der arabischen Zahlen (inkl. des Stellenwertsystems) und der Datierung nach den Monatstagen (vgl. Denkler 2006, 44ff.). Man kann hier von einem technology cluster sprechen (vgl. Denkler 2007, 455): In der Wahrnehmung der Übernehmer können verschiedene neue Technologien zusammengehören, also ein Cluster bilden, sodass diese Technologien auch zusammen übernommen werden. Daneben kommt es zu einem Abbau von etablierten bzw. sich etablierenden kulturellen Mustern, der hier zur Nivellierung der Textsorte Nachlassinventar führt. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Konzept der ‚kulturellen Expressivität‘ von Textsorten (Tophinke 1996, 103).
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steigt zeitversetzt an – dies zeigt die gestrichelte Linie. Lexikalische Bausteine wie ten ersten, int erste, vor erst und erstlich haben Ende des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt (vgl. Denkler 2006, 60f.); sie erscheinen in knapp 60 % aller Inventare aus den letzten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Danach verlieren sie langsam an Bedeutung; im 18. Jahrhundert werden sie kaum noch verwendet.
Diagramm 3: Profilierung der Textsorte Nachlassinventar Ende des 18. Jahrhunderts (Anteil der Inventare mit ausgewählten textlichen Merkmalen)
Bei einem der besprochenen Merkmale ist eine weitere Trendwende zu beobachten; der Gebrauch des Einzelbuchungsinventars nimmt Ende des 17. Jahrhunderts wieder zu und kann sich dann im 18. Jahrhundert gegen das Textblockinventar durchsetzen (vgl. Denkler 2006, 67f.). Dieser Anstieg ist verbunden mit dem Anstieg eines weiteren Merkmals der Inventare im 18. Jahrhundert (s. Diagramm 3): der Taxierung der aufgelisteten Gegenstände, also der Schätzung ihres Wertes. In Einzelbuchungsinventaren können Taxierungen zu jedem gebuchten Gegenstand einzeln angebracht werden; die Taxierungen können so auf dem Papier addiert werden, um den Wert des Nachlasses rechnerisch zu bestimmen. Solche ‚rationalen‘ Nachlassinventare bilden dann Ende des 18. Jahrhunderts die Grundlage für die Erhebung des Sterbfalls. Als Beispiel sei folgender Ausschnitt aus einem Nachlassinventar des Jahres 1733 abgedruckt (vgl. auch Abb. 1):16
_____________ 16
Fürstlich Bentheimisch-Steinfurtisches Archiv, Johanniterkommende Steinfurt, Akten 224, fol. 163v.
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[…] Einen unbeschlahgenen wahgen setze ad Zwey pfluge mit Egden setze ad Zwey Erdt Kahren setze ad ahn bette Vier ZugesPredte bette setze ad ahn bettlacken setze ad Eine Kiste setze ad Eine alte Kiste setze ad Ein schap setze ad Ein alt schap setze ad Einen Langen dichß undt stule setze ad Einen Runden dichß setze ad Einen Kufferen Kessel groß 4 emmer ad Einen Kufferen Kessel groß 2 emmer ad Einen Eiernen pott so Klein setze ad Zwey iserne potte setze ad Zwey Halle undt tange setze ad Eine pfanne Eisen undt Roster setze ad ahn Holtzen geschier setze ad Eine schnidtlahde undt messer setze ad flogels grepen undt wannen setze ad bracken HasPels undt sPinrade setze ad Exze barde schutten undt siegde setze ad Summa
rth. 5 4 2
sch.
d.
12 3 3 1 4 1 2 1 4 2
14
1 1 1 3 1 1 1 2 163
Homoet u.a. (1982, 12ff.) führen vor Augen, wie in den verschiedenen Aktennotizen des Stiftes Quernheim (Ostwestfalen) auf die Inventare verwiesen wird, um den Betrag, der an das Stift zu entrichten ist, festzusetzen und schließlich die Zahlung zu quittieren. Eine solche Analyse einzelner Textbausteine (vgl. Fritz 1993) mit variablenlinguistischen Methoden macht den Textsortenwandel greifbar. Die Merkmale können sich zu prototypischen Mustern verdichten und somit intertextuelle Konstanten und Variablen sichtbar machen (vgl. auch Warnke 1996).
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Abbildung 1: Nachlassinventar aus dem Jahr 1733 aus Burgsteinfurt (Ausschnitt)
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Adjektive in Inventarlisten
Die starke Zunahme im Gebrauch der Topik-Kommentar-Konstruktion mit Zustandsadjektiv erfolgte ungefähr zur selben Zeit wie die Profilierung des Nachlassinventars zu einem rationalen Instrument der Abgabenerhebung (Einzelbuchung, zeilenbezogene Taxierungen zur rechnerischen Ermittlung des Wertes der nachgelassenen Güter). Derart aufgebaute Inventare beförderten diese Strukturen, denn Angaben zum Zustand der inventarisierten Gegenstände waren von großer Relevanz – nicht für die Verbuchung an sich, sondern für die Taxierung. Sie stellten ein wichtiges Bindeglied zwischen diesen beiden Informationssparten dar; insbesondere Abweichungen von einer allgemein üblichen Wertansetzung bedurften einer ‚Begründung‘. Insofern lag es nahe ‚ausdrückliche‘ Muster zur Determination zu verwenden. Die Listeneinträge können also mit dem kommentierenden Zustandsadjektiv eine weitere Informationssparte enthalten, die zwischen der eigentlichen Verbuchung des Gegenstandes und der Taxierung steht, sodass ein Eintrag maximal aus Ordnungszahl, numerischer Angabe, Gegenstandsbezeichnung, Bemerkung zum Zustand und Taxierung zusammengesetzt ist:17 30,
ein
klapptisch
alt
– 12 [reichstaler] –
Ordnungszahl Anzahl Gegenstandsbezeichnung Zustand Taxierung
5. Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde ein Fall von pragmatisch indizierter Syntax vorgestellt: Die Gebrauchsfrequenz von Konstruktionen des Typs 6 hemde schlecht (mit evaluierendem Adjektiv) nimmt in westfälischen Nachlassinventaren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark zu. Diese Zunahme lässt sich als Merkmal eines umfassenden Textsortenwandels erklären. Die neu entstandene Textsorte Nachlassinventar wird zunächst durch den Einbezug von Elementen der traditionellen lateinischen Schriftpraxis (primo-item-Liste) profiliert. Diese Profilierung wird noch während des 16. Jahrhunderts aufgrund einer kulturellen Neuorientierung aufgegeben. So kommt es wieder zu einer Nivellierung dieser Textsorte. Im 18. Jahrhundert entwickelt sie sich dann zu einem rationalen Instrument der Abgabenerhebung: Merkmale gewinnen an Bedeutung, die dazu geeignet sind, das Inventar zu einem transparenten Dokument der Nachlasstaxierung und damit zu einer verlässlichen Grundlage einer späteren Festsetzung der _____________ 17
Wie das vorgenannte Beispiel zeigt, wird in den Inventaren durch lexikalische Bausteine wie setze ad, ad oder estemieret explizit eine Verbindung zwischen der Verbuchung der Gegenstände und der Taxierung angezeigt (vgl. Denkler 2006, 69).
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Abgabe zu machen. Die Anschlusskommunikation spielt nun also eine größere Rolle als noch im 17. Jahrhundert: Auf der Grundlage der Inventare und mit ausdrücklichem Bezug zu den Inventaren werden Texte erstellt, mit denen die Abgabe festgelegt sowie zuletzt die Bezahlung quittiert wird (vgl. Homoet u.a. 1982, 12f.). So bildet sich in den Inventaren eine Reihe von Textsortenmerkmalen heraus, die vor allem mit der seriellen und gleichförmigen Anordnung von Informationen oder generell mit der gezielten Nutzung des Raums auf der Seite zu tun hat. Große Bedeutung kommt hierbei also sprachökonomischen und optisch-graphischen Faktoren zu. In diesem Kontext sind auch Konstruktionen des Typs 1. Mannskleid mittelmäßig (Quernheim 1771) zu sehen, deren Gebrauch zunimmt. Es handelt sich dabei um doppelt rhematische Topik-Kommentar-Strukturen mit evaluierendem Adjektiv. Die Verwendung dieser durch Kürze gekennzeichneten Konstruktion ist zum einen mit den angesprochenen sprachökonomischen und optischgraphischen Faktoren zu erklären. Zum anderen sorgt das Adjektiv in diesem Format für eine ausdrückliche Feststellung einer in Bezug auf die Textfunktion relevanten Information.
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Althochdeutsch
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen Hans-Werner Eroms (Passau)
1. Additive und adversative Koordination Die Erforschung der Konnexion in Satz und Text hat in den letzten Jahren einen großen Aufschwung zu verzeichnen. Dies gilt zunächst in synchron-funktionaler Hinsicht. Es sei nur auf das Handbuch der deutschen Konnektoren verwiesen 1 , das in einem ersten Band die Semantik der parataktischen und hypotaktischen Konnektoren im Deutschen erfasst. Ein zweiter Band, der der Syntax gewidmet sein wird, ist in Vorbereitung. Auch der sprachgeschichtliche Aspekt hat zunehmend Beachtung gefunden. Der von Yvon Desportes herausgegebene Sammelband Konnektoren im älteren Deutsch 2 untersucht vor allem das Althochdeutsche, ein kurzer diachroner Abriss findet sich in der Abhandlung „De l’érosion des connecteurs et de la précession des ligateurs“ von Eroms. 3 Semantische und syntaktische Aspekte sind in der Behandlung der Konnektoren kaum zu trennen. Das zeigen die zahlreichen Arbeiten vor allem zur Koordinationsreduktion. Insbesondere die Arbeiten der generativ-transformationellen Grammatik haben den Blick dafür geschärft, dass „unter der Oberfläche“ der Phrasen und Sätze Prozesse ablaufen, die ihren Niederschlag in kompakten Oberflächenstrukturen finden. 4 Gerade die auf den ersten Blick so einsträngig und in ihrer Funktion einfach erscheinende „reine“ Koordination, die in der deutschen Gegenwartssprache durch den Konnektor und vorgenommen wird, verstellt den Blick _____________ 1 2 3 4
Vgl. Pasch / Brauße / Breindl / Waßner (2003). Vgl. Desportes (Hrsg.) (2003). Vgl. Eroms (1996, 329ff.). Auf den grammatiktheoretischen Aspekt kann hier nicht eingegangen werden. Es sei hier auf die Überblicksartikel zur generativ bestimmten Sicht von van Oirsouw (1993, 748ff.) und zur dependenziellen Darstellungsweise von Lobin (2006, 973ff.) verwiesen.
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Hans-Werner Eroms
dafür, dass Koordination ein höchst komplexer Vorgang ist, der sich zudem aus unterschiedlichen Quellen speist. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass in der geschichtlichen Darstellung der deutschen Syntax von Otto Behaghel die Konnektoren nicht in ihrer historischen Schichtung erfasst werden. Behaghel behandelt sie in ihren hypo- und parataktischen Funktionen unter dem Titel „Die Konjunktionen“ in alphabetischer Reihenfolge.5 Erklärlich ist dieses Vorgehen nur, wenn man annimmt, dass die Funktionsunterschiede jeweils klar an die lexikalische Form gebunden sind und dass diese sich im Laufe der Sprachgeschichte relativ gleichartig verändern. Die Veränderungen, denen die Konnektoren unterworfen sind, betreffen meist aber das jeweilige Feld, in dem sie stehen, als Ganzes. Im Bereich der Subjunktoren ist dies seit Jahrzehnten für die kausalen Konnektoren ein Dauerthema in der Forschung, vor allem auch, weil sich hier Übergänge zu parataktischen Konstruktionen zeigen.6 Aber auch die einzelnen Konnektoren weisen keinesfalls immer eine konstante Bedeutung auf, weder synchron-funktional, noch im historischen Prozess. Exemplarisch lässt sich dafür für das Althochdeutsche auf den Kernbereich der Konnektoren verweisen. Die in der deutschen Gegenwartssprache unmarkiert geltende Konjunktion und etabliert sich erst im Althochdeutschen und verdrängt ihre Konkurrenten, und der adversative Konnektor avur kommt gerade erst auf, er manifestiert sich im Rahmen eines längeren Prozesses im Deutschen. Er bekommt im Laufe der Sprachgeschichte mehrere Konkurrenten, vor allem allein und in der jüngsten Zeit nur.7 Sprachgeschichtlich und typologisch ist es von großem Interesse, dass diese beiden Konnektorentypen, der additive und der adversative, funktionsverwandt, ja im Gebrauch teilweise austauschbar sind. Begründet ist dies häufig dadurch, dass die Wörter gleiche Wurzeln haben oder dass ähnliche Wurzeln konvergieren, wie an der Etymologie von und gezeigt worden ist. Darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen. Der tiefere Grund für solche Konvergenzen ist aber ein diskursiv-textuelles Moment: Das „Anknüpfen weiterer Gesichtspunkte“ im Text und im Diskurs bedient sich vornehmlich der Strategie der Absetzung vom bisher Angeführten. Dies ist besonders deutlich in dialogischen Situationen. Bei ihnen erfolgt die Anknüpfung sehr häufig dadurch, dass zu einer geäußerten Ansicht des Gesprächspartners eine dazu konträre oder zumindest in andere Bereiche reichende Ansicht vorgetragen wird. Dafür sind merkliche Signale, vor allem an der Satzspitze nötig, um die Aufmerksamkeit des _____________ 5 6 7
Behaghel (1928, 48ff.). Vgl. zusammenfassend: Pasch / Brauße / Breindl / Waßner (2003, 369ff., 392ff., 403ff.). Vgl. Pérennec (1989, 451ff.) und Eroms (1994, 285ff.).
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Gesprächspartners zu erregen.8 In monologischen Texten kann man sich die dialogische Situation gleichsam auf eine einzige Ebene verlagert denken, in der die unter Umständen nötigen Gegenmeinungen von der sprechenden oder schreibenden Person selber vorgetragen werden. Alle diese Strategien unterliegen der stilistischen Abnutzung und Abschwächung. Zwar verdrängt der adversative Konnektorentyp den additiven nicht grundsätzlich, aber die einfache Koordination mit dem Konnektor und lässt häufig eine adversative Komponente erkennen. 1.1. Additive Verknüpfung Wenden wir uns zunächst den Bezeichnungsmöglichkeiten für die einfache Verknüpfung, die additive Koordination, im Althochdeutschen zu. 1.1.1. enti / inti im Althochdeutschen Zu beginnen ist mit den Vorgängern der nhd. Konjunktion und: enti und inti. Verbreitung und Etymologie von ahd. enti und inti sind mehrfach gründlicher untersucht worden. Die Monographie von Edward H. Sehrt9 und die Abhandlung von Rosemarie Lühr10 haben die Vorgeschichte des nhd. Wortes und geklärt. Dieses geht auf die ahd. Form inti zurück, während sich germ. anti direkt z.B. in engl. and fortsetzt. Strittig war und ist aber das genaue Verhältnis der beiden Formen enti und inti zueinander. Während R. Lühr in Bezug auf enti und inti für eine gemeinsame Wurzel plädiert und die Formenunterschiedlichkeit durch vorurgermanische Entwicklungen erklärt, geht Búa11 direkter von zwei vorgermanischen Varianten aus. Wie sie sich im Indogermanischen zueinander verhalten, ist für unsere Zwecke nicht erheblich. Es ist aber davon auszugehen, dass die ursprüngliche Bedeutung von germ. *anþi 'demgegenüber, dagegen' gewesen ist.12 Als etymologische Anknüpfungspunkte kann hier auf Wörter wie lat. anti oder deutsch Antwort (im Sinne etwa von 'das Gegen-Wort, das Wider-Wort') verwiesen werden. Die „Entgegensetzung“, die mit ant- zum Ausdruck gebracht wird, ist jedenfalls deutlich. Die genaue Herleitung der heute im Deutschen ausschließlich herrschenden Form und kann hier offen bleiben. Sie ist jedoch zweifellos aus inti, wahrscheinlich über eine _____________ 8 9 10 11 12
Vgl. für die deutsche Gegenwartssprache Christl (2004). Vgl. Sehrt (1916). Vgl. Lühr (1979, 117ff.). Vgl. Búa (2005, 111ff.). Vgl. ebd., 118.
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Rundungs-Entdrundungsversion entstanden. Kaum geklärt werden kann, ob die additive Bedeutung 'und' zunächst stärker an die inti- und weniger an die enti-Formen geknüpft gewesen ist. Es kann sich entweder um eine schon vor dem Aufkommen verschrifteter Formen bestehende Konvergenz handeln, oder aber die beiden Formen weisen parallele Entwicklungen auf, wobei im Verlauf der Sprachgeschichte die eine, inti, und, die andere, enti (aus anti) verdrängt. Dies scheint mir die wahrscheinlichere Entwicklung zu sein. Denn die „Abschwächung“ adversativer Bedeutungen zu einer rein additiven ist ein universaler Vorgang.13 Thomas L. Markey schreibt in seinem Artikel über den Konnektor und im Althochdeutschen: „We find the contrastive, adversative semantics of and highly significant.“14 Die adversative Bedeutung von enti lässt sich an einer prominenten Stelle des Wessobrunner Gebetes sehr deutlich erkennen: (1)
Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo, enti do uuas der eino almahtico cot, manno miltisto, enti dar uuarun auh manake mit inan cootlihhe geista. enti cot heilac... (Wessobrunner Hymnus und Gebet 6-9, Althochdeutsches Lesebuch, 86) Damals gab es da nichts an Enden und Grenzen. Aber da war der eine allmächtige Gott, der gütigste der Männer; und da waren bei ihm auch viele edle Geister.
Das erste enti zeigt die adversative Setzung sehr deutlich, die folgenden sind in ihrer Funktion eher kopulativ. Allgemein lässt sich über den Passus und die Bestimmung der Bedeutung von enti sagen: Im epischen Fortgang fällt das konnektive und und das adversative aber an den Stellen dramatischer Zuspitzung zusammen, wie es hier deutlich zu sehen ist. In jedem Fall ist enti der Konnektor im Althochdeutschen, der für die Signalisierung adversativer und additiver Verhältnisse allmählich an die Stelle von joh tritt. 1.1.2. joh im Althochdeutschen Dieser Konnektor stirbt im Althochdeutschen langsam ab. Etymologisch scheint joh eine Zusammensetzung eines pronominalen j- oder der Partikel ja mit der Partikel ouh zu sein,15 es ist also verweisend. Im Deutschen hat _____________ 13 14 15
Vgl. Búa (2005, 118). Markey (1987, 391). Vgl. Grimm / Grimm (1877, Sp. 2327).
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ouh kopulativen, aber ebenfalls auch adversativen Sinn. Die Frühgeschichte dieses Wortes ist von Duplâtre herausgearbeitet worden.16 Auch hier finden wir wieder mehrere Wurzeln, die im Laufe der Sprachgeschichte konvergieren. Bestimmend scheint der Bezug auf eine Wurzel zu sein, die in indogerm. *aug- 'vermehren' eine Bedeutung des Hinzufügens erkennen lässt. Was die Bedeutung und die Funktion von joh im Vergleich mit enti / inti betrifft, so heißt es bei Otto Behaghel: Der Gegensatz beider ist lediglich zeitlicher Art: joh ist das ältere, im Untergang begriffene Wort (es reicht nur noch in Ausläufern ins Mhd. hinein), enti das an seine Stelle tretende jüngere Wort. Schon im Isidor wird joh nur noch ganz vereinzelt zur Verbindung von Wortgruppen oder Sätzen verwandt, meist nur noch zur Verknüpfung von zweigliedrigen Formeln, die ja gerne das Ältere weiter führen.17
Das Verhältnis entspreche etwa lat. et und -que, wie man es zum Beispiel in den Murbacher Hymnen sehen könne. Hier finden wir zudem die bis zum Neuhochdeutschen fortlebende Konnektivpartikel auh, quoque, deren Grundfunktion ebenfalls adversativ-konnektiv ist: (2)
ioh dera naht mittera zite paul auh inti sileas christ kabuntane in charchare samant lobonte inpuntan uurtun. Noctisque medię tempore paulus quoque et sileas christum uincti in carcere conlaudantes soluti sunt. (Murb. Hymn. I, 11-14) Und zur Mitternachtszeit wurden Paulus und Sileas, als sie gefesselt im Kerker gemeinsam Christus lobten, losgebunden.
Im Folgenden wird auf die Abgrenzung und eine mögliche Deutung funktionaler Unterschiedlichkeiten der Konnektoren im Althochdeutschen genauer eingegangen. 1.1.3. enti / inti und ioh im Althochdeutschen Wie unsere Überlegungen zu Anfang und die Eingangsbeispiele erkennen ließen, ist die Situation im Althochdeutschen u.a. dadurch gekennzeichnet, dass für die einfache Verknüpfung zwei Ausdrücke zur Verfügung stehen, _____________ 16 17
Vgl. Duplâtre (2006, 73ff.). Behaghel (1928, 200).
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enti / inti und ioh. Ihre regionale Verteilung und ihre Abgrenzung zu anderen Konnektoren wird bei Markey18 genauer analysiert. Aufschlussreich ist jedoch, dass sich weder eine scharfe Abgrenzung in regionaler Hinsicht findet, noch dass in den einzelnen Denkmälern nur jeweils ein Konnektor vorkommt. Der Normalfall ist eher der, dass beide Konnektoren begegnen. Daher liegt es nahe, dass immer wieder nach Bedeutungsunterschieden oder sonstigen funktional zu verstehenden Unterscheidungen gesucht worden ist, wie es das obige Zitat von Otto Behaghel schon zeigt. Behaghel plädiert allerdings eher für funktionale Identität und nur für ein zeitliches Nacheinander der beiden Ausdrücke. Bei Piper heißt es aber zu joh: Die Erscheinungen sind hier ähnlich wie bei inti, nur verbindet letzteres mehr das durch seinen Inhalt auf einander Angewiesene und unter sich Zusammenhängende, während ioh die zufällige äussere Verbindung ausdrückt.19
Valentin formuliert für Otfrid die Abgrenzung folgendermaßen: Otfrids Sprache gehört prinzipiell dem ioh-Bereich, nicht dem inti-Bereich an. joh ist der normale kopulative Konnektor, der besagt, dass zwei oder mehr Propositionen oder Äußerungen zusammengenommen werden sollen, das heißt, dass sie zusammen eine höhere argumentative Einheit bilden.20
Die Suche nach Unterscheidungsmöglichkeiten ist nur zu berechtigt, wenn die Ergebnisse auch allenfalls zu subtilen Unterschieden führen. Denn das Vorkommen mehrerer Konnektoren für die Bezeichnung der einfachen Anknüpfung im Althochdeutschen ist sprachvergleichend gesehen kein Einzelfall. Das bekannteste Beispiel ist das Latein, das mit et, dem enklitischen -que und weiteren Konnektoren, vor allem ac und atque eine ähnliche Situation aufweist. Während die Tendenz im Deutschen seit dem Mittelhochdeutschen dahin geht, das Vorkommen mehrerer kopulativer Konnektoren zurückzunehmen, ist das Althochdeutsche eben durch eine ganz andere Situation gekennzeichnet: durch das Nebeneinanderbestehen mehrerer Konnektoren, wenn sich auch schon deutlich abzeichnet, wohin die Entwicklung gehen wird. Im Heliand ist das Nebeneinandervorkommen mehrerer Konnektoren noch ausgeprägter als im Althochdeutschen. Neben endi als dem am häufigsten belegten Konnektor kommt noch eine Reihe weiterer Ausdrücke vor, die zur Signalisierung des Anschlusses dienen: ia, ge / gi, gie / gia, iac, gec und giac. Diese Wörter sind sehr unterschiedlich häufig belegt. So kommt ia 16-mal vor, gec ist nur einmal belegt.21 Die Bedeutungsbestimmung ist nicht ganz einfach. In den meisten _____________ 18 19 20 21
Vgl. Markey (1987, 380ff.). Piper (1884, 225). Valentin (2003, 185). Vgl. Robin (2003, 140ff.).
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Fällen scheinen die Konnektoren austauschbar zu sein. Doch ist der jeweilige semantische Weg unterschiedlich. So vermutet Robin: „Der Konjunktor ia funktioniert wie ein Korrelator, das heißt, er weist auf eine ältere Stufe des Konnektierens hin.“22 Auch im Althochdeutschen lassen sich Schichtungen erkennen. Auf sie wird im Folgenden noch eingegangen. Allerdings ist es nicht einfach, Schichtungen in ihrer historischen Dimension auszumachen. Daher sollen hauptsächlich funktionale Unterschiedlichkeiten, so weit sie überhaupt zu erkennen sind, im Mittelpunkt stehen. Koordinationen sind mit die häufigsten syntaktischen Operationen und die Sprachen tendieren dahin, ihre morphologischen und syntaktischen Markierungen möglichst einfach zu bewerkstelligen. Dass die dabei ablaufenden kognitiven Prozesse alles andere als einfach sind, zeigt für die Syntax die kaum zu überblickende Zahl einschlägiger Arbeiten, wofür hier nur auf den Überblicksartikel von Lobin für die Arbeiten des dependenzgrammatischen Ansatzes hingewiesen werden soll.23 In der deutschen Gegenwartssprache gibt es für die einfache Koordination in allen ihren Ausprägungen nur den Konnektor und. Diese auf den ersten Blick reduzierte Sachlage wird allerdings durch eine Reihe von Maßnahmen kompensiert. So lassen sich über das Konnektiv auch, wie verschiedentlich gezeigt worden ist,24 konnektive Funktionen signalisieren, die dann weitere Bedeutungselemente transportieren, worauf hier nicht weiter eingegangen werden soll. Das Althochdeutsche ist dagegen typologisch eher als Normalfall anzusehen, indem immerhin zwei Konnektoren zur Verfügung stehen. Auf deren teilweise sehr unterschiedliche Verteilung in den größeren Denkmälern wird weiter unten eingegangen. Schon ein Blick auf die kleineren Denkmäler kann zeigen, dass inti und ioh nebeneinander vorkommen. So finden sich etwa im Ludwigslied und sogar in den Würzburger Markbeschreibungen beide Ausdrücke: (3)
Thō nam her skild indi sper. (Braune 1994, 137) [Das Ludwigslied, 42]
(4)
Ioh alle saman sungun ‚Kyrrieleison‘. (Braune 1994, 137) [Das Ludwigslied, 47]
(5)
Sô sagant daz sô sî Uuirziburgo marcha unte Heitingesveldôno unte quedent daz in dero marchu sî ieguuedar, ióh chirihsahha sancti Kiliânes ióh frôno ióh frîero Franchôno erbi. (Braune 1994, 7f.) [Würzburger Markbeschreibungen]
_____________ 22 23 24
Ebd., 141. Vgl. Lobin (2006, 973ff.). Zuletzt Duplâtre (2006, 81f.).
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Ióh ist hier allerdings schon formelhaft festgelegt für die Ausdrucksweise 'sowohl … als auch'. So begegnet das Wort auch im Tatian, worauf noch eingegangen wird. Eine zweite Auffälligkeit des Althochdeutschen ist es, dass die mit der Koordination verbundenen weiteren Funktionen aktiviert werden können. Auch dies ist keine Besonderheit des Althochdeutschen an sich, denn das ist wiederum universal zu erwarten. Wie wir aber bereits im Eingangsbeispiel aus dem Wessobrunner Gebet gesehen haben, ist das für enti offenbar damit zu erklären, dass die beiden Wurzeln des Wortes durchschlagen. So finden sich in vielen Denkmälern Belege für die adversative Funktion von enti / inti. Im Ludwigslied heißt es etwa: (6)
Ther ther thanne thiob uuas, Ind er thanana ginas, Nam sīna vaston: Sīdh uuarth her guot man. Sum uuas lugināri, Sum skāchāri, Sum fol lōses, Ind er gibuozta sih thes. (Braune 1994, 137) [Das Ludwigslied 15-18] Aber auch er büßte das ab.
1.2.4. avur im Althochdeutschen Bei diesem Konnektor ist die in der Gegenwartssprache herrschende adversative Bedeutung sekundär. Ihre Entstehung lässt sich als konversationelle Implikatur der Ausgangsbedeutung 'wieder, wiederum' denken, wie sie sich im Althochdeutschen in der Mehrzahl der Verwendungen findet und sich auch in der Gegenwartssprache bis heute in der Wortbildung, etwa bei abermals nachweisen lässt. Wie enti / inti ist auch dieses Wort Fortsetzer zweier urgermanischer Grundformen *afar und *afur.25 Das Althochdeutsche Wörterbuch zeigt in seiner ausführlichen Dokumentation der Belege den Weg von der Ausgangsbedeutung hin zur adversativen.26 Erst bei Notker und Williram ist dieses Stadium vollgültig erreicht. Vorher finden sich für die Markierung adversativer Verhältnisse nur vereinzelte Belege. In einer statistischen Aufbereitung zeigt Meineke für Willirams Paraphrase des Hohen Liedes, wie die Verteilung in diesem späten _____________ 25 26
Vgl. Lloyd / Springer / Lühr (1988, Sp. 401f.). Vgl. Karg-Gasterstädt / Frings (1973, Sp. 700ff.). Die konjunktionalen Belege werden in zwei Großgruppen gegliedert: „Gegenüberstellung, adversative Weiterführung“ (Sp. 715740) und „kopulative Weiterführung“ (Sp. 740-749). Auch hier wird deutlich, dass adversative und kopulative (additive) Anknüpfung bei einer Konjunktion, hier bei einer dominant adversativen, nebeneinander bestehen.
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Denkmal aussieht.27 Danach weisen die überwiegende Mehrzahl der Belege die adversative und die übrigen Belege ein weites Spektrum von Bedeutungen auf.28 Aber eignet sich in seiner adversativen Bedeutung in besonderem Maße dafür, in dialogischen Situationen, aber auch in monologischen Texten, sowohl in argumentativen, als auch in erzählenden Textsorten in irgendeiner Weise gegensätzliche Positionen miteinander zu verbinden und über diese gegensätzliche Anknüpfung einen Textfortschritt zu erzielen. Denn unter stilistischen Gesichtspunkten wird eine „Verlebendigung“ auch des Erzählten erwartet. Dazu tragen adversative Mittel in besonderem Maße bei. Diese Mittel wiederum nutzen sich – womit ebenfalls allgemeine stilistische Gesichtspunkte zum Tragen kommen – im Gebrauch schnell ab und es werden neue Mittel benötigt. So konkurrieren in der deutschen Sprache im Laufe der Zeit neben und in seiner adversativen Funktion aber sowie doch und später allein und nur, das sich in der Gegenwartssprache gerade als adversativer Konnektor mit der speziellen Bedeutung 'das gerade Gesagte ist mit folgender Einschränkung gültig' etabliert.29 Auch die mit aber vorgenommene Verknüpfung setzt das gerade Gesagte nicht vollends außer Kraft. Dies zeigt seine ursprüngliche Bedeutung, die auch in der rein adversativen noch in dem Sinne aufrufbar ist, dass im Gegensatz das vorher Angeführte als 'noch mit zu Bedenkendes' weitergilt.
2. Untersuchung additiver und adversativer Konnexion in althochdeutschen Texten Wenn auch die schon zitierte Ansicht von Behaghel überzeugt, dass hauptsächlich das Alter der Quelle für die Distribution der konnektiven Konjunktionen maßgeblich ist, so ändert das nichts an der Möglichkeit, dass ein Text, der mehr als einen konnektiven Konnektor enthält, doch eine Unterschiedlichkeit in der Verwendung erkennen lässt. Dies ist mit gutem Grund verschiedentlich angenommen worden, worauf in Abschnitt 1.1.2. schon hingewiesen worden ist. Bevor auf die zu diesem Zweck in der Forschung schon behandelten Textdenkmäler eingegangen wird, sollen zwei Denkmäler herangezogen werden, die bislang, soweit ich sehe, unter diesem Gesichtspunkt noch keine genauere Beachtung gefunden haben. Das eine sind die Murbacher Hymnen und das andere die Monseer Fragmente. _____________ 27 28 29
Vgl. Meineke (2003, 41ff.). Vgl. ebd., 64f. mit den Diagrammen 3 und 4. Vgl. dazu Pérennec (1989, 451ff.) und Eroms (1994, 285ff.).
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2.1. Die Murbacher Hymnen Die Murbacher Hymnen sind deswegen für unseren Zweck sehr gut geeignet, weil sie sich eng an den lateinischen Ausgangstext halten und erkennen lassen, wie der Übersetzer versucht, die Unterschiedlichkeiten des Lateins in seiner Sprache wiederzugeben. In diesem Denkmal finden sich inti, ioh und ouh, dazu avvur, und diese Ausdrücke sind in ihrer Verwendung ausschließlich danach verteilt, welches lateinische Wort in der Vorlage steht. So entspricht ausnahmslos inti lat. et, ioh -que und ac, ouh quoque. Dafür einige Beispiele: (7)
lux lucis et fons luminis,
leoht leohtes inti prun[n]o leohtes (Murb. Hymn. III, 1,3)
(8)
Et nos psallamus spiritu
inti uuir singem atume (Murb. Hymn. XIII, 3,1)
(9)
Uerusque sol inlabere,
uuarhaft ioh sunna in slifanne (Murb. Hymn. III, 2,1)
(10) Christe, qui lux es et die
christ du der leoht pist inti take (Murb. Hymn. XVI, 1,1)
(11) omne cęlum atque terra
eocalihc himil inti ioh herda (Murb. Hymn. VII, 8,3)
(12) noctem discernis ac diem,
naht untarsceidis ioh tak (Murb. Hymn. XV, 1,2)
Während also et immer mit inti wiedergegeben wird und -que sowie ac mit ioh, wird atque durch die Kombination der beiden althochdeutschen Konnektoren ausgedrückt: inti ioh. Diese Entscheidung des Übersetzers mag auf den ersten Blick etwas mechanisch anmuten, doch lässt sie erkennen, dass die beiden Ausdrücke offensichtlich als mit leicht unterschiedlicher Bedeutung anzusetzen sind. Dies lässt sich aber sicher nicht generalisieren. Stellen wie die folgende legen nahe, dass auch im Lateinischen im Allgemeinen kein Unterschied festzustellen ist: (13) Aeternę rerum conditor, euuigo rachono felahanto noctem diemque qui regis naht tac ioh ther rihtis et temporum dans tempora, inti ziteo kepanti ziti (Murb. Hymn. XXV, 1,1-3) Dass der althochdeutsche Übersetzer nicht völlig mechanisch vorgegangen ist, ist daraus zu erkennen, dass er an einer Stelle von der für -que obligatorischen Nachstellung abweicht und die deutsche Wortstellung wählt:
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(14) Quid hoc potest sublimius, ut culpa querat gratiam, metumque soluat caritas, reddatque mors uitam nouam
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uuaz diu mak hohira daz sunta suache ast ioh forahtvn arlose minna argebe ioh tod lip niuuan (Murb. Hymn. XX, 6)
In der dritten Zeile dieser Strophe wird die dem Deutschen angemessene Wortstellung gewählt, während in der vierten wieder die mechanische Umsetzung erfolgt. Die Adversativpartikel auur entspricht an fünf von insgesamt 11 Belegen ergo: (15) Surgamus ergo strenue, gallus iacentes excitat
arstantem auur snellicho hano lickante uuechit (Murb. Hymn. XXV, 5,1f.)
Eine wirklich adversative Bedeutung ist nicht auszumachen. 2.2. Die Monseer Texte Die Texte aus der Monseer Gruppe sind aus einem anderen Grund aufschlussreich. Sie halten sich zwar auch an die Vorlage, lassen aber eine viel größere Unabhängigkeit erkennen. Dies gilt bereits für die Bruchstücke der Übersetzung des Matthäusevangeliums, die, wie die anderen Stücke des Korpus, selbst wieder Umsetzungen einer rheinfränkischen Vorlage sind. 2.2.1. Monseer Matthäus Für die Situation im frühen Althochdeutschen ist die Übersetzung des Monseer Matthäus besonders charakteristisch. Hier finden sich, wie in den bisher betrachteten Denkmälern, ebenfalls enti und ioh nebeneinander. Aber enti überwiegt ganz eindeutig. Das Wort kommt 352-mal vor, während ioh nur 25-mal belegt ist.30 Daraus lässt sich zunächst schließen, dass der Text ein Beleg dafür ist, dass ioh auf dem Rückzug ist. Enti ist die Konjunktion, die sich bereits als die normale durchgesetzt hat. Aufschlussreich ist es aber, genauer zu prüfen, in welchen Konstruktionen ioh noch vorkommt und wo enti eindeutig dominiert. Enti wird in verbenthal_____________ 30
Auszählungen nach dem Titus-Projekt der Universität Frankfurt (Texteingabe: Emil Kroymann, Berlin 2005, Korrekturen, Formatierung und Annotationen von Thorwald Poschenrieder, Berlin 24.1. 2006, Textversion von Jost Gippert, Frankfurt 29.6. 2006).
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tenden Strukturen sehr häufig, in nominalen weniger verwendet. Die wenigen Vorkommen von enti in nominalen Koordinationsstrukturen sind solche, bei denen das angeschlossene Glied einfache Koordinationsreduktion zeigt: (16) Duo uuart imo fram brun gan der tiubil hapta uuas blinter enti stum mer enti ga heilta inan so daz aer ga sprah enti ga sah; Enti uuntrentiu uur tun elliu dhiu folc enti quatun inu nu dese ist dauites sunu; (Monseer Fragm. V, 14-18) Ioh begegnet z.B. an folgenden Stellen: (17) so huuer so auh in ernust uuillun uurchit mines fater der inhimilū ist Der ist miin bruoder enti suester ioh moter; (Monseer Fragm. VII, 27-29) (18) enti fuorun uz sine scalcha in dea uuega enti kasamnotun alle so huuelihhe so sie funtun ubile ioh guote (Monseer Fragm. XV, 21-23) (19) Enti dęr suerit bi demo temple suerit in demo ioh in demo dar inne ar tot Enti dær suerit bi himile suerit bi hoh sedle gotes ioh bi demo dar oba *** (Monseer Fragm. XVII, 12-14) Hier lässt sich gut ein nicht nur im Monseer Matthäus offensichtlicher Unterschied zwischen enti und ioh erkennen: Enti steht hier als Konnektor zwischen Sätzen, bindet also Propositionen mit ihrem Satzmodus, ioh ist Konnektor auf tieferer Ebene. Allerdings kommt ioh auch in der satzverbindenden Funktion vor: (20) Enti qui dit Ibu uuir uuarim in unserero for drono tagum ni uuarim uuir iro ka mahhun in fora sagono bluote Ioh des birut ir iu selbun urchundun daz ir dero suni birut dero dea fora sagun sluo gun. (Monseer Fragm. XVIII, 8-12) (21) Ant uur tun deo uuisorun quuedanteo Niodo nist uns ioh iu hear kanoga (Monseer Fragm. XX, 12f.) (22) Duo kasah iudas der inan dar forreat daz ær ga ni drit uuas hrau sih duo enti arboot dea drizuc pen di go silabres dem herostom euuartū ioh dem furistom mannum (Monseer Fragm. XXIII, 27-30) (23) Bi diu ist eo ga huuelih scriba galerit in himilo rihhę, Galiih ist manne hiuuis ches fater der fram tregit fona sinemo horte niu uui ioh fir Ni (Monseer Fragm. X, 26-28)
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Als Fazit für den Monseer Matthäus lässt sich für das Verhältnis von enti und ioh festhalten: Enti ist die gewöhnliche Konjunktion zum Ausdruck konnektiver Verhältnisse. Die Verwendungsunterschiede zu ioh sind nicht sehr auffällig. Enti scheint aber in verbenthaltenden Strukturen zu dominieren, während ioh bei einfachen, vor allem in nominalen Konnexionen zu finden ist. Als satzverbindender Konnektor, also in der Funktion, die wir eingangs als besonders wichtig für die Textbildung benannt haben und in der sich vor allem eine zu vermutende adversative Bedeutung bemerkbar macht, ist enti im Monseer Matthäus mehrfach zu belegen. Da das Wort in dieser Funktion das lateinische satzeinleitende et wiedergibt, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, in wieweit sich hier eigenständige Möglichkeiten zeigen oder sich nur die Übersetzung niederschlägt. Als adversative Konjunktionen kommen im Monseer Matthäus auh und auur vor. Auh ist 52-mal belegt, auur nur 31-mal. Die oben angeführte Textstelle (16) wird fortgesetzt mit (24) Pharisaera auh daz ga horrente quua tun dese ni uz tribit tiubila nibu durah beelze bub tiubilo furostun (Monseer Fragm. V, 1921) Die Gegensatzbedeutung ist in vielen Belegen zu erkennen, so etwa in der der angeführten Textstelle unmittelbar folgenden: (25) Iħs auh uuissa iro ga dancha Quuad im […] (Monseer Fragm. V, 22) Besonders bei Verben des Sagens ist dies bemerkbar: (26) Ih sagem auh iu daz allero uuorto un bi dar bero diu man sprehhant redea sculun dhes argeban in tuom tage […] (Monseer Fragm. VI, 21-23) Auh hat aber auch die konnektive Bedeutung 'auch', so in den folgenden Stellen: (27) Auh ist galihsam himilo rihhe demo suohhenti ist guote mari greoza fun tan auh ein tiur lich mari greoz genc enti for chaufta al daz aer hapta enti ga chauf ta den Auh ist galiih himilo rihhi seginun […] (Monseer Fragm. X, 1216) Dies ist besonders deutlich an der folgenden Stelle: (28) enti quatun petre Zauuare du auh dero bist *** auh diin sprahha dih for meldet (Monseer Fragm. XXIII, 14f.)
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In dieser Funktion steht es auch satzeinleitend, wie die vorher angeführten Belege zeigen. Der Konnektor auh (ouh) ist für das Althochdeutsche durch die Arbeit von Desportes31 gut untersucht, Eroms32 führt die Analyse für das Mittelhochdeutsche weiter. Während auh in der althochdeutschen Isidorübersetzung besonders nachdrücklich die rational-argumentierenden Funktionen zum Ausdruck bringt, ist etwa in den Erzähltexten Wolframs von Eschenbach ein weites Spektrum von Bedeutungen nachzuweisen. Wichtig ist ferner, dass bei auh, wie bei enti / inti und avur / avar, anscheinend mehrere Wurzeln konvergieren.33 Auuar lässt im Monseer Matthäus gut seine Bedeutung 'abermals, wiederum' erkennen, allerdings nur an wenigen Stellen: (29) der frumita bruthlauft sinemo sune enti sentita sine scalcha halon dea kaladotun za demo brut hlaufte enti ni uueltun queman Auuar sentita andre scalcha (Monseer Fragm. XV, 6-9) Mehrmals findet sich die bis in die Gegenwartssprache belegbare Nachstellung des Wortes nach einem nominalen Ausdruck im Vorfeld: (30) Daz auuar in guota haerda uuarth gasait daz ist der uuort gahorit enti for stan tit (Monseer Fragm. IX, 19f.) Auch nach ibu findet sich das Wort (Monseer Fragm. XIV, 13). Die althochdeutschen Wortstellungsmöglichkeiten lassen es zu, dass das Wort auch die Drittstelle im Satz einnimmt: (31) Siedes auuar ni rohhitun (Monseer Fragm. XV, 11) Ähnliches gilt für Imperativstrukturen: (32) Ferit auur uz in daz kalaz dero uuego (Monseer Fragm. XV, 19f.) Für auuar ist zusammenfassend festzustellen: Das Wort lässt überwiegend seine adversative Bedeutung erkennen. Es lehnt sich häufig an das Vorgängerwort an und fokussiert es, so dass der im Satz zum Ausdruck gebrachte Gegensatz zum vorher Gesagten als fokussierte Fortführung unter einer gegensätzlichen Perspektive erscheint. Als unabhängige adversative Konjunktion ist das Wort noch nicht zu belegen. So ergibt sich für den Monseer Matthäus folgendes Bild: Enti ist der vorherrschende konnektive Konnektor. Er lässt alle Funktionen erkennen, _____________ 31 32 33
Vgl. Desportes (2003, 271ff.). Vgl. Eroms (2006, 105ff.). Vgl. Duplâtre (2006), 74) und Kluge (1999, 61f.).
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die auch sonst im Althochdeutschen begegnen. Ioh ist aber auch noch vorhanden, wenn sein Vorkommen auch auf weniger als ein Zehntel der Belege von enti geschrumpft ist. Bemerkenswert ist, dass enti vielfach die „biblische“,34 durch das Latein vermittelte Anschlussfunktion von Sätzen, die mit dem Wort beginnen, aufweist. Eine solche Anknüpfungsweise lässt sich bis zu einem gewissen Grade als adversativ auffassen und ist sicher ein Grund dafür, dass das in späterer Zeit explizit den Gegensatz markierende auuar noch nicht in dieser Funktion benötigt wurde. 2.2.2. Die übrigen Texte der Monseer Gruppe Die Beobachtungen, die sich für die Konnektoren im Monseer Matthäus finden, lassen sich mit gewissen Abstrichen auf die im gleichen Korpus überlieferte Homilie De vocatione gentium, das Fragment einer weiteren Homilie, die Augustinische Predigt LXXVI, sowie Isidors Traktat De fide catholica contra Judaeos übertragen. Für den letzteren kann – punktuell – ein Vergleich mit dem althochdeutschen Isidor vorgenommen werden. 2.2.2.1. enti und ioh Die satzeinleitende Funktion von enti ist in diesen Texten noch ausgeprägter als im Monseer Matthäus: (33) Enti ih uuillu daz du for stantes heilac karuni huuanta ih bim truhtin (Monseer Fragm. XXXIV, 9f.) Vergleichbare Fälle kommen 21-mal vor. Diese Funktion ist sicher durch die argumentative Textsorte bedingt. Wenn auch die Überlieferung der Monseer Textgruppe insgesamt fragmentarisch ist, so ist doch ein rudimentärer Vergleich erzählender und argumentativer Textpassagen möglich. Bei enti fällt unter anderem auf, dass sich hier besonders koordinative Verkettungen finden: (34) Enti so auh gascriban ist; Daz xpīst ist haubit allero cristanero enti alle dea gachora nun gote sintun sines haubites lidi; Enti auh der selbo aposłs diz quad; Gotes minni ist gagozan in unseremuot uuillun […](Monseer Fragm. XXIX, 5-8) (35) Der selbo auh hear after folgento quad Lobo enti frauuui dih siones tohter bidiu huuanta see ih quimu enti in dir mit teru arton quad truhtin. Enti in demo tage uuer dant manago _____________ 34
Vgl. den Beitrag von Natalia Montoto Ballestros in diesem Band.
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deotun kasamnato zatruhtine enti uuer dant mine liuti enti ih arton in dir mitteru Enti du uueist daz uueradeota truhtin sentita mih za dir (Monseer Fragm. XXXV, 12-17) Die formelhafte Bindung zweier nominaler Ausdrücke mit ioh findet sich auch in diesen Texten: (36) daz er ist got ioh truhtin (Monseer Fragm. XXXIV, 2) (37) In einerueo gahuueliheru steti ga scauuuont enti gasehant gotes augun guote ioh ubile; (Monseer Fragm. XXVII, 22f.) Diese „Zwillingsformeln“ werden bei vorausgehender Koordination, wie im Monseer Matthäus, beim ersten Glied mit enti, beim zweiten mit ioh formuliert: (38) Minno dinan truhtin got allu her çin enti in ana uual geru dinero selu enti allu dinu muotu ioh maganu; (Monseer Fragm. XXX, 19-21) Dass enti und ioh nicht nur in den Murbacher Hymnen, sondern auch vom Verfasser des Monseer Matthäus beziehungsweise des Isidorübersetzers als in der Bedeutung nicht gänzlich identisch aufgefasst werden, geht aus der folgenden Stelle hervor: (39) Diz quad truhtin mine mo xpē truhtine enti ioh daz ist nu un zui flo leoht samo za forstantanne daz diz ist gaquetan in unseres truhtines nemin (Monseer Fragm. XXXIV, 20-22) Hier kommen enti und ioh unmittelbar hintereinander vor, und wenn die Stelle nicht verderbt ist, müsste man sie mit 'und weiter, und fernerhin' wiedergeben. In der Isidorübersetzung, also der Vorlage für den Monseer Text, lauten die Verse ganz entsprechend,35 und sie haben keine direkte Vorlage im Latein, sind also offenbar vom Übersetzer hinzugefügt. Auch im Monseer Matthäus zeigt sich also, wie in anderer Weise in den Murbacher Hymnen, dass die beiden Wörter nicht als völlig identisch aufgefasst wurden. Dies wäre auch nicht zu erwarten. Dass das eine davon, ioh, im Absterben begriffen war, bedeutet nicht, dass es durch das neue in völlig identischer Bedeutung ersetzt worden wäre. Wie oben schon angedeutet, ist dies bei der Entwicklung von Bedeutungsfeldern generell nicht zu erwarten.
_____________ 35
Endi ioh dhazs ist nu unzuuiflo so leohtsamo zi firstandanne, dhaz dhiz ist chiquhedan in unseres druhtines nemin (Der althochdeutsche Isidor 1893, 8).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen
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2.2.2.2. auh und auuar Auuar / auar ist insgesamt in diesen Textpartien zehnmal belegt, auh 21mal. (40) Uuarut auh iu huanne finstri nu auar leoht (Monseer Fragm. XL, 2) Hier ist die Gegensatzbedeutung in ihrer dennoch dominanten Anknüpfungsfunktion deutlich. Bei auh scheint die Gegensatzbedeutung stärker durchzuschlagen, vgl. die folgende Stelle: (41) Enti so der selbo auh kascribit ******** uuirde enti lob sanc dir singe (Monseer Fragm. XXVIII, 16f.) Sonst überwiegt die anknüpfende Bedeutung: (42) Enti so auh gascriban ist; Daz xprīst ist haubit allero christanero. (Monseer Fragm. XXIX, 5f.) 2.2.3. Vergleich des Monseer Matthäus und entsprechender Stellen aus dem Tatian Verglichen worden ist das Textstück Hench VI, VII und X (Tat. 62,8-12; 57,1-8; 76,5-77,15). Dabei sind, wie es bei Koordinationen fast immer der Fall ist, die meisten Belege unspektakulär. Es dominieren bei enti / inti die einfachen verbalen Koordinationen einschließlich der Vorkommen des Wortes am Satzbeginn mit 16 Fällen, gefolgt von einfachen nominalen (substantivischen und adjektivischen) Koordinationen (11 Fälle). (43) so selb auh so io nas uuas in uuales uuambu dri ta ga enti drio naht (Monseer Fragm. VII, 1f.) (44) Soso uúas Ionas in thes uuales uuámbu thrí taga inti thriio naht (Tat. 57,3) tribus diebus et tribus noctibus (45) Danne gengit enti ga halot sibuni andre gheista mit imo uuir sirun danne aer enti in gan gante artont dar enti uuer dant dea aftrun des mannes argorun dem erirom. (Monseer Fragm. VII, 15-18) (46) Thanne ferit inti nimit sibun geista andere mit imo uuirsiron thanne her si, inti ingangante artont thar, inti sint thanne thie iungistun thes mannes uuirsirun then erirun. (Tat. 57,8)
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Tunc vadit et assumet septem alios spiritus secum nequiores se, et intrantes habitant ibi, et fiunt novissima hominis illius peiora prioribus. Hier ergeben sich erwartungsgemäß keine Unterschiede. Auf die seit längerem bekannte, insbesondere in den Arbeiten von Klaus Matzel hervorgehobene souveräne Sprachkompetenz des Verfassers der Vorlagen der Monseer Texte und auch des Monseer Schreibers36 braucht hier nicht eingegangen zu werden. Doch ist auch bei unserer Thematik an einigen Stellen die unabhängigere Formulierungskunst des Verfassers zu spüren, etwa in der Handhabung des erst in jüngster Zeit gerecht gewürdigten Tempus- und Aktionsartensystems des Althochdeutschen,37 das die Möglichkeiten des Althochdeutschen selbständig nutzt. So werden etwa die Verschränkungen der Verlaufsformen mit dem Erzähltempus des Präteritums im Monseer Matthäus wesentlich selbständiger eingesetzt als im Tatian, der allerdings durchaus auch die systematischen Möglichkeiten, die das Althochdeutsche bietet, erkennen lässt (vgl. etwa den Textbeleg 56). Vor allem aber ist für unseren Zusammenhang wichtig, dass im Monseer Matthäus, anders als im Tatian, die adversative Bedeutungskomponente des koordinativen Konnektors enti deutlich zu spüren ist, wie der folgende Textbeleg zeigen kann: (47) Enti aer ant uurta demo zaimo sprah quad h Huuer ist miin muo ter enti huuer sintun mine bruo der (Monseer Fragm. VII, 24f.) Im Tatian wird der Anknüpfungsoperator thô, und zwar in Nachstellung nach dem Subjekt verwendet: (48) Hér thó ántlinginti imo sus quedantemo quad: uuie ist mín muoter inti uuie sint mine bruder? (Tat. 59,3) Thô ist, wie Betten38 und Simmler39 gezeigt haben, der hauptsächliche Anknüpfungsoperator im Tatian. In der lateinischen Vorlage findet sich die explizit adversative Konjunktion at: (49) At ille respondens dicenti sibi ait: quæ est mater mea et qui sunt fratres mei? Der adversative Vergleich wird in beiden Texten mit enti bzw. inti angeschlossen, der lat. Text enthält et: _____________ 36 37 38 39
Vgl. Matzel (1970). Vgl. vor allem Schrodt (2004, 1ff.). Vgl. Betten (1987, 395ff.). Vgl. Simmler (2003, 9ff.).
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen
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(50) Guot man fona guotemo horte au git guot enti ubil man fona ubilemo horte ubil fram bringit (Monseer Fragm. VI, 19f.) (51) Guot man fon guotemo tresouue bringit guotu, inti ubil man fon ubilemo tresouue bringit ubilu. (Tat. 62,11) Bonus homo de bono thesauro profert bona, et malus homo de malo thesauro profert mala. Joh ist im Tatian insgesamt nur dreimal belegt. Zweimal gibt es lat. etiam wieder (67,3 und 145,17). Der dritte Beleg enthält die Zwillingsformel joh…joh (170,6), die lat. et…et wiedergibt. Hier hat sich also in einer Nische die additive Bedeutung erhalten: (52) Nu gisahun inti hazzotun ioh mih ioh minan fater. (Tat. 170,6) Nunc autem et viderunt et oderunt et me et patrem meum. Aus einem anderen Textstück lässt sich entnehmen, dass auch bei den Konnektiven auh und abur Unterschiede zwischen dem Monseer Matthäus und dem Tatian bestehen. So enthält der Monseer Matthäus in Abschnitt X, 16 auh, was an dieser Stelle lat. iterum wiedergibt. Tatian hat abur, und das Wort lässt seine Bedeutung 'wiederum, weiterhin' erkennen: (53) Auh ist galiih himilo rihhi seginun in seu ga sez zi teru enti allero fisc chunno ga huuelihhes samnontiu. (Monseer Fragm. X, 16.f.) (54) Abur gilih ist rihhi himilo seginu giuuorphaneru in seo inti fon allemo cunne fisgo gisamanontero. (Tat. 77,3) Iterum simile est regnum cęlorum sagenę missę in mari et ex omni genere piscium congreganti. Ähnlich ist der Beleg (26) zu beurteilen (als Beleg (55) wiederholt). Hier gibt im Monseer Matthäus auh lat. autem wieder, im Tatian findet sich keine Entsprechung: (55) Ih sagem auh iu daz allero uuorto un bi dar bero diu man sprehhant redea sculun dhes argeban in tuom tage (Monseer Fragm. VI, 21-23) (56) Ih quidu iu, thaz iogiuuelih uuort unnuzzi, thaz man sprehhenti sint, geltent reda fon themo in tuomes tage. (Tat. 62,12) Dico autem vobis, quoniam omne verbum otiosum quod locuti fuerint homines, reddent rationem de eo in die iudicii.
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2.3. Bemerkungen zu Otfrid Otfrids Evangelienbuch markiert einen relativ altertümlichen Stand, was die Verteilung der additiven Konnektoren betrifft. Inti und ioh sind im Verhältnis von ungefähr 1:10 zu belegen. Die genauen Zahlenverhältnisse sind: inti + int: 133 Belege, ioh: 1249 Belege.40 Dieser quantitative Unterschied ist der wichtigste Faktor. Auf einen zwischen den beiden Konnektoren von Valentin angenommenen semantischen Unterschied ist oben schon hingewiesen worden.41 Valentin gibt zu bedenken, dass der Unterschied meist kaum festzustellen ist, führt aber noch Folgendes aus: „An mehreren Stellen drängt sich jedoch der Verdacht auf, inti drücke mehr als reine Verbindung aus; es verknüpft nämlich Segmente miteinander, die nicht unbedingt genau parallel zueinander stehen“42 und führt den folgenden Beleg an: (57) Er lósota iro uuórto ioh giuuáro hárto in mittén saz er éino inti frág&ta sie kléino (O. I, 22,35f.) Dazu schreibt er: „Man könnte hier 'und sogar befragte sie' verstehen, um so mehr als kleino dahinter steht, 'obwohl er so jung war'“.43 Diese Vermutung scheint in die Richtung zu gehen, hier eine adversative Komponente anzusetzen, was mir berechtigt erscheint. Auf Belege für die einfache nominale und die einfache verbale Anknüpfung sei hier verzichtet. Bemerkenswert ist, dass die beiden Konnektoren relativ häufig in einer Zeile begegnen. Dabei nutzt Otfrid ihre unterschiedliche Silbenzahl, um die Versgestaltung damit in Einklang zu bringen. Semantische Gründe für den Wechsel lassen sich dabei nicht erkennen. (58) er uuas in sítin fruater ioh héilag inti gúater. (O. I, 8,10) (59) ioh uuáz siu hiar bizéine inti uns zi frúmu meine. (O. V, 12,54) Mehrfach, besonders im ersten Buch, verwendet Otfrid aber auch die verkürzte Form von inti, int. Dadurch würde sich die Setzung von ioh aus bloßen Gründen des Versrhythmus erübrigen. Dies ist aber nicht der Fall, wie der folgende Beleg zeigt, bei dem ioh kurz nach int eintritt: (60) Sálig thiu nan uuátta int inan fándota ioh thiu in bétte ligit ińne mit súlichemo kinde (O. I, 11,43f.) _____________ 40 41 42 43
Auszählung nach Shimbo (1990). Vgl. Valentin (2003,185). Ebd., 186. Ebd., 186.
Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen
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Die adversative Komponente, vor allem bei der Satzverknüpfung, ist schon von Piper bemerkt worden.44 Er führt die Stellen I, 4,56; I, 10,19; II, 6,29; IV, 11,22 und V, 9,23 an. Besonders der Beleg IV, 11,22 lässt diese Bedeutung erkennen: (61) Ist drúhtin quad gilúmplih thaz thú nu uuásges mih? inti íh bin eigan scálk thin thu bist hérero min? (O. IV, 11,21f.) ich aber / dagegen ich Von solcher Art gibt es aber noch weitere Belege, etwa: (62) Vuio mág thaz quad si uuérdan thu bist iúdusger mán inti ih bin thésses thi&es thaz thú mir so gibí&es (O. II, 14,17f.) Der Konnektor auur hat bei Otfrid in der Mehrzahl der Belege die Ausgangsbedeutung 'wieder, zurück' oder 'ferner': (63) Ni lázu ih íúih uueison ih íúer áuur uuison (O. IV, 15,47) ich suche euch wieder auf (64) thie selbun záltun alle mír thesa béldi fona thír Ob áuur thaz so uuár ist thaz thu iro kúning nu ni bíst. (O. IV, 21,14f.) ferner, ob es wahr ist, dass… Adversative Bedeutung lässt sich aber durchaus auch nachweisen. Der Anschluss an die Bedeutungen 'wieder, wiederum' ist meist deutlich: (65) Thó sprah thara ingégini áuur thiu selba ménigi (O. III, 16,27) Hier ist der „Gegensatz“ direkt thematisiert (ingegini), der Konnektor lässt sich dennoch als Markierung der ein weiteres Argument anführenden Fortführung auffassen. Gegenüberstellungen sind auch sonst häufig, etwa: (66) Ther ni thúingit sinaz múat ioh thaz úbil al gidúat. zéllu ih thir in alauuár ther házzot íó thaz líoht sar […] Ther auur uuola uuirkit er állesuuio iz bithénkit (O. II, 12,9195) Fast alle Belege enthalten das Wort in dieser Funktion in Nachstellung. Aber es findet sich auch ein Beleg, bei dem avur im Vor-Vorfeld erscheint: (67) Súmenes farent thánana thio iro suéster zúa afur thísu in min uuár ist émmizigen íó thar (O. IV, 29,57f.) _____________ 44
Vgl. Piper (1884, 223f.).
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Nur hier ist die adversative konnektive Funktion voll zu erkennen. Wenn sie auch bei Otfrid extrem selten ist, so ist sie immerhin damit schon im Althochdeutschen präsent. Was ouh betrifft, so sei hier auf eine weitere Bemerkung Valentins hingewiesen. Er sagt: „ouh kann mit ioh kombiniert auftreten, jedoch anscheinend nicht mit inti, was die Vermutung verstärkt, ioh sei in dieser Sprache der echte reine Koordinator.“45
3. Fazit Die zuletzt angeführte Bemerkung Paul Valentins wirft noch einmal ein Licht auf die grundsätzlichen Verhältnisse im Althochdeutschen. Anders als im Neuhochdeutschen ist die Situation im Althochdeutschen dadurch gekennzeichnet, dass mehrere Ausdrücke für die Signalisierung der „reinen“ Koordination zur Verfügung stehen. Dies ist, sprachvergleichend gesehen, eher der Normalfall, das Neuhochdeutsche mit seinem einzigen Konnektor, und, ist der markierte Fall. Aber wir haben im Althochdeutschen keineswegs eine gleichmäßig für alle Regionen geltende Distribution vor uns, sondern jedes Denkmal weist mehr oder weniger unterschiedliche Verhältnisse auf. Vergleichbar ist jedoch die grundsätzliche Situation, dass fast immer mehrere Konnektoren vorliegen, aus denen gewählt werden kann, auch wenn einer dabei dominiert. Ich habe versucht, die in den bisherigen einschlägigen Arbeiten festgestellten Funktionsunterschiede aufzunehmen und die Texte selbst einer Prüfung zu unterziehen, die vor allem auf die Deutung der „reinen“ weiterführenden Konnexion in Abgrenzung zu adversativen Momenten nachging. Es hat sich gezeigt, dass der für die spätere Zeit im Deutschen hauptsächliche adversative Konnektor, auur, der bekanntlich aus dem Bezeichnungsfeld der „wiederholenden Anknüpfung“ stammt, im frühen Althochdeutschen jedenfalls noch nicht dominiert. Dies kann daran liegen, dass vor allem enti / inti diese Funktion noch übernehmen kann. Wenn es richtig ist, dass enti / inti zwei etymologisch getrennte Bereiche in sich vereinigt, die sich verknappt mit 'und' und 'aber' benennen lassen, ist dieses Faktum erklärlich. Darüber hinaus lässt das Althochdeutsche mit seinem viel offeneren, noch nicht auf standardmäßige Gebräuche festgelegten Zustand die generellen Leistungen der Konnektoren klarer erkennen. Diese sind, zumindest im Bereich der koordinativen Verknüpfung, dadurch gekennzeichnet, dass sie einen relativ weiten Spielraum in semantischer Hinsicht zulassen, während sich die Beschränkung in syntaktischer Hinsicht aus allgemeinen _____________ 45
Valentin (2003, 187).
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301
syntaktischen Bedingungen ergibt. Hier wäre es allerdings aufschlussreich zu untersuchen, ob die ausgefeilten Möglichkeiten der Koordination, die sich im modernen Deutsch46 finden, bereits im Althochdeutschen vorhanden waren. Dies scheint nicht der Fall zu sein. So fehlen offenbar eindeutige Belege für Gappingfälle. In funktional-semantischer Hinsicht jedoch ist das Spektrum weit. Die reichen Möglichkeiten werden etwa im Sammelband von Desportes deutlich. Für einen einzelnen Konnektor sei auf den Artikel avur im Althochdeutschen Wörterbuch verwiesen. Was die „reine“ koordinative Verknüpfung betrifft, so ergibt sich aus dem Nebeneinander verschiedener Konnektoren mit von Denkmal zu Denkmal etwas unterschiedlicher Abgrenzung bereits eine breite Palette an Ausdrucksmöglichkeiten. Darüber hinaus lassen die Konnektoren erkennen, dass sie selber sprachgeschichtlich zu bestimmende Fixpunkte sind, die einerseits ihre Herkunft aus verschiedenen Wurzeln erkennen lassen und andererseits universalen Bedingungen gehorchen, insbesondere dass die kommunikative Strategie der „Anknüpfung“ generell dazu benutzt wird, andere sprachliche Strategien damit zu verbinden, die der Abgrenzung oder der Entgegensetzung.
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_____________ 46
Vgl. z.B. Lobin (2006, 973ff.) und Eroms (2003, 161ff.).
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Additive und adversative Konnektoren im Althochdeutschen
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Einige textlinguistische Aspekte der ahd. Konnektoren inti und joh∗ Natalia Montoto Ballesteros (Leipzig)
1. Einleitung In den letzten Jahren haben einige Studien die Aufmerksamkeit auf die Konnektoren in den älteren Sprachstufen gerichtet.1 Die Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, diese Kategorie von Wörtern zu beschreiben, in der verschiedene Wortarten vertreten sind, die sich nur aufgrund ihrer verknüpfenden Funktion im Text zusammenstellen lassen, werden beim älteren Deutsch wegen der spezifischen Textsorten sowie der Überlieferungslage und der noch unfesten Syntax noch deutlicher. In der Frage, welche Einheiten der Gruppe der Konnektoren angehören, gehen die Meinungen der Autoren auseinander. Während z.B. Paul Valentin2 die Subjunktionen aus der Gruppe der Konnektoren ausschließt (da nach seiner Definition Konnektoren zur Parataxe und nicht zur Hypotaxe gehören), weisen im Handbuch der Deutschen Konnektoren sowohl koordinierende als auch subordinierende Konjunktionen die dort aufgeführten Konnektoren-Merkmale auf.3 Bei der Untersuchung des umfangreichen Materials der ahd. Konjunktionen inti und joh fällt eine Gruppe von Belegen auf, die syntaktisch stark von der Mehrheit der Belege abweicht. Für diese Gruppe trifft die Inter_____________ ∗
1 2 3
Die in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse wurden aus dem Kapitel Konnexion auf Textebene meiner Dissertation Die Konnektoren inti und joh im Althochdeutschen. Syntaktische und semantische Aspekte. entnommen. Die Dissertation untersucht das Belegmaterial der Konnektoren inti und joh aus dem Archiv des Althochdeutschen Wörterbuchs der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Vgl. u.a. Desportes (2003), Betten (1987, Bd. I, 395ff.) sowie Desportes (1992, 295ff.). Vgl. Valentin (2003, 179ff.). Vgl. Pasch u.a. (2003, 5). Diese Merkmale sind: Ein Konnektor ist nicht flektierbar, vergibt keine Kasusmerkmale an seine syntaktische Umgebung, seine Bedeutung ist eine zweistellige Relation, die Relate der Bedeutung des Konnektors sind Sachverhalte und müssen durch Sätze bezeichnet werden können.
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pretation als (satz)koordinierende Konjunktionen im eigentlichen Sinne nicht mehr zu. Es gilt also, einen anderen Weg der syntaktischen Beschreibung zu finden. Im Anschluss wird versucht, die ahd. Konjunktionen inti und joh als Textkonnektoren darzustellen und einige Spezialfälle aus dieser Gruppe von Belegen zu beschreiben.
2. Konnexion vs. Koordination Ein Blick auf das Material von ahd. inti und joh lässt erkennen, dass diese in der ahd. Überlieferung hauptsächlich als koordinierende Konjunktionen fungieren. Dabei werden verschiedene syntaktische Einheiten durch inti und joh verbunden, die in der Koordination eine größere Einheit mit derselben Funktion wie die ursprünglichen, kleineren Einheiten ergeben. Wörter und Wortgruppen werden zu funktionell gleichen Syntagmen verbunden, (Teil-)Sätze zu größeren Sätzen in Form von Satzreihen. In den ahd. Texten ist jedoch eine weitere Art der Verbindung durch inti und joh zu finden, die nicht mehr in das Schema der Satzkoordination passt. In diesen Fällen werden ebenfalls Sätze verbunden, allerdings ergeben diese Verbindungen nicht mehr komplexe Sätze als übergeordnete Größen, sondern Texte. Diese Stellen sind als Konnexion zu erklären, d.h. als die durch Konnektoren hergestellten Beziehungen zwischen Sätzen zu Texteinheiten.4 In den hier vorgestellten Fällen dienen inti und joh der Textstrukturierung: Sie werden eingesetzt, um einen Satz innerhalb eines Diskurses einzuordnen. Die Analyse solcher Verbindungen soll mit Hilfe der Textgrammatik unternommen werden, da sie sich mit den internen Strukturen und der Kohärenz von Texten auseinandersetzt. Das Problem bei der Unterscheidung von Koordination und Konnexion besteht darin, dass beide als Mittel zur Verbindung von Sätzen dienen. Da die Einleitung eines Satzes durch inti / joh immer eine Verbindung zum Vorhergesagten herstellt, geht es darum zu entscheiden, ob der inti/joh-Satz eine Einheit mit dem vorhergehenden Satz bildet (d.h. eine Satzverbindung) oder ob es sich um eine Anknüpfung handelt, die als größere Einheit den Text selbst hat. Auf die Schwierigkeiten dieser Unterscheidung hat schon Albrecht Greule hingewiesen: Die Wortgrammatik wird von der Syntax und diese wiederum von der Textgrammatik überlagert in dem Sinne, daß die Syntax die Wortgrammatik und die Textgrammatik die Syntax jeweils voraussetzen. […] Es könnte der Eindruck ent-
_____________ 4
So u.a. bei Greule (1997, 287ff.): „Konnexion, ein Begriff, der mit den Termini Konnektor bzw. Konnektiv oder Konjunktion korrespondiert und das Phänomen bezeichnen soll, dass zwei Sätze eines Textes durch einen Konnektor aufeinander bezogen sind“.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh
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stehen, daß zwischen Text- und Satzgrammatik / Syntax eine klare Grenze gezogen werden kann. Dem ist jedoch nicht so. Syntaktische Probleme, die sich ohne Bezug auf den Text nicht lösen lassen […], bilden eine breite Zone, in der Textgrammatik und Syntax ineinander übergehen.5
Die genaue Trennung der Ebenen der Satz- und der Textsyntax wird durch die Gegebenheiten der ahd. Überlieferung noch erschwert. Mittel, die helfen könnten, die Grenze zwischen Satz- und Textsyntax zu ziehen, wie eine feste Interpunktion und Orthographie, können für die ahd. Texte nicht berücksichtigt werden, da sie nicht original sind, sondern auf der Interpretation moderner Ausgaben beruhen. Außerdem spielen Faktoren wie der Zustand der überlieferten Handschriften, ob es sich um eine Übersetzung handelt und wie sehr der ahd. Text von seiner lateinischen Vorlage abhängt, eine große Rolle. Im Folgenden wird auf die Funktion von inti / joh als textstrukturierende Einheiten eingegangen und es werden einige Beispiele für Konnexion auf Textebene durch diese Konnektoren präsentiert. Dies geschieht u.a. bei: Kapitelüberschriften, beim so genannten ‚biblischen‘ und, bei Parenthesen, bei der Redeeinleitung sowie in besonderer Weise bei den Texten Notkers. 2.1. Kapitelüberschriften An einigen Stellen ist die Grenze zwischen der Koordination von Sätzen und der Konnexion auf Textebene auch im ahd. Text aufgrund der äußeren Zeichen deutlich, wie z.B. in dem folgenden Beleg aus dem ahd. Isidor:6 (1)
Endi bihuuiu man in Iudases chunnes fleische Christes bidendi uuas Et quia de tribu Iuda secundum carnem Christus expectandus esset I 34,8
Es handelt sich um die Überschrift von Kapitel VIII. Sie steht in der Edition wie in der Handschrift gesondert vom restlichen Text und ist außerdem in Kapitälchen geschrieben.7 Hier ist zwar die anknüpfende und weiterführende Funktion von inti erkennbar, eine Koordination zur Bildung einer Satzreihe ist jedoch nicht möglich. Die Überschrift wird in Verbindung zum gesamten vorhergehenden Diskurs gebracht und dieser so mit neuen Argumenten fortgesetzt. _____________ 5 6 7
Greule (1982, 94). Die ahd. Belege werden nach den Zitierausgaben und den Richtlinien des Althochdeutschen Wörterbuchs zitiert. Vgl. das Faksimile der Seite in der Edition, 35.
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2.2. ‚Biblisches‘ und Viele Texte der ahd. Überlieferung haben die Heilige Schrift entweder als direkte Quelle oder als wichtigen Bestandteil in Form von Zitaten aufgenommen. Wie auch in späteren Übersetzungen (v.a. in den Übersetzungen von M. Luther) wurde schon in ahd. Zeit angestrebt, den Bibelstil auch in der Zielsprache beizubehalten. Als Stilmerkmale der Bibel nennt Birgit Stolt neben zweigliedrigen Verbalausdrücken, der Aufforderung Siehe und der Einleitungsformel Es begab sich auch die parataktische Anreihung mit und.8 Dies bildet für sie kein Element der Umgangssprache, sondern ist ein Stilistikum, das bewusst bei der Übersetzung vom Hebräischen ins Griechische und später ins Lateinische übernommen und so zu einem Merkmal sakraler Sprache wurde. In den meisten Fällen halten sich die Übersetzer der ahd. Denkmäler bei der Wiedergabe dieser parataktischen Anreihung an den lateinischen Text und setzen inti für et. (2)
Inti umbigieng ther heilant alla Galileam, lerenti in iro samanungun Et circuibat Ihesus totam Galileam, docens in sinagogis eorum T 22,1 (Kapitelanfang)
(3)
quad imo: effeta, thaz ist intuo. Inti tho sliumo giofnotun sih sinu orun ait illi: effeta, quod est adaperire. Et statim apertae sunt aures eius T 86,1
Beispiele für diese Art der Konnexion sind vor allem in der ahd. Tatianübersetzung zu finden, da dort der biblische Text (in Form einer Evangelienharmonie) fortlaufend und nicht nur in Auszügen übersetzt wird. Jedoch wird dort nicht wie bei einer Interlinearversion mechanisch inti für et übersetzt, sondern es wird, wie Anne Betten nachweist, an jeder Stelle neu entschieden; so werden z.T. andere ahd. Konnektoren eingesetzt, wie beispielsweise das von Betten untersuchte tho.9 Nicht selten stehen an solchen Stellen (wie oben im Beleg T 86,1) Verbindungen von inti mit anderen Konnektoren als Einleitung (z.B. inti tho für lat. et). Das Ziel dieser Konnexion ist die Weiterführung der in dem Text erzählten Geschichte, die thematische Anknüpfung, wobei die Ereignisse narrativ verkettet werden. Es wird eine Linearität des Erzählten angestrebt und durch solche Elemente erreicht. _____________ 8 9
Vgl. Stolt (1983, Bd. 1, 179ff.). Vgl. Betten (1987, 398). Lateinisch et wird nach Betten im ahd. Tatian in 86 Fällen mit tho wiedergegeben, das nach inti der meist eingesetzte Konnektor in diesem Denkmal ist. Betten zählt weitere 24 Stellen, an denen et ohne jegliche Entsprechung bleibt.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh
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Einen anderen Fall bilden Belege mit inti / joh, in denen Passagen aus der Bibel als Zitate in einen anderen Text eingefügt werden. Es handelt sich um Stellen wie: (4)
so dhar auh after ist chiquhedan: ‚Endi got chiscuof mannan anachiliihhan endi chiliihhan gote chifrumida dhen‘ sic enim subiungitur: ‚Et creavit deus hominem ad imaginem et similitudinem dei creavit illum‘ I 7,17
(5)
fona dhemu selbin folghet hear auh after: ‚Endi chirestit oba imu gheist druhtines de quo etiam sequitur: ‚Et requiescit super eum spiritus domini I 40,4
Es ist auszuschließen, dass inti in diesen Beispielen zur Koordination von Sätzen eingesetzt wurde. Obwohl in dem lateinischen Vulgatatext die durch et eingeleiteten Sätze z.T. Teilsätze in einer Koordination sind, wurden diese bei der Übersetzung ins Ahd. aus ihrem Kontext herausgerissen, so dass sich ihre syntaktische Analyse auch verändern muss.10 Hier wurde wieder der Originaltext penibel übersetzt, einerseits, um den Bibelstil beizubehalten, andererseits aber auch, um die Grenze zwischen argumentativem Text und Zitat, d.h. zwischen Text und Subtext, klar zu ziehen. Inti dient daher an solchen Stellen als textstrukturierendes Element und markiert den Anfang der wie ein Fremdkörper wirkenden Zitate. Diese Zitate werden im Diskurs als Basis für eine Weiterführung und Bestätigung der Argumentation eingefügt, sind jedoch selbst nicht ein Teil davon. 2.3. Parenthesen Als ein Problem der Grenzziehung zwischen Satzsyntax und Textgrammatik bezeichnet Albrecht Greule die Parenthese bei Otfrid und begründet dies damit, dass es dabei „um das Verhältnis zweier selbständiger und abgeschlossener Sätze zueinander geht“.11 Otfrid verwendet die Parenthese sehr oft (Greule spricht von ca. 300 Fällen), um Kommentare in den Text einzuschieben. Einige dieser Parenthesen werden von joh eingeleitet, das der häufigere von beiden Konnektoren bei Otfrid ist; demzufolge ist es auch dieses Denkmal, in dem die meisten Fälle der Konnexion auf Textebene durch joh zu finden sind: _____________ 10
11
Für eine abweichende Interpretation dieser Stellen vgl. Desportes (1992, 295ff.), wo der Kontext der biblischen Stellen rekonstruiert und deren syntaktische Analyse auf den ahd. Text übertragen wird. Greule (1982, 95 u. Anm. 20f.). Der Begriff Parenthese wird hier im Sinne von A. Greule verwendet. Damit wird die Einschaltung verschiedener Elemente gemeint, in welchem Umfang auch immer, die jedoch die Konstruktion des umgebenden Satzes nicht stören.
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(6)
tho gab er imo antwurti, thoh wirdig er es ni wurti (joh det er thaz hiar ofto), filu mezhafto O 2,4,92
(7)
thaz er si uns ginathic, thoh ih ni si es wirthic; hohi er uns thes himiles (joh muazin frewen unsih thes!) insperre Oh 159
Die Einleitung mit joh (es finden sich im Evangelienbuch Otfrids keine inti-Belege für diese Art der Textkonnexion) wäre bei diesen Parenthesen nicht nötig, verleiht aber den eingeschalteten Ausdrücken Nachdruck. Joh wirkt emphatisierend und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Aussage in der Parenthese. Gleichzeitig wird ein inhaltlicher Zusammenhang zu dem umgebenden Kontext hergestellt (dies geschieht z. T. durch den Einsatz weiterer Konnektoren; in den oben genannten Belegen sind es die Pronomina thaz und thes), jedoch ohne dass daraus syntaktisch eine Satzkoordination entsteht. Diese syntaktische Unabhängigkeit vom umgebenden Satz ist auch bei anderen Einschubsätzen deutlich zu erkennen, die, obwohl sie von Subjunktionen eingeleitet werden, nicht den Charakter von Nebensätzen besitzen.12 Einige Parenthesen können als ein erklärender Kommentar zum umgebenden Diskurs und somit als eine Art ‚Fußnote‘ verstanden werden, andere wiederum zeigen eine Möglichkeit des Autors sich in den Text einzuschalten, dabei sich direkt an den Leser zu wenden und ihn in den Text einzubeziehen. 2.4. Redeeinleitung und Zitierung Einige Denkmäler der ahd. Überlieferung verwenden als Mittel der Narration oder Argumentation die direkte Rede. Diese kann in Form von zitierten Aussagen einer Person (selbst Gottes) erscheinen oder sogar die Dialogform annehmen, indem sich zwei Sprecher in der Argumentation abwechseln. Die Rede-Passagen bilden eine Art Text-im-Text und wären ohne Einleitung nicht aus dem laufenden Text hervorgehoben. Auch an solchen Stellen spricht Greule von einem „Grenzbereich zwischen Satzund Textgrammatik“.13 An diesen Stellen erscheinen neben dem Konnektor andere Elemente, die die eigentliche Redeeinleitung darstellen, wie die Verben des Sprechens (diese sind dann z.T. in die Rede selbst eingeschoben, wie oft bei quedan), während inti / joh der Grenzziehung zwischen beiden Textebenen dient. (8)
fona imu quhad dher psalmscof: ‚Endi in imu uuerdhant chiuuihit alliu ærdhchunni, allo dheodun lobont inan.‘ Endi umbi dhen
_____________ 12 13
Vgl. dazu die Untersuchungen über die so-Einschubsätze in Wunder (1965). Greule (1982, 96).
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh
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samun dhurah dhen selbun Esaian quhad druhtines stimna: ‚Ih bibringu fona Iacobes samin [...] de quo psalmista ait: ‚Et benedicentur in eo omnes tribus terrae, omnes gentes magnificabunt eum‘. De hoc semine et per eundem Esaiam vox domini loquitur: ‚Educam, inquid, de Iacob semine I 34,1 (9)
ganganti nah themo sevvu Galile gisah zuuene bruoder, Simonem, thie giheizan ist Petrus, inti Andream sinan bruoder, sententi iro nezzi in seo, uuanta sie uuarun fiscara. Inti quad her in: quemet ambulans autem iuxta mare Galileae vidit duos fratres, Simonem qui vocatur Petrus et Andream fratrem eius, mittentes rete in mare, erant enim piscatores. Et ait illis: venite T 19,2
(10) triuuo du uueist toh . uuannan alliu ding chamen. Taz uueiz ih. Unde chad ih sar . got ten uuesen atqui scis unde cuncta processerint. Novi inquam. Deumque esse respondi Nb 47,5 In diesen Belegen steht inti immer als Verbindung zwischen der eigentlichen Erzählung / Argumentation und der in ihr enthaltenen direkten Aussage. Es wirkt im Falle des Isidor-Beleges argumentativ, da es zwei Redezitate (das erste aus Psalm 72,17, das zweite aus Esaias 65,9) miteinander in Verbindung bringt. Hier kann eine Satzkoordination nicht stattfinden, da der inti-Satz zwischen beiden Zitaten, die eine eigene Ebene des Textes bilden, steht. In dem Tatian-Beleg steht inti ebenfalls vor dem Verb (quad), das die direkte Rede einleitet, die im Anschluss an eine narrative Passage steht. Inti ordnet die Rede in die Reihe der Ereignisse ein und trägt so dazu bei, dass die Linearität der Erzählung hergestellt wird. In dem Notker-Beleg steht die uneingeleitete direkte Rede neben der durch den inti-Satz eingeleiteten Rede; damit entsteht eine Dialogstruktur. In all diesen Belegen markiert inti als Grenze zur direkten Rede eine neue Ebene des Diskurses, und hat deshalb Signalcharakter, während es gleichzeitig an das Vorhergesagte anknüpft. 2.5. Die Texte Notkers Die Unterscheidung zwischen Koordination und Konnexion wird bei den Übersetzungen Notkers des Deutschen erst dann eindeutig, wenn man die Genese dieser Texte berücksichtigt. Schon Stefan Sonderegger und Anton Näf u.a. haben auf die verschiedenen Stufen der Texte Notkers hingewie-
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sen.14 Darin erkennt man beide Hauptziele Notkers: Zum einen die Übersetzung lateinischer Texte ins Deutsche und zum anderen die Kommentierung bestimmter Textstellen meist mit Hilfe von schon vorhandenen und anerkannten Kommentaren. Dafür hat Notker zunächst die Wortstellung der lateinischen Originaltexte umgeordnet, anschließend die Texte in Perikopen gegliedert, diese übersetzt und an einigen Stellen KommentarPassagen eingefügt. Er hat somit in die originale Textstruktur eingegriffen und sie verändert. So können z.B. Teilsätze, die in dem lateinischen Text miteinander koordiniert eine Satzreihe bildeten, in der ahd. Übersetzung geteilt und durch einen mehr oder weniger umfangreichen Kommentar voneinander getrennt erscheinen. Es handelt sich um Beispiele wie: (11) tiz sint tie den uuuocher unde den ezisg tero rationis ertemfent . mit tien dornen uuillonnes. Taz chit mit iro uuillechosonne . ergezzent sie man sinero rationis. Unde menniskon muot stozent sie in dia suht . sie nelosent sie nieht hae sunt enim quae necant infructuosis spinis affectuum . uberem segetem fructibus rationis. Hominumque mentes assuefaciunt morbo . non liberant Nb 12,12 (12) vnde do irdonerota truhten fone himele. Sie sint sin himel . uuanda er an in sizzet . fone in deta er chunt gentibus euangelium. Vnde der hohesto sprah in uz . uuanda sie archana dei (gotes tougeni) sageton et intonuit de caelo dominus. Et altissimus dedit vocem suam NpNpw 17,14 Bei einer Analyse des ahd. Textes können solche Stellen jedoch nur als Konnexion auf Textebene interpretiert werden, da die Koordination durch die Kommentareinschübe aufgehoben wurde. Stefan Sonderegger hat im Zusammenhang der verschiedenen Stufen der Texte die Markierungen dieser Kommentare untersucht und festgestellt, dass u.a. durch Wiederaufnahme von Begriffen oder durch Verweise eine Beziehung zum Vorhergesagten hergestellt wird.15 Ähnlich fungieren die Konnektoren inti und joh als Markierung für die Wiederaufnahme der Übersetzung, indem die Gedanken, Argumente und Äußerungen des lateinischen Originaltextes fortgeführt werden und an die schon bestehenden Argumente angeknüpft wird.
_____________ 14 15
Vgl. Sonderegger (1997, 141ff.); Näf (1979, 58ff.). Vgl. ebd.
Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh
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3. Fazit All diese Stellen zeigen, dass die Mittel der Satzgrammatik die inti / johVerbindungen nicht immer adäquat beschreiben. An den eben gezeigten Beispielen (und an weiteren ähnlichen) kann man die weiterleitende, anknüpfende Funktion der Konnektoren erkennen, die auch bei der Koordination von Satzteilen oder Sätzen festzustellen ist. Allerdings bezieht sich diese Weiterführung auf den ganzen Text, auf die gesamte Verkettung von Ereignissen, Argumenten oder Redeteilen und nicht nur auf eine Satzreihe. So eingesetzt wirken inti und joh textbildend und verlangen bei ihrer Untersuchung eine intensive Auseinandersetzung mit dem gesamten Text. Die Analyse der Konnektoren hilft dabei, sich aufgrund ihrer Häufigkeit ein genaues Bild über den Erzählstil des Textes zu machen. Die durch inti / joh eingeleiteten Sätze werden nicht bloß wie bei der Koordination aneinandergereiht, sondern in einem besonderen Verhältnis in die Struktur des Textes eingegliedert. Die Wirkung der Konnektoren lässt sich in folgenden Aspekten zusammenfassen: 1. Die Konnektoren markieren die Grenzen zwischen den verschiedenen Textebenen, z.B. zwischen Kapitelüberschriften und Text, oder zwischen Zitat und dem Text, in dem es eingebettet ist. Auch bei Dialogpassagen fungieren sie als Signal für die direkte Rede, vor der sie stehen. 2. Gleichzeitig verknüpfen inti und joh all diese Ebenen miteinander und helfen dem gesamten Text Kohärenz zu verleihen. Dies gilt besonders bei Texten mit komplizierter Verschachtelung von Übersetzung und Kommentaren, bei denen es schwer fällt, der Argumentationskette zu folgen (wie im Falle der Notker’schen Texte). Wenn dann noch diese Argumentationen durch Kommentare unterbrochen werden, sind Mittel notwendig (wie die Konnektoren inti / joh), die den argumentativen Faden wieder aufnehmen. 3. Durch die Wiederholung bestimmter Konnektoren ergibt sich in einigen Texten ein Erzählstil, der ein markantes Erkennungsmerkmal dieser Texte darstellt. So erkennen wir den sakralen Stil der Heiligen Schrift sowohl in den Bibelzitaten des ahd. Isidor, als auch in der ahd. Tatianübersetzung oder in Notkers Psalmenübersetzung. Dies ist natürlich durch die lateinischen Vorlagetexte bedingt, jedoch hätten die Übersetzer dieser Texte prinzipiell auch andere Ausdrucksmittel zur Verfügung gehabt und entschieden sich trotzdem an vielen Stellen für die Anknüpfung durch inti / joh.
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Die Untersuchung der Konnektoren inti und joh mit Hilfe der Textsyntax lässt erkennen, dass diese Elemente mehr als nur verbindende Konjunktionen darstellen. Es handelt sich dabei vielmehr um textbildende Einheiten, deren Analyse Einblick in die Struktur des Textes erlaubt.
Quellen I = Hench, George A. (Hrsg.) (1893), Der althochdeutsche Isidor, Facsimile-Ausgabe des Pariser Codex nebst critischem Texte der Pariser und Monseer Bruchstücke, mit Einleitung, grammatischer Darstellung und einem ausführlichen Glossar, (Quellen und Forschungen 72), Straßburg. Nb = Piper, Paul (Hrsg.) (1882), „Anicius Manlius Severinus Boetius, De consolatione Philosophiae“, in: Die Schriften Notkers und seiner Schule, Bd. 1, Freiburg (Breisgau), Tübingen, 1-363. Np = Piper, Paul (Hrsg.) (1883), „Psalmen und katechetische Denkmäler nach der St. Galler Handschriftengruppe“, in: Die Schriften Notkers und seiner Schule, Bd. 2, Freiburg (Breisgau), Tübingen. Npw = Heinzel, Richard / Scherer, Wilhelm (Hrsg.) (1876), Notkers Psalmen nach der Wiener Handschrift, Straßburg. O = Erdmann, Oskar (Hrsg.) 1882), Otfrids Evangelienbuch, (Germanistische Handbibliothek 5), Halle (Saale). Oh = Erdmann, Oskar (Hrsg.) (1882), „Hartmuate et Uuerinberto Sancti Galli monasterii monachis“, in: Otfrids Evangelienbuch, (Germanistische Handbibliothek 5), Halle (Saale), 317-322. T = Sievers, Eduard (Hrsg.) (1892), Tatian. Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar, 2., neubearb. Ausgabe, (Bibliothek der ältesten deutschen LiteraturDenkmäler 5), Paderborn.
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Textlinguistische Aspekte der Konnektoren inti und joh
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Inkorporation im Althochdeutschen∗ Susumu Kuroda (Tsukuba)
1. Einleitung Die Wortbildung dient als ein Prozess, der von einer lexikalischen Einheit ausgehend eine andere erzeugt, in erster Linie zur Erweiterung des Wortschatzes, sie kann aber auch mitunter syntaktische Effekte hinterlassen. Dies ist vor allem bei der Konversion deutlich, die den Wechsel der Wortart und des syntaktischen Status des Lexems erwirkt: z.B. Öl – ölen, essen – (das) Essen. Auch bei der Affigierung, bei der die morphologische Veränderung des Lexems deutlicher hervortritt als bei der Konversion, kann eine andere syntaktische Eigenschaft festgestellt werden als beim Ausgangslexem, auch wenn dabei die Wortart des Lexems nicht abgeändert wird. Bekannt ist dies im Fall des Verbalpräfixes be-, das die Valenzstruktur des Ausgangsverbs modifizieren kann: (1a) Man jammerte über den Verlust. (1b) Man bejammerte den Verlust. (2a) Der Gärtner pflanzt Rosen auf das Beet. (2b) Der Gärtner bepflanzt das Beet mit Rosen.1 Bei (1a) und (1b) sowie (2a) und (2b) handelt es sich jeweils um zwei Satzpaare, die aus der semantischen Sicht hinlänglich äquivalent gelten können. Die a-Sätze und b-Sätze unterscheiden sich darin, dass in den letzteren das Verb mit be- präfigiert ist und über eine Valenzstruktur verfügt, die von der des Verbs in den a-Sätzen abweicht. Dabei ist die Akkusativergänzung der b-Sätze als äquivalent zur Präpositionalergänzung der entsprechenden a-Sätze aufzufassen – so entspricht die Präpositionalphrase _____________ ∗
1
Dieser Beitrag entstand während meines Forschungsaufenthalts an der Universität Passau als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung. Teilweise liegen ebenfalls die Forschungsergebnisse aus meinem JSPS-Projekt zugrunde. This research was partially supported by the Japan Society for the Promotion of Science (Grant-in-Aid for Young Scientists (B), 18720099). Die Beispiele (1a) bis (2b) stammen aus Eroms (1980).
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über den Verlust in (1a) dem Akkusativ den Verlust in (1b), die Präpositionalphrase auf das Beet in (2a) dem Akkusativ das Beet in (2b) –, so dass hier eine Akkusativierung der Präpositionalergänzung angenommen werden kann. Dass die Valenzstruktur einer Präfigierung manchmal eine Akkusativergänzung erhält, die in der Valenzstruktur des Simplex als solche nicht vorhanden ist, wurde bislang vor allem im Zusammenhang mit dem Präfix be- diskutiert, ist aber ebenso bei den Präfigierungen durch andere Präfixe durchaus festzustellen. So kann sie z.B. auch bei der Präfigierung mit überwie in (3), mit um- wie in (4) oder mit an- wie in (5) angenommen werden. Die Akkusativergänzung von übergießen unterscheidet sich von der des Simplex gießen, die als direktes Objekt zu charakterisieren ist; die Simplizia von umstehen und ansprechen verfügen über eine intransitive Valenzstruktur und daher keine Akkusativergänzung: (3)
Sie übergießt den Pudding mit Soße.
(4)
Riesige Eichen umstanden das Haus.
(5)
Luise spricht den fremden Mann an.
Dieses Phänomen, das in den letzten Jahren insbesondere unter dem unten noch zu besprechenden Stichwort Inkorporation intensiv diskutiert wurde, kann unter verschiedenen Perspektiven aufgegriffen werden. Häufig wird auf den Zusammenhang mit dem Verbalaspekt hingewiesen, der gleichzeitig mit der Valenzstrukturveränderung in der Regel eine starke Perfektivität erhält.2 Der historische Hintergrund der Entstehung dieser Valenzstrukturveränderungsmöglichkeit wird bei Hinderling3 eingehend besprochen. Besonders intensiv wurde dieses Phänomen aber vor allem in der theoretischen Grammatik, wo man den syntaktischen Mechanismus zu klären versuchte, der die Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung verursacht, behandelt.4 Im vorliegenden Beitrag wird versucht, die entsprechenden Fälle im Althochdeutschen zu betrachten, und dadurch den Unterschied zum Gegenwartsdeutschen festzustellen. Unser Augenmerk richtet sich dabei hauptsächlich auf die Erfassung der Konfigurationen, unter denen die Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung stattfinden kann. Vorerst wird auf die grammatiktheoretische Diskussion nicht eingegangen, aber hierdurch kann womöglich die historische Entwicklung dieser Valenzstrukturveränderungsoperation genauer rekonstruiert werden, was _____________ 2 3 4
Vgl. z.B. ebd., 45ff. Vgl. Hinderling (1982). Vgl. Wunderlich (1987) oder Olsen (1996).
Inkorporation im Althochdeutschen
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schließlich doch zur Vertiefung der theoretischen Diskussion beitragen könnte. Auf die aspektuelle Modifizierung, die beim Verb gleichzeitig mit der Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung auftreten kann, wird im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht eingegangen, da sie sich unabhängig von der Valenzstrukturveränderung beobachten lässt und somit wohl nicht zwangsläufig damit allein zusammenhängt. Außerdem ist die Ermittlung des aspektuellen Werts der Verben in den historischen Texten methodisch sehr problematisch, da er meist nur subjektiv ermittelbar ist.
2. Zum Begriff Inkorporation Die Veränderung der Valenzstruktur des Verbs durch die Präfigierung ist in der Erforschung der deutschen Sprache längst bekannt, findet man doch entsprechende Hinweise bereits in der Literatur zur deutschen Grammatik seit Grimm5 und auch in den Angaben zu einzelnen Präfigierungen in den einschlägigen Wörterbüchern des Deutschen. Allerdings steht dabei die Funktion der Transitivierung deutlich im Vordergrund, die jedoch nur auf die Ableitung aus einem intransitiven Simplex zutrifft. Der grammatische Mechanismus, der die Modifizierung der Valenzstruktur ermöglicht, wurde jedoch hauptsächlich erst seit den 1980er Jahren eingehend diskutiert, nachdem diese Operation bei Eroms6 als Umorganisierung der Valenzstruktur im Passivsystem (als Lokalphrasenpassiv) positioniert wurde. Dabei ist man darauf aufmerksam geworden, dass in vielen Fällen die Präpositionalphrase von der Akkusativierung betroffen ist, wie es oben bei (1) und (2) zu sehen ist, und dass die Präfigierungen, die die Valenzstrukturveränderung verursachen, mit der Präposition auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen.7 So hat sich die Idee etabliert, dass diese Valenzstrukturveränderung von einem Statuswechsel der Präpositionalergänzung des Simplex verursacht wird. Es wurde eine Operation angenommen, die die Präpositionalergänzung zerlegt und das Argument der Präposition in die Objektposition überführt, wobei sie gleichzeitig die Präpositionen an sich enklitisch
_____________ 5
6 7
So wird die Veränderung der Verbrektion durch die Präfigierung bei Grimm (1967) an verschiedenen Stellen angesprochen. Dieses Phänomen wird in Bezug auf das Gegenwartsdeutsche besonders ausführlich behandelt bei Kühnhold / Wellmann (1973). Vgl. Eroms (1980). Vgl. Harnisch (1982).
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dem Verbstamm anhängt.8 Bei den Fällen wie mit be-, bei denen die Präfigierung über keine formal entsprechende Präposition verfügt, wird angenommen, dass be- nicht nur eine bestimmte Präpositionen ersetzen kann. Für diese Operation findet sich aktuell Inkorporation als geläufigste Benennung.9 Diese Auffassung, die wohl erstmals bei Wunderlich10 ausführlich begründet wurde, stellt eine attraktive Erklärung dar, die gleichzeitig der Valenzänderung durch die Präfigierung und der etymologisch bedingten morphologischen Similarität zwischen der Präfigierung und der Präposition, die bei zahlreichen Verbpaaren besteht, Rechnung tragen kann. Freilich erklärt die Inkorporation nicht alle Umstände der Valenzstrukturveränderungen, die durch die Präfigierung eintreten können. So bleibt z.B. ungeklärt, unter welcher Motivation die unterschiedliche Kasusverleihung an das inkorporierte Argument der Präpositionalphrase erfolgt, da dieses nicht nur durch den Akkusativ, sondern ebenso durch den Dativ oder Genitiv (s. unten) realisiert werden kann. Auch sind Fälle zu registrieren, wo das Verb durch die Präfigierung eine Akkusativergänzung erhält, auch wenn das Simplex über keine entsprechende Präpositionalergänzung verfügt, so dass die Bezeichnung Inkorporation nicht angemessen ist. Es gibt auch Ansätze, die die Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung nicht als eine Umorganisierung der Valenzstruktur ansehen, sondern als eine holistische Anpassung einer abweichenden Valenzstruktur an das Simplex.11 Mit der Aufnahme in die Duden-Grammatik12 kann aber die InkorporationsAnalyse als weitgehend akzeptiert angesehen werden.
3. Methodische Schwierigkeit der Erfassung der syntaktischen Funktion der Präfigierung aus sprachhistorischer Perspektive Die Erforschung der Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung im Althochdeutschen ist mit verschiedenen Schwierigkeiten behaftet. Zunächst könnte man meinen, dass man über die Sekundärliteratur den _____________ 8 9
10 11 12
Diese Auffassung ist allerdings als eine Elaborierung der z.B. bei Paul (1919, 242ff.) vorzufindenden Idee anzusehen, dass die präfigierten Verben manchmal ein von der Präfigierung abhängiges Objekt mit sich führen. Der Begriff Inkorporation ist erstmals von Baker (1988) in die sprachwissenschaftliche Diskussion eingeführt worden, wobei Baker dabei nicht den Übergang einer lokalen Ergänzung zur Objektergänzung diskutierte. Vgl. Wunderlich (1987). Vgl. z.B. Koch / Rosengren (1996). Vgl. Duden: Die Grammatik (2005, 703).
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notwendigen Zugang zu den Informationen über das Verhalten der Präfigierung schaffen könnte, zumal bereits äußerst ausführliche Glossarien zu verschiedenen althochdeutschen Schriften zur Verfügung stehen. Allerdings werden bei den Glossarien häufig unterschiedliche Prinzipien für die Erfassung des Sprachzustands verwendet, so dass die Angaben daraus keine Information darüber liefern, wie der über den Einzeltext hinausgehende Sprachzustand aussieht. Dieses Problem ist bereits bei der Feststellung der Elemente bemerkbar, die als Präfigierung charakterisiert werden dürfen. So sind z.B. die Verbbildungen mit ingegini- 'entgegen', wie z.B. ingeginifaran 'entgegengehen' in (6), in den Otfrid-Glossarien von Kelle13 und Piper14 als Lemmata angegeben, so dass es anzunehmen ist, dass Kelle und Piper diese Verben als abgeleitete Verben betrachteten: (6)
Ioh theiz ni uuas ouh boralang . thaz.heriskaf.mit imo sang. / uuio engilo menigi . fuar thar al ingegini . / (O 2, 3, 14) [lies …] und dass es nicht zu lang dauerte, dass die Schar mit ihm sang, wie die Engelschar da entgegen kam.
(7)
uuelih cuning farenti zigifremenne gifeht uuidar anderan cuning nibi her er sizzenti thenke oba her mugi mit zehen thusuntin themo ingegin faran ther mit zueinzug thusuntin quam zi imo (T 105, 2) Welcher König plant einen Krieg gegen einen anderen König zu führen, wenn er nicht vorher darüber nachdenkt, ob er mit zehntausend (Soldaten) dem entgegenkommen kann, der mit zwanzigtausend zu ihm kommt.
Das Lemma ingeginifaran gibt es aber im Tatian-Glossar von Sievers nicht, obwohl sich ein mit (6) vergleichbarer Beleg (7) im Tatian finden lässt. Im Glossar von Sievers findet man keine Lemmata, bei denen ingegini- als eine Präfigierung, d.h. ein Teil des Verbs angegeben ist. Alle ingegini-Stellen im Tatian gibt Sievers stattdessen konsequent in seinem Tatian-Glossar als Adverb an. Vor diesem Hintergrund ist die Notwendigkeit einer eigenständigen Untersuchung, bei der mehrere Texte aus einem einheitlichen Prinzip untersucht werden, für eine textübergreifende Erfassung des Sprachzustands im Althochdeutschen klar. Dem vorliegenden Beitrag liegt hierfür die Untersuchung eines Korpus zugrunde, das aus drei größeren althoch-
_____________ 13 14
Vgl. Kelle (1963). Vgl. Piper (1884).
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deutschen Texten, Otfrids Evangelienbuch, Tatian und Isidor besteht.15 Dieses Korpus kann als relativ homogen eingestuft werden, da alle umfassten Texte im Westmitteldeutschen im frühen 9. Jahrhundert verfasst sind, und der Rezipientenkreis der Texte hauptsächlich im klerikalen Kreis anzunehmen ist. Das Korpus umfasst insgesamt 24.630 Verbformen, unter welchen insgesamt 350 Verbpaare festgestellt wurden, zwischen denen eine Ableitungsbeziehung angenommen wird. Eingehend untersucht wurden so insgesamt 7.597 Datensätze. Da man bei der Untersuchung des Althochdeutschen als Materialquelle ausschließlich auf die schriftlich fixierten Texte angewiesen ist, lassen sich häufig jene Entscheidungen nicht leicht treffen, die für die Untersuchung grundlegend sind. So ist es meist unklar, ob eine Präfigierung als Präfix oder als Partikel einzustufen ist. Das Präfix und die Partikel unterscheiden sich satzstrukturell durch unterschiedliche Positionen, die allerdings in der Nebensatzstruktur und infinitivischen Struktur aufgehoben werden. So ist beim Nebensatz grundsätzlich nicht einwandfrei festzustellen, ob die Präfigierung als Präfix oder als Partikel anzusehen ist, abgesehen davon, dass, vor allem im Tatian, die hinsichtlich der gegenwartsdeutschen Entsprechung und der deutlich lokalbezogenen Semantik als Partikel in Frage kommende Präfigierung auch in der Hauptsatzstruktur nicht selten unmittelbar vor dem Verb, d.h. in einer präfixtypischen Position, auftritt. Aus diesem Grund wollen wir hier die Präfigierungen in die A-Präfigierungen und die B-Präfigierungen unterteilen. Die A-Präfigierungen sind diejenigen, die aufgrund ihrer Position in den Belegen und der Entsprechung im Gegenwartsdeutschen nur als Präfix charakterisierbar sind; die B-Präfigierungen sind hingegen diejenigen, die sowohl als Präfix als auch als Partikel charakterisiert werden können. Es ist auch nicht leicht zu entscheiden, ob bei einer Präfigierung ein abgeleitetes Verb vorliegt oder vielmehr ein eigenständiges Lexem, das vom Ausgangsverb getrennt behandelt werden muss. So sind firstantan 'verstehen' oder intstantan 'verstehen' nicht als Präfigierung von stantan116 'stehen' anzusehen, da zwischen beiden keine semantische Beziehung _____________ 15
16
Außerdem liegen zu Otfrids Evangelienbuch und Tatian moderne Editionen vor: Kleiber (2004) und Masser (1994), was auch einen Anlass für eine erneute Erfassung des Sprachzustands in diesen Texten darstellt. Der Untersuchung wurden diese Ausgaben zugrunde gelegt, für den althochdeutschen Isidor die Ausgabe von Eggers (1964). Die Stellenangaben der Beispielsätze im vorliegenden Beitrag beziehen sich auf die Stellen in diesen Editionen. Wenn zu einem Verb mehrere stark voneinander abweichende Bedeutungs- oder Valenzstrukturvarianten in unserem Korpus nachzuweisen sind, werden die Varianten auseinander gehalten, wobei die jeweilige Variante durch tiefgestellte Ziffern markiert werden, so z.B. stantan1 'stehen' – stantan2 'aufstehen' .
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angenommen werden kann.17 Die Feststellung der Valenzstruktur stellt ohnehin ein schwieriges Unterfangen dar. So ist ein umsichtiges Herangehen an das Material unerlässlich, auch wenn das zugrundeliegende Material einen relativ kleinen Umfang aufweist.
4. Typologie der Valenzstrukturveränderung durch die Präfigierung im Althochdeutschen Aus der Untersuchung des Korpus hat sich ergeben, dass man insgesamt bei 118 Verbpaaren eine Valenzstrukturveränderung durch Präfigierung feststellen kann. Die Valenzstrukturveränderungen lassen sich dabei in einige Typen einordnen, die im Folgenden besprochen werden. Als „besonders wichtige Valenzänderungen“, die durch die Präfigierung eintreten können, gibt Erben18 drei Typen der Valenzstrukturveränderung an: 1) Valenzreduktion (z.B. Der Mann schlägt ihn – schlägt zu); 2) Reflexivierung (Max läuft – verläuft sich); 3) Akkusativierung (Er trödelt – vertrödelt die Zeit; Ich wohne in dem Haus – bewohne das Haus; Man droht ihm – bedroht ihn). Im Fall unserer Untersuchung sollten hierzu noch die Einführung des Dativs bzw. des Genitivs in die Valenzstruktur genannt werden, da diesen im Fall des Althochdeutschen hinsichtlich der Häufigkeit solcher Veränderungstypen eine gewisse Relevanz einzuräumen ist.19 Typ I: Einführung des Akkusativs Hierbei handelt es sich um die Valenzstrukturveränderung wie sie mit den Beispielen (1) bis (5) vergleichbar ist. Diese ist am häufigsten (bei 45 Verbpaaren) festzustellen und somit als Haupttyp anzusehen. Darunter sind besonders die Präfigierungen mit bi-, ir- und ana- gut vertreten. In vielen Fällen ist beim entsprechenden Simplex diejenige Präpositionalergänzung belegt, die als Entsprechung für den Akkusativ des präfigierten Verbs angesehen werden kann, d.h. auf die der Akkusativ zurückgehen kann. Es gibt Fälle, in welchen der Akkusativ der Ableitung auf die direktive Präpositionalergänzung des Simplex zurückgeführt werden kann, wie bei (8a) und (8b) giozan 'gießen' – bigiazan 'begießen', wie bei (9a) und _____________ 17
18 19
Die Präfigierungen aus den Verben wesan 'sein', werdan 'werden' und tuon 'tun' werden ebenfalls außer Acht gelassen, da diese Simplizia von äußerst allgemeiner Bedeutung sind und es deshalb nicht hinreichend klar überprüft werden kann, ob zwischen der Präfigierung und dem Simplex eine semantische Verwandtschaft angenommen werden kann. Erben (2000, 81). Es gibt noch einige andere Typen der Valenzstrukturveränderung, die nur vereinzelte Verben betreffen und deshalb hier außer Acht gelassen wurden.
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(9b) senten 'senden' – anasenten 'werfen auf', die den Fällen wie oben (2) und (3) im Gegenwartsdeutschen entsprechen. Bei (6b) führt aber die Akkusativierung der Präpositionalphrase zu einer doppelakkusativischen Valenzstruktur, die im Gegenwartsdeutschen nicht zulässig ist: (8a) Nam maria nardon . filu diuren uuerdon / uuas iru thaz thionost suazi . thia goz si in sine fuazi / (O 4, 2, 16) Maria nahm äußerst wertvolles Nardenöl – es war für sie ein angenehmer Dienst – und goss es auf seine Füße.
(8b) Vuio thar thio fruma niezent . thie hiar thia sunta riezent / sih hiar io thara liezent . thie sih mit thiu bigiazent / (O 5, 23, 8) Wie er dort Heil genießt, wer hier seine Sünde beklagt, sich dem Jenseits weiht, und sich mit Tränen benetzt.
(9a) gisah zuuene bruoder simonem ther giheizan ist petrus Inti andream sinan bruoder sententi iro nezzi in seo uuanta sie uuarun fiscara (T 54, 13) (Er) sah zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt ist, und Andreas, seinen Bruder. Sie warfen ihr Netz in den See, denn sie waren Fischer.
(9b) ther thie uzan sunta si iuuar zi eristen sente sia stein ana (T 199, 5) Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie.
Durch eine Gegenüberstellung der Ausgangsstruktur und der abgeleiteten Struktur kann man aber feststellen, dass die als akkusativiert anzusehende Präpositionalergänzung nicht immer lokal zu charakterisieren ist. So geht der Akkusativ im Beispiel (10c) mit biruahhen 'Sorge tragen für' auf ein Präpositionalargument bei ruohhen 'beachten' wie in (10a) zurück, dem kaum ein lokales Bedeutungsmoment zuzusprechen ist.20 Außerdem kann die Akkusativierung nicht nur bei den Präpositionalergänzungen angenommen werden, sondern auch bei der Genitiv- oder Dativergänzung in der Ausgangsstruktur. So entspricht der Akkusativ im soeben besprochenen Beispiel (10c) mit biruahhen 'Sorge tragen für' dem Genitiv bei ruohhen 'beachten' wie in (10b), der als Alternativform zur Präpositionalphrase anzusehen ist. Bei (11a) und (11b) mit swihhan 'im Stich lassen' – biswihhan 'betrügen' liegt eine Ableitung vor, bei der der Dativ der Ausgangsstruktur dem Akkusativ der abgeleiteten Valenzstruktur entspricht. Es gibt ferner auch Ableitungen, bei denen unklar ist, welche Form akkusativiert wird. Bei (12a) und (12b) mit liuhten 'leuchten' – inliuhten '(er)leuchten, sehend _____________ 20
Dies ist übrigens auch im Gegenwartsdeutschen der Fall, wie z.B. bei achten auf – beachten, sprechen über – besprechen.
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machen; hell werden' hat der Akkusativ der Ableitung keine entsprechende Phrase in der Ausgangsstruktur: (10a) Mit uuorton iz gimeinta . mit zeichonon gisceinta / al thaz iro fruma uuas . sie ni ruahtun bi thaz / (O 3, 20, 186) (Er) erklärte es mit Worten, zeigte es mit Wundertaten. All das war für ihren Nutzen, aber es kümmerte sie nicht.
(10b)Ih zell in thanne in gahun . thaz sie mir kund ni uuarun / theih er sie hal iu lango . ni ruach ih iro thingo / (O 2, 23, 28) Ich sage ihnen dann sofort, dass ich sie nicht kannte, dass ich sie schon früher lange nicht berücksichtigte, und dass sie mich jetzt nicht kümmern.
(10c) Thia zit eigiscota er fon in so ther sterro giuuon uuas queman zi in . / bat sie iz ouh biruahtin . bi thaz selba kind irsuahtin / (O 1, 17, 44) Er erkundigte sich von ihnen nach der Zeit, in der der Stern immer zu ihnen kam, und bat sie, sich darum zu kümmern, nach dem Kind zu suchen.
(11a) Er ouh iacobe ni sueih . tho er themo bruader insleih / uuas io mit imo thanne . in themo fliahannE / (O H, 81) Er ließ auch Jacob nicht im Stich, als er vor seinem Bruder floh, war dann immer bei ihm auf der Flucht.
(11b)oba thin zesuuua ouga thih bisuihhe arlosi iz thanne Inti aruuirphiz fon thir (T 63, 24) Wenn dich dein rechtes Auge betrügt, dann lös es heraus und wirf es von dir weg.
(12a) so liuhte iuuar lioht fora mannon thaz sie gisehen iuuaru guotu uuerc Inti diurison iuuaran fater thie in himilon ist (T 61, 28) So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie euer gutes Werk sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist.
(12b)Thaz lioht ist filu uuar thing . inliuhtit thesan uuoroltring / ioh mennisgon ouh alle . ther hera in uuorolt sinne / (O 2, 20, 13) Das Licht ist ein sehr wahres Ding, erleuchtet diese Welt und alle Menschen, die auf diese Welt kamen.
Typ II: Einführung des Dativs Es gibt auch Verbpaare, bei denen die Einführung einer Dativergänzung in die Valenzstruktur durch die Präfigierung angenommen werden kann, so z.B. (13a) und (13b) faran 'gehen' – forafaran 'vorbeigehen, vorausgehen',
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(14a) und (14b) stantan 'stehen' – obastantan 'stehen über' wie (15a) und (15b) gangan 'gehen' – intgangan 'entgehen'. Dieser Typ der Valenzstrukturveränderung wird im Zusammenhang mit der Inkorporation nur selten diskutiert,21 ist aber auch im Gegenwartsdeutschen festzustellen, wie kommen – entkommen (Der Kommissar entkam seinen Verfolgern), fahren – vorfahren (Ich fahre dir vor) oder setzen – vorsetzen (Ich setze dir einen kleinen Imbiss vor). Die Einführung des Dativs ist allerdings weit weniger ausgeprägt als die Einführung des Akkusativs, wie es auch im Gegenwartsdeutschen der Fall ist. Insgesamt lassen sich 15 Verbpaare für diesen Veränderungstyp feststellen: (13a) Inti her ferit fora Inan In geiste Inti In megine heliases. (T 27, 4) Und er geht vor ihm mit Geist und Kraft von Elias.
(13b)Ih faru dhir fora endi chidhuuingu dhir aerdhriihhes hruomege. (I 156) Ich gehe dir voran und erniedrige die Ruhmreichen auf der Erde.
(14a) Thoh ih tharzua hugge . thoh scouuon sio zi rugge / bin mir menthenti . in stade stantenti / (O 5, 25, 100) Wenn ich daran denke, und auf sie zurückblicke, stehe ich mit Freude am Ufer.
(14b)Ih chisah druhtin sitzendan oba dhrato hohemu hohsetle, endi seraphin dhea angila stuondun dhemu oba. (I 348) Ich sah den Herrn auf einem sehr hohen Thron sitzen. Und Serafim, die Engel, standen über ihm.
(15a) inti mittiu ana sazta in sino henti gieng thana; (T 162, 4) und nachdem er ihnen seine Hände auflegte, ging er weg.
(15b)Sie arabeitotun . thia naht al in gimeitun . / thie fisga in al ingiangun . niheinan ni gifiangun . / (O 5, 13, 6) Sie bemühten sich die ganze Nacht umsonst, alle Fische ent-gingen ihnen, sie fingen keinen einzigen.
Typ III: Einführung des Genitivs Für die Einführung einer kasuellen ablativischen Ergänzung, die den Ausgangspunkt der Bewegung bezeichnet, kann neben dem Dativ wie in (15b) auch der Genitiv zum Einsatz kommen, so wie (16a) und (16b) mit bintan _____________ 21
Vgl. Wunderlich (1987).
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'binden'– intbintan 'losbinden'. Dieser Veränderungstyp ist wie die Einführung des Dativs auch nicht besonders ausgeprägt. Er ist lediglich bei sechs Verbpaaren festzustellen, so dass er nur als ein Randtyp angesehen werden kann: (16a) Inti sih nahenti bant sina uuvntun goz thara ana oli Inti uuin. (T 210, 24) (Er) nahte ihm, verband seine Wunden und goss darauf Öl und Wein.22
(16b)Er tho in alauuari . then liutin deta mari / thaz iz uuas ther heilant . ther inan thes seres inbant / (O 3, 4, 48) Dann tat er dem Volk fürwahr kund, dass es der Heiland war, der ihn von seinem Leiden befreite.
Typ IV: Reflexivierung Bei einer Reihe von Belegen der präfigierten Verben ist ein Reflexivum festzustellen. Allerdings weist es meist kein besonderes Verhalten gegenüber den nicht-reflexivischen Ergänzungen auf, so dass es analog zu normalen Ergänzungen im entsprechenden Kasus aufgefasst werden soll. Als Reflexivierung wollen wir deshalb nur diejenigen Fälle auffassen, in welchen die Einführung eines Reflexivums durch die Präfigierung angenommen werden kann, dem kein voller Satzgliedstatus23 zuzuerkennen ist. So ein Fall liegt in (17a) und (17b) mit swerren 'schwören' – furswerren 'falsch schwören' vor, aber sonst ist ein vergleichbarer Fall nur einmal festzustellen: (17a) uso uuer so suerit bi themo temple ther nist niouuiht therde suerit In gold temples scal. (T 244, 17) Wenn jemand beim Tempel schwört, gilt es nicht. Wer beim Gold des Tempels schwört, soll es tun.
(17b)Thaz man sih ni firsuerie . thaz uuan ih uuizod uuerie / minu uuort thiu uuerrent . thaz ir sar ni suerrent . / (O 2, 19, 7) Meineidig zu sein – glaube ich – verbietet das Gesetz. Meine Worte verbieten, überhaupt zu schwören.
_____________ 22 23
Im Beispiel (16a) fehlt allerdings die dem Genitiv in (16b) entsprechende Ergänzung. Der Satzgliedstatus lässt sich durch verschiedene Kriterien feststellen, z.B. dadurch, ob ihm eine eigenständige Kasusrolle zugeschrieben werden kann.
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Typ V: Reduktion Es ist auch in unserem Korpus anzunehmen, dass die Präfigierung die Reduzierung der Valenzstruktur verursacht. Meist ist davon die Präpositionalergänzung betroffen, wie es bei (18a) und (18b) werfan 'werfen' – ziwerfan 'auseinanderwerfen' beobachtet werden kann. Hierbei handelt es sich um eine relativ große Gruppe, die aus 41 Verbpaaren besteht: (18a) Sie uuurfun tho zi zesue . thaz iro nezzi in then se / in quam sar ingegini . fisgo mihil menigi / (O 5, 13, 15) Sie warfen da ihr Netz nach rechts in den See, sogleich kam eine Menge von Fischen zu ihnen.
(18b)Giang er in thaz gotes hus . dreip se al thanan uz / ziuuarf er al bi noti . thio iro bos.heiti / (O 4, 4, 66) Er ging ins Gotteshaus, trieb sie alle von dort hinaus, und warf all ihr eitles Ding auseinander.
Im vorliegenden Beitrag wollen wir uns aber vorerst auf die Typen mit der Einführung der Akkusativergänzung konzentrieren, die am häufigsten auftreten und als Haupttypen anzusehen sind. Die anderen Typen sollen bei einer künftigen Gelegenheit noch ausführlicher diskutiert werden. 4.1. Gruppe α: Einführung der lokalen Akkusativergänzung Wie aus der obigen Betrachtung hervorgeht, ist die Einführung der Akkusativergänzung in die Valenzstruktur sowohl bei der A- (nur als Präfix) als auch bei der B-Präfigierung (Präfix als auch Partikel) zu beobachten. Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich ein gewisser Unterschied im Verhalten der beiden Präfigierungstypen im Zusammenhang mit der Einführung der Akkusativergänzung. Zunächst ist es besonders auffallend, dass die Akkusativierung der nicht-lokalen Präpositionalergänzung des Simplex wie oben in (10a) bis (12b) überwiegend bei der A-Präfigierung anzunehmen ist. Sicherlich kann bei der B-Präfigierung auch die Akkusativierung der Präpositionalergänzung angenommen werden, aber diese scheint weitgehend den Präpositionalergänzungen lokalen Charakters vorbehalten. Dabei handelt es sich meist um Direktivergänzung, wie vorhin die Beispiele (9a) und (9b) mit senten 'senden' – anasenten 'werfen auf'. Zusätzlich könnten Verbpaare wie (19a) und (19b) wenten 'wenden' – anawenten 'anlegen' oder wie (20a) und (20b) sezzen 'platzieren' – furisezzen 'vorlegen' als weitere Beispiele genannt werden, wobei bei (19b) und (20b) wie bei (9b) eine doppelakkusativische
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Valenzstruktur vorliegt. Die Akkusativierung der lokativen Präpositionalergänzung durch die Partikelpräfigierung kann auch wie bei (21a) und (21b) wonen 'bleiben' – ubariwonon 'bleiben über' angenommen werden: (19a) Sie ougun zi imo ouh uuentent . ioh forahtente stantent / ist in harto in muate . uuio er bi sie gibiete / (O 5, 20, 61) Sie richten ihre Augen auf ihn und stehen mit Furcht. Es liegt ihnen schwer am Herzen, wie er über sie entscheidet.
(19b)Druhtin ist er guater . ioh thiarna ist ouh sin muater / er tod sih anauuentit . in themo thritten dage irstaentit / (O 1, 15, 34) Er ist der gnadenvolle Herr, und seine Mutter ist auch Jungfrau. Er erleidet den Tod und er steht am dritten Tag auf.
(20a) merun therra minna nioman habet thanne thaz uuer sin ferah seze furi sina friunta. (T 284, 10) Niemand hat eine größere Liebe, als dass einer für seine Freunde sein Leben hingibt.
(20b)Inti thar uuonet unzir uz faret., ezente Inti trinkente thiu man iuuih furisezze. (T 76, 28) Und bleibt dort, bis ihr weggeht, und esst und trinkt, was man euch vorlegt.
(21a) gifulten tagun mit thiu sie heim uuvrbun. uuoneta ther kneht heilant In hierusalem, Inti ni forstuontun thaz sine eldiron. (T 42, 16) Als die Festtage zu Ende waren, gingen sie heim. Der junge Heiland blieb in Jerusalem. Und seine Eltern erfuhren es nicht.
(21b)Themo auur thaz ni giduat . quimit seragaz muat / ioh uuonot inan ubari . gotes abulgi / (O 2, 13, 38) Wer das nicht tut, wird im Herzen betrübt. Und Gottes Zorn bleibt auf ihm.
Die Akkusativierung der lokalen Präpositionalergänzung kann freilich auch bei der A-Präfigierung angenommen werden, wie es oben bei (8a) und (8b) giozan 'gießen' – bigiazan 'begießen' zu sehen war. Aber eine solche lokalbezogene Valenzstrukturveränderung ist bei den A-Präfigierungen weit weniger ausgeprägt. In meinem Korpus stehen fünf A-Präfigierungs-Verbpaare mit lokalbezogener Valenzstrukturveränderung (Gruppe α) 15 mit nicht-lokaler Valenzstrukturveränderung (Gruppe β) gegenüber, d.h. erstere machen lediglich ein Drittel aus.
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Die Akkusativierung der lokalen Präpositionalergänzung durch die Präfigierung können wir in unserem Korpus bei folgenden Verbpaaren annehmen. Hierbei handelt es sich um Verben, die eine Lokalbezogenheit bereits in der Verbsemantik enthalten, wobei die B-Präfigierungen deutlich dominieren (20 Präfigierungen gegenüber fünf A-Präfigierungen): A-Präfigierung bigiozan '(ver)gießen' – bigiazan 'begießen' stantan 'stehen' – bistantan 'stehen um' werfan 'werfen' – biwerfan 'zuwerfen' firgangan 'gehen' – firgangan 'vorübergehen' loufan 'laufen' – firloufan2 'überholen'24 B-Präfigierung anablasan 'einhauchen' – anablasan 'einhauchen' gangan 'gehen' – anagangan 'herankommen an' leggen 'legen' – analeggen 'anlegen' queman 'kommen' – anaqueman 'kommen zu' senten 'senden' – anasenten 'werfen auf, setzen' wenten1 'wenden' – anawenten 'anlegen'25 werfan 'werfen' – anawerfan 'bewerfen' thuruhfaran 'fahren' – thuruhfaran '(hin)durchgehen' fora / furifaran 'fahren' – forafaran1 'vorbeigehen, vorausgehen'26 gangan 'gehen' – furigangan 'vortreten, vorbeigehen' loufan 'laufen' – furiloufan 'vorrücken, überholen' queman 'kommen' – foraqueman 'zuvorkommen' sezzen 'plazieren' – furisezzen2 'vorlegen'27
_____________ 24 25 26 27
firloufan2 'überholen' ist hier von der intransitiven Variante firloufan1 'laufen' unterschieden. wenten1 'wenden' ist hier von der intransitiven Variante wenten2 'wenden' unterschieden. forafaran1 'vorbeigehen, vorausgehen' ist hier von der den Dativ regierenden Variante forafaran2 'vorbeigehen, vorausgehen' unterschieden. furisezzen2 'vorlegen' ist hier von der bitransitiven Variante furisezzen1 'vorlegen' unterschieden.
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ingangan 'gehen' – ingangan2 'gehen in' ubargangan 'gehen' – ubargangan 'übergehen' faran 'fahren' – ubarfaran 'hin(weg)gehen über' wonen 'bleiben' – ubariwonon 'bleiben über' umbibisehan 'sehen, sorgen für' – umbibisehan 'umherblicken' gangan 'gehen' – umbigangan 'herumgehen (um)' graban 'graben' – umbigraban 'mit einem Graben umgeben' 4.2. Gruppe β: Einführung der nicht-lokalen Akkusativergänzung Hingegen überwiegen die A-Präfigierungen bei der Akkusativierung der nicht-lokalen Präpositionalergänzung, wie wir sie oben bei den Beispielen (1a) und (1b) mit jammern – bejammern oder den althochdeutschen Beispielen (10a) bis (12b) mit ruohhen 'beachten' – biruahhen 'Sorge tragen für', swihhan 'im Stich lassen' – biswihhan 'betrügen' oder liuhten 'leuchten' – inliuhten '(er)leuchten, sehend machen; hell werden' beobachtet haben. Bei dieser Gruppe handelt es sich um Verben, bei denen die Bewegung oder die Positionierung nicht in der Bedeutung vorliegt. Dabei ist die Ergänzung des Simplex, die der Akkusativergänzung der Ableitung entspricht, nicht nur auf die Präpositionalergänzung beschränkt. So wollen wir im Folgenden die betreffenden Verbpaare auflisten, wobei auch auf die mutmaßlichen Ausgangsformen geachtet wird: Ausgangsform: Genitiv A-Präfigierung biruohhen 'beachten' – biruahhen 'Sorge tragen für' sworgen 'in Sorge sein wegen' – bisworgen 'Sorge tragen für' trahton 'betrachten' – bitrahton 'erwägen' firlougnen 'verleugnen' – firlougnen 'verleugnen' irfaren 'nachstellen' – irfaren 'ergreifen' jehan 'sagen' – irgehan 'zeugen von'
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B-Präfigierung ubarhogen / huggen 'denken an' – ubarhugen 'verachten' Ausgangsform: Dativ A-Präfigierung biswihhan 'im Stich lassen' – biswihhan 'betrügen' wankon 'wanken' – biwankon 'unterlassen' firgeltan2 'vergelten' – firgeltan2 'vergelten'28 Ausgangsform: Präpositionalphrase A-Präfigierung bizellen2 'zuschreiben' – bizellen 'beschuldigen'29 irrahhon 'erzählen' – arrahhon 'erzählen' B-Präfigierung anazellen2 'zuschreiben' – anazellen 'beschuldigen' ubarwinnan 'kämpfen' – ubarwinnan 'besiegen' Ausgangsform: unklar A-Präfigierung biscinan 'scheinen' – biscinan 'bescheinen' firsprehhan 'sprechen' – firsprehhan 'sprechen für' intliuhten 'leuchten' – inliuhten2 '(er)leuchten, sehend machen; hell werden' _____________ 28 29
geltan2 'vergelten' und firgeltan2 'vergelten' sind jeweils von der Variante geltan1 'geben' bzw. firgeltan1 'geben' unterschieden. zellen2 ist hier von der Variante zellen1 'erzählen' unterschieden.
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irsuohhen 'suchen' – irsuohhen2 'durchsuchen, verhören' B-Präfigierung untarweban 'weben' – untarweban 'untereinander verweben' Hier ist die Überlegenheit der A-Präfigierungen (15 Präfigierungen gegenüber vier B-Präfigierungen) deutlich zu erkennen. So kommt der Verdacht auf, dass die Nähe der B-Präfigierung zur Partikel wohl zu einer bevorzugten Lokalbezogenheit der Valenzstrukturveränderung führt. Die Präfixe sind nämlich generell weniger lokalbezogen, während die Partikeln hingegen freier vom Verb sind als die Präfixe, so dass die Nähe zum Lokaladverb stärker zum Vorschein kommt.
5. Besondere Transitivierungsfunktion der B-Präfigierung Ferner fällt auf, dass bei einigen B-Präfigierungen der Gruppe α Valenzstrukturveränderungen beobachtet werden können, die im Gegenwartsdeutschen nicht möglich sind. So haben wir bereits oben bei (9b) mit anasenten 'werfen auf', (19b) mit anawenten 'anlegen' und (20b) mit furisezzen 'platzieren' aus der gegenwartsdeutschen Sicht ungewöhnliche Valenzstrukturveränderungen gesehen, die eine doppelakkusativische Struktur herstellen. Allerdings ist es nicht nur die doppelakkusativische Valenzstruktur an sich, die hier auffällt. Vielmehr ist es interessant, dass die B-Präfigierungen, die den gegenwartsdeutschen Partikeln entsprechen, auch die Akkusativeinführung zu ermöglichen scheinen, obwohl dies im Gegenwartsdeutschen beinahe nicht möglich ist. Als Beispiel hierfür können (22a) und (22b) mit gangan 'gehen' – furigangan 'vortreten, vorbeigehen' und (23a) und (23b) mit wonen 'bleiben' – ubariwonon 'bleiben über' hinzugefügt werden. Hier werden intransitive Verben transitiviert, wobei als a-Beispiele Sätze mit Simplizia mit entsprechenden Präpositionalergänzungen angegeben sind: (22a) Zit uuard tho gireisot . thaz er giangi furi got . / opphoron er scolta . bi thie sino sunta . / (O 1, 4, 11) Da war die Zeit gekommen, in der er zu Gott gehen und für seine Sünde Opfer bringen sollte.
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(22b)In thero fiordun uuahtu thero naht gisehenti sie uuinnente quam zi in ganganter oba themo seuue. Inti uuolta furigangan sie (T 119, 17) In der vierten Nachtwache sah er, dass sie sich abmühten, und kam zu ihnen auf dem See gegangen und wollte an ihnen vorübergehen.
(23a) gifulten tagun mit thiu sie heim uuvrbun. uuoneta ther kneht heilant In hierusalem, Inti ni forstuontun thaz sine eldiron. (T 42, 16) Als die Festtage zu Ende waren, gingen sie heim. Der junge Heiland blieb in Jerusalem. Und seine Eltern erfuhren es nicht.
(23b)Themo auur thaz ni giduat . quimit seragaz muat / ioh uuonot inan ubari . gotes abulgi / (O 2, 13, 38) Wer das nicht tut, wird im Herzen betrübt. Und Gottes Zorn bleibt auf ihm.
Vor dem Hintergrund der bisher besprochenen Beispiele können wir annehmen, dass im Althochdeutschen bei der Einführung der Akkusativergänzung in die Valenzstruktur den Präfixen und Partikeln jeweils unterschiedliche Operationen zugrunde liegen. Die Präfixe, die sich wesentlich früher als Verbzusatz etabliert haben als die Partikeln, haben generell weit mehr lokalen Bezug eingebüßt als die Partikeln.30 Die Präfixe bi-, ir-, fir-, die in meinem Korpus am häufigsten auftreten, stellen eine klitisierte Form dar, die die Verwandtschaft mit den entsprechenden Präpositionen oder Adverbien umbi, uz, furi nicht unmittelbar erkennen lassen. Bei der Präfigierung erwirken sie auch nicht immer eine Bedeutungsmodifikation, die als lokal zu charakterisieren wäre. Hingegen behalten die Partikeln die gleiche Form wie die entsprechenden Präpositionen oder Lokaladverbien bei und bringen häufiger als die Präfixe Bedeutungskomponenten in die Bedeutungsstruktur des Ausgangsverbs ein, denen lokative Eigenschaften unterstellt werden können. Die Präfixe, die bereits im Gotischen weitgehend enklitisiert sind, sind möglicherweise in althochdeutscher Zeit als grammatisches Mittel für die Valenzstrukturveränderung etabliert. So vermochten sie wohl relativ frei die Akkusativeinführung zu erwirken. Hingegen sind die Partikeln entsprechend ihrer historischen Wurzel stärker an die lokale Bedeutung gebunden und im Grammatikalisierungsgrad den Präfixen in dem Sinne unterlegen, dass sie nur lokative Substantive akkusativieren. Aber sie hatten womöglich als valenzmodifizierendes Mittel mehr Möglichkeiten als _____________ 30
Der lokale Bezug ist bei den Präfixen durch- und um- noch mitunter zu spüren, aber generell ist der Abbau der Lokalbezogenheit bei den Präfixen deutlicher als bei den Partikeln.
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im Gegenwartsdeutschen, die Valenzstruktur um ein lokatives Argument zu erweitern.
6. Unterschiedliche Entwicklung der A- und B-Präfigierung zum Gegenwartsdeutschen Im Hinblick auf die Entwicklung zum Gegenwartsdeutschen hin ist interessant, dass man annehmen kann, dass sich die Präfixe und Partikeln unterschiedlich entwickelt haben. Im Gegenwartsdeutschen ermöglicht die Partikel-Präfigierung grundsätzlich keine Transitivierung der Intransitiva. Eine Ausnahme bildet dabei die Partikel an- wie im bereits angesprochenen Beispiel (5), der wohl ein Sonderstatus zukommt. Aber sonst ist eine vergleichbare Valenzstrukturveränderung bei den anderen Partikeln nicht zu verzeichnen. So besteht der Verdacht, dass die Transitivierungsfunktion der Partikel im Laufe der Zeit reduziert worden ist. Außerdem ist im Gegenwartsdeutschen bei der Ableitung aus einem transitiven Ausgangsverb die Valenzstrukturveränderungsfunktion der Partikeln kaum ausgeprägt. Das einzige Beispiel, das ich gefunden habe, ist (24) mit anschreiben; hier kodiert der Akkusativ nicht das Objekt des Ausgangsverbs schreiben, sondern den Adressaten. Dies spricht ebenfalls für den Rückgang der Valenzstrukturveränderungsfunktion der Partikel. (24) Mein Schuldenberater hat meine Gläubiger per E-Mail angeschrieben. Dieser Umstand steht im deutlichen Gegensatz zum Präfix, dessen Valenzstrukturveränderungsfunktion im Laufe der historischen Entwicklung massiv an Bedeutung zunimmt. Von dieser Funktion wird im Gegenwartsdeutschen nachweislich weit mehr Gebrauch gemacht als im Althochdeutschen.31 Es ist sicherlich nicht abzustreiten, dass sich die Funktionsbereiche des Präfixes und der Partikel überlagern. Aber das Verhalten der Präfixe und Partikeln ist sowohl im Alt- als auch im Gegenwartsdeutschen unterschiedlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die beiden Kategorien unterschiedliche Entwicklungsprozesse erfahren haben. Dies ist eine vorläufige Bilanz, der Gegenstand muss aber noch eingehender untersucht werden, wobei natürlich auch die Veränderungstypen, die im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht behandelt wurden, mit in die Überlegung einbezogen werden müssen. _____________ 31
Vgl. Kuroda (2007).
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Susumu Kuroda
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Inkorporation im Althochdeutschen
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Pronominale Wiederaufnahme im ältesten Deutsch Personal- vs. Demonstrativpronomen im Althochdeutschen∗
Svetlana Petrova und Michael Solf (Berlin)
1. Untersuchungsgegenstand Der vorliegende Beitrag untersucht die Distribution von Personalpronomen und selbständig (substantivisch) gebrauchten Demonstrativpronomen der dritten Person im älteren Deutsch. Leseproben aus verschiedenen Quellen der ältesten deutschsprachigen Überlieferung zeigen, dass Formen der beiden Pronominalreihen bereits im Althochdeutschen parallel auftreten, um einen vorerwähnten Diskursreferenten zu benennen, d.h. sie fungieren gleichermaßen als Mittel der anaphorischen Referenz im Diskurs. Zur Verdeutlichung führen wir ein Minimalpaar aus dem ahd. Tatian an. Ein im vorangehenden Kontext in Form eines indefinit gebrauchten Nomens (sun) eingeführter Diskursreferent wird in (1) mittels des Personalpronomens her, in (2) mittels des selbständig gebrauchten Demonstrativpronomens ther wiederaufgenommen: (1)
thin quena elysab&h / gibirit thir sun. / Inti nemnis thû sinan namon Iohannem. / Inti her ist thir gifeho Inti blidida/ […] her ist uuârlihho mihhil fora truhtine (T 26, 25-30)
(2)
seno nu Inphahis In reue Inti gibiris sun. / Inti ginemnis sinan namon heilant, / ther ist mihhil. Inti thes hoisten sun / ist ginemnit (T 28, 17-20)
_____________ ∗
Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen unserer Arbeit im DFG-finanzierten Sonderforschungsbereich „Informationsstruktur: die sprachlichen Mittel der Gliederung von Äußerung, Satz und Text“ der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität zu Berlin. Für wertvolle Anregungen danken wir Milena Kühnast (ZAS Berlin) und Augustin Speyer (Tübingen).
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Svetlana Petrova / Michael Solf
Weitere Belege zeigen, dass sich der anaphorische Gebrauch selbständiger Demonstrativpronomen im Althochdeutschen nicht nur auf die sog. einfachen Formen wie ther in (2) beschränkt, sondern auch die zusammengesetzten Formen wie theser in (3) umfasst. Wir betrachten daher beide Formen der Demonstrativpronomen als eine einheitliche Klasse referierender Ausdrücke im Diskurs: (3)
oba theser uuari uuizago / her uuessi iz giuuesso (T 238, 10-11)
Auf den ersten Blick sind weder Kriterien zu erkennen, die die Setzung des Personal- oder des Demonstrativpronomens bestimmen, noch semantische Unterschiede festzustellen, die mit der Wahl der jeweiligen ProForm einhergehen. Insbesondere in Beispielen wie jenen in (1) und (2) ist man kaum in der Lage, Anhaltspunkte für grammatische Faktoren zu finden, die die Distribution der beiden Pronominalreihen in anaphorischer Funktion steuern. Vielmehr fällt auf, dass die Kontexte, in denen die beiden Pronomen auftreten, inhaltlich und lexikalisch vollkommen identisch sind: Es wird jeweils die Geburt eines Sohnes prophezeit, über den im nachfolgenden Satz eine Aussage getroffen wird. Damit liegt zwar die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um freie Varianten handelt, die ohne einen erkennbaren semantischen Unterschied eingesetzt werden können. Wie aber in Abschnitt 3 zu zeigen sein wird, wäre das nach allem, was wir über Anapherresolution wissen, überraschend. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, ob die Verwendung von Personal- vs. Demonstrativpronomen als Mittel der anaphorischen Referenz im Althochdeutschen tatsächlich optional ist oder bestimmten Regeln unterliegt.
2. Forschungsrückblick Die Frage nach den Parametern, die die Setzung von Personal- und selbständig gebrauchten Demonstrativpronomen im Althochdeutschen bestimmen, ist unseres Wissens in der bisherigen Althochdeutschforschung noch nicht eingehend untersucht worden. Die einschlägigen historischen Standardwerke geben keine Auskunft darüber, dass die Verwendung von Formen der beiden Pronominalreihen in irgendeiner Art und Weise geregelt bzw. mit semantischen Interpretationseffekten verbunden sein kann. Als zentral galt bislang die Frage nach der Herkunft der jeweiligen Flexionsformen. In dieser Tradition steht auch die Arbeit von Lühr (1991), die sich der Entstehung der erweiterten Formen des Demonstrativ- und Relativpronomens denen, deren, derer und dessen im Frühneuhochdeutschen widmet. Es handelt sich dabei ausgerechnet um jene Formen des einfachen Demonstrativpronomens, die sich von den entsprechenden Paradigmen-
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen
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stellen beim bestimmten Artikel (hier den, der, der und des) im heutigen Standarddeutschen unterscheiden. Die Bedingungen für den Gebrauch der Demonstrativa gegenüber dem Personalpronomen werden bei Lühr (1991) aber nicht weiter untersucht. Ähnlich verhält es sich in den Spezialuntersuchungen, die sich insbesondere in jüngster Zeit gezielt mit den Formen der Wiederaufnahme im ältesten Deutsch auseinandersetzen. Der Gebrauch von selbständigen Demonstrativpronomen als Mittel der anaphorischen Referenz wird in einigen von ihnen1 knapp erwähnt, eine semantische Opposition zu der Wiederaufnahme durch Personalpronomen wird jedoch nicht thematisiert. Erst in jüngster Zeit, in der Arbeit von Solf (2008), wird die Frage nach den Parametern gestellt, die für die Setzung des Demonstrativpronomens gegenüber dem Personalpronomen im Althochdeutschen relevant sind. Die dort im Rahmen eines Teils der Studie dokumentierten Beobachtungen werden in der vorliegenden Arbeit erneut aufgegriffen und im größeren Kontext der modernen theoretischen Diskussion zur Anapherresolution erörtert.
3. Er vs. der im Neuhochdeutschen Auch im heutigen Deutschen besteht im Bereich der anaphorischen Wiederaufnahme Varianz zwischen Personal- und selbständig gebrauchten Demonstrativpronomen der dritten Person. Wie die Beispiele in (4) zeigen, ist die Wiederaufnahme des im vorangehenden Satz etablierten Diskursreferenten eine Frau sowohl durch das Personalpronomen sie in (4a) als auch durch das Demonstrativpronomen die in (4b) möglich. Die verwendeten Subskripte zeigen die jeweilige Identität von Referenten an, d.h. gleiche Indizes stehen für die Koreferenz von Antezedens und Anapher: (4)
Paul sah eine Fraui kommen. (4a)
Siei trug einen schwarzen Mantel.
(4b)
Diei trug einen schwarzen Mantel.
Beispiele wie jene in (4) haben zu der Auffassung geführt, dass die beiden Pronominalreihen im heutigen Deutsch weitgehend funktionsidentisch _____________ 1
Valentin (2003, 180f.) erwähnt die anaphorische Wiederaufnahme durch selbständig gebrauchte Demonstrativpronomen bei Otfrid, wobei als Beispiele dafür lediglich Neutra genannt werden, die sich nicht auf konkrete Diskursreferenten beziehen, sondern vorab dargestellte Ereignisse oder Aussagen zusammenfassend bezeichnen. Auch Lefevre (2005, 225) gibt einen kurzen Hinweis auf den anaphorischen Gebrauch von selbständigen Demonstrativa im 17. Jh.
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sind, wobei die Wahl des Demonstrativpronomens als eine vorwiegend für die Umgangssprache typische Erscheinung beurteilt wird. Frühere Ausgaben der Duden-Grammatik geben dazu folgenden Hinweis: „Die Rückweisung im Nominativ, Dativ oder Akkusativ Singular oder Plural durch der usw. statt durch das Personalpronomen wird oft als umgangsprachlich empfunden und in der Literatur stilistisch genutzt“ (1995, 333). Die Wahl zwischen den beiden Pronominalreihen wird damit zu einer Frage des Stils erklärt. In der Neubearbeitung zur siebten Ausgabe der Duden-Grammatik (2006) fehlen Angaben über eine rein stil- bzw. registergesteuerte Verwendung von Personal- vs. Demonstrativpronomina im Gegenwartsdeutschen. Darüber hinaus führen neuere Untersuchungen zur Pronominalresolution wie Abraham (2002), Bosch u.a. (2003, 2007), Bosch und Umbach (2007) Beispiele an, in denen die Wahl von Formen der beiden Pronominalreihen Unterschiede in der Auflösung der Referenzbeziehungen nach sich zieht und damit Einfluss auf die semantische Interpretation der Aussage nimmt. Betrachten wir die Möglichkeiten der pronominalen Auflösung in (5a) vs. (5b): (5)
Pauli wollte mit Peterj laufen gehen, (5a)
aber eri / j war erkältet.
(5b)
aber der*i / j war erkältet. (Vgl. auch Bosch u.a. 2007, 146)
Der Satz in (5a) ist ambig: Obwohl eine klare Präferenz festgestellt wird, das Personalpronomen er auf das Subjekt des vorangehenden Satzes, also auf Paul, zu beziehen, ist ein Bezug durch er auf das Objekt, also auf Peter, ebenfalls möglich. Diese Ambiguität verschwindet, wenn man anstatt des Personalpronomens das Demonstrativum der einsetzt, vgl. (5b). In diesem Fall bezieht sich das Demonstrativpronomen ausschließlich auf denjenigen Referenten, der im Objekt des vorangehenden Satzes realisiert ist, also auf Peter. Dagegen ist ein Bezug von der auf das Subjekt des vorangehenden Satzes, also auf Paul, nicht möglich. Ein Asterisk vor dem jeweiligen Referenzindex in (5b) signalisiert, dass die Referenzidentität zwischen der und Paul blockiert ist. Damit steht fest, dass die Wahl des Pronomens bei Vorliegen mehrerer potentieller Bezugsreferenten Auswirkungen auf die pronominale Resolution haben kann. Die Distribution von Personal- vs. Demonstrativpronomen im heutigen Deutsch ist demnach nicht optional oder registergesteuert. Es steht zu überprüfen, ob im System des ältesten Deutsch ähnliche semantische Effekte zu beobachten sind, die mit der Wahl der jeweiligen Form der anaphorischen Wiederaufnahme verknüpft sind.
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4. Grammatischer Exkurs: Salienz und Anapherresolution Von entscheidender Bedeutung für unsere Fragestellung sind demnach die Faktoren, die für die Wahl von referierenden Ausdrücken im Diskurs verantwortlich sind. Damit ist ein zentraler und hochaktueller Untersuchungsgegenstand der modernen diskursorientierten Linguistik benannt, der in jüngster Zeit zu einer Vielzahl von Lösungsansätzen im Rahmen verschiedener theoretischer Richtungen geführt hat. Ausgangspunkt der Kontroverse um die Prinzipien der Anapherresolution ist die Beobachtung, dass Sprachen über eine Vielzahl von formal unterschiedlichen Mitteln verfügen, um auf ein und dieselbe Entität im Diskurs zurückzuverweisen. Dieses Phänomen bezeichnet man in der heutigen Literatur als Referential Choice. Allen Ansätzen gemeinsam ist dabei die Ansicht, dass zwischen der Form des referierenden Ausdrucks und dem kognitiven Status des Antezedens ein enger Zusammenhang besteht. Die Bandbreite von Ausdrucksformen der anaphorischen Referenz reicht – über die Einzelsprachen hinaus betrachtet – von vollen lexikalischen Phrasen über verschiedene pronominale Mittel bis hin zu NullElementen. Dadurch ergibt sich eine Skala von Ausdrucksmitteln, deren Grad an lexikalischer Explizitheit kontinuierlich abnimmt: (6)
volle definite Phrase > pronominale Mittel > Null-Element
Es wird allgemein angenommen, dass sich die lexikalische Explizitheit der Anapher umgekehrt proportional zum Grad der Aktiviertheit bzw. Zugänglichkeit des Referenten in der jeweiligen Phase im Diskurs verhält: Je weniger aktiviert bzw. zugänglich der Referent eines Ausdrucks ist, desto lexikalisch expliziter ist die Form, mit der er bezeichnet wird. Der Grad der Aktiviertheit bzw. Zugänglichkeit eines Diskursreferenten im gemeinsamen Wissensbereich von Sprecher und Hörer zu einer bestimmten Phase im Diskurs wird mit dem Begriff Salienz bezeichnet. Mit anderen Worten hängt die Form eines referierenden Ausdrucks mit der Salienz des entsprechenden Antezedens zusammen. Auf unser Problem übertragen bedeutet das, dass für die Distribution von Personal- vs. Demonstrativpronomen im Deutschen die Salienzeigenschaften der zugrunde liegenden Bezugsreferenten von Bedeutung sind. Aber welche Faktoren sind für die Ermittlung des Salienzstatus von Diskursreferenten relevant? Genau an diesem Punkt unterscheiden sich die Antworten, die uns die verschiedenen theoretischen Richtungen innerhalb der gegenwärtigen Forschung bieten. Wir geben einen kurzen Überblick über die relevantesten Ansätze und ihre Kernaussagen.
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4.1. Salienz und grammatische Funktion von Ausdrücken Die Centering Theory, eine der Theorien, die sich am intensivsten mit Fragen der Anapherresolution und Salienzskalierung befassen, verbindet die Salienz von Referenten mit der grammatischen Funktion, die der sie bezeichnende Ausdruck im Subkategorisierungsrahmen des regierenden Verbs im vorangehenden Satz einnimmt. Brennan u.a. (1987, 156) schlagen folgende Anordnung von grammatischen Relationen in Hinblick auf die Salienz der in ihnen benannten Diskursreferenten vor: „[F]irst the subject, object, and object2, followed by other subcategorized functions, and finally adjuncts“. Demnach ergibt sich folgende Skalierung von grammatischen Relationen, die den Salienzgrad von Diskursreferenten bestimmen: (7)
Subjekt > Objekt [1] > Objekt [2] > … > Adjunkte
Dieses Schema lässt sich wie folgt interpretieren: Der Referent, der in der grammatischen Funktion des Subjekts realisiert wurde, stellt den salientesten Diskursreferenten für den Folgediskurs bereit. Ihm folgt der Referent des Objekts, das vom lexikalischen Verb, also als Schwester von V°, selegiert wurde. Dieser ist wiederum salienter als der Referent des Objekts, das von einer Zwischenprojektion V’, d.h. von der Verbindung des lexikalischen Verbs mit seinem ersten Objekt, gefordert wurde. Schließlich folgen die Referenten, die in der Funktion von Modifikatoren (Attributen) bzw. Adjunkten (Umstandsangaben) auftreten. Am Beispiel eines dreiwertigen Transferverbs wie dt. geben bedeutet dies, dass hier das Subjekt salienter ist als das direkte Akkusativobjekt, dieses salienter ist als das indirekte Dativobjekt, welches salienter ist als die Referenten in Modifikatoren oder Adjunkten der Aussage, vgl. (8): (8)
Salienzskala der Referenten eines dreiwertigen Transferverbs wie geben: Nom-Subjekt > Direktes Objekt > Indirektes Objekt > Rest
Bezogen auf die Verhältnisse in unserem Ausgangsfall in (1) und (2) bringt dieser Ansatz noch keine entscheidende Lösung mit sich: Es ist unschwer zu erkennen, dass hier verschiedene Formen der anaphorischen Wiederaufnahme für Referenten gebraucht werden, deren Antezedentien ein und dieselbe grammatische Funktion im vorangehenden Diskurs ausüben, nämlich die des direkten Objekts.
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4.2. Salienz und Gegebenheit Ein anderer prominenter Ansatz geht von der Annahme aus, dass der Salienzgrad von Diskursreferenten mit ihrer kognitiven Zugänglichkeit, also mit ihrer Gegebenheit im aktuellen Diskursabschnitt zusammenhängt. Demnach ist für die Salienzskalierung von Bedeutung, ob ein Diskursreferent im gegebenen Kontext eine bereits bekannte oder eine neue Entität darstellt. Doch insbesondere seit der Arbeit von Prince (1981) steht fest, dass die Zugänglichkeit von Referenten kaum mehr mit der traditionellen Dichotomie von gegeben vs. neu erfasst werden kann. Prince macht deutlich, dass dieses Begriffspaar nicht ausreicht, um sämtliche im Diskurs vorkommenden Stufen der kognitiven Aktiviertheit von Referenten zu benennen. Stattdessen wird eine neuartige Typologie vorgeschlagen, die auf der Dreiteilung von gegebener, inferierbarer und neuer Information basiert und darüber hinaus weitere Differenzierungen innerhalb dieser Kategorien unternimmt. Die Begriffe gegeben und neu – oder die jeweiligen Unterklassen dieser Begriffe – stellen damit die Endpole einer skalaren Anordnung von Kategorien dar, die von der expliziten Vorerwähnung im unmittelbar vorangehenden Kontext über verschiedene Arten der Erschließbarkeit aus dem Diskurshintergrund bzw. aus dem Weltwissen der Diskurspartizipanten heraus bis hin zur Neueinführung brandneuer Entitäten reicht. Gundel u.a. (1993) vertreten die Ansicht, dass den unterschiedlichen Gegebenheitsstufen von Referenten im Diskurs unterschiedliche formale Mittel der Wiederaufnahme entsprechen. Sie stellen in Anlehnung an Prince (1981) eine Hierarchie von sechs Gegebenheitsstufen zusammen. Ihnen werden die formalen Mittel zugeordnet, die in einer Vielzahl von Sprachen als Korrelat der jeweiligen Gegebenheitsstufe identifiziert wurden. Die ermittelten Ausdrucksformen reichen von unbetonten Personalpronomen über verschiedene semantische Arten von Definitphrasen bis hin zu Indefinitphrasen, vgl. (9): (9)
The Givenness Hierarchy von Gundel u.a. (1993) in focus >
activated >
familiar >
uniquely identifiable >
{that N}
{the N}
referential >
type identifiable
that {it}
this
{indefinite this N}
{a N}
his N
Es liegt nahe, die von uns untersuchten Mittel der anaphorischen Wiederaufnahme – die Personal- und selbständig gebrauchten Demonstrativpro-
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Svetlana Petrova / Michael Solf
nomen im Deutschen – mit den von Gundel u.a. (1993) vorgesehenen Ausdrücken it und that / this zu identifizieren. Demzufolge stellt das Personalpronomen in der Regel den Bezug auf unmittelbar vorerwähnte, im Mittelpunkt der Auseinandersetzung im Diskurs liegende Entitäten her. Das Demonstrativpronomen nimmt ebenfalls Bezug auf Entitäten, die sich im Kurzzeitgedächtnis der Partizipanten befinden; es kann aber kontextuell ferner liegende Antezedentien wiederaufnehmen bzw. Einheiten bezeichnen, die zwar noch nicht explizit benannt wurden, aber zum unmittelbaren sprachlichen oder außersprachlichen Kontext gehören. Gundel u.a. (1993) räumen jedoch ein, dass jeder referierende Ausdruck aus dem Inventar in (9) nicht nur auf Referenten mit der jeweils zugewiesenen Gegebenheitsstufe verweist, sondern auch auf alle schwächeren Stufen, d.h. auf die Stufen, die sich jeweils links in der Skala befinden. Bezogen auf unseren Untersuchungsgegenstand ergibt sich daraus, dass sich das selbständig gebrauchte Demonstrativum sowohl auf die Gegebenheitsstufe activated als auch auf die links davon eingeordnete Stufe in focus beziehen kann. Mit anderen Worten kann die Wahl eines Demonstrativums als Mittel der anaphorischen Referenz im Diskurs denselben Bedingungen unterliegen, die auch für die Wahl eines Personalpronomens gelten. In unserem Ausgangsfall in (1) und (2) trifft das genau zu: Den Unterschieden auf der Formseite der gewählten Ausdrucksmittel stehen identische Verhältnisse in Hinblick auf den kontextuell rekonstruierbaren Gegebenheitsstatus der Antezedentien gegenüber. Darüber hinaus machen Bosch und Umbach (2007) auf eine Besonderheit im Gebrauch von Personal- und Demonstrativpronomen im Deutschen aufmerksam, die in unmittelbarem Widerspruch zu der von Gundel u.a. (1993) gegebenen Differenzierung der semantischen Eigenschaften von Ausdrucksformen der Stufen activated und in focus steht. Wie (10) zeigt, sind im Deutschen sowohl Personal- als auch Demonstrativpronomen in der Lage, einen Referenten zu benennen, der kein explizites Antezedens im jeweiligen Kontext aufweist, sondern aus der jeweiligen Diskurssituation erschließbar ist. So ist die Verwendung beider ProFormen in (10) auch ohne Vorerwähnung des Referenten möglich, z.B. in der Situation, wenn jemand einen Raum betritt und sieht, dass eine Person versucht, einen vollen Bücherschrank von der Stelle zu rücken: (10) Wenn du die Bücher nicht rausnimmst, kriegst du ihn / den nie von der Stelle. (Vgl. Bosch / Umbach 2007, 47) Demnach muss man nach weiteren Kriterien suchen, um die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede in der Verwendung von Personal- vs. Demonstrativpronomen im Deutschen zu erklären.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen
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4.3. Salienz und Informationsstruktur Bosch und Umbach (2007) gelangen zu der Einsicht, dass für die Ermittlung des Salienzstatus von Diskursreferenten die informationsstrukturelle Gliederung der vorangehenden Äußerung ausschlaggebend ist. Den salientesten Diskursreferenten stellt nach ihnen das bereits etablierte Topik der vorangehenden Aussage bereit.2 Unterschiede in der Referenz anaphorischer Ausdrücke sind demnach dann zu erwarten, wenn der unmittelbar vorangehende Kontext eine klare Topik-Kommentar-Gliederung erkennen lässt und wenn neben dem Topik ein weiterer nicht-topikaler Referent als potentieller Kandidat der Anapherresolution in Frage kommt. Gegenüber früheren Modellen der Salienzskalierung bringt dieser Ansatz Vorteile in mehreren wesentlichen Punkten mit sich. Zum einen sieht er vor, dass auch Nicht-Subjekte den ranghöchsten Diskursreferenten der nachfolgenden Äußerung bereitstellen können, wenn sie bereits als Topik der Aussage etabliert worden sind. Zum anderen ergibt sich hiermit die Möglichkeit, Differenzierungen zwischen mehreren gleichermaßen vorerwähnten Diskursreferenten vorzunehmen, denn in der Regel hat nur einer von ihnen das Topik der vorangehenden Aussage bereitgestellt. Anhand des Faktors Topikalität ermitteln Bosch und Umbach (2007) den relevanten Parameter, der die Distribution von Personal- vs. Demonstrativpronomen im Gegenwartsdeutschen bestimmt. Sie zeigen, dass Demonstrativpronomen eine Präferenz für nicht-topikale Konstituenten aufweisen, unabhängig davon, ob diese als Subjekt oder Nicht-Subjekt der vorangehenden Äußerung fungieren. Einschlägig sind in diesem Zusammenhang die Beispiele in (11a und b). Der Kontext etabliert den Referenten Karl als Topik der nachfolgenden Aussagen, während Peter Teil der assertierten (neu hinzugefügten) Information im Erstkonjunkt von (11a und b) ist und daher in diesen Sätzen nicht als Topik in Frage kommt. In solchen Fällen ist der Bezug des Demonstrativpronomens der auf das Topik Karl grammatisch nicht möglich: (11) Woher Karli das weiß? (11a) Peterj hat es ihmi gesagt. Derj / *i war gerade hier. (11b) Eri hat es von Peterj gehört. Derj / *i war gerade hier. (Vgl. Bosch und Umbach 2007, 48) _____________ 2
Auch Strube und Hahn (1999) vertreten die Ansicht, dass entgegen der ursprünglichen Auffassung der Centering Theory von Brennan u.a. (1987) nicht die grammatische Rolle, sondern vor allem die informationsstrukturellen Eigenschaften des Antezedens für die Salienzermittlung von Bedeutung sind. Strube und Hahn (1999) beschränken sich dabei jedoch lediglich auf den Gegebenheitsstatus des Referenten im Diskurs, was stark in Richtung des bereits diskutierten Ansatzes von Gundel u.a. (1993) rückt.
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Svetlana Petrova / Michael Solf
Der Unterschied in den Referenzeigenschaften von Personal- und Demonstrativpronomen im heutigen Deutsch liegt also darin, dass Demonstrativa ein topikales Antezedens abweisen.3 Folglich nimmt der informationsstrukturelle Faktor Topikalität Einfluss auf den Salienzgrad der Referenten im Diskurs. 4.4. Salienz und Diskursstrukturierung Aber wie lange gilt der hohe Salienzstatus eines bereits etablierten Topiks im Diskurs? Wie verhalten sich bereits etablierte Topik-Referenten im Rahmen größerer Diskursabschnitte, z.B. über Episoden- und Kapitelgrenzen hinweg? Eine Antwort darauf vermitteln uns Ansätze, die bei der Salienzbewertung nicht nur die Eigenschaften des Antezedens, sondern auch den Aufbau des Diskurses berücksichtigen wollen. Ein solches Modell haben Grüning und Kibrik (2005) vorgestellt. Es kann deshalb als ein multifaktorielles Modell der Salienzbewertung bezeichnet werden, weil es nicht die Isolierung bzw. die Identifikation eines einzelnen relevanten Parameters der Salienzskalierung in den Vordergrund stellt, sondern davon ausgeht, dass verschiedene Parameter bei der Salienzbewertung von Diskursreferenten interagieren. Grüning und Kibrik (2005) differenzieren folgende zwei Gruppen von salienzsteuernden Faktoren:
_____________ 3
Als Folge dieser Generalisierung ergibt sich Abrahams Beobachtung, dass Demonstrativa als Anaphern von Pronomen generell unnatürlich sind. In (1)-(2) sind durch die jeweiligen Pronomen im Zweitkonjunkt jeweils verschiedene Referenten des Erstkonjunkts als Topiks instantiiert. In beiden Fällen ist ein Verweis auf diese Topiks durch das Demonstrativpronomen im Drittkonjunkt ausgeschlossen: (1) Hansi traf Alfonsj. Eri trug einen Regenmantel. Der*i fror trotzdem. (2) Hansi traf Alfonsj. Derj trug einen Regenmantel. Der*j fror trotzdem. (Abraham 2002, 461).
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•
Eigenschaften des Antezedens: Zu nennen sind dabei die weiter oben erläuterten Faktoren wie Gegebenheit, grammatische Funktion‚ Topikalität4 usw.5
•
Eigenschaften des Diskursaufbaus: die Einteilung des Textes in Episoden, Abschnitte, Kapitel etc.
Ausschlaggebend ist der Gedanke, dass der Beginn einer neuen Diskurssequenz den Salienzstatus von Referenten senkt, d.h. die Salienz eines Referenten minimiert, selbst wenn alle anderen Faktoren für einen hohen Salienzstatus des Referenten aus der Beschaffenheit des vorangehenden Satzes zutreffen. Im konkreten Fall bedeutet das, dass ein Referent, der im vorangehenden Diskurs als Topik der Aussage fungiert, mit Beginn einer neuen Diskurssequenz den Wert des salientesten Diskursreferenten verliert, was sich in der Wahl der formalen Mittel niederschlagen kann, mit denen auf ihn zurückverwiesen wird. Wir wenden uns nun vor diesem Hintergrund den althochdeutschen Daten zu und versuchen die Faktoren zu bestimmen, die die Wahl anaphorischer Pronomen im Diskurs bedingen können.
5. Setzung anaphorischer Pronomen im Althochdeutschen 5.1. Übersetzungsgleichungen selbständiger Pronomen Angesichts der Entstehungsgeschichte der meisten Texte liegt zunächst die Frage nahe, ob die Wahl althochdeutscher Pronomen entscheidend von lateinischen Vorbildern abhängen könnte. Tatsächlich finden wir auf den ersten Blick systematische Entsprechungen von Pronominalreihen, deren Regelmäßigkeit von Pronomen zu Pronomen allerdings schwankt. Den lateinischen Pronomen is, ille, ipse, iste und hic stehen im Althochdeutschen das Personalpronomen und das Demonstrativpronomen (ther, dazu die erweiterte Form theser) gegenüber. Dabei fällt auf, dass die Pronomen _____________ 4
5
Grüning und Kibrik (2005) gehen von einem Faktor Protagonistship aus. Wir wollen in diesem Rahmen nicht die Frage vertiefen, inwiefern Protagonistship und Topikalität im Einzelnen übereinstimmen. Wir setzten hier eine grundsätzliche konzeptuelle Gemeinsamkeit zwischen Protagonistship und Topikalität voraus. Grüning und Kibrik (2005) betrachten die Belebtheit von Referenten ebenfalls als einen relevanten Faktor für die Bewertung der Salienzeigenschaften von Referenten. Wir beschränken uns in unserer Studie auf belebte Referenten, weshalb die Literatur zu diesem Faktor ausgeklammert bleibt. Wir verweisen dennoch darauf, dass neueste psycholinguistische Studien zum Erwerb anaphorischer Mittel den Faktor Belebtheit als bei der Anapherresolution entscheidend bewerten, vgl. Kühnast (2007).
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is, ille und ipse in der Regel durch ein althochdeutsches Personalpronomen wiedergegeben werden: (12) lat. ahd.
& Interrogauerunt eum / discipuli sui. Inti fragetun Inan / sine Iungiron. (T 220, 14-15)
(13) lat. ahd.
non noui illum neque scio / quid dicas. niuueiz ih inan noh ih niuueiz / uuaz thu quidis. (T 300, 4-5)
(14) lat. ahd.
ipsum uero non Inuenerunt inan giuuesso nifunden. (T 331, 16)
Besonders häufig ist das üblicherweise anaphorisch genannte is, das, wenn es selbständig steht, nur in wenigen Ausnahmen nicht einem althochdeutschen Personalpronomen entspricht. Etwa halb so häufig tritt ille auf, das diese Entsprechung in etwa vier Fünfteln der Fälle zeigt. Einen Sonderfall stellt das noch einmal etwa halb so häufige ipse dar, das erwartungsgemäß in einem großen Teil der Fälle mit selb- übersetzt wird. Diesen Entsprechungen stehen die Gleichungen von hic und iste gegenüber, die nahezu ohne Ausnahme mit althochdeutschen Demonstrativpronomen wiedergegeben werden: (15) lat. ahd.
nolumus hunc regnare / super nos. niuuollemes thesan rihhison / obar unsih. (T 264, 16-17)
(16) lat. ahd.
sicut unum ex istis só ein fon thesen (T 70, 30)
Diese Gruppe wird vor allem von hic repräsentiert, während iste in den lateinischen Vorlagen nur in einer Handvoll Stellen überhaupt vorkommt. Dass die Übersetzungsgleichungen nicht rein formal, sondern funktional zu verstehen sind, zeigt nun die Beobachtung, dass die Entsprechungen regelmäßigen Abweichungen unterworfen sind. So entsprechen selbstverständlich attributiv verwendete Pronomen im Lateinischen immer einem formalen Demonstrativpronomen im Althochdeutschen (17). Das gleiche gilt für Antezedentien von Relativsätzen (18): (17) lat. ahd.
Ab illo ergo die / cogitauerunt Interficere eum fon themo tage / thahtun erslahan Inan (T 234, 22-23)
(18) lat. ahd.
ís / qui te & illum uocauit ther / ther thih Inti inan giladota (T 180, 17-18)
Stellt man diese Ausnahmen in Rechnung, wird die Teilung der selbständigen Pronomen in zwei Gruppen umso deutlicher: Während is, ille und ipse mit einem Personalpronomen übersetzt werden, entsprechen hic und iste einem Demonstrativpronomen.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen
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Die Frage, ob man die Ursache dafür in der Semantik der lateinischen Pronomen suchen darf, liegt nahe, wird aber durch die Tatsache erschwert, dass diese in der Spätantike, aus der die Vorlagen in der Regel stammen, erstens keine muttersprachliche Grundlage mehr besitzen und sich zweitens in den gesprochenen Volkssprachen in einer differenzierten Entwicklung befinden, die mit der Herausbildung des Artikels in den romanischen Sprachen zugleich das deiktische System der Demonstrativpronomen neu ordnet. Vor diesem Hintergrund überrascht einerseits die Regelmäßigkeit der Entsprechungen in der räumlich und zeitlich ja weit auseinander gezogenen althochdeutschen Überlieferung. Da andererseits Abweichungen nur sehr selten sind, liegt die Annahme nahe, dass ein Übersetzer von einer durch lange Übung erworbenen Gleichung nur dann abweichen wird, wenn seine Muttersprache eine stärker motivierte Regel dagegenstellt. 5.2. Bestimmung der Salienz von Antezedentien althochdeutscher Pronomen Um diese Regel zu erkennen, müssen geeignete kritische Kontexte einer Durchsicht unterzogen werden. Wie wir schon gesehen haben, müssen wir bei eindeutiger Auflösung von Anaphern bei nur einem möglichen Referenten mit einer gewissen stilistischen Varianz rechnen. Für die Frage der Auflösung von Anaphern sind geeignete kritische Kontexte deshalb in erster Linie solche, in denen mindestens zwei verschiedene potentielle Kandidaten für einen Bezug denkbar sind. Dazu sollen die Salienzeigenschaften der Antezedentien althochdeutscher Pronomen und die informationsstrukturelle Gliederung der vorangehenden Aussage untersucht werden. Mit Rücksicht auf die oben diskutierten Ansätze wird dabei angenommen, dass ein Diskursreferent salienter als ein anderer ist, wenn er •
das Topik der vorangegangenen Aussage ist, was voraussetzt, dass diese überhaupt eine Topik-Kommentar-Gliederung besitzt, oder
•
im gegebenen Kontext eine bereits bekannte Entität darstellt und / oder
•
grammatisch prominenter ist, wobei weiter angenommen wird, dass Subjekte prominenter sind als direkte Objekte, diese prominenter als indirekte Objekte, gefolgt von Modifikatoren und Adjunkten.
Da mit einer gewissen Abhängigkeit von lateinischen Mustern gerechnet werden muss, soll die Evidenz abweichender Übersetzungsgleichungen besondere Gewichtung erfahren.
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5.2.1. Ahd. Personalpronomen Ein klares Bild ergibt sich in der Regel, wenn wir die Antezedentien althochdeutscher Personalpronomen betrachten: (19) lat.
ahd.
& erat plebs expectans zachariam / & mirabantur quod tardar& ipse in templo./ egressus autem ø non poterat loqui ad illos / & cognouerunt quod uisionem ø uidiss& In templo. Inti uuas thaz folc beitonti zachariam / Inti uuvntorotun thaz her lazz&a in templo. / heruzgangenti nimohta sprehhan zi in / Inti forstuontun thaz her gisiht gisah In templo (T 27, 22-25)
Unter den aktuellen Diskursreferenten, Zacharias und dem vor dem Tempel wartenden Volk, ist es der erstere, der im vorangehenden Diskurs bereits als Topik etabliert worden war (Kriterium 1). Er wird hier durch ein Personalpronomen aufgenommen, und zwar auch dann, wenn dem Übersetzer aufgrund des Fehlens einer lateinischen Entsprechung ein Spielraum zur Verfügung steht. Zwar ist auch der zweite Diskursreferent schon bekannt (Kriterium 2), aber das Personalpronomen verweist hier auf Zacharias, den salientesten Diskursreferenten, der bereits im unmittelbar vorangegangenen Kontext aktiviert war. Dieses in Konkurrenzsituationen immer wiederkehrende Muster zeigt sich besonders deutlich dort, wo ausnahmsweise und entgegen der ganz herrschenden Übersetzungsgleichung ein Personalpronomen für ein lateinisches Demonstrativpronomen steht: (20) lat. ahd.
Nonne hic est qui sedebat / & mendicabat. alii dicebant / quia hic est eno niist thiz ther thie thar sáz / Inti b&olata. andere quadun /
her ist íz (T 221, 3-5) Die Menge fragt sich angesichts eines von Blindheit Geheilten, ob es sich dabei um einen bereits allen bekannten Bettler handelt. Dieser erweist sich im Kontext als Topik der vorangegangenen Aussagen. Hier, wo das lateinische Demonstrativpronomen die Setzung eines althochdeutschen Demonstrativpronomens herausfordert, ist die Wiederaufnahme durch ein Personalpronomen also nur möglich, weil wir es bereits mit dem salientesten Diskursreferenten der vorangegangenen Aussage zu tun haben.
Pronominale Wiederaufnahme im Althochdeutschen
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5.2.2. Ahd. Demonstrativpronomen Das Demonstrativpronomen finden wir regelmäßig in davon vollkommen verschiedenen Kontexten. Betrachten wir dazu einen typischen Fall am Beispiel einer Stelle, die, wie es zunächst den Anschein hat, treu dem lateinischen Vorbild folgt. Wie gesagt, entspricht das lateinische Pronomen hic praktisch immer einem althochdeutschen Demonstrativpronomen, so auch hier: (21) lat. ahd.
defunctus / efferebatur. filius unicus / matris suæ. 2& hæc uidua erat. 1ecce
1senu 2Inti
arstorbaner / uúas gitragan einag sun / sinero muoter
thiu uuas uuituuua (T 84, 22-24)
Hier treffen wir auf zwei Referenten, die im ersten Satz des Beispiels als neu in den Diskurs eingeführt werden. Diesem Präsentationssatz fehlt eine klare Topik-Kommentar-Gliederung; damit wird also auch kein Topik etabliert (Kriterium 1). Der Bezug auf Nicht-Topiks ist nun für selbständige Demonstrativpromonina besonders augenfällig, allerdings ist dieses Kriterium in unserem Fall für eine Entscheidung über die Auflösung der Anapher noch nicht hinreichend. Da beide Referenten neu eingeführt werden, unterscheiden sie sich auch nicht in Bezug auf eine Eigenschaft ‚Gegebenheit‘ (Kriterium 2). Für eine Entscheidung über die Salienzeigenschaften bleibt uns hier nichts als die Gewichtung der Ausdrücke über die Funktionen, die sie im Subkategorisierungsrahmen des regierenden Verbs im ersten Satz ausfüllen (Kriterium 3). In dieser Hinsicht nun liegen die Unterschiede auf der Hand: Einag sun 'einziger Sohn' ist Subjekt der vorangegangenen Aussage, sinero muoter 'seiner Mutter' ein dazugehöriges Genitivattribut, ein gemäß unserer Annahme grammatisch weniger prominenter Modifikator. Wir dürfen also schließen, dass in der vorausgehenden Aussage sun der gegenüber muoter salientere Diskursreferent ist. Das Pronomen des folgenden Satzes ist nun morphologisch und kontextuell eindeutig mit sinero muoter in Verbindung zu bringen. Bemerkenswert ist, dass sich der Übersetzer dazu des Demonstrativpronomens bedient, das hier also erstens auf ein Nicht-Topik und zweitens auf den in der vorangegangenen Aussage weniger prominenten Kandidaten verweist. Überprüfen wir diese aufgrund der möglichen Lateinabhängigkeit der Stelle unsichere Aussage pars pro toto an zwei aussagekräftigeren Differenzbelegen, zunächst an einem der wenigen Beispiele, in denen ein selbständiges ille mit einem althochdeutschen Demonstrativpronomen wiedergegeben wird:
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(22) lat. ahd.
& desideria patris uestri uultis facere. / ille homicida erat ab Initio. Inti lusta Iúuares fater uuoll& Ir tuon. / ther uuas manslago fon anaginne. (T 218, 20-21)
In (22) treffen wir auf eine vergleichbare Situation: Ein Vater, der Leibhaftige, und seine Nachkommenschaft stellen die Diskursreferenten des Abschnittes und sind bereits im voranstehenden Textabschnitt eingeführt worden. Dennoch befindet sich einer der beiden in einer schwächeren grammatischen Position: Während ir für das Subjekt des Satzes steht, ist Iúuares fater wiederum als Genitivattribut ein vergleichsweise niedrigrangiger Modifikator. Hier, wo eine Lateinabhängigkeit der Pronomenwahl ausgeschlossen ist, entscheidet sich der Übersetzer wie in (21) für ein Demonstrativpronomen, um auf den in der vorangegangenen Aussage weniger prominenten Diskursreferenten zu verweisen, und ihn damit zugleich als Topik der Folgeaussage zu etablieren. Das folgende vergleichbare Beispiel bietet insofern noch einmal gesteigerte Evidenz für die grundsätzliche Vermutung, dass Demonstrativpronomina in Konkurrenzsituationen auf den weniger salienten Diskursreferenten verweisen, weil die lateinische Vorlage an der entscheidenden Stelle gar kein Pronomen enthält, der althochdeutsche Übersetzer also frei entscheiden konnte, ob und welches Pronomen gesetzt werden soll: (23) lat. ahd.
abiit ad eum & rogabat eum / ut descender& & sanar& / fili um eius. ø Incipiebat enim mori. gieng zi imo inti bát inan / thaz her nidarstigi inti heilti / sinan sún ther bigán thó sterban (T 90, 14-16)
Hier sind sogar drei Diskursreferenten im Spiel: Ein Vater, dessen Sohn, schließlich Jesus als Heiler. Das Demonstrativpronomen im Folgesatz referiert hier, wie aus dem Kontext erhellt, auf den sterbenden Sohn. Dieser ist weder Topik der vorangegangenen Aussage (Kriterium 1) noch, anders als die beiden anderen Diskursreferenten, überhaupt vorher gegeben (Kriterium 2), sondern wird erst mit dieser Aussage in den Diskurs eingeführt. Dazu kommt, dass sich sinan sún als direktes Objekt des regierenden Verbs der vorangegangenen Aussage in einer grammatisch weniger prominenten Stellung befindet (Kriterium 3). Auch hier referiert das Demonstrativpronomen also auf den am wenigsten salienten unter den in Frage kommenden Diskursreferenten. Da die Anapher, die den Singular eines Maskulinums signalisiert, ihrer Form nach nicht eindeutig aufzulösen wäre, kommt der Entscheidung für das Demonstrativpronomen hier eine gewisse Bedeutung für das Verständnis der Stelle zu. Diesen letzten Aspekt soll ein weiteres instruktives Beispiel verdeutlichen:
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(24) lat.
ahd.
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Mittet filius hominis angelos suos, et colligent de regno eius omnia scandala et eos qui faciunt iniquitatem, et mittent eos in caminum ignis. Sentit mannes sunu sine angila enti samnont fona sinemo rihhe alle dea (a)suuihi enti dea ubiltatun enti tuoit dea in fyures ouan (MF X, 3-5)
Als Diskursreferenten treten auf: Jesus, seine Engel und die Bösen und Übeltäter. „Der Menschensohn sendet seine Engel aus, und sie sammeln aus seinem Reich alle die Bösen und die Übeltäter, und er wirft diese in den Feuerofen.“ Diese Stelle ist durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet: Erstens weicht der althochdeutsche Text im letzten Halbsatz von der lateinischen Vorlage insofern ab, als er die Rolle des Agens abweichend besetzt: Hier ist es Gott selbst, der dea in den Feuerofen wirft. Im lateinischen Text, durch den Plural des Verbs deutlich, ist es eine Mehrheit, die eos in dieser Weise bestraft. Zwar ist streng genommen auch hier nur durch den Kontext klar, dass die Engel die Übeltäter in den Feuerofen werfen und nicht umgekehrt; der Kontext stellt den richtigen Bezug aber ohne weiteres her. Die zweite Besonderheit der althochdeutschen Übersetzung dieser Stelle besteht nun darin, dass hier ausnahmsweise ein dea einem lateinischen eos entspricht, einer der seltenen Fälle, in denen das lateinische anaphorische Pronomen im Althochdeutschen durch ein Demonstrativpronomen wiedergegeben wird. Offenkundig verwendet der Übersetzer gerade dieses Pronomen, um ein Missverständnis zu vermeiden. Betrachtet man nämlich die Salienzverhältnisse der Diskursreferenten, fällt auf, dass sich das Demonstrativpronomen wiederum auf den am wenigsten salienten Diskursreferenten bezieht: Lassen wir die Frage der Gegebenheit offen, so kommen doch alle dea (a)suuihi enti dea ubiltatun am wenigsten unter den drei möglichen Kandidaten für die Position des Topiks der vorangegangenen Aussage in Betracht. Die Engel allerdings haben dort Subjektstatus, die Übeltäter Objektstatus, eine schwächere grammatische Position, die nach unseren Annahmen auch nachgeordnete Salienz mit sich bringt. Dem Übersetzer bleibt nun zum Verweis auf diesen schwächeren Kandidaten nur mehr das Demonstrativpronomen, um eine Irritation seiner Leser zu vermeiden, dieselbe, die auch wir noch empfinden, wenn wir an dieser Stelle mit einem Personalpronomen übersetzen: „Der Menschensohn sendet seine Engel aus, und sie sammeln aus seinem Reich alle die Bösen und die Übeltäter, und er wirft sie in den Feuerofen.“
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5.2.3. Exkurs: Relativpronomen im relativischen Anschluss Die eben aufgezeigte Funktion von Demonstrativpronomina im Althochdeutschen, den Salienzstatus von Diskursreferenten zu erhöhen, kommt bei einer Beleggruppe besonders stark zur Geltung, wo der althochdeutschen Pro-Form ein lateinisches Pronomen der Reihe qui, quae, quod entspricht. Die syntaktische Bestimmung solcher Konstruktionen ist notorisch schwierig, da sie sowohl als Relativsätze, die durch ein Demonstrativpronomen eingeleitet sind, als auch als selbständige Folgekonjunkte mit Hauptsatzstatus interpretiert werden können. Diese zwei Lesarten werden in den neuhochdeutschen Übersetzungen in (25a) und (25b) wiedergegeben: (25) lat. ahd.
Iudex quidam erat In quadam cuiuitate/ qui deum non timebat sum tuomoi uuas In sumero burgi/ theiri niforhta got (T 200, 31-32)
(25a) Ein Richter war in einer Stadt, der sich vor Gott nicht fürchtete. (Relativsatz) (25b) Ein Richter war in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott. (selbständiges Folgekonjunkt) Ein besonderes Merkmal der althochdeutschen Belege dieser Gruppe liegt darin, dass sie die Zweitstellung des finiten Verbs aufweisen, selbst wenn das Latein ein anderes Wortstellungsmuster vorgibt, wie etwa die Endstellung in (25). Aber die Verbstellung allein ist kein hinreichendes Kriterium, wenn über den Haupt- oder Nebensatzstatus dieser Sätze zu entscheiden ist. Denn auch bei eindeutig als Relativsätze zu bestimmenden Strukturen ist im Althochdeutschen eine Früherstellung des finiten Verbs – auch gegen das Latein – nicht ausgeschlossen, wie das im freiem Relativsatz in (26) der Fall ist: (26) lat. ahd.
beati pacifici salige sint thiethar sint sibbisame (T 60, 16)
Weitere Hinweise zur Interpretation der althochdeutschen Struktur in (25) finden wir in der gegenwärtigen Forschung zu relativsatzähnlichen Strukturen mit Verb-Zweit-Stellung im Neuhochdeutschen, wo sie in Opposition zu kanonischen Relativsätzen mit Endstellung des finiten Verbs stehen, vgl. (27) aus Endriss / Gärtner (2005): (27a) Das Blatt hat eine Seite, die ganz schwarz ist. (kanonischer Relativsatz) (27b)Das Blatt hat eine Seite, die ist ganz schwarz. (V2-Relativsatz)
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Endriss und Gärtner (2005), die sich mit der Varianz der beiden Konstruktionen im Neuhochdeutschen eingehend beschäftigen, haben folgende Bedingungen ermittelt, unter denen die relativsatzähnliche Verb-ZweitStruktur möglich ist: •
Ein Verb-Zweit-Relativsatz ist nur als rechtsextraponierter Nachsatz möglich, nicht jedoch, wenn er im Mittelfeld eines Hauptsatzes steht, vgl. (28a) vs. (28b); Letzteres ist für einen kanonischen VerbEnd-Relativsatz durchaus möglich, vgl. (28c).
•
Ein Verb-Zweit-Relativsatz muss durch ein d-Relativum eingeleitet werden, nicht aber durch ein w-Relativum, vgl. (29a); dabei kann ein d-Relativum im V2-Relativsatz durch das Adverbial da ersetzt werden, vgl. (29b). (28a) Die Apfeldorfer haben viele Häuser gebaut, die stehen heute leer. (28b) *Die Apfeldorfer haben viele Häuser, die stehen heute leer, gebaut. (28c) Die Apfeldorfer haben viele Häuser, die heute leer stehen, gebaut. (29a) *Es gibt Länder, wo kostet das Bier ein Vermögen. (29b) Es gibt Länder, da kostet das Bier ein Vermögen.
Ferner zeigen Endriss und Gärtner (2005), dass auch bestimmte Bedingungen im vorangehenden Satz erfüllt sein müssen, damit ein Verb-ZweitRelativsatz möglich ist: •
Der vorangehende Satz muss ein affirmativer Deklarativsatz sein; vgl. (30a-b) vs. (30c).
•
Das Antezedens des d-Relativums muss einen Diskursreferenten benennen, auf den anaphorischer Bezug im Folgesatz möglich sein soll6; vgl. (30c) vs. (30a) und (30d).
•
Der vorangehende Satz hat für sich genommen einen geringen Mitteilungswert und wird erst durch die Information im Folgesatz
_____________ 6
Im Idealfall ist das Antezedens des d-Relativums ein Indefinitum, vgl. eine Frau in (30c). Es kann aber u.U. auch ein sog. indefinites Demonstrativum sein, also eine definit gekennzeichnete Phrase, die jedoch weder einen explizit vorerwähnten Diskursreferenten noch eine im Kontext zugängliche Entität benennt, vgl. Endriss und Gärtner (2005): „Im Sommer gab es plötzlich diesen Moment, da klappte einfach alles.“
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komplettiert; u.U. führt die isolierte Verwendung des Erstkonjunkts zur Ungrammatikalität,7 vgl. (31a) vs. (31b). (30a) *Ich kenne keine Frau, die besitzt ein Pferd. (30b)*Kennst du eine Frau, die besitzt ein Pferd? (30c) Ich kenne eine Frau, die besitzt ein Pferd. (30d) *Ich kenne jede Frau, die besitzt ein Pferd. (31a) Das Blatt hat eine Seite, die ist ganz schwarz. (31b)*Das Blatt hat eine Seite. Die ist ganz schwarz. Es kann gezeigt werden, dass die o.g. Bedingungen auch für die relativsatzähnlichen Verb-Zweit-Strukturen im Althochdeutschen gelten. Auch hier haben wir es mit Nachsätzen zu tun, die einem affirmativen Deklarativsatz mit schwachem Eigenwert nachfolgen. Die Hauptgruppe der Erstkonjunkte sind Präsentationssätze oder Existentialkonstruktionen, die eine Diskursentität als Topik eines nachfolgenden Konjunkts bereitstellen. Die Antezedentien der Relativeinleiter sind in Form von Indefinita realisiert, vgl. (32): (32) lat. ahd.
& ecce homo erat In hierusalem.’/ cui nomen simeon senonu tho uuas mani In hierusalem / thesi namo uuas gihezzan simeon (T 37, 23-24)
Wenn die relativsatzähnlichen Verb-Zweit-Strukturen im Althochdeutschen die grammatischen und distributionellen Eigenschaften ihrer neuhochdeutschen Entsprechungen aufweisen, so liegt es nahe zu behaupten, dass sie ihnen nicht nur formal, sondern auch funktional gleichstehen. Bezüglich der neuhochdeutschen Konstruktion schlagen Endriss und Gärtner (2005) folgende Funktionsbestimmung vor: Die relativsatzähnlichen Verb-Zweit-Strukturen sind – anders als die kanonischen Verb-EndRelativsätze – keine abhängigen Sätze, sondern selbständige Konjunkte, die mit einem Demonstrativpronomen eröffnet sind, wobei dieses mit dem d-Relativpronomen formal übereinstimmt. M.a.W. liegt eine parataktische Verbindung zweier selbständiger Konjunkte vor, wobei die Funktion des Folgekonjunkts darin besteht, ein Kommentar über das im Erstkonjunkt etablierte Vor-Topik abzugeben. Die Leistung relativsatzähn_____________ 7
Wir wissen, dass ein Blatt immer zwei Seiten hat. Daher ist der Inhalt des Erstkonjunkts als selbständige Aussage nicht möglich. Man kann nicht behaupten, dass ein Blatt nur eine Seite hat.
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licher Verb-Zweit-Sätze im Neuhochdeutschen liegt folglich im Bereich der Topikauszeichnung. Ähnliches muss für die althochdeutschen Entsprechungen gelten, falls wir von einem identischen Konstruktionstyp ausgehen. Die satzeröffnende Pro-Form ist in diesem Fall kein Relativpronomen, sondern ein selbständig gebrauchtes Demonstrativpronomen in einem parataktisch angeschlossenen Hauptsatz, dessen Leistung darin besteht, ein Vor-Topik im vorangehenden Diskurs wieder aufzunehmen und es erstmalig als Topik einer Aussage zu realisieren. 5.2.4. Stilistische Schwankungen Wie gesagt ist bei der Wahl zwischen Personal- und Demonstrativpronomen im Althochdeutschen in den Übersetzungstexten tatsächlich eine gewisse Abhängigkeit vom lateinischen Vorbild zu beobachten. Der Grad der Abhängigkeit schwankt von Pronomen zu Pronomen, und gerade dort, wo die Auflösung der Anapher mangels eines zweiten potentiellen Referenten im Kontext eindeutig ist, finden wir bei gleicher Struktur der Vorlage durchaus eine gewisse Variation der lexikalischen Mittel: (33) lat. ahd.
Beati misericordes / quoniam ipsi misericordiam consequentur. salige sint thiethar sint miltherze / uuanta sie folgent miltidun
(34) lat. ahd.
Beati mundo corde / quoniam ipsi deum uidebunt salige sint thiethar sint subere in herzon /uuanta thie gisehent got (T 60, 12-15)
Die Seligpreisungen der Bergpredigt, die in (33) und (34) ausschnittsweise wiedergegeben werden, stellen dafür ein instruktives Beispiel dar. Personal- und Demonstrativpronomen können hier, wie es scheint, ohne Unterschied in ihrer Leistung bei der Wiederaufnahme verwendet werden: Beispiel (33) zeigt ein Personalpronomen, Beispiel (34) ein Demonstrativpronomen. Trotz gleicher Vorlage (ipse), trotz gleicher Kontextbedingungen beobachten wir hier eine Varianz, die die Frage, ob die Wahl der Pronomen auch eine Stilfrage ist, eindeutig beantwortet: Offenkundig ist das so. Wie wir gesehen haben, gibt es allerdings Kontexte, in denen die Wahl des Pronomens spezifischen Zwecken dient. Das gilt übrigens nicht nur für die Fälle der Übersetzungsgleichungen, sondern auch für diejenigen Stellen, an denen im Lateinischen gar kein Pronomen steht und der althochdeutsche Übersetzer sich für ein Pronomen entscheiden muss oder will:
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(35) lat. ahd.
Beati pacifici / quoniam ø filii dei uocabuntur. Salige sint thiethar sint sibbisame / uuanta sie gotes barn sint ginennit (T 60, 16-17)
Gibt es also einerseits Bereiche, in denen unser Instrument zur Auswahl von Referenten seine Wirksamkeit nicht entfalten kann und deshalb auch nicht funktional verwendet wird, müssen wir andererseits damit rechnen, dass das beobachtete Muster mit anderen Mitteln zur Anaphernauflösung konkurriert. Bei Otfrid etwa finden wir auch in kritischen Kontexten unerwartete Personalpronomen: (36) Drof ni zuívolot ir thés, bigínnit er es náhtes,/ ni er blíntilingon wérne joh séro firspúrne! / Mír“, quad er, „so fólge ther réhto gangan wólle [...] (O III, 23, 37-39) Zweifelt nicht weiter daran: Er sollte es nicht nachts beginnen, dass er sich nicht wie ein Blinder abmühe und vollkommen fehlgehe! Mir, sprach er, folge nach, wer recht gehen will.
Das Personalpronomen er bezieht sich hier nacheinander auf zwei verschiedene Diskursreferenten. Eine Zuweisung zum richtigen Antezedens ist nur dem weiteren Kontext zu entnehmen. Auch in anderen Fällen gewährleisten nur die grammatischen Kategorien der Pronomen und der Kontext eine korrekte Auflösung der Anapher – allerdings selbst dort, wo der Widerspruch zu den gerade angestellten Überlegungen so deutlich ausfällt wie im folgenden Beispiel: (37) Gisah tho drúhtin einan mán blíntan gibóranan;/ wás er fon gibúrti in thera selbun úngiwurti. (O III, 20, 1–2) Jesus sah da einen Mann, einen blind geborenen / der war von Geburt an in dieser traurigen Lage.
Diese Sequenz steht am Anfang eines neuen Kapitels, führt mit drúhtin und einem mán blíntan gibóranan das Personal des Abschnittes ein und zeigt als Präsentationssatz deshalb wohl auch keine Topik-KommentarGliederung. Unter den beiden Diskursreferenten ist es lediglich druhtin, der im Kontext des vorangegangenen Abschnittes Erwähnung findet. Dazu kommt, dass drúhtin als Subjekt der Aussage eine verhältnismäßig starke grammatische Position einnimmt. Wir würden also erwarten, dass das anaphorische Personalpronomen auf ihn referiert. Tatsächlich nimmt es den mán blíntan gibóranan wieder auf, der hier nicht nur neu eingeführt wird, sondern sich vor allem als direktes Objekt in einer schwächeren grammatischen Position befindet. Das heißt nicht, dass Otfrid keine sprachlichen Mittel kennen würde, um im Zweifelsfall saliente und weniger saliente Diskursreferenten zu
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unterscheiden. Dazu gehört beispielsweise das auch in anderen Texten auffällige Auftreten einer Diskurspartikel thô, so oder thar neben Pronomen, die sich auf weniger saliente Referenten beziehen: (38) Er ékrodi thaz wésti sar zi théru fristi,/ thia úmmaht thia er thar thóleta, then er so mínnota. (O III, 23, 17-18) damit er (Jesus) das dort sogleich erfahren würde, die Krankheit, die der (Lazarus) erduldete, den er (Jesus) so liebte.
Wir beobachten also mit Sicherheit das Nebeneinander verschiedener Systeme im Althochdeutschen und damit den gelegentlichen Verzicht auf die Möglichkeit, schon mit der Wahl des Pronomens Unterschiede in den Salienzeigenschaften von Diskursreferenten zu verdeutlichen. Grundsätzlich ist überall mit einer Funktionsteilung durch verschiedene sprachliche Instrumente und einer gewissen Breite an stilistischen Schwankungen zu rechnen.
6. Schlussfolgerung Wenn wir anfangs die Frage gestellt haben, was die Wahl des einen oder anderen referierenden Ausdrucks im Diskurs regelt, so können wir jetzt sagen, dass die Form des Pronomens im Althochdeutschen grundsätzlich von den Eigenschaften des Antezedens abhängt, und zwar in der Weise, dass Demonstrativpronomen einen niedrigeren Salienzgrad der in Bezug genommenen Diskursreferenten kennzeichnen. Personalpronomen nehmen in Konkurrenzsituationen in einem Teil der untersuchten Daten ein bereits etabliertes Topik auf. Demonstrativpronomen beziehen sich dagegen in der Regel auf Diskursreferenten, die nicht Aboutness-Topik der vorangegangenen Aussage sind. Die Entscheidung für Personal- oder Demonstrativpronomen wird also in kritischen Kontexten durch informationsstrukturelle Mechanismen gesteuert. Sie ist keine bloße Stilfrage, sondern ein Instrument zur korrekten Auflösung von Anaphern. Dieses Ergebnis deckt sich mit den wesentlichen Beobachtungen von Bosch und Umbach (2007) über die Verteilung von Pro-Formen im Neuhochdeutschen und belegt den konstanten Einfluss der Informationsstruktur in der Geschichte der deutschen Sprache.
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Als Deutsch noch nicht OV war Althochdeutsch im Spannungsfeld zwischen OV und VO *
Oliver Schallert (Marburg)
1. Einleitung 1.1. Der Forschungsstand zur Syntax des Ahd. Die Forschungslage zur Syntax des Althochdeutschen (8. / 9. bis 11. Jh.) ist durch eine recht paradoxe Situation gekennzeichnet: Global betrachtet, d.h. rein bezogen auf die Anzahl der verfügbaren Arbeiten, darf sie inzwischen als recht befriedigend bezeichnet werden. Allerdings ist dies das Ergebnis einer Tätigkeit, an der bereits mehrere Forschergenerationen beteiligt waren und die erst in neuerer Zeit den Charakter einer systematischeren Agenda angenommen hat. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass die Beurteilungen über die syntaktischen Besonderheiten des Althochdeutschen recht unterschiedlich ausfallen. Auf der einen Seite wird, in Anlehnung an die ältere Forschung (z.B. Behaghel 1929, Wackernagel 1892) immer wieder hervorgehoben, die Wortstellung dieser Stufe des Deutschen sei – wie auch die der übrigen altgermanischen Sprachen – „freier“, als dies im heutigen Deutschen zu beobachten sei: „Späterstellungen“ seien durchaus die Regel und die absolute Endstellung des finiten Verbs habe sich erst durch lateinischen Einfluss in frühneuhochdeutscher Zeit verfestigt. Andererseits aber wurden, vor allem in der generativen Forschung, immer wieder die konvergenten Tendenzen des Althochdeutschen hervorgehoben, so z.B. bei Lenerz (1984, 1985, 103), der davon ausgeht, dass man im Bezug auf die Verbbzw. Wortstellung für das Deutsche generell keinen starken syntaktischen Wandel anzusetzen habe. Ein differenzierteres Bild ergibt sich durch das in letzter Zeit wieder verstärkte Forschungsinteresse an der Verb- bzw. Objekt-Stellung dieser _____________ * Für hilfreiche Hinweise und Anregungen danke ich Jürg Fleischer; fürs Korrekturlesen Andrea Sabitzer.
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Sprachstufe, wie es z.B. durch Arbeiten wie Axel (2007), Hinterhölzl / Petrova (2009), Petrova (2009), Schlachter (2009) und Weiß (2007) dokumentiert ist. Als Pionierwerk ist Schrodts (2004) Althochdeutsche Syntax zu sehen, die den ersten Versuch einer umfassenderen Darstellung der syntaktischen Gegebenheiten dieser Sprachstufe darstellt. Daneben existiert schon seit längerem eine Vielzahl von detaillierten syntaktischen Einzeluntersuchungen zu althochdeutschen Prosatexten, so z.B. Robinson (1997) zu Isidor, Bolli (1975), Borter (1982) und Näf (1979) zu Notker sowie Dittmer / Dittmer (1998) zum Tatian. 1.2. Womit beschäftigt sich dieser Beitrag? Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Besonderheiten der rechten Satzperipherie und insbesondere mit dem Problem sog. Ausklammerungen bzw. Späterstellungen im Althochdeutschen. Aus einer typologisch orientierten Perspektive wird die Frage aufgeworfen, ob solche Nicht-Endstellungen des (finiten) Verbs nicht – ganz ähnlich wie die „Vorliebe […] für die zweite Stelle im Satz“ – „[…] in einen grösseren Zusammenhang hinein[gehören]“ (Wackernagel 1892, 342) und auf ihr Verhältnis zu den seit Greenberg (1963) etablierten Wortstellungstypen hin überprüft werden sollten. Die Grundidee ist die, dass sich die altgermanischen Sprachen, anders als ihre modernen Fortsetzer, keinem der beiden (germanischen) Stellungstypen OV und VO zuordnen lassen, sondern eine genuine dritte Option repräsentieren. Dem wohlbekannten Drift zu VO in Sprachen wie Englisch (vgl. z.B. Pintzuk 1999, Pintzuk / Taylor 2006) oder Isländisch (Hróardsdóttir 2000) ist demnach im Falle des Deutschen oder Niederländischen ein analoger Drift zu OV entgegenzustellen, wobei dieser Mischtyp als Ausgangspunkt in beiden Szenarien anzusetzen ist.1 Welche Eigenschaften dieser dritte Typ aufweist, soll hier exemplarisch anhand des Althochdeutschen, also quasi am ‚lebenden Material‘,2 gezeigt werden. Dieser Beitrag ist wie folgt gegliedert: In Abschnitt 2 werden zwei systematische Kontraste diskutiert, die in der rechten Satzperipherie der modernen germanischen OV- bzw. VO-Sprachen zu beobachten sind. Diese sollen als Heuristik für eine detailliertere Untersuchung der ahd. Gegebenheiten in Abschnitt 3 dienen; weiters wird dort der Frage nachgegan_____________ 1 2
Vgl. den Beitrag von Haider in diesem Band. Auch wenn das Althochdeutsche mit einigem Recht als ‚tote Sprache‘ bezeichnet werden kann, hoffe ich dennoch, dass es mir im Folgenden gelingen wird, einige Daten aus dieser Sprachstufe des Deutschen wieder zum Sprechen zu bringen, d.h. ihnen neues Leben einzuhauchen.
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OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen
gen, wie klar sich das Ahd. im Hinblick auf diese Eigenschaften einem der beiden Stellungstypen zuordnen lässt. Abschnitt 4 schließlich behandelt in kursorischer Form die Frage, wie sich die syntaktischen Besonderheiten der rechten Satzperipherie des Ahd. im Format von Konstituentenstrukturen, d.h. möglichst theorieneutral, erfassen lassen.
2. Die rechte Satzperipherie in OV und VO 2.1. Grundlegendes: OV- und VO-Sprachen Was die Orientierung der VP anlangt, lassen sich die heutigen germanischen Sprachen in zwei große Gruppen einteilen, je nachdem ob sie über eine kopf-initiale VP (= VO) oder eine kopf-finale VP (= OV) verfügen. Die Beispiele in (1) aus den Sprachen Niederländisch (1a), Afrikaans (1b), Friesisch (1c) und Deutsch (1d) sowie in (2) aus den Sprachen Englisch (2a), Dänisch (2b), Färöisch (2c) und Isländisch (2d) illustrieren diesen Punkt: (1)
Germanische OV-Sprachen:
(1a) Johan heeft een appel gegeten
(Nl.)
(1b) Johan het ’n appel geēet
(Afr.)
(1c) Johan hat in apel iten
(Fri.)
(1d) Johann hat einen Apfel gegessen (Vikner 2001, 16, Bsp. (37))
(Dt.)
(2)
Germanische VO-Sprachen:
(2a) John has eaten an apple
(Eng.)
(2b) Johan har spist et æble
(Dän.)
(2c) Jón hefur etið eitt súrepli
(Fär.)
(2d) Jón hefur borðað epli. (Ebd.)
(Isl.)
Jiddisch stellt ein Problem für diese Klassifikation dar, denn wie (3a, c) demonstrieren, finden sich in dieser Sprache sowohl VO- als auch OVAbfolgen; überdies gibt es Abfolgemuster wie (3b), die keinem der beiden Stellungstypen ohne Weiteres zugeordnet werden können.
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(3a) Maks hot
nit
gegebn Rifken dos bukh. (Jid.) [= VO]
Max hat nicht gegeben Rifken das Buch Max hat Rebekka das Buch nicht gegeben (3b) Maks hot Rifken nit gegebn dos bukh. [= OV / VO] (3c) Maks hot Rifken dos bukh nit gegebn. [= OV] (Diesing 1997, 402, Bsp. (57a., b., c.)) In Schallert (2006) wird dafür plädiert, dass Strukturen wie (3b) einen dritten Stellungstyp charakterisieren, der als „OV / VO-Mischsystem“ bezeichnet wird und der durch Sprachen bzw. Sprachstufen wie Althochdeutsch, Altenglisch oder das ältere Isländische repräsentiert wird. Die ahd. Beispiele in (4) zeigen, dass es in dieser Sprachstufe nicht nur einen bloßen Parallelismus von eindeutigen OV-Strukturen (4c) und eindeutigen VO-Strukturen (4d) gibt, sondern dass auch ‚hybride‘ Strukturen (4a, b) zu finden sind, die es in dieser Form in keiner der heutigen OV- oder VOSprachen innerhalb der Germania gibt. (4)
Althochdeutsch:
(4a) táz sie nîoman nenôti des chóufes (NB 22,13) dass sie niemanden NEG-nötigen des Kaufes (4b) tánne sie búrg-réht scûofen demo líute (NB 64,13) dass sie Stadtrecht verliehen dem Volke (4c) Úbe dû dero érdo-DAT dînen sâmen beuúlehîst (NB 47,4) deinen Samen belehnst Wenn du der Erde (4d) Tisêr ûzero ordo […] mûoze duingen mit sînero diese äußere Ordnung […] muss zwingen mit ihrer unuuendigi . diu uuendigen ding (NB 217,20) Unveränderlichkeit die veränderlichen Dinge 2.2. OV- / VO-Kontraste in der rechten Satzperipherie Im Folgenden werden zwei systematische Unterschiede zwischen germanischen OV- und VO-Sprachen diskutiert, die die rechte Satzperipherie betreffen. Als Beobachtungstheorie wird das System von Bech (1983) verwendet, das aus zwei Komponenten besteht: (a) dem System der Statusrektion (im Folgenden: S-Rektion), das die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen verbalen Elementen beschreibt, und (b) einer topologischen Feingliederung des sog. Schlussfeldes, das in etwa der rechten Satzklammer (rSkl)
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entspricht, in ein Oberfeld (fakultativ) und ein Unterfeld (obligatorisch). Grundlage für (a) bildet die Beobachtung, dass sich infinite Verben morphologisch in drei Gruppen einteilen lassen, deren Auftreten syntaktisch gesteuert ist: So regieren beispielsweise Modalverben immer einen reinen Infinitiv (bei Bech: 1. Status), tempusbildende Auxiliare entweder einen reinen Infinitiv (1. Status) oder ein Partizip II (3. Status); Anhebungsverben (z.B. scheinen) oder Kontrollverben (z.B. versuchen, versprechen) hingegen nehmen einen zu-Infinitiv (2. Status). Wenn alle Verben in der Reihenfolge ihrer Statusrektion auftreten,3 d.h. das regierende Verb dem regierten Verb folgt, dann gibt es kein Oberfeld. Ist dies jedoch nicht der Fall, ist ein Oberfeld eröffnet, das in der linearen Abfolge vor dem Unterfeld steht und das sich dadurch auszeichnet, dass die in ihm enthaltenen verbalen Elemente in spiegelbildlicher Rektionsrichtung auftreten, d.h. das regierende Verb geht dem regierten Verb voran. Zur Illustration möge die sehr komplexe verbale Kette in (5) dienen. Die Beispiele in (6) folgen dem in (5) skizzierten Schema (vgl. dazu Bech 1983, 63). (5a) [V5 V4 V3 V2 V1] (5b) [O V1] [U V4 V3 V2] (5c) [O V1 V2] [U V5 V4 V3] (5d) [O V1 V2 V3] [U V5 V4] (6a) dass man ihn hier [U liegen bleiben lassen können wird] = (5a) (6b) dass man ihn hier [O wird] [U liegen bleiben lassen können] = (5b) (6c) dass man ihn hier [O wird können] [U liegen bleiben lassen] = (5c) (6d) dass man ihn hier [O wird können lassen] [U liegen bleiben] = (5d) Laut Bech (1983) bleiben im Unterfeld einer Sprache wie Deutsch eigentlich immer die zwei maximal untergeordneten Verben zurück, während sich im Oberfeld das Finitum und gegebenenfalls noch weitere Verben befinden können. Ob ein finites Verb vorhanden ist oder nicht, spielt für den Aufbau der rechten Klammer nur dahingehend eine Rolle, als sich im letzteren Fall die Kombinationsmöglichkeiten verringern. _____________ 3
Es hat sich eingebürgert, die Einbettungsverhältnisse durch Indizes zu kennzeichnen, wobei das finite Verb (als selbst nicht statusregiertes Element) immer die Nummer 1 trägt, sofern es sich in der rechten Satzklammer befindet.
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Obwohl dieses Modell anhand des Deutschen, also einer germanischen OV-Sprache, entwickelt wurde, eignet es sich ebenfalls sehr gut für eine Darstellung der systematischen Unterschiede zwischen OV- und VOSprachen, die sich bei der Anordnung von Verbsequenzen in der rechten Peripherie zeigen. 2.3. Konstruktionstyp I: Stellung von Verbketten und Objekten Blickt man auf die Rektionsverhältnisse von Verbketten in einer VO-Sprache wie Englisch, dann stellt man fest, dass sich diese spiegelbildlich zu jenen im Deutschen verhalten: Während es in einer OV-Sprache wie Deutsch – je nach Aufbau des Verbalkomplexes – zahlreiche Stellungsmöglichkeiten (mit Oberfeldbildung) gibt, bildet (7a) die einzige grammatische Serialisierungsoption in VO. (7a) that John must1 have2 been3 elected4
(Eng.)
(7b) dass Hans gewählt4 worden3 sein2 muss1 (Wurmbrand 2006, 230; Bsp. (1c., d.))
(Dt.)
Eine wichtige Eigenschaft ist die kompakte Struktur von Verbketten in OV-Sprachen, die bei linksläufiger S-Rektionsrichtung kein intervenierendes Material erlauben (vgl. z.B. Haider 2003, 93). Diese Eigenschaft wird in der einschlägigen Literatur oft unter der Kennzeichnung Verbalkomplex oder Verb clustering diskutiert. Wie der Kontrast zwischen Deutsch und Englisch in (8) zeigt, können in der letzteren Sprache Adverbien innerhalb einer verbalen Kette auftreten, d.h. es besteht keine Kompaktheitseigenschaft. Die Asterisken in (8b) signalisieren, dass an keiner der eingeklammerten Stellen nicht-verbales Material eingefügt werden kann. (8a) The new theory … certainly may possibly have indeed been badly formulated (Quirk u.a. 1985, 495; §8.20)
(Eng.)
(8b) dass die Theorie … wohl tatsächlich schlecht formuliert (*) worden (*) sein (*) mag (Dt.) Diese Kompaktheitseigenschaft von OV kann nur bei gewissen Fällen von Oberfeldbildung durchbrochen werden und hat keinen Einfluss auf das Verhalten der im Unterfeld verbleibenden Verben. In der theoretischen Literatur haben sich für die verschiedenen, damit in Zusammenhang stehenden Reserialisierungsprozesse zwei Termini etabliert, nämlich Verb raising (VR) und Verb projection raising (VPR), vgl. den Besten / Edmonson (1983), Haegeman / van Riemsdijk (1986). Wie die Beispiele in (9) aus
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OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen
dem Zürichdeutschen zeigen, unterscheiden sich VR und VPR dadurch, dass im letzteren Fall nicht-verbales Material im Verbalkomplex4 auftritt. Was die Verfügbarkeit dieser Serialisierungsoptionen in den einzelnen germanischen OV-Sprachen anlangt, so ist eine starke dialektale Streuung festzustellen, vgl. Wurmbrand (2004). (9a) […] das de Hans es huus chaufe wil
(Zürichdeutsch)
(9b) […] das de Hans es huus wil chaufe (9c) […] das de Hans wil es huus chaufe dass der Hans ein Haus kaufen will (Haegeman / van Riemsdijk 1986, 419; Bsp. (8)) (9a) stellt die Grundabfolge dar, die Abfolgen in (9b) und (9c) sind das Ergebnis von Verb raising und Verb projection raising. Spiegelbildliche Abfolge, Kompaktheit und (lokale) Variation können also als jene Eigenschaften festgehalten werden, die die (germanischen) OV-Sprachen von den VO-Sprachen abheben, jedoch reicht keine dieser Eigenschaften für sich genommen: So zeigt Friesisch (OV) nur bei te / to / zu-Infinitiven Umgruppierungen, jedoch sind diese dann obligatorisch (vgl. Wurmbrand 2004, 17); in einer VO-Sprache wie Norwegisch sind Verbketten kompakt5 und schließlich ist im Niederländischen sowie in verschiedenen oberdeutschen Dialekten6 auch das spiegelbildliche, ‚aufsteigende‘ Rektionsmuster zu finden (10c), während die deutsche Abfolge ungrammatisch ist (10b). Wie (11) allerdings zeigt, stellt das spiegelbildliche Muster (10c), wiederholt als (11c), nur eine von mehreren möglichen Serialisierungsoptionen im Niederländischen dar. (10a) dass er das Buch weggelegt4 haben3 müssen2 wird1
(Dt.)
(10b)*dat hij het boek weggelegd hebben moeten zal
(Nl.)
(10c) dat hij het boek zal1 moeten2 hebben3 weggelegd4 (Haider 2003, 22; Bsp. (38a., c.)) (11a) dat hij het boek zal weggelegd moeten hebben
(Nl.)
(11b)dat hij het boek zal moeten weggelegd hebben (11c) dat hij het boek zal moeten hebben weggelegd (Ebd.; Bsp. (39)) _____________ 4 5 6
Die Kennzeichnungen Verbalkomplex und Verb cluster werden im Folgenden synonym verwendet. Diesen Hinweis verdanke ich Hubert Haider (pers. Mitteilung). Allerdings nicht in Konfigurationen mit finitem Modalverb (siehe unten), sondern nur bei sog. Ersatzinfinitiv-Konstruktionen.
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Eine weitere Besonderheit von germanischen OV-Sprachen wie Deutsch, Niederländisch oder Westflämisch ist der sog. IPP-Effekt (Infinitivus pro participio), d.h. die Ersetzung eines Perfektpartizips (3. Status) durch einen reinen Infinitiv (1. Status) in bestimmten Konstruktionen, so z.B., wenn ein Auxiliar ein Perzeptionsverb regiert, vgl. (12), oder wenn ein Modalverb von einem Auxiliar abhängt, vgl. (13). (12a) ?dass sie ihn laufen gesehen / gehört hat
(Dt.)
(12b)*dass sie ihn hat laufen gesehen / gehört (12c) dass sie ihn laufen sehen / hören hat (12d) dass sie ihn hat laufen sehen / hören (Wöllstein-Leisten u.a. 1997, 71; Bsp. (30)) (13a) dat Jan het boek heeft kunnen lezen dass Jan das Buch hat1 können2-INF(IPP) lesen3 (13b) *dat Jan het boek heeft gekund dass Jan das Buch hat1 gekonnt2 (Wurmbrand 2006, 235; Bsp. (7))
(Nl.)
lezen lesen3
Inwieweit dieser Effekt notwendigerweise mit Reserialisierungsoptionen von Verbketten einhergeht, ist umstritten (vgl. die Diskussion in Wurmbrand 2004, Wurmbrand 2006). Als einzig haltbare Generalisierung über Verbalkomplexe (Cluster) und IPP bleibt die Beobachtung bestehen, dass der letztgenannte Effekt nur in Sprachen zu beobachten ist, die bei dreigliedrigen Verbsequenzen von der Grundabfolge V3 < V2 < V1 abweichen: „Although this correlation appears to be quite striking and is unlikely to be accidental, it is not clear what property of grammar it targets and what its importance is“ (Wurmbrand 2004, 18). Zusammenfassend ergeben sich also die folgenden systematischen Unterschiede zwischen OV- und VO-Sprachen hinsichtlich der Serialisierungseigenschaften von Verbketten: (14) Verbketten in OV und VO: (14a) Spiegelbildliche S-Rektion: (1) Vn V3 V2 V1 (OV); (2) V1 V2 V3 Vn (VO). (14b)(1) lokal kompakte Struktur (Unterfeld) mit möglicher Variation in OV, (2) nicht-kompakte Struktur ohne Variation in VO. (14c) IPP nur in OV (mit Variation).
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2.4. Konstruktionstyp II: Stellung von präfigierten Verben und Objekten Der zweite Testbereich, der in gewisser Hinsicht eine Teilmenge des ersten bildet, steht in Zusammenhang mit der Positionierung von sog. präfigierten Verben („Partikelpräfixverben“ in der Terminologie von Fleischer / Barz 1995). Wie in Haider (1997a) ausführlich untersucht, zeigen sich zwischen einer prototypischen VO-Sprache wie Englisch und einer prototypischen OV-Sprache wie Deutsch die folgenden Kontraste in (15), die durch die Beispiele in (16) bis (20) illustriert werden: (15) Präfigierte Verben7 in OV und VO: (15a) linksadjazente (trennbare) Partikel nur in OV: nachschauen, *up look (15b)rechtsadjazente und rechtsdistante (trennbare) Partikel nur in VO: (1) Vo po8 (look up the information); (2) Vo Obj. po (look the information up). Wie die Beispiele in (16a) und (16b) zeigen, ist nur in einer OV-Sprache wie dem Deutschen das linksadjazente Abfolgemuster Verb + Partikel grammatisch; im Englischen (VO) sind solche Abfolgemuster ungrammatisch. (16a) dass er die Information nachschlägt (16b)*that he uplooks the information In VO gibt es grundsätzlich zwei Abfolgemuster, nämlich Verb + Partikel Objekt (17a) und Verb Objekt Partikel (17b): (17a) He has looked up the information (17b)He has looked the information up Wie (18a, c) zeigen, kann es auch in OV-Sprachen wie dem Deutschen oder Niederländischen − bedingt durch die Verbzweit-Eigenschaft − zu Konfigurationen mit rechtsdistanter Partikel kommen; wie aber der Kontrast mit (18b, d) demonstriert, ist das rechtsadjazente VO-Muster, in dem die Partikel dem Objekt vorangeht, ungrammatisch. (18a) Er warf den Teppich nicht weg (18b)*Er warf weg den Teppich nicht _____________ 7 8
Im Folgenden werden trennbare Verbpräfixe als Partikeln angesprochen. VO und pO stehen im Folgenden für Verbstamm bzw. trennbares Präfix.
(Dt.)
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(18c) Hij wierp het tapijt niet weg
(Nl.)
(18d) *Hij wierp weg het tapijt niet (Haider 1997a, 9; Bsp. (11), (12)) Vikner (2001, 37) formuliert folgende Korrelation zwischen den Stellungseigenschaften von präfigierten Verben und der Verbzweit-Eigenschaft: In […] the […] Germanic OV languages, particle verbs whose particles are postverbal under V2 (separate) nevertheless always have preverbal particles in non-V2 contexts, whereas in the Germanic VO-languages, particle verbs whose particles have to be stranded under V2 never have preverbal particles in non-V2 contexts.
Was die germanischen VO-Sprachen anlangt, sind gewisse Freiheitsgrade in der Ausschöpfung der unter (15b) angeführten Muster zu beobachten. Während Englisch den Kontrast zwischen verb-distanter und verbadjazenter Abfolge am klarsten zeigt, zerfallen die nordgermanischen Sprachen in drei große Gruppen, die sich an den Möglichkeiten variabler Positionierung festmachen lassen: Im Norwegischen und Englischen sind (wie übrigens auch im Isländischen)9 beide Abfolgemuster möglich, vgl. (19a, b), (20a, b), während im Schwedischen nur die V-adjazente Position grammatisch, vgl. (20d) vs. (19d), diese im Dänischen jedoch ungrammatisch ist, vgl. (19c) vs. (20c). (19) Vo … Obj. … po: (19a) He threw the carpet out (19b)at han kastet matten ut
(Nor.)
(19c) at han smed tæppet ud
(Dän.)
(19d) *att han kastade mattan bort er schmiss den Teppich hinaus (Haider 1997a, 9; Bsp. (9))
(Sch.)
_____________ 9
Die beiden Serialisierungen (V-adjazent oder nach dem Objekt) lassen sich im Isländischen beispielsweise bei reflexiven Verben beobachten: lyfta sér upp 'sich hochziehen', réta upp sér 'sich aufrichten' (Kress 1992, 223).
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OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen
(20) Vo + po … Obj.: (20a) He threw out the carpet (20b)at han kastet ut matten
(Nor.)
(20c) *at han smed ud tæppet
(Dän.)
(20d) att han kastade bort mattan (Ebd.; Bsp. (10))
(Sch.)
3.
Datendiskussion: OV-, VO- und OV / VO-Strukturen im Althochdeutschen
3.1.
Die Grundidee der Untersuchung
Ausgehend von den in Abschnitt 2 diskutierten Kontrasten zwischen OVund VO-Strukturen ist es möglich, zwei Testkonfigurationen zu definieren, die sich durch die relative Position von Verbketten (inkl. präfigierter Verben) und Objekten ergeben: (21a) Konstruktionstyp I: Stellung von Verbketten in Relation zu Objekten. (21b)Konstruktionstyp II: Stellung von präfigierten Verben in Relation zu Objekten. Im Folgenden werden eine Reihe von Daten10 diskutiert, die dafür sprechen, dass sich das Althochdeutsche hinsichtlich der oben genannten Kriterien weder wie eine eindeutige OV- noch wie eine eindeutige VOSprache verhält. 3.2. Konstruktionstyp I: Stellung von Verbketten und Objekten Was die Serialisierungsmöglichkeiten von Verbketten anlangt, so ist die Datenlage letzten Endes zu dürftig, um eine präzisere Einschätzung vor_____________ 10
Das ahd. Quellenmaterial wird in der Form [Sigle, Stelle] zitiert, und zwar nach folgenden Ausgaben: Isidor (Is.) [fortl. Zeilennummer] nach Eggers (1984); Notkers BoëthiusÜbersetzung (De Consolatione Philosophiae) (NB) [Seite, Zeilenanfang] nach Tax (1986, 1988, 1990); Notkers Psalter (NPs.) [Seite, Zeilenanfang] nach Tax (1981, 1983); Tatian (Tat.) [Seite, Zeilenanfang] nach Masser (1994).
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nehmen zu können (vgl. dazu die Diskussion bei Axel 2007, 83-85). Die Abfolgen in (22) sind repräsentativ für dreigliedrige Verbalkomplexe: (22a) Uuánda árg-uuíllo âne dáz weil Bosheit ohne dies késkeinet3 uuérden2 némahtî1 (NB 201,2) werden NEG-kann-KON gezeigt (22b)dhazs ir dass er chirista1 Erlösung
bi mittingardes nara für Erde-GEN chimartirot3 uuerd han2 (Is. 514) musste gefoltert werden
(22c) […] únde an sînero ûzuuertigûn séstungo . diu ínnera und an seiner äußeren Qual die innere geskéinet3 sól1 uuérden2 (NB 216,26) offenbart soll werden Wie Axel (2007, 86f.) hinweist, bleiben bei den wenigen Belegen, die sich für dreigliedrige Verbalkomplexe überhaupt finden lassen, die infiniten Verben immer in „absteigender Reihenfolge“ zueinander (d.h. V3 < V2), während das finite Verb entweder davor, in der Mitte oder danach auftreten kann. Interessant ist hier die Beobachtung, dass sich Verbalkomplexe mit finitem Modalverb im heutigen Standarddeutschen und auch in vielen dialektalen Varietäten sehr rigide linksverzweigend verhalten (V3 < V2 < V1), während bei Ersatzinfinitiv-Konstruktionen regional gestaffelt mindestens fünf der logisch möglichen Abfolgen (3! = 6) zu finden sind, vgl. Schmid / Vogel (2004, 235f.), Wurmbrand (2004). Instruktiv ist hier ein Blick auf die hochalemannischen Dialekte der Schweiz: Während bei IPP (25d) die aufsteigende Reihenfolge 1-2-3 in fast allen Varietäten zu finden ist (vgl. Seiler 2004, 378), gilt ähnliches für die Reihenfolgen 3-2-1 bzw. 13-2 in (23a, b) bei Verbalkomplexen mit finitem Modalverb (vgl. Wurmbrand 2004, 53); interessanterweise ist bei diesem Typ die aufsteigende Variante nicht zu finden bzw. ungrammatisch, vgl. (23c). (23a) ?das är es Buech gläsa3 haa2 mu111
(CH)
(23b)das är es Buech mu1 glääsa3 haa2 (23c) *das är es Buech mu1 haa2 glääsa3 dass er das Buch gelesen haben muss _____________ 11
Für Sprecherurteile zu (23) danke ich Jürg Fleischer, Astrid Kraehenmann und Paul Widmer.
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OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen
(23d) das är es Buech hät1 müesse2 läsa3 dass er das Buch lesen müssen hat Im Unterschied dazu findet sich das „aufsteigende“ VO-Muster 1-2-3 nur bei Notker, und zwar ausschließlich in gemischten Verbalkomplexen (wiederum mit finitem Modalverb), die unübersetzte lateinische Wortformen enthalten, vgl. (24). Dies mag weniger verwunderlich erscheinen, wenn man berücksichtigt, dass Notkers alemannische Nachfahren in der Schweiz solche Strukturen gerade nicht in aufsteigender Reihenfolge akzeptieren. (24a) Taz […] dîe oculis múgen1 uuérden2 subpositę3 (NB 104,17) werden gesenkt die Augen sollen (24b)[…] dánnân sie sóltôn1 uuérden2 dann sie sollten werden
illuminati3 (NB 254,15) erleuchtet
Wie Jäger (2007, 1) unter Bezug auf die einschlägige Literatur feststellt, gibt es in althochdeutscher Zeit noch keine Hinweise für IPP-Konstruktionen (die ersten Belege sind im 13. Jh. zu finden), was diese Sprachstufe in ein interessantes Naheverhältnis zum Jiddischen rückt und somit – wie oben bereits angesprochen – zu einem einschlägigen OV / VOProblemfall macht. Vikner (2001, 77) zufolge ist nämlich das Fehlen des Ersatzinfinitivs bei gleichzeitigem Vorhandensein von ge-präfigierten Partizipien sowohl OV- als auch VO-untypisch: „If Yiddish were a VOlanguage, the lack of IPP would be expected (though then Yiddish would be the only VO-language to form past participles by means of ge-)“. Bei zweigliedrigen Verbalkomplexen sind sowohl die Abfolgen 2-1 (= OV-Grundabfolge) als auch 1-2 (Verb raising) zu finden, vgl. (25a, b); (25c) zeigt ein Nebeneinander von beiden Abfolgen in in demselben Textabschnitt. (25a) gótes óuga neséhe iz Gottes Auge NEG-sehe es nemág1 trîegen2 (NB 240,3) dáz nîoman das niemand NEG-kann trügen (25b)Sî íst tóh zéichen . sie ist doch Zeichen dáz siu nôte chómen2súlen1 (NB 249,28) dass sie notwendigerw. kommen sollen
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(25c) thaz uuari1 gifullit2 thaz thar giqu&an2 uuas1 / (auf) dass wurde erfüllt das da gesprochen war Fon truhtine (Tat. 83,27f.) vom Herren ut adimpler&ur quod dictum est / a domino Diese Befunde deuten darauf hin, dass sich das Althochdeutsche hinsichtlich der Stellungsmöglichkeiten von Verbketten eher wie eine OV-Sprache verhält, da sowohl in zwei- als auch dreigliedrigen Verbalkomplexen Umordnungen zu beobachten sind. Die als Unterscheidungskriterium wichtige Kompaktheitseigenschaft ist allerdings aufgrund der dürftigen Quellenlage nur schwer testbar. Inwieweit die Abwesenheit von IPP-Konstruktionen analog zum Jiddischen als Anomalie gedeutet werden kann, bedürfte – auch in Hinblick auf die Entstehung dieser Konstruktion im Mittelhochdeutschen – einer gesonderten Untersuchung. Wird die Stellung von Objekten mitberücksichtigt, zeigt das Althochdeutsche allerdings einige interessante Strukturen, die sich in der heutigen Sprachstufe (auch in den Dialekten) nicht finden. So befinden sich in (26a) ein Reflexivpronomen, also ein inhärent ‚leichtes‘ Objekt,12 rechts vom Verb; (26b) zeigt sogar mehrere Objektphrasen in postverbaler Position.13 (26a) therthar giotmotigot sih (Tat. 403,19) der da erniedrigt sich-AKK qui se humiliat (26b)Uuâr-ána mág îoman skéinen sînen geuuált . wodurch mag jemand offenbaren seine Gewalt án demo lîchamen (NB 90,20) an dem Körper Der entscheidende Datenbereich sind aber Konstruktionen wie (27), bei denen es offensichtlich – analog zu den Beispielen aus dem Jiddischen in (3) – zu einer Amalgamierung von OV- und VO-Strukturen kommt. (27a) Tár hábet si ímo Da hat sie ihm
geántuuúrtet sînero frâgo (NB 219,21) geantwortet seiner Frage-GEN
scûofen demo líute (NB 64,13) (27b)tánne sie búrg-réht dass sie Stadtrecht verliehen dem Volke
_____________ 12 13
In Ermangelung einer brauchbaren Definition von grammatischem Gewicht ist die Kennzeichnung hier informell auf die Länge der Konstituente gemünzt. Eine umfassende Datendiskussion findet sich in Schallert (2007).
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OV- und VO-Strukturen im Althochdeutschen
(27c) Úbe óuh tû uuéllêst mít cláten óugôn chîesen dia uuârhéit (NB 40,26) Ob auch du mit klaren Augen die Wahrheit erkennen willst
In (27) finden sich jeweils ditransitive Verben, bei denen ein Komplement – in (27a) ein Dativobjekt, in (27b) ein Genitivobjekt 14 – in postverbaler und das andere in präverbaler Stellung realisiert ist; in (27c) befindet sich ein Modaladverbial („mít cláten óugôn“) nach dem finiten Verb im Oberfeld, während das infinite Verb im Unterfeld mit dem direkten Objekt eine VO-Struktur bildet. Als Paradebeispiel für Verbketten mit Oberfeld sind Fälle von Verb projection raising (VPR) zu werten, für welches Phänomen es eine solide Datenbasis im Althochdeutschen gibt, vgl. z.B. Schallert (2007), Schlachter (2009), Weiß (2007). Die Beispiele in (28) zeigen ein Pronomen (28a), eine volle DP (28b) sowie ein Adverb zwischen Ober- und Unterfeld (28c). (28a) dhazs izs in salomone uuari al arfullit (Is. 632) dass es in Salomon war alles erfüllt Hec omnia […] in salomone putat fuisse inpleta dass es alles in Salomon erfüllt wurde
(28b) táz tu danne mugîst taz uuâra lîeht kesehen (NB 40,11) dass du dann kannst das wahre Licht sehen (28c) dhazs dher druhtin dass der Herr
nerrendeo rettende
christ Christus
iu ist langhe quhoman schon ist lange-ADV gekommen dominus iesus christus olim uenisse [cognoscitur] (Is. 454) dass der Herr Jesus Christus schon lange gekommen ist
Auch in heutigen Dialekten des Deutschen sind VPR-Strukturen anzutreffen, wie die Beispiele aus dem Zürichdeutschen in (29a, b) bzw. aus den bairischen Dialekten Österreichs in (29c) demonstrieren.
_____________ 14
Zu den ahd. Verben mit AKK-GEN siehe Donhauser (1998).
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(29a) Ich han em vatter müese s gschier hälffen abwäsche.
(CH)
(29b)Ich han em vatter müese hälffe s gschier abwäsche. Ich habe dem Vater das Geschirr abwaschen helfen müssen. (Lötscher 1978, 7, Bsp. (12b., c.))
(29c) wånn i wein håb aus da Not hö(l)fa kinna
(Ö)
wenn ich jemandem habe aus der Not helfen können (Patocka 1997, 299)
3.3. Konstruktionstyp II: Stellung von präfigierten Verben Postverbale Objekte bei rechtsdistanter Partikel sind im Althochdeutschen relativ häufig zu finden.15 In den Beispielen (30a, b) ist − bedingt durch die Positionierung des finiten Verbs in der linken Satzperipherie − die rechtsdistante Position der Partikel sowohl mit einer OV- als auch mit einer VO-Analyse kompatibel. In beiden Fällen ist allerdings davon auszugehen, dass die Objekte in postverbaler Position angesiedelt sind; in (30c, d) befindet sich die Partikel in einer linksadjazenten, für OV typischen Position: (30a) Fone diu uuiske aba die trâne (NB 69,24) Deshalb wische die Träne ab.
(30b)Sîe lîezen uz iro blûot (NPs. 560.2) Sie vergossen ihr Blut.
(30c) Uuîo uuérdent sie ána getân únserên mûoten? (NB 256,28) Wie werden sie unseren Sinnen eingeprägt?
(30d) únde [daz] hercules temo fárre daz hórn ába slûoge (NB 53,8) und [dass] Herkules dem Stier das Horn abschlug
(30e) daz sie eolus ûz-lîeze (NB 12,7) dass sie den Ton ausließ
_____________ 15
Vgl. Schrodt (2004, 218): „Häufige Ausklammerungen weist auch die im Vergleich zum Nhd. seltenere Klammer ,Personalform + Verbzusatz‘ auf.“
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Interessant ist folgender Einzelbeleg (aus Notker), der als Indiz für den Parallelismus von VO- und OV-Strukturen gewertet werden kann: In (31a) befindet sich das finite Verb im Oberfeld (die linke Satzklammer wird von der nebensatzeinleitenden Konjunktion daz 'dass' eingenommen), während die linksadjazente Stellung der Partikel in (31b) für eine Stellung im Unterfeld (also in Basisposition) spricht. (31a) taz er beiz imo selbemo aba dia zungûn (NB 91,3) [= VO] dass er biss ihm selber ab die Zunge (31b)ter imo selbemo dia zungûn aba / beiz (NB 16,12) [= OV] der ihm selber die Zunge abbiss 3.4. Ein kurzer Blick auf die Situation im Mittelhochdeutschen In (32) finden sich einige Serialisierungsmuster aus dem Mittelhochdeutschen: (32a) zeigt die ‚aufsteigende‘, voll-invertierte Abfolge im Verbalkomplex, (32c) ist ein Beispiel für Verb projection raising. Bemerkenswert ist das Abfolgemuster V < Obj. < Aux in (32b), das in den heutigen Sprachen der Welt sehr selten ist bzw. sogar ganz fehlt, vgl. Steele (1978), Dryer (1992). (32a) daz fleischlichiv ovgen vnser vordern in nimmer dass fleischliche Augen unserer Vordern ihn nicht mehr mohten1 haben2 gesehen3 konnten haben gesehen (Paul 2007, 454; §215) (32b)daz aller der zorn [AUX [VP gestillet2 gegen in] wære1] der Zorn gestillt gegen ihn wäre dass all (Askedal 1998, 240) (32c) daz ein […] man […] in dis richis stat sal1 vride habi2 dass ein Mann in dieser Freistadt soll Friede haben in simi huz in seinem Haus (Paul 2007, 455; §213) (33) zeigt komplexe Extrapositionsphänomene aus dem Mhd.: ein Genitivobjekt nach einem Adverbial in (33a) sowie koordinierte Akkusativobjekte und ein Dativobjekt, das durch einen Attributsatz erweitert ist, in (33b).
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(33a) […] vnde myn geist hat sich und mein Geist hat sich in gote myner selekeit in Gott meiner Seligkeit-GEN
gevrouwit gefreut
(33b)Von siner gnaden sol1 sin2 gechvundet3 fride vnd gnade allen den mennischen die gvotes willen sint in dirre werlt Von seiner Gnade soll Friede und Gnade all jenen Menschen gekündet sein, die guten Willens sind in dieser Welt. (Ebd., 454, §212)
Analog zur Situation im Althochdeutschen scheint es schwer zu sein, vereinheitlichende Faktoren zu identifizieren, die Objektphrasen ins Nachfeld nötigen. Zumindest in Hinblick auf die Kasuistik äußern sich die Bearbeiter von Paul (2007, 460) eher skeptisch: „Die Ausklammerung kann im Einzelfall ganz unterschiedliche, zum Teil schwer greifbare Gründe haben.“ Als Faktoren, die Extraposition im Mhd. fördern, werden die folgenden genannt (ebd.): •
Je mehr Konstituenten vorhanden sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine von ihnen extraponiert ist.
•
Bei der Abfolge 1-2 ist Ausklammerung häufiger als bei der Abfolge 2-1.16
•
Extraposition ist häufiger in Matrixsätzen als in eingebetteten Sätzen.17
4. Einige grammatiktheoretische Bemerkungen 4.1. Was tun mit VO-Abfolgen im Althochdeutschen? Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie das Auftreten von postverbalen Komplementen im Ahd. zu deuten ist. Eine in der älteren Forschung (z.B. Borter 1982 zu Notker) häufig verwendete Strategie besteht darin, solche Strukturen als epiphänomenale, stilistisch bedingte Erscheinungen zu charakterisieren, die keiner syntaktischen Erklärung im engeren Sinn bedürfen. Als termini technici haben sich hierfür die Kennzeichnungen Ausklammerung bzw. Extraposition eingebürgert. Unkontroverse Fälle von Extraposition sind im heutigen Deutschen das Auftreten ‚schwerer‘ Kon_____________ 16 17
Dieselbe Korrelation stellt Sapp (2006, 27) für das Frühneuhochdeutsche fest. Dasselbe gilt für die Situation im Althochdeutschen, vgl. Schrodt (2004, 218; § 203).
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stituenten im Nachfeld (sogenanntes Heavy NP Shift), vgl. (34a). Von Extraposition ist im Ahd. bei Fällen von postverbalen Konstituenten nach Verben in Basisposition auszugehen, vgl. (34.). (34a)Auf Gleis 3 fährt ein [NP der Intercity 342 von Bregenz nach Wien Westbahnof]. (34b)[…] dáz uuîr irfáren mûozîn Dass wir erfahren müssen [NP dîa hóuestát tes fórderôsten gûotes]? (NB 148,18) die Wohnstätte des vordersten Guten Problematisch für einen Extrapositions-Ansatz sind aber z.B. die folgenden Datenbereiche: (a) Spaltungskonstruktionen, vgl. (35); (b) postverbale ‚leichte‘ Elemente, vgl. (36). (35a) dû du tîe die
hábest fúnden dîne fríunt . hast gefunden deine Freunde der tíuresto scáz sínt (NB 106,13) der teuerste Schatz sind
(35b)dáz er demo chúninge dîe brîeue nebrâhti. dass er dem König die Briefe NEG-brachte mit tîen er daz hêrôte-N.AKK gehóubet-scúldigoti mit denen er die Krone majestätsbeleidigte (35c) fóne von
démo dem
diu tímberi chúmet . tero mûot-trûobedo die Dunkelheit kommt dieser Gemütstrübung
In (35a) ist ein Relativsatz gemeinsam mit seinem Bezugselement („dîne fríunt“) extraponiert. Wie (35b) aber demonstriert, kann das Bezugselement auch intraponiert sein – ein Umstand, der einer grundlegenderen Erklärung bedarf.; in (35c) kommt es zu einer sog. Spreizstellung18 (Hyperbaton) von Bezugselement (Kopfnomen) und Genitivattribut. (36a) thuruh then quimit asuuih (Tat. 319,13) durch den kommt Böses-NOM per quem scandalum uenit (36b)Hábest tû ergézen dînero sâldôn (NB 62,26) Hast du vergessen deiner Schulden-GEN
_____________ 18
Für weitere Beispiele dieser Konstruktion bei Notker siehe Näf (1979, 246ff.).
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(36c) daz danne nah ist dass dann nahe ist
sumere (MF 19 19,14) Sommer-DAT
dass der Sommer nahe ist (Axel 2007, 295, Bsp. (3a.))
(36d) thie thár hab&un diuual (Tat. 133,1) die da hatten Teufel-AKK In (36) sind ‚leichte‘ NPn in allen Kasus in einer postverbalen Position zu finden: ein Subjekt in (36a), ein Genitivobjekt in (36b), ein Dativ- und ein Akkusativobjekt in (36c, d). In konzeptueller Hinsicht erscheint der Extrapositions-Ansatz, der unlängst von Axel (2007, 94f.) wieder ins Spiel gebracht wurde, deutlich attraktiver, da er mit weniger Zusatzannahmen auskommt als der hier vorgestellte ‚typologische Ansatz‘. Allerdings verschiebt sich in diesem Fall auch die Beweislast in Richtung dieses Ansatzes, da zu klären wäre, welche Faktoren Extraponierbarkeit im Einzelnen fördern bzw. fordern. 20 Dass hinsichtlich Extraposition selbst scheinbar eindeutige Datenbereiche ihre Tücken haben können, möchte ich abschließend am Phänomen der Subjektextraposition 21 demonstrieren, vgl. (37): (37a) dhazs chiendot2 uuerdhe1 [dhiu aboha ubarhlaupnissi] (Is. 448) dass die falsche Überschreitung beendet werde
ut consummetur praeuaricatio (Axel 2007, 91, Bsp. (85a.)) (37b) […]ér thanne / arsterbe [mín sún] (Tat. 195,21) bevor dann sterbe mein Sohn-NOM /priusquam / moriatur / filius meus.,/ (Ebd., 90, Bsp. (83b.)) Neben unkontroversen Fällen für Subjektextraposition wie in (37a), wo die Verben in der rechten Satzklammer in der Reihenfolge ihrer S-Rektion stehen, bemerkt Axel (2007, 90), dass die große Mehrheit der einschlägigen Belege dem Muster in (37b) entspricht, d.h. passivierte bzw. unakkusativische Prädikate enthält, bei denen man davon ausgehen könne, dass _____________ 19 20 21
Die Sigle „MF“ bezieht sich auf die Mondsee-Fragmente, einem zur Isidor-Sippe gehörigen Text. Borter (1982) bemüht sich um eine Taxonomie von ausklammerungsfördernden Faktoren, die jedoch letztlich so uneinheitlich ist, dass sie kaum tragfähige Generalisierungen ermöglicht. Extraposition von ‚leichten Subjekten‘ ist übrigens auch im Jiddischen möglich, vgl. Vikner (2001, 23f.), Santorini (1993, 231, 243, fn. 3).
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das Subjekt in Objektposition basisgeneriert werde. Auch wenn Axel (ebd., 94) diese Idee u.a. auf Basis von Daten wie (37a) aufgibt, ergeben sich zusammen mit den oben diskutierten Phänomenen (Spaltungskonstruktionen, leichte Objekte) dennoch gewisse Verdachtsmomente, die darauf hindeuten, dass das Vorhandensein von Extraposition letzten Endes unabhängig ist vom typologischen Status des Althochdeutschen (OV oder VO). 4.2. Ein Analysevorschlag Eine Erhellung der Verbstellungsregularitäten im Althochdeutschen kann nicht allein auf empirischer Ebene angegangen werden: Obwohl die Quellenlage und in Sonderheit die Frage nach der Authentizität bestimmter Texte in syntaktischer Hinsicht (vgl. Fleischer 2006, 49) noch einiges an Arbeit abverlangen wird, besteht kein grundsätzlicher Zweifel, dass die in Abschnitt 2 diskutierten Strukturen im ahd. System verankert sind. Im Folgenden soll daher in Skizzenform ein Modell vorgestellt werden, mit dem sich einige syntaktische Besonderheiten des Ahd. in Bezug auf die Stellung von Verben und Objekten einfangen lassen. Ausgangspunkt soll hier rein die Frage sein, wie sich die empirischen Befunde, die sich im Rahmen des Feldermodells bzw. Bechs (1983) Modells ergeben, in Konstituentenstrukturen abbilden lassen. Verkompliziert wird die Situation dadurch, dass es im Ahd. Strukturen gibt, die beide Modelle vor analytische Schwierigkeiten stellen. So verstoßen gewisse Fälle von Oberfeldbildung, bei denen zwischen Oberfeld und Unterfeld nicht-verbales Material zu finden ist – diese Strukturen wurden unter dem Etikett Verb projection raising diskutiert –, gegen die Generalisierung, dass die rSkl nur verbales Material enthalten dürfe. Umgekehrt ist bei gewissen Umgruppierungen im Verbalkomplex, die die Abfolge der S-Rektion durcheinander würfeln, nicht so ohne Weiteres klar, ob denn nun ein Oberfeld vorliegt oder nicht. Die problematischen Fälle sind in (38) anhand von Daten aus dem Alemannischen (Vorarlberg) angeführt, wo die relevanten Strukturen ebenfalls zu finden sind: (38a) das er scho längscht [rSkl [OF hett1 dr Ufsatz [UF abschicka3 sölla2]]] (VBG) (38b)das er dr Ufsatz scho längscht [rSkl [OF? abschicka3 [UF? hett1 sölla2]]] Unter der Annahme, dass die Subjunktion das in (38) jeweils die linke Satzklammer markiert, ergibt sich in (38a) das Problem, dass sich die Objektphrase „dr Ufsatz“ (den Aufsatz) offensichtlich innerhalb der rSkl
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befinden muss; bei (38b) stehen die einzelnen Verben nicht in ihrer S-Rektion, aber zusätzlich ist das finite Verb nicht – wie bei der IPPKonstruktion im Standarddeutschen üblich – an die Spitze der rSkl (also ins Oberfeld) gerückt worden. Benötigt wird also ein Modell, das einerseits liberal genug ist, um zwischen beiden Beschreibungsebenen zu vermitteln, andererseits aber hinreichend restriktiv ist, d.h. nur jene Stellungsvarianten erfasst, die im ahd. Korpus auch wirklich zu finden sind. Ich folge hier Haider (1993, 1997b, 2003) in der Auffassung, dass sich die Satzstruktur und in Sonderheit die Felderstruktur des Deutschen in folgender Weise auf Konstituentenstrukturen umlegen lässt (einige Details wurden ausgelassen): •
Vorfeld und linke Satzklammer entsprechen einer funktionalen Phrase (FP).
•
Mittelfeld und rechte Satzklammer entsprechen der Verbalphrase (VP), die über eine komplexe Kopfstruktur als Projektionsbasis verfügen kann.
Die in (39a) bereits eingeschachtelten Felderabschnitte entsprechen nach Auffassung Haiders also den folgenden Konstituenten (lSkl = linke Satzklammer, rSkl = rechte Satzklammer): (39a) [Vorfeld] lSkl [Mittelfeld] rSkl … (39b)[FP … Fo = {lSkl} [VP … [Vo = {rSkl}]]] Die Besonderheiten des Ahd. sind somit in der Konstituentenstruktur der Verbalphrase (VP) und den systematischen Kontrasten angesiedelt, die sich hier zwischen einer OV-Sprache wie Deutsch und einer VO-Sprache wie Englisch ergeben. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang das Verhalten von präfigierten Verben. Haider (1997a, 2000, 52) wertet die verbdistante bzw. verb-adjazente Position der Partikel in Sprachen wie Englisch oder Norwegisch als direkten Reflex der in diesen Sprachen verfügbaren Kopfpositionen, vgl. (40a, b). (40a) to [VP [phone upi] somebody [VP ei secretly]] (40b)to [VP phonei somebody [VP [ei up] secretly]] (40c) [VP jemanden heimlich anzurufen] (40d) [FP er rufti [VP jemanden heimlich an ei]] In einer VO-Sprache wie dem Englischen oder Norwegischen sind also zwei V-Schachteln (und damit zwei Kopfpositionen) nötig, um beispielsweise die Argumentstruktur eines transitiven oder ditransitiven Verbs zu sättigen, während dies in einer OV-Sprache wie dem Deutschen, in der
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sich alle Argumente nach links an den Kopf der VP anlagern, nicht nötig ist, vgl. (40c). Es gibt nur eine weitere nicht-lokale und obligatorische Kopfposition, und diese entspricht der linken Satzklammer in V / 1- bzw. V / 2-Sätzen, vgl. (40d). Ein zweiter wichtiger Unterschied besteht in der syntaktischen Organisation von zusammengesetzten Verbformen, die in OV quasi in einen Topf geworfen werden und eine komplexe Kopfstruktur bilden, die kein intervenierendes Material duldet, vgl. (41b); im Englischen hingegen spannt jeder einzelne verbale Kopf eine eigene, nichtkompakte VP auf, vgl. (41a). (41a) that he [VP must [VP have [VP read the book]]] (41b)dass er [VP das Buch [Vo gelesen (*XP) haben (*XP) muss]] (41c) dass er [VP das Buch [Aux hättei [Vo lesen sollen ei]]] Die einzige Ausnahme bilden Ersatzinfinitiv-Konstruktionen, bei welchen zumindest das finite Auxiliar (gegebenenfalls noch weitere abhängige Verben) in einer nicht-kanonischen Kopfposition zu finden ist, nämlich dem Oberfeld, vgl. (41c), (42a); zwischen Ober- und Unterfeld ist u.U. nichtverbales Material zu finden, vgl. (42b). Der kategoriale Status dieser nichtkanonischen Kopfposition kann nicht einfach vom Typ V sein, da sie im Wesentlichen nur Auxiliaren bzw. Modalverben offensteht. (42a) dass [VP er ihn heimlich [AUX hättei … [Vo anrufen sollen ei]]] (42b)dass [VP er ihn [AUX hättei [VP heimlich [Vo anrufen sollen ei]]] In dieser Eigenschaft besteht auch der entscheidende Unterschied zu einer VO-Sprache wie Englisch, die auf Ebene der Argumentstruktur-Projektion keine kategorialen Unterschiede aufweist: Die V-Projektion wird durch eine weitere Projektion derselben Kategorie erweitert, und diese Erweiterung ist nicht konstruktionsspezifisch wie im Deutschen bei IPP, vgl. den Kontrast zwischen (43a) und (43b). (43a) *dass [VP er riefi ihn [VP an ei]] (43b)that he [VP phonedi him [VP ei up]] Ich begnüge mich an dieser Stelle mit einigen Anmerkungen zu den hier verwendeten Konzepten; für weiterführende Aspekte und insbesondere für eine Analyse im Rahmen der Projektiven Grammatik (einer repräsentationellen Variante der Generativen Grammatik) sei auf Haider (1993, 2000, 2009) verwiesen. Auf Basis des bisher Gesagten lassen sich für das Althochdeutsche jedenfalls vier mögliche Konstituentenstrukturen für die VP identifizieren, die in (44) anhand von Beispielen illustriert werden:
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(44a) OV + quasi-geschichtete VP (Oberfeldbildung): dhazs izs in salomone [AUX uuarii [VP al arfullit ei]] (Is. 632) (44b)OV ohne Schichtung: ter [VP imo selbemo dia zungûn [Vo aba / beiz]] (NB 16,12) (44c) VO + geschichtete VP: Úbe uuír gréhto nû [VP uuéllên [VP skáffôni dien díngen nâh platone ei gerístige námen.]] taz er [VP beizi imo selbemo [VP aba ei dia zungûn]] (NB 91, 3) (44d) VO ohne Schichtung: tánne [VP sie búrg-réht [VP scûofen demo líute]] (NB 64,13) Die beiden prototypischen Strukturen sind (44b) und (44c) – sie entsprechen jeweils der VP-Struktur von OV-Sprachen bzw. VO-Sprachen. Erklärungsbedürftig sind die Varianten (44a) und (44d), da es sich hierbei um ‚hybride‘ Strukturen handelt, die weder eindeutig dem OV- noch dem VO-Typ zugeordnet werden können. Allerdings ist hier zu beachten, dass (44a) – im Unterschied zu (44d) – auf dialektaler Ebene, mit Einschränkungen, sogar im Standarddeutschen, zu finden ist, d.h. als genuin ahd. Muster bleibt also nur die Variante (44d) übrig. Unter Schichtung ist die Erweiterung der V-Projektion durch eine weitere nicht-lokale Kopfposition zu verstehen, wie sie in (40a, b) anhand einer VO-Sprache wie Englisch motiviert wurde. Die grundlegende Einsicht ist die, dass eine VO-Sprache zweier VP-Schachteln (mit jeweils eigenen Kopfposition) bedarf, um die Argumentstruktur eines transitiven Verbs projizieren zu können; in einer OV-Sprache mit Verbalkomplex (Deutsch, Niederländisch) ist hierzu nur eine (komplexe) Kopfposition und ein Abschlussknoten (VP) vonnöten. Nur im Falle von Oberfeldbildung (vgl. Bech 1983) wird in OV eine zusätzliche V-Projektion aufgespannt, und diese zeigt eindeutige kategoriale Beschränkungen hinsichtlich zulässiger Kopfelemente (Auxiliare, Modalverben); die im Unterfeld verbleibenden Verben bilden eine durch Statusrektion verbundene komplexe Kopfstruktur. In einer VO-Konfiguration hingegen gibt es kein Unterfeld; die Statusrektion verläuft von links nach rechts (ohne Variation), und jedes Verb als Kopfexponent spannt seine eigene V-Projektion auf. 4.3. Was ist in späteren Sprachstufen des Deutschen passiert? Wenn nun das Althochdeutsche in der Tat als Repräsentant eines dritten Stellungstyps neben OV und VO gesehen werden kann, ergibt sich die
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Frage, wie es im Deutschen zum Wandel Richtung OV kam und welche internen bzw. externen Faktoren zu solch einem Wandel beigetragen haben. Was die grammatik-interne Ebene anlangt, so wird diese im Beitrag von Haider (dieser Band) einer genaueren Betrachtung unterzogen. Über externe Faktoren allerdings kann zu diesem Zeitpunkt allenfalls spekuliert werden: So unplausibel ein Bezug auf den Einfluss des Lateinischen bei der Fixierung der Nebensatzstellung in frühneuhochdeutscher Zeit (vgl. Behaghel 1932, 11f.) ist, so eindeutig mangelt es an brauchbaren Alternativen. 22 Auf empirischer Ebene jedenfalls lässt sich dieser Wandel zu OV, der spätestens in frühneuhochdeutscher Zeit abgeschlossen ist (vgl. Sapp 2006, Kap. 5), mit dem graduellen Verlust der Option (44d) verbinden, die als VO ohne Schichtung angesprochen wurde. Option (44a), d.h. Verb projection raising, ist auf dialektaler Ebene auch im heutigen Deutschen fest etabliert; Belege für diese Struktur lassen sich sogar im Standarddeutschen finden, wie die folgenden Belege aus dem ZEIT-Korpus 23 demonstrieren: (45a) Zugegeben, daß auch ein jüngerer, ein kühnerer Politiker an dieser Erbmasse hätte vielleicht verzweifeln müssen […] (45b) Das war doch wohl ein Kredit, den er hätte besser nutzen können (46a) und führt Beispiele an, woran man hätte Anstoß nehmen müssen (46b) daß sie nun auch hätte Kohlen kaufen können In (45) finden sich Beispiele für Adverbien, die zwischen Ober- und Unterfeld intervenieren; (46) ist repräsentativ für die Belege, die ich im ZEIT-Korpus habe finden können: Sie umfassen durch die Bank Lexikalisierungen (46a) bzw. indefinite NPn (46b). 24
5. Fazit In diesem Beitrag wurde der Versuch unternommen, gewisse syntaktische Besonderheiten des Althochdeutschen in der rechten Satzperipherie typologisch zu interpretieren. Nimmt man wohlbekannte systematische Kon_____________ 22 23 24
Schon Fleischmann (1973) hat nachgewiesen, dass es signifikante Unterschiede zwischen der kanonischen Verbendstellung des klassischen Lateins und den Stellungsmöglichkeiten des Mittel- bzw. Neulateins gibt. Dieses Korpus kann online über das Projekt Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jh. (DWDS) benutzt werden: http://www.dwds.de/ (Stand: 28.11.08). Weitere Belege für diese Struktur finden sich bei Bech (1983, 67) und bei Haider (2003, 106f.).
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traste zwischen den heutigen germanischen OV- und VO-Sprachen als Heuristik, dann zeigt sich im Ahd. nicht nur ein Parallelismus von (a) OVund VO-kompatiblen Strukturen, sondern es gibt auch (b) Stellungsmuster, die keinem der beiden Typen eindeutig zugeordnet werden können. Andere (scheinbare) Verbstellungs-Besonderheiten des Althochdeutschen (z.B. Verb projection raising) lassen sich dahingehend relativieren, dass sie auf dialektaler Ebene und – mit Einschränkungen – auch im heutigen Standarddeutschen zu finden sind. Aus der Perspektive der Grammatiktheorie lassen sich diese Besonderheiten durch alternativ verfügbare Konstituentenstrukturen der VP erfassen. Althochdeutsch stellt in dieser Hinsicht ein reichhaltigeres System dar als spätere Stufen des Deutschen, indem es typische Eigenschaften von VO- und OV-Sprachen miteinander verbindet, also in ontologischer Sicht keinem der beiden Typen angehört.
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Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von Funktionsverbgefügen im Althochdeutschen Christian Braun (Graz)
1. Einleitung Die vorliegende Arbeit betrachtet das Phänomen der Funktionsverbgefüge aus sprachgeschichtlicher Sicht. Die hierbei im Mittelpunkt stehenden Fragestellungen lauten: 1. Wie kommt es zum Bedeutungsschwund des Funktionsverbs? 2. Wie entsteht der semantische Mehrwert der Aktionsartmarkierung? 3. Wie hängen die Valenz des Funktionsverbs und die des Nomen abstractum zusammen? Bei der Beantwortung dieser Fragestellungen wird von folgender These ausgegangen: Funktionsverbgefüge nehmen ihren Ausgang von der konkreten Bedeutung der Funktionsverben und auch von deren Satzbauplänen. Der Bedeutungsschwund der Funktionsverben resultiert aus einer Tiefenkasusverschiebung bei einer regulär vom Verb geöffneten Leerstelle. Anlass hierfür sind Metaphern, wobei nicht entschieden werden kann, ob es sich um lexikalisierte Metaphern auf Ebene der langue oder konzeptuell-kognitive Metaphern im Sinne von Lakoff / Johnson1 handelt. Bei einem Bewegungsverb wie queman könnte eine Konzeptmetapher wie folgt lauten: BEWEGUNG IST GLEICH ZEIT. Der konkrete Ziellokativ entspricht hierbei dem Semem des Nomen abstractum. Die vorliegende Studie konzentriert sich auf Belege des althochdeutschen Verbs queman aus dem 9. Jahrhundert. Aufgabe ist es, eine Betrachtung der Funktionsverbgefüge von der Semantik des Funktionsverbs her, nach seinem Satzbauplan und den darin enthaltenen Rollen vorzunehmen. _____________ 1
Vgl. Lakoff / Johnson (1980).
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2. Zum Terminus Funktionsverbgefüge und seiner Geschichte Es gibt im heutigen Neuhochdeutschen eine ganze Reihe verschiedenster Verb-Substantiv-Fügungen (z.B. Einfluss ausüben, Anerkennung finden, einen Beweis führen, in Begeisterung geraten). Aus diesen wird über mehrere Grade der Einschränkung die Gruppe der Funktionsverbgefüge herausgelöst, wobei verschiedene Forscher in Nuancen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte in der Definition setzen. In einem ersten Schritt setzt von Polenz eine Gruppe von Gefügen an, bei denen statt eines Verbs eine Verbindung aus einem inhaltsleeren Verb mit einem durch Nominalisierung eines anderen Verbs entstandenen Substantiv verwendet wird.2 Für diese – immer noch sehr heterogene Gruppe – schlägt er den Begriff des Nominalisierungsverbgefüges vor. Innerhalb dieser Gruppe kann man nun Gefüge beobachten, bei denen der Verbteil einen systematisch beschreibbaren semantischen Eigenbeitrag leistet, nämlich den der Markierung der Aktionsart. Solche Verben nennt von Polenz Funktionsverben, die zugehörigen Gefüge Funktionsverbgefüge. Funktionsverbgefüge müssen über zwei Merkmale verfügen: 1. Das Funktionsverb leistet einen Eigenbeitrag im Sinne der Markierung der Aktionsart; 2. bei dem Substantiv handelt es sich um ein Nomen actionis. Im weiteren Verlauf der Diskussion präzisiert von Polenz den Begriff des Funktionsverbgefüges insofern, dass zwischen Verb und Substantiv als Fügemittel eine Präposition stehen muss.3 Gefüge ohne Präposition sind somit keine Funktionsverbgefüge. Zudem lässt er nicht mehr nur Nomina actionis zu, sondern generell alle Nomina abstracta, also sowohl Verbal- als auch Adjektivabstracta (z.B. Verlegenheit), sofern sie einen Vorgang bzw. einen Zustand beschreiben.4 Diese allgemeinere Fassung des Gefügesubstantivs als Verbal- oder Adjektivabstractum wird nicht von allen Forschern übernommen.5 Zu beachten gilt, dass das Substantiv des Gefüges satzsemantisch als Prädikatsausdruck bzw. als prädikativer Kern fungiert. Das bedeutet, dass sich die Valenz im
_____________ 2 3 4 5
Vgl. von Polenz (1987, 169f.). Vgl. ebd., 171. Vgl. ebd. Vgl. Heringer (1973, 169ff.), Greule (1982, 177ff.).
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd.
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Satz primär nach der Valenz des Verbalabstractums richtet, eventuell modifiziert durch die Aktionsart.6 Relleke betrachtet Funktionsverbgefüge erstmals auch für eine historische Epoche des Deutschen und konzentriert sich hierbei auf das Althochdeutsche. Sie steht, was die Auffassung des Phänomens betrifft, einerseits in der Tradition von von Polenz, weist andererseits aber schon früher als dieser im Anschluss an Engelen auf die Relevanz der Präposition als Fügemittel hin.7 Relleke unterscheidet nach formalen Kriterien zwischen Gefügen folgenden Aufbaus:8 1. Substantiv + Verb: Arbeit verrichten; 2. Artikel + Substantiv + Verb: eine Beratung durchführen; 3. Präposition + Substantiv + Verb: in Erwägung ziehen; 4. Präposition + Artikel + Substantiv + Verb: zur Entscheidung bringen. Nur für die Strukturen 3. und 4. verwendet sie den Begriff des Funktionsverbgefüges. Aufgrund des Charakters des bestimmten Artikels im Althochdeutschen ist – im Gegensatz zum Neuhochdeutschen – die 4. Struktur jedoch weit weniger relevant. Relleke stellt fest, dass bereits im Althochdeutschen 1. in und zu die häufigsten Präpositionen im Gefüge sind; 2. kommen und bringen als Funktionsverben starke Verbreitung finden.9
3. Korpus und Methodik Bezüglich Korpus und Methodik orientiert sich die hier vorliegende Studie gänzlich am Syntaktischen Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9. Jahrhunderts.10 Die herangezogenen Quellen umfassen somit folgende Texte: Altalemannische Psalmenfragmente, Benediktinerregel, Hildebrandslied, Monseer Fragmente, Murbacher Hymnen, Otfrid, Tatian sowie die kleineren Sprachdenkmäler nach von Steinmeyer.11 _____________ 6 7 8 9 10 11
Vgl. von Polenz (1987, 171f.): So erhöht sich die Wertigkeit bei Faktitiva / Kausativa um die Stelle des bewirkenden Agens: w bringt x zur Einigung mit y über z. Vgl. Engelen (1968, 289ff.). Vgl. Relleke (1974, 4ff.). Dies erklärt sie mit deren früh einsetzendem Bedeutungsschwund; vgl. ebd., 39f. Greule (1999). Ausführliche Beschreibungen zur Methodik finden sich auf S. 10ff. Vgl. hierzu auch Greule (1982); Greule (1995, 357ff.). Vgl. von Steinmeyer (1971).
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Aufgrund aller vorkommenden Belege für das Verb queman im Althochdeutschen des 9. Jahrhunderts werden in einem ersten Schritt Satzbaupläne erstellt, vor denen als Folie die auftretenden Funktionsverbgefüge betrachtet werden.12 Der Untersuchungsgegenstand ist das Simplex queman und seine bedeutungsgleichen Präfixverben. Ausgangspunkt ist der Lexikoneintrag im Wörterbuch von Schützeichel.13 Die Bedeutungen des Simplex werden mit denen der Präfixverben verglichen. Bei Deckungsgleichheit wird das Präfixverb aufgenommen.14 Für die hier behandelten Quellen lassen sich zwei Hauptbedeutungen ausmachen: 1. 'kommen, gehen'; 2. 'zuteil werden'. Wegen Deckungsgleichheit aufgenommen wurden die Präfixverben azqueman‚ '(herbei)kommen' und teilweise biqueman in den Bedeutungen 'kommen', 'gelangen', 'zuteil werden'.
4. Zum Problem der Präfixverben Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Behandlung von Präfixverben mit Problemen verbunden ist. Allein die von den verschiedenen Editoren in ihren Registern doch sehr unterschiedlich angesetzten Infinitivlemmata sprechen hier eine deutliche Sprache. Für Otfrid können die Glossare von Shimbo (1990), Piper (1887) und Kelle (1963) herangezogen werden. Piper setzt außer dem Simplex und den im Wörterbuch von Schützeichel angegebenen Präfixverben noch weitere Komposita an. Beleganzahl queman ana-queman bi-queman heim-queman hera-queman
196 1 7 (+4) 9 21
_____________ 12
13 14
Der Artikel zu queman im Valenzlexikon beruht auf einer repräsentativen Belegauswahl; vgl. Greule (1999, 10). Insgesamt können für das Korpus 598 Belege ermittelt werden, deren Analyse die Gesamtsituation jedoch nur unwesentlich modifiziert. Hinzu treten die Belege der Funktionsverbgefüge. Vgl. Schützeichel (1995). Der größere Formenreichtum und Bedeutungsumfang bei Schützeichel erklärt sich durch die umfangreichere Materialgrundlage des Wörterbuchs.
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herasun-queman în-queman ingegin-queman thanan-, thanana-queman thara-queman thuruh-queman widorort-queman zisamane-queman
399
10 3 7 4 18 1 2 3
Bei Kelle ergibt sich folgende Belegsituation: Beleganzahl quimu ana-quimu bi-quimu hera-quimu in-quimu ingegin-quimu thara-quimu thuruh-quimu zisamane-quimu
154 (davon doppelt gezählt: O 5,13,27)15 1 7 (+4) 16 2 6 1716 1 3
Kelle liefert keinen eigenen heimqueman-Eintrag, sondern führt heim- als Untereintrag bei quimu auf.17 Gleichzeitig nennt er besagte Belegstellen zusätzlich noch im normalen quimu-Eintrag.18 Gleiches gilt für herasun-. Auch für widorort-quimu setzt er keinen eigenen, sondern einen Untereintrag beim Simplex an. Dort finden sich beide Belege. Abweichend von Piper findet sich bei Kelle auch kein Präfixverb thanan(a)queman. Die Einträge werden verstreut beim Simplex angeführt. Letztlich kumuliert das Problem in der Frage: Liegt ein echtes Präfix vor, handelt es sich um eine Präposition oder ein Adverb? Dies muss man für jeden Einzelfall vor Ort entscheiden. In den allerseltensten Fällen findet man das Präfix aber im Text dort, wo es zu vermuten wäre – direkt vor dem Verb. Oft ist einer Einordnung als Adverb (und damit als eigenständiges Satzglied) oder als Präposition (und damit als Teil eines anderen Satzglieds) der Vorzug zu geben. Dies kann die folgenden Verben betreffen: anaqueman, thar(a)queman, thuruhqueman, foraqueman, framqueman, furi_____________ 15 16
17 18
Vgl. Kelle (1963, 467, Sp. 1 und 468, Sp. 1). Obwohl Piper hier 18 und Kelle 17 Belege anführen, hat letzterer nicht einfach einen übersehen. Vielmehr hat Kelle drei Belegstellen weniger und zwei zusätzlich gefunden, wobei O 3,9,8 bei Piper evtl. zu Recht unter dem Simplex aufgeführt ist (quam thar). Vgl. Kelle (1963, 467, Sp. 1). Vgl. ebd., 469, Sp. 2.
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qhueman, heraqueman, inqueman, ingeginiqueman, ûfqueman, ûzqueman, zusamanequeman, zuaqueman. Bei Texten, die auf lateinischen Vorlagen beruhen, tritt das Phänomen der Lehnbildungen erschwerend hinzu. Zwar liegen hier echte Präfixverben, d.h. Verben mit vorangestelltem Präfix, vor, jedoch darf bezweifelt werden, ob Lexeme, in denen mechanisch Lehnbildungen aus dem Lateinischen übernommen werden,19 Aufschluss über die germanischen Aktionsarten im Sinne Streitbergs20 geben können. Die folgenden Belege dienen der Veranschaulichung: B 11,14: B 22,32: B 27,39: B 32,47: B 65,100:
MH 2,7:
… min duruhqhueman. minime pervenientur. [schlechte Gedanken] herzin sinemu zuaqhuuemente malas cordi suo advenientes (uuir) wellemees sniumo duruhqhueman volumus velociter pervenire (kidancha ubile) herzin sinemu zuaqhuemante malas cordi suo advenientes … uzzan ibu notduruft kesteo ubarqhuimit *** [Text lückenhaft] excepto si necessitas hospitum supervenerit aut forte azquheme richi dinaz adveniat regnum tuam
Es tritt im Korpus jedoch kein Fall auf, in dem ein in dieser Weise gebildetes Verb Teil eines Funktionsverbgefüges ist, so dass die sich potentiell hierbei ergebenden Schwierigkeiten auf der Ebene der Semantik für die vorliegende Studie nicht relevant sind.
_____________ 19 20
Vgl. Wedel (1970, 14). Streitberg (1889, 70ff.).
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd.
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5. Analyse 5.1. queman allgemein Der für das ahd. Verb queman postulierte Kasusrahmen lautet paraphrasiert: a kommt in (i.e. im Gebiet) b von c über d nach e. Hierbei handelt es sich bei a um das Agens, bei den anderen Rollen um Spezifikationen des Lokativs, so wie sie bei einem Bewegungsverb zu erwarten sind. Die Rolle a ist sehr oft durch Lebewesen besetzt, kann aber im Grunde auch durch Unbelebtes gefüllt sein, sofern dieses in irgendeiner Weise personifizierbar ist. Es ist daher sinnvoll, zwischen einem Primäragens AG (+hum / anim) und einem Sekundäragens AG (-hum / anim) zu spezifizieren. Bei den Lokativen handelt es sich um den Situativ, den Ursprungslokativ, den Weg- bzw. Streckenlokativ und den Ziellokativ. Für queman in der Bedeutung 'zuteil werden' sind zwei weitere Rollen relevant: Das affizierte Objekt und der Adressat. Der Kasusrahmen sieht wie folgt aus: OBJAFF wird AD von AG / LOKZIEL zuteil. 5.2. Funktionsverbgefüge mit queman Folgende Belege für Funktionsverbgefüge mit queman können ermittelt werden.21 5.2.1. Inchoative Funktionsverbgefüge B 7,8: zi euuikemo libe dhuruhqhueman
zum ewigen Leben gelangen (lat. pervenire)
M 69,65; M 70,71: ze deru suonu queman
zur Sühne kommen
O 5,6,7: zi giloubu biqueman
zum Glauben kommen / finden
_____________ 21
Für das Mittelniederdeutsche listet Lundemo mehrere Beispiele von Funktionsverbgefügen mit kōmen auf: vgl. Lundemo (1999, 170ff.).
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O 2,9,27: zi suazeren goumon queman
zu süßerem Genuss gelangen
O 1,18,6; O 5,12,87; O 5,23,225: zi ente queman zum Ende kommen T 13,4: zi urcunde queman
zum Bezeugen kommen
5.2.2. Ingressive Funktionsverbgefüge O H 116, O 2,4,84; O 2,4,105; O 2,7,58; O 2,8,40; O 2,14,99; O 2,18,22; O 2,21,43; O 3,1,8; O 3,2,14; O 3,3,2; O 3,18,10; O 3,20,131; O 3,23,46; O 3,24,43; O 4,24,17; O 4,29,54; O 4,30,24; O 5,4,2; O 5,9,8; O 5,19,36; O 5,20,87; O 5,23,209; O 5,24,7 (24 Belege): in muat (17) / in githahti (2) / in gidrahti (1) / in gidrahta (1) / in herza (1) / in wan (1) 'in den Sinn kommen' zi muate (1) queman / biqueman Diese ingressiven Gefüge stimmen in ihrer Bedeutung überein. Syntaktisch weichen sie jedoch voneinander ab. Das Nomen abstractum ist paradigmatisch austauschbar; im Rahmen einer strengen Definition muss der Beleg mit herza ausfallen, da das Substantiv weder als Nomen actionis noch als Verbalabstractum zu werten ist. In einem Fall ist ein paradigmatischer Austausch der Präposition in durch zi zu beobachten. Da hier ausschließlich Otfrid-Belege vorliegen, kann vermutet werden, dass die Fülle der verschiedenen Gefüge-Nomina zu einem gewissen Grad dem Reimzwang geschuldet sein könnte. 5.3. Beispiele Zur besseren Einsicht sollen im Folgenden einige ausgewählte Belegbeispiele in ihrem syntaktischen Kontext angeführt werden.22 M 70,71:
daz er iz allaz kisaget, denne er ze deru suonu quimit
O 5,6,7:
Joh wío siez ouh firnámun, zi gilóubu sid biquámun
O 2,9,27:
Ni thúhta mih theih quámi thar sulih wín wari, odo io in ínheimon zi súazeren goumon
_____________ 22
Auf die Wiedergabe aller Belegstellen wird aus platzökonomischen Gründen verzichtet.
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O 1,18,6: 23
ni mag ich thóh mit worte thes lóbes queman zi énte
O 5,23,225:
Ni móht ich thoh mit wórte thes lóbes queman zénte álles mines líbes frist, wíolih thar in lánte ist
O 2,8,40:
es wiht ni quám imo ouh in wán, theiz24 was von wázare gidan
O 3,1,8:
súntar so thie dáti mir quément in githáhti
O 5,19,36:
queman mág uns thaz in múat
O
5,23,209:25
Allo wúnna thio sín odo io in gidráhta quemen thín
5.4. Pertinenzdative Bei allen Gefügen mit der Bedeutung 'in den Sinn kommen' tritt ein Phänomen auf, das sie von den anderen Gefügen unterscheidet: der doppelte Ziellokativ. O 3,1,8:
súntar so thie dáti mir quément in githáhti
O 5,19,36:
queman mág uns thaz in múat
O 5,23,209:
Allo wúnna thio sín odo io in gidráhta quemen thín
In Fällen wie diesen erscheint es m.E. angemessen, das Pronomen als Pertinenzdativ zu werten.
6. Schlussfolgerungen Welchen Eigenbeitrag kann ein Bewegungsverb wie queman zur Semantik eines Funktionsverbgefüges leisten? Es fällt auf, dass in den allgemeinen Beispielen der Ziellokativ die am häufigsten realisierte Rolle ist. Gleiches gilt auch für die Gefüge, wo 'von etwas kommen' gar nicht auftritt. Bis auf das nicht berücksichtigte Passiv-Gefüge O 3,10,3:
Ni quam er druhtine fon heidinemo wibe in gange odo in loufti sulih anaruafti
_____________ 23 24 25
Hier und im Folgebeleg ist durch die NP5 mit worte jeweils schon der semantische Bezug zum Nomen abstractum hergestellt. I.e. der Wein. Bemerkenswert ist, dass die Wahl von gidráhta hier nicht aus Gründen des Reimzwangs erfolgt.
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folgen sie dem Aufbau 'zu etwas kommen'.26 Somit liegt der semantische Eigenbeitrag von queman im 'Erreichen von etwas'. Auf den ersten Blick wird somit ein perfektivierend-resultatives Element beigesteuert. Genau das ist aber falsch. Vielmehr kommt man zum Beginn dessen, was semantisch durch das Nomen abstractum ausgedrückt wird, nicht zu dessen Ende. Ob ein Funktionsverb einen inchoativen, allmählich einsetzenden oder einen ingressiven, plötzlich einsetzenden Bedeutungsbeitrag leistet, hängt einzig an der Geschwindigkeit, mit der das Ende dessen erreicht wird, zu dessen Anfang man mit queman gelangt. So kann 'zum Glauben kommen' ein ganzes Leben dauern (oder auch schnell gehen), 'in den Sinn kommen' sehr plötzlich geschehen. Als Ausnahme von diesen inchoativ-ingressiven Gefügen wird immer wieder das Beispiel 'zu Ende kommen' mit resultativer Aktionsart genannt.27 In diesen Fällen ist aber bei der Einordnung eine Fehleinschätzung unterlaufen. Der Grund hierfür ist, dass man sich von der dem Nomen (!) innewohnenden Aktionsart in die Irre führen hat lassen. Man darf nicht vergessen, dass manche Verben schon aufgrund ihrer Semantik genuin auf eine Aktionsart verweisen. Die Aktionsart des Gefüges wird aber durch das Funktionsverb übermittelt – nicht durch das Nomen abstractum. Insofern ist zi enti queman ebenfalls inchoativ zu werten: Man beginnt jetzt mit dem Ende.28
7. Fazit Insgesamt können 33 Funktionsverbgefüge mit queman ausgemacht werden. Diesen stehen 508 Belege mit 1queman (+hum / anim), 80 Belege von 1queman (-hum / anim) sowie 10 Belege von 2queman ('zuteil werden') gegenüber. Bis auf das Passiv-Gefüge entsprechen alle Nomina abstracta beim Anlegen des höchstfrequenten Satzbauplans einem Ziellokativ. Sie werden, wie dort, mit den Präpositionen in oder zi eingeleitet. Die Funktionsverbgefüge sind also eine von mehreren Variationen über den Satzbauplan von 1queman (+hum / anim). Diese Variationen sehen wie folgt aus: _____________ 26 27 28
Da keine Präposition als Fügemittel auftritt, wird dieser Beleg nicht als Funktionsverbgefüge gewertet. Z.B. Relleke (1974, 36). Die Plausibilität der Argumentation soll durch folgende Beobachtung gestützt werden: Die in Vorträgen oft gehörte, manchmal durchaus willkommene Phrase „Ich komme jetzt zum Ende.“ signalisiert nicht den sofortigen Abschluss eines Vortrags, sondern vielmehr das Einleiten der Abschlussphase.
Der Einfluss von Tiefenkasusverschiebungen bei der Entstehung von FVG im Ahd.
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Wird das Agens über eine Personifikation mit Unbelebtem besetzt, erfolgt eine Verschiebung von 1queman (+hum / anim) zu 1queman (-hum / anim). Wird der Ziellokativ personifiziert (und damit zum Adressaten) und gleichzeitig das Agens mit Abstraktem besetzt (und auf diese Weise zum affizierten Objekt gemacht), wird der Wechsel von 1queman zu 2queman eingeleitet. Wird allerdings nur der Ziellokativ abstrahiert, befindet man sich auf dem Weg zum Funktionsverbgefüge. Jede dieser Varianten beruht auf einer subtilen Veränderung des Satzbauplans und der zugehörigen semantischen Rollen. Diese stehen jeweils in Relation zum Semem des Verbs, wodurch eine wechselseitige Beeinflussung denkbar ist. Als Resultat ergibt sich eine Fülle verschiedener Alternativen und Möglichkeiten.
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Christian Braun
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Zum Verhältnis von Stil und Syntax. Die Verbfrüherstellung in Zitat- und Traktatsyntax des althochdeutschen Isidor∗
Eva Schlachter (Berlin)
1. Einführung Spätestens seit dem Werk von Matzel (1970) ist bekannt, dass die althochdeutsche Übersetzung des Traktats De fide catholica ex veteri et novo testamento contra Iudeos des Isidor von Sevilla keinen einheitlichen syntaktischen Stil aufweist: Zwei Techniken des Übersetzens werden in der Is[idor]-Übertragung befolgt: Außerhalb der Bibelzitate eine sehr selbständige, die mitunter überaus frei ist und fast der umschreibenden Wiedergabe gleichkommt; sie ist vornehmlich auf eine adäquate Erfassung des Sinnes der sehr schwierigen theologischen Beweisführungen bedacht. In den Bibelzitaten eine auf Selbständigkeit der Ausdrucksweise verzichtende, der getreuen Verdeutschung des biblischen Wortes dienende, die vielfach die lapidare Diktion der geheiligten Worte nachahmt und mit archaischeren Ausdrucksmitteln arbeitet. (Matzel 1970, 357)
Schon vor ihm hatte Eggers darauf hingewiesen, dass sich „dieser ausgezeichnete Übersetzer“ bei der Wiedergabe der Bibelzitate „enger an die Vorlage“ halte (Eggers 1963, 203). Die für die frühalthochdeutsche Zeit außergewöhnliche Übersetzungsleistung scheint sich also auf den argumentativen Teil des Traktats zu beschränken, in dem die Gottessohnschaft Jesu und der Trinitätsgedanke begründet werden. Die Bibelstellen aus dem Alten Testament dagegen werden in dem oben angeführten Zitat als unselbständiger, vorlagennäher und archaischer gedeutet. Neben diesen allgemein gehaltenen Wertungen wird Matzel lediglich an einer Stelle konkret, und zwar wenn es um die Auslassung des Subjektpronomens (SP) geht. Matzel behauptet, „dass gerade in Bibelzitaten das SP fehlt“ (1970, 357). Er übernimmt diese Behauptung von Eggenberger (1961), der _____________ ∗
Für Anregungen und Diskussionen danke ich meinen Kolleginnen Svetlana Petrova und Sophie Repp sowie Jürg Fleischer.
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Eva Schlachter
in einer empirisch breiten Untersuchung das Fehlen und die Setzung der Subjektpronomen im Althochdeutschen untersucht. Eggenberger deutet an, möglicherweise aufgrund seiner Lehnsyntaxhypothese, „dass in enger kongruenter Uebernahme das SP in Zitaten fehle“ (1961, 130). Doch gerade diese Behauptung wird in der ansonsten gründlichen und mit Zahlenwerten abgesicherten Untersuchung nicht belegt.1 Eine etwas andere Wertung der Zitatsyntax findet sich lediglich bei Lippert (1974), der sie – genauso wie die Traktatsyntax – als „frei“ bezeichnet. Es handle sich um eine „paraphrastisch-freie“ Übersetzungstechnik, die eher auf die Vermittlung des Inhalts als auf die des Eindrucks ziele, während der Traktatteil als „wirkungsbezogen-frei“ zu gelten habe und einer Wiedergabe mit den eigenen muttersprachlichen Mitteln vollständig entspricht (vgl. Lippert 1974, 40). Trotz der paraphrastisch-freien Übersetzungstechnik unterliegt die Wiedergabe der Zitatstellen nach Lippert gewissen „Grenzen“ und „Beschränkungen“ (ebd., 45), die mit ihrer Herkunft aus der Bibel zu tun haben. Dennoch ist es nicht die Lateinnähe per se, die die Zitatsyntax kennzeichnet, was Lippert anhand der Verbdrittkonstruktionen zeigt: Alle lateinischen Verbdrittsätze werden in der Zitatsyntax in solche mit Zweitstellung des finiten Verbs umgewandelt (vgl. ebd., 82). Hinter den Grenzen der Übersetzungstechnik vermutet Lippert vielmehr ein „stilistisch motiviertes Vorgehen“, das mit „rhythmischen Gestaltungsprinzipien“ zu tun habe (ebd., 85). Festzuhalten bleibt also, dass man sich zwar des Unterschieds zwischen den beiden Übersetzungstechniken bewusst ist, dass es aber bislang kaum gesicherte und konkrete Kenntnisse über die Art des syntaktischen Unterschieds oder des Stils gibt.2 Für die Syntaxforschung zum Althochdeutschen bedeutet dies, dass man die Herkunft der Belegstellen aus dem Isidor unbedingt zu beachten hat, worauf in jüngster Zeit ausdrücklich Fleischer hinweist (vgl. 2006, 35). Doch auch wenn man den Unterschied beachtet, ergibt sich dessen Wertung noch nicht zwangsläufig. Die Hypothese, dass die Zitatsyntax als ‚lateinnäher‘ zu gelten habe, liegt beispielsweise auch dem Urteil Axels (2007) zugrunde, das sie nach eigenen Angaben von Matzel übernimmt. Bei der Besprechung von Interrogativsätzen, in denen dem einleitenden Fragepronomen ein Pronomen und dann erst das finite Verb folgt, stellt sie fest, dass zwei von drei Beispielen der Zitatsyntax entstammen. Da die Pronomen aber gegen das Latein eingefügt _____________ 1 2
Die Auslassung der Subjektpronomen im Isidor und im Matthäus-Evangelium wird in meiner Doktorarbeit diskutiert. Klemm (1912) ist meines Wissens der Einzige, der die Untersuchung der Bibelstellen von derjenigen der restlichen Übersetzung getrennt vornimmt. Doch kommt er zu dem Schluss, dass „der einfluß der satzmelodie für die verbalstellung“ (1912, 42f.) in beiden Teilen gleichermaßen ausschlaggebend ist (vgl. ebd., 78).
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wurden, können die Belege nach Axel nicht mehr als Beispiele für den lehnsyntaktischen Einfluss des Lateinischen eingestuft werden, wie er die Zitatstellen charakterisiere (vgl. 2007, 245f.). Damit gelten die Belege als authentisch. Ob die ‚Lateinnähe‘ aber tatsächlich das entscheidende Prinzip der Zitatsyntax ist, muss erst noch nachgewiesen werden. Der vorliegende Aufsatz hat sich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zur Klärung dieser Frage zu leisten. Anhand der im Althochdeutschen noch relativ stark verbreiteten Verbfrüherstellung im Nebensatz3 soll untersucht werden, ob sich Zitat- und Traktatsyntax diesbezüglich unterscheiden. Ist das Phänomen gleichermaßen frequent? Welcher Einfluss kommt dem Lateinischen zu? Sind die postverbalen Konstituenten syntaktisch und informationsstrukturell vergleichbar? Der Einbezug der Untersuchung informationsstruktureller Kategorien, die als Bindeglied zwischen Syntax und Stil betrachtet werden können, hat zum Ziel, die Übersetzungstechniken der beiden Textteile präziser beschreiben zu können. Dass die Verbstellung sehr wohl als ein Diagnostikum für Stil benutzt werden kann, zeigt die Diskussion zur Verberststellung (V1) im deklarativen Hauptsatz. Sie wurde zum ersten Mal von Robinson (1994) als ein Charakteristikum der Zitatsyntax beschrieben. Robinson untersucht, wie die 41 Verberstsätze der lateinischen Vorlage im althochdeutschen Text wiedergegeben werden. Er stellt fest, dass in der Zitatsyntax 15 Mal ebenfalls für einen V1-Satz optiert wird. Die Traktatsyntax dagegen bevorzugt in 26 Fällen die Wiedergabe durch einen V2- / V3-Satz, die V1-Folge kommt nur drei Mal vor. Robinson wertet die V1-Sätze als eine Art ‚Flagge‘, die die Bibelzitatstellen als solche ausweist. Darin, dass sie als fremdes Muster gewertet werden sollen, liegt ihre Funktion, und nicht in der Herstellung einer Wort-für-Wort-Übersetzung. Robinsons Wertung von V1 als „a distinctively foreign pattern“ (1997, 25) geht aber sicherlich zu weit. V1 hat einen festen Platz in der althochdeutschen Syntax, wie gerade auch neuere Forschungen zeigen: Axel arbeitet die Verbindung von V1 mit bestimmten Prädikatklassen heraus. V1-Sätze kommen häufig mit unakkusativischen Verben wie beispielsweise Bewegungsverben oder in passivähnlichen Konstruktionen vor. In anderen Fällen ‚ersetzen‘ sie Sätze, in denen heute ein Expletivum stehen würde (vgl. 2007, 120 u. 124). Hinterhölzl / Petrova / Solf (2005) betonen, dass V1 im althochdeutschen Tatian mit zwei textuellen Funktionen einhergeht. Es dient zunächst der _____________ 3
Es handelt sich natürlich nur um eine relative Häufigkeit. Häufig sind diese Phänomene im Vergleich zu den Konstruktionen mit Absolutem Dativ oder der Auflösung von Partizipialkonstruktionen des Lateinischen, die ebenfalls schon als Diagnostikum für die Übersetzungstechnik herangezogen wurden (vgl. Lippert 1974). Die absoluten Zahlen sind statistisch gesehen keineswegs aussagekräftig. Sie werden daher lediglich als empirischer Anker für die weitere Interpretation verstanden.
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Einführung neuer Diskursreferenten und kommt typischerweise textinitial vor. Sind die Diskursteilnehmer jedoch schon bekannt, führen V1-Sätze die Hauptnarrationslinie fort. V1 ist zudem auch in den anderen altgermanischen Sprachen etabliert. Fleischer folgert daraus, dass nicht die Konstruktion V1, sondern die Distribution unauthentisch ist: [D]ie für diesen Text spezifische Funktion der Markierung von Bibelzitaten [überlagert] die für den Tatian feststellbare informationsstrukturelle Regel, sodass diese nicht mehr als solche erkannt werden kann. (Fleischer 2006, 46)
Axel dagegen kommt zu dem Schluss, dass die Häufigkeit von V1 in den Zitatteilen damit zu erklären sei, dass die hier vorkommenden Prädikate die V1-Muster bevorzugen (vgl. 2007, 129). Damit würde V1, auch was die Distribution betrifft, ein authentisches Muster darstellen.
2. Verbfrüherstellung im Nebensatz In der Diskussion der Entwicklung der Verbstellung vom Germanischen zum Althochdeutschen, die vor etwas mehr als hundert Jahren begann, konzentriert man sich in erster Linie auf die Stellung des Verbs im Hauptsatz. Weitgehend einig ist man sich über die relativ starke Verbreitung der Verbzweitstellung im Hauptsatz schon in althochdeutscher Zeit. Eher umstritten sind dagegen die Verhältnisse im Nebensatz. Zwar gehen schon Erdmann (vgl. 1886, 194) und Delbrück (vgl. 1911, 73) für das Althochdeutsche von der Durchsetzung der Verbendstellung im Nebensatz aus, doch scheint die Beleglage auch andere Beurteilungen nahezulegen. Diels (1906) nimmt offenbar die etablierte Zweitstellung im Nebensatz an, wenn er schreibt: „Wo ein Nebensatz mehrere nominale Bestandteile enthält, ist die Einschiebung des Verbs hinter dem ersten in der älteren Prosa etwas ganz gewöhnliches“ (1906, 164). Und auch Behaghel wertet die Verbfrüherstellung bis in die Gegenwartssprache als ein durchaus gängiges Phänomen: Ich habe dann gezeigt, dass das unrichtig ist, dass in der heutigen Mundart, in unserer Umgangssprache wie in altdeutschen Texten, oft genug das Verbum nicht am Ende steht. Das entscheidende Kennzeichen des deutschen Nebensatzes ist nicht die Endstellung des Verbs, sondern die Nicht-Zweitstellung, die Stellung nach der zweiten Stelle; ob danach noch etwas folgt, ist grundsätzlich gleichgültig. (Behagel 1929, 277)
Robinson (1997) hat speziell die Nebensätze des Isidor – auch auf die Position des Verbs hin – untersucht. Er klassifiziert die Nebensätze zunächst nach ihrer syntaktischen und semantischen Funktion für den Hauptsatz. Aus seinen Daten geht hervor, dass sich Adverbial- und Relativsätze anders verhalten als indirekte Fragen und mit dhazs eingeleitete Ergänzungs-
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sätze. Die erste Gruppe zeigt eine größere Präferenz für die Verbendstellung als die zweite. Dagegen scheint die Gruppe der mit dhazs eingeleiteten Adverbialsätze eine Ausnahme zu bilden: Mehr als die Hälfte aller Fälle weist Verbfrüherstellung auf. Robinson selbst deutet dies damit, dass sie häufig die wichtigste Information des gesamten Satzes bereitstellten (vgl. 1996, 83), wofür er das folgende Beispiel anführt: (1)
dhuo setzida inan in siin paradisi, dhazs ir chihoric uuari gote Da setzte (er) ihn in sein Paradies, dass er gehorsam wäre Gott Posuit eum in paradiso, ut esset deo subiectus, endi furiro uuari andrem gotes chiscaftim. und vorgezogen wäre (den) andren Gottes Geschöpfen ceteris creaturis praelatus. (Is.V.9, Eg. 491-493, He 29, 20-30, 1)
Robinsons genaue und kenntnisreiche Untersuchung hat jedoch den Nachteil, dass er die von ihm benutzten informationsstrukturellen Kategorien nicht definiert. In welchem Sinne ist beispielsweise die Tatsache, dass Gott den Menschen in das von ihm geschaffene Paradies setzt, weniger ‚wichtig‘ als die Forderung nach dem Gottesgehorsam? Außerdem ist die Vergleichbarkeit der einzelnen Verbfrüherstellungstypen nur schwer oder gar nicht möglich, weil Robinson seine Auszählungen nicht in einer zusammenfassenden systematischen Darstellung wiedergibt. Und schließlich stellt er sich nicht die Frage, ob auch anhand der Verbfrüherstellung im Nebensatz Unterschiede zwischen den Bibel- und den Traktatstellen beobachtet werden können. Angesichts dieser Mängel erweist es sich also als notwendig, die Verbfrüherstellungen im Isidor-Traktat noch einmal genauer zu untersuchen. Die Gruppe der mit dass eingeleiteten Nebensätze wurde deshalb ausgewählt, weil die Subjunktion dass in den meisten Fällen als solche erkannt werden kann (im Unterschiede zu den kausalen Konnektoren, die häufig als Konjunktion vor dem Satz, als Adverb oder als nebensatzeinleitende Subjunktion eingestuft werden können). Die Instanzen, in denen dass auch als Relativpronomen interpretiert werden kann, wurden ausgeschlossen. (2) gibt ein Beispiel für die Verbfrüherstellung aus der Zitatsyntax, (3) stammt aus dem argumentativen Teil der Traktatsyntax:4 (2)
(3)
dhazs dhu firstandes heilac chiruni. dass du verstehst (das) heilige Geheimnis. ... et archana secretorum … (Is.III.2, Eg.159, He 7, 5-6) dhazs ir selbo Christ ist chiuuisso got ioh druhtin
_____________ 4
Die Beispiele werden nach den Editionen von Eggers (1964) und Hench (1893) zitiert.
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dass er selbst Christus ist gewiss Gott und Herr Quia idem deus et dominus est (Is.III.1, Eg.135, He 5, 10-11) Meine Auszählung ergab, dass in mehr als der Hälfte aller 56 dass-Sätze, nämlich in 30, das Verb in einer medialen Position steht. Man könnte dies nun als eine Eigenart der Isidorsyntax bewerten, wenn nicht Weiß (im Druck) in seinem Korpus, das aus den dass-Sätzen der kleineren althochdeutschen Texte besteht, ebenfalls einen Anteil von 40 Prozent an Verbfrüherstellungen ermittelt hätte. Das Phänomen beschränkt sich außerdem nicht auf die mit dass eingeleiteten Nebensätze. Klemm (1912), der alle Nebensätze des Isidor-Texts untersucht, ermittelt 48 % Verbfrüherstellungen im Traktat- und 29 % im Zitatteil. Die Verbfrüherstellung im Nebensatz muss also als ein im frühen Althochdeutschen verbreitetes Phänomen betrachtet werden. Zudem erweist sie sich bei den mit dass eingeleiteten Sätzen als ein typisches Phänomen der Zitatsyntax: Acht von zehn Sätzen weisen eine frühere Position des Verbs auf, was einem Prozentsatz von 80 % entspricht. In der Traktatsyntax nähert sich der Anteil der Verbfrüherstellungen mit 48 % (22 von 46 Sätzen) den von Klemm und Weiß ermittelten Werten an. 2.1. Ursachen der Verbfrüherstellung Es liegt nahe, bei der Frage nach den Ursachen der relativ hohen Anzahl der Verbfrüherstellungen zunächst die traditionelle These zu überprüfen, die die Zitatsyntax als besonders ‚lateinnah‘ sieht. Doch ein Vergleich der acht Belege mit dem lateinischen Original zeigt, dass lediglich die Hälfte der Fälle parallel gebaut ist. Zwar ist in der Traktatsyntax der Anteil der dem Lateinischen entsprechenden Sätze geringer (acht von 22), doch deuten die Abweichungen – sowohl in der Zitatsyntax als auch in der Traktatsyntax – darauf hin, dass das Lateinische nicht die einzige Ursache für die Früherstellungen sein kann, sondern dass ihm bestenfalls eine verstärkende Funktion zukommt. Eine zweite These, die es zu überprüfen gilt, betrifft die syntaktische Funktion und die Wortart der postverbalen Konstituenten. Handelt es sich vorrangig um adverbiale Angaben, die zudem noch aus einer komplexen präpositionalen Phrase bestehen oder finden sich in dieser Position auch Objekte, eventuell sogar pronominaler Natur? Je ‚schwerer‘ eine Konstituente ist, desto eher wird sie hinter das Verb extraponiert. Von dieser Möglichkeit macht schließlich auch das Neuhochdeutsche Gebrauch, ohne dass man von einer strukturellen Verbfrüherstellung spre-
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chen würde. In der folgenden Tabelle sind die verschiedenen postverbalen Konstituenten aufgelistet: Akk- / Dat-Objekt Präpositionalphrase Adverbiale Subjekt Prädikativ (Verberst-Sätze)
Zitat (8) 4 1 1 1 1
Traktat (22) 4 5 2 6 4 1
Tabelle 1: Syntaktische Funktion der postverbalen Konstituenten
Die Aufstellung zeigt, dass ein typisches Merkmal der Zitatsyntax die Nachstellung von Akkusativ- und Dativobjekten ist. Die Belege, in denen diese Objekte zusätzlich noch pronominaler Natur sind, entsprechen mehr oder weniger der lateinischen Vorlage, wie die Belege (4) und (5) zeigen. (6) entspricht Beleg (2) und ist der Übersichtlichkeit halber noch einmal aufgeführt: (4)
dhazs ih fora sinem anthlutte hneige imu dheodun. dass ich vor seinem Antlitz neige ihm (die) Völker. ut subiciam ante faciem eius gentes (Is.III.2, Eg.153, He 6, 17-18)
(5)
dhazs uuerodheoda druhtin sendida mih zi dhir. dass (des) Heeres Herr sandte mich zu dir. quia dominus exercitum misit me ad te (Is.III.9, Eg. 236, He 13, 6-8)
(6)
dhazs dhu firstandes heilac chiruni. dass du verstehst (das) heilige Geheimnis. ...et archana secretorum… (Is.III.2, Eg.159, He 7, 5-6)
Beispiel (4) zeigt außerdem, dass der Faktor Einfluss des Lateins durchaus verschiedenen Interpretationen unterliegen kann. Da es hier um die Frage der Abfolge der nominalen Glieder am Satzende geht, wurde der Beleg als ‚lateinnah‘ gewertet, obwohl er die lateinische Possessivkonstruktion mit der authentischen germanischen Entsprechung von Dativ- und Akkusativobjekt wiedergibt und obwohl die Stellung des Verbs verändert wurde. Eine weniger ‚strenge‘ Bewertung würde die Beleggruppe Abweichung vom Lateinischen sogar noch verstärken und das Ergebnis, dass die Nachstellung von Objekten nicht primär ein lehnsyntaktisches Phänomen darstellt,
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Eva Schlachter
zusätzlich stützen. Auch der Traktatteil weist vier Belege mit nachgestellten Akkusativ- und Dativobjekten auf, die zum Teil erkennbar gegen das Lateinische konstruiert sind, doch kommt die Nachstellung von Personalpronomen nicht vor. (7)
dhazs ir chihoric uuari gote. dass er gehorsam wäre Gott. ut esset deo subiectus. (Is.V.9, Eg.491-492, He 29, 21-22)
(8)
Endi dhazs mittingart firleizssi diubilo drugidha… Und dass (die) Erde lasse hinter sich der Teufel Trugbilder. Omissisque mundus d£monum simulacris. (Is.V.10, Eg.507-508, He 30, 22-23)
(9)
dhazs imu arsterbandemu siin fleisc ni chisah enigan unuuillun. dass, als er starb, sein Fleisch nicht sah auch nur eine einzige Form der Verderbnis. quia moriens caro eius non uidit corruptionem... (Is.IX.12, Eg.719, He 44, 19-20)
(10) dhazs sie ni eigun eouuihd huuazs sie dhar uuidar setzan. dass sie nicht besitzen irgendetwas, was sie dagegen setzen. dum non habeant quod proponant. (Is.V.5, Eg.430-431, He 26, 2-4) Auffallend bei diesen Beispielen aus der Traktatsyntax ist dagegen, dass zumindest in den Belegen (9) und (10) mit den postverbalen Konstituenten eine besondere inhaltliche Akzentuierung einhergeht. Sie müssen als hervorgehoben interpretiert werden, was der Übersetzer dadurch deutlich werden lässt, dass er in (9) dem nachgestellten Akkusativobjekt ein restringierendes Adjektiv und in (10) ein Indefinitpronomen hinzufügt, das das Bezugswort für den sich anschließenden Relativsatz liefert. In beiden Fällen steht die nachgestellte Konstituente im Skopus der Negation. Festzuhalten bleibt bislang also zweierlei: Die Lateinnähe kann nicht als ausschlaggebender Faktor bei der Früherstellung des Verbs betrachtet werden – weder in der Traktat-, noch in der Zitatsyntax. Und außerdem weist die Zitatsyntax ein syntaktisches Merkmal auf, das sie eindeutig von der Traktatsyntax unterscheidet: Nur die Zitatsyntax lässt pronominale, nicht erweiterte Objekte in postverbaler Stellung zu. Man könnte nun die Vermutung aufstellen, dass die relativ kleine Datenbasis diese Ergebnisse zu verantworten hat. Doch eine Kontrolluntersuchung der Verbfrüherstellung in allen Nebensätzen zeigt, dass weder in der Trakat- noch in der Zitatsyntax weitere nachgestellte Personal- oder Reflexivpronomen vorkommen.
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2.2. Eine informationsstrukturelle Erklärung der Verbfrüherstellung Dieser Abschnitt widmet sich der Frage, ob eine Analyse mithilfe informationsstruktureller Kategorien prinzipiell eine Erklärung der Verbfrüherstellung und der verschiedenen Arten der Nachstellung liefern kann. Gezielt soll der Frage nach der Distribution der fokussierten Argumente nachgegangen werden. Dahinter steht die Hypothese, dass die postverbalen Konstituenten in der Zitatsyntax einen anderen informationsstrukturellen Status als in der Traktatsyntax haben. Schon bei Erdmann (1886) findet sich die Bewertung der finalen Position als einer „hervorgehobenen“: Die letzte Stelle des Satzes ist eine bevorzugte und wird besonders betonten Satzteilen angewiesen. Dies kann aber aus verschiedenen Gründen geschehen; es dient einerseits dazu, den Satzteil vor allen anderen aussondernd hervorzuheben, andererseits gerade dazu, eine besonders enge Verbindung desselben mit dem Verbum anzudeuten. (Erdmann 1886, 190)
Der Begriff der Hervorhebung entspricht der heutigen Deutung als Fokus, die auch als Emphase oder relevante Information interpretiert wird (vgl. die Zusammenstellung bei Petrova / Solf 2009). Die Auffassungen über seine genaue Definition variieren: In der Entwicklungsgeschichte des Begriffs wird Fokus häufig mit Neuheit gleichgesetzt (vgl. Halliday 1967), wodurch er größtenteils mit dem Rhema-Begriff der Prager-Schule zusammenfällt. Dieser new information focus, der zuweilen auch als presentational focus (vgl. Diesing 1997) bezeichnet wird, kann sich auf eine Konstituente beziehen (enger Fokus), er kann aber auch die gesamte Verbalphrase betreffen (weiter Fokus). Kontrastfokus stellt häufig eine spezifische Form des engen Fokus dar. Die folgenden Beispiele nach Hinterhölzl (vgl. 2004, 154) illustrieren die verschiedenen Fokusarten, die meistens anhand von FrageAntwort-Paaren wiedergegeben werden: (11a) Was macht Hans? Hans [gibt seiner Schwester ein Buch]. (weiter Informationsfokus) (11b)Was gibt Hans seiner Schwester? Hans gibt seiner Schwester [ein Buch]. (enger Informationsfokus) (11c) Hans gibt seiner Schwester [ein BUCH], und keine CD. (Kontrastfokus) Mittlerweile hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass durchaus auch alte Information fokussiert werden kann, was sich mit dem Begriff (und
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damit der Definition) als new information focus auf den ersten Blick nicht vereinbaren lässt. Lambrecht findet einen Ausweg aus diesem nicht nur terminologischen Dilemma, nämlich den Fokus als einen relationalen Begriff zu verstehen (vgl. 1994, 209ff.). Der Informationswert von Ausdrücken ist diesen nämlich nicht inhärent, sondern sie erhalten ihn, weil sie innerhalb einer bestimmten Proposition eine bestimmte neue Rolle ausfüllen. The function of FOCUS MARKING is then not to mark a constituent as new but to signal a focus relation between an element of a proposition and the proposition as a whole. (ebd., 210)
Das Ergebnis dieser Fokusmarkierung ist die Herstellung eines „new state of information in the addressee’s mind.“ (ebd.) Krifka (2006) dagegen schlägt vor, alle bislang konkurrierenden Fokusdefinitionen unter dem 1985 eingeführten semantischen Fokusbegriff von Rooth (1985) zu subsumieren, der den Rekurs auf die Alt- / Neu-Unterscheidung vermeidet. Dieser so genannte Alternativenfokus wird wie folgt definiert: Focus indicates the presence of alternatives that are relevant for the interpretation of linguistic expressions. (zit.n. Krifka 2006, 6) Die Alternativen können darin bestehen, dass man parallel konstruierte Satzteile hervorhebt oder schon eingeführte Information korrigiert (vgl. ebd., 12ff.). Kontrastfokus wird eingeschränkt auf die Fälle, in denen der Vorgängersatz (und zwar nicht in einem Frage-Antwort-Paar) eine Entität enthält, mit der die kontrastierte Größe direkt in Verbindung gebracht werden kann. Korrektur ist eine typische Form dieses Kontrastfokus, der mit spezifischen syntaktischen Positionen einhergehen kann (vgl. ebd., 20f.). Enger und weiter Fokus dagegen sind keine der Definition inhärenten Eigenschaften, sondern ergeben sich aus der Gegenüberstellung der relevanten Alternativen (vgl. ebd., 18). Obwohl ich im Folgenden auch die Begriffe neuer Informationsfokus, enger und weiter Fokus und Kontrastfokus verwenden werde, da sie in der Literatur verbreitet sind, habe ich in meinen Erhebungen versucht, die Fokuskonstituenten mithilfe des Alternativenbegriffs zu ermitteln. Bei der Analyse der (alt)germanischen Sprachen hat man nun mit den verschiedenen Fokusarten auch verschiedene syntaktische Positionen verbunden. Nach Diesing unterscheidet das Jiddische zwischen präverbalem Kontrastfokus und postverbalem Präsentationsfokus, eine Aufteilung, die auch von Hinterhölzl (2004) für das Althochdeutsche angenommen wird. Petrova (2009) weist diese Fokusverteilung anhand eines Tatian-Korpus nach, das aus 100 Nebensätzen mit Verbend- und 100 Nebensätzen mit Verbfrüherstellung besteht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die eng oder kontrastiv fokussierten Konstituenten adjazent vor dem Verb stehen.
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Steht das Verb nicht in seiner Endposition, so eröffnet es die Domäne des weiten Informationsfokus (vgl. Petrova 2009, 21-25): CP – […XP…]BGR [XP]FOKUS-KON [VP …XP…] FOKUS-INF5 Es stellt sich nun die Frage, ob diese Verteilung auch für den Isidor gilt, und zwar gleichermaßen für die Zitat- und die Traktatsyntax. In der von Krifka vorgeschlagenen Terminologie bedeutet dies, dass der präverbale Fokus aus dem unmittelbaren Kontext her eine kontrastive Lesart erlaubt, die dem postverbalen Fokus nicht zukommt. Dieser müsste vielmehr zusammen mit dem Verb eine eigene Fokusdomäne bilden. Betrachtet man zunächst die oben angeführten Beispiele aus der Traktatsyntax, so müssen zwei verschiedene Gruppen unterschieden werden: Die erste mit den Belegen (7) und (8) entspricht dem Muster [Kontrastfokus – Verb – Informationsfokus], die zweite mit den Belegen (9) und (10) lässt sich mit ihm nicht vereinbaren. In Beispiel (7) muss das präverbale Adjektiv chihoric eng fokussiert interpretiert werden, wie sich aus dem Kontext ergibt. Die postverbale Konstituente ist auf keinen Fall eng fokussiert, genauso wenig wie in (8), wo sie zusammen mit dem Verb die relevante Alternative bereitstellt bzw. als neuer Informationsfokus gedeutet werden kann. Beide Beispiele entsprechen also dem oben angeführten Schema. In der zweiten Gruppe dagegen sind nicht die Konstituenten vor, sondern die nach dem Verb ‚hervorgehoben‘. Doch handelt es sich auch um kontrastiven Fokus? Im unmittelbaren Kontext gibt es keine Entität, von der es sich abzusetzen gilt. Jedoch zeigt schon die – gegen das Latein – vorgenommene Wahl der lexikalischen Mittel (einzig, irgendein) den Wunsch des Übersetzers, diese Information zu betonen. Diese Betonung kommt jedoch dadurch zustande, dass implizit auf eine geordnete Menge von Alternativen Bezug genommen wird, die betreffende Konstituente befindet sich am Extrempunkte dieser graduell angeordneten Alternativen (Skalen). Syntaktisch bezieht sich die Fokussierung nur auf einen Teil der Nominalphrase, und zwar in (9) auf das Adjektiv einzig, und in (10) auf den ersten Teil des Indefinitpronomens eouuihd 'irgendetwas'. Diese semantisch sicher noch genauer zu spezifizierende Fokusart ist aber auf jeden Fall als eng zu deuten, und nicht als Teil eines weiten Fokus, was den Ergebnissen Petrovas zunächst widerspricht. Die Belege aus der Zitatsyntax sind dagegen damit vereinbar, denn die postverbalen Konstituenten sind keinesfalls als eng fokussiert zu interpretieren. _____________ 5
Die Abkürzungen sind folgendermaßen aufzulösen: CP meint die Complementizer-Position und entspricht hier der Subjunktion, BGR steht für Background 'Hintergrund', FOKUSKON meint Kontrastfokus und FOKUS-INF den Informationsfokus.
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Eine Untersuchung der anderen syntaktischen Konstituenten führt zu dem gleichen Ergebnis: Von den postverbalen Präpositionalphrasen der Traktatsyntax muss zumindest ein Teil als eng oder gar als kontrastiv fokussiert interpretiert werden, wie (14) und (15) zeigen: (12) dhazs ir dhoh in dheru […] chihuurfi zi gotes minniu endi zi rehtnissa uuerchum. dass er doch durch das sich wende zu Gottes Liebe und zu den Werken der Gerechtigkeit. ut uel per ipsam reuerteretur ad amorem dei et operationem iustitię. (Is. V.10, Eg,501-503, He 30, 14-16) (13) dhazs ir sih auur dhurah hreuun mahti chigarauuan zi chinisti. Dass er sich erneut durch Reue könnte wenden zur Rettung. Expectans, ut per penitentiam reparari possit ad uneiam. (Is. V.10, Eg.498-500, He 30, 9-11) (14) dhazs dhiz ist chiquhedan in unseres DRUHTINES nemin. dass das ist gesagt in (mit Bezug auf) unseres Herren Namen. Quod in persona specialiter christi domini nostri accipitur. (Is.III.3, Eg.174-175, He 8, 9-10) (15) dhazs ir iesus uuardh chinemnit in baunungum dhes CHIUUARIN iesus. dass er Jesus wurde genannt mit Bedeutung des wahren Jesus. ut iesus nominaretur ad significandum illum uerum iesum. (Is. VI,2,Eg.545-546, He 33, 9-11) In dem Beleg aus der Zitatsyntax mit einer nachgestellten Präpositionalphrase kann diese dagegen nicht als eng fokussiert interpretiert werden, sie ist Teil der vom Verb eröffneten Fokusdomäne. (16) dhazs dhu faris zi dhinem fordhrom. dass du gehst zu deinen Vorfahren. ut uadas ad patres tuos. (Is.IX.2,Eg.622, He 38, 10-11) Zuletzt muss noch auf eine Gruppe eingegangen werden, die – wie Tabelle 1 zeigt – typisch für die Traktatsyntax ist: Es ist die Gruppe der Kopulakonstruktionen mit postverbalem Prädikativum, für die beispielhaft (17) angegeben ist.
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(17) dhazs ir selbo Christ ist chiuuisso got ioh druhtin. dass er selbst, Christus, ist gewiss Gott und Herr. Quia idem deus et dominus est. (Is. III.1, Eg.135, He 5, 10-11) Auch hier ist das Prädikativ eng fokussiert, wie die Stellung des Adverbs chiuuisso 'gewiss' zwischen Kopula und Prädikativ zeigt.
3. Ergebnisse und Konsequenzen Festzuhalten bleibt also zunächst, dass die Zitatsyntax in den Nebensätzen mit Verbfrüherstellung nur von einer Fokusstrategie Gebrauch macht, während die Traktatsyntax zwei dieser Strategien einsetzt: Letztere kennt nicht nur den weiten, postverbalen Fokus, sondern auch die Möglichkeit, eng fokussierte Konstituenten postverbal zu positionieren. Diese Ergebnisse müssen nicht notwendigerweise einen Widerspruch zu den Ergebnissen Petrovas darstellen, sondern können auch als deren Erweiterung betrachtet werden. Spezifische informationsstrukturelle Gliederungen widersprechen nicht der ‚Normalstruktur‘, sondern dienen der Schaffung eines textsortenspezifischen Stils. Die syntaktische und informationsstrukturelle Gegenüberstellung von Traktat- und Zitatsyntax des Isidor führt aber auch zu Ergebnissen, die in der Methodologie der historischen Syntaxforschung künftig beachtet werden müssen. Als Beispiel sei auf die seit gut zehn Jahren existierende Kontroverse über die Satzstruktur des Althochdeutschen hingewiesen. Angesichts der hohen Zahl von Nebensätzen ohne Verbend-Stellung und der Verbdritt-Konstruktionen im deklarativen Hauptsatz wurde eine strukturell verankerte mediale Verbposition vorgeschlagen (vgl. Tomaselli 1995; Fuß / Trips 2002; Schlachter 2004; Schallert 2006; Weiß im Druck). Dagegen argumentiert Axel (2007), dass es sich bei vielen Verbfrüherstellungen im Nebensatz um Verbend-Strukturen mit extraponiertem Material handelt. Gegen diese Extrapositionsanalyse spricht das Vorkommen postverbaler Akkusativ- oder Dativobjekte, v.a. solcher in pronominaler Form, da diese nicht extraponiert werden können. Die meisten der eben angeführten Arbeiten ‚beweisen‘ die Möglichkeit der Nachstellung auch pronominaler Konstituenten ausschließlich mit den Belegen (4) und (5). Nur bei Schallert findet sich noch der Hinweis auf einen Tatianbeleg mit nachgestelltem Reflexpronomen gegen das Latein:6 _____________ 6
Der Tatianbeleg wird nach der Ausgabe von Masser (1994) zitiert.
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(18) / Inti therdar giotmotigot sih / Und wer erniedrigt sich / & qui se humiliat / (T 403,19) Die Isidorbelege sind aber nicht nur ‚lateinnah‘, sondern kommen darüber hinaus nur in der Zitatsyntax vor und sind daher in doppelter Weise ‚auffällig‘. Ihr Gewicht in einer syntaktischen Argumentation kann nur als sehr gering bewertet werden. Das Vorkommen postverbaler Pronomen im Nebensatz deute ich so, dass auch hier – ähnlich wie im Fall der V1-Sätze – ein ‚fremder Stil‘ zitiert wird, der jedoch nicht einer ‚fremden‘ Syntax, etwa der des Lateinischen, angehört. Die Verbfrüherstellung war im Althochdeutschen neben der Verbend-Stellung verankert. Diese Variation wird von Schallert (2006) als Hinweis auf die Existenz eines VO- / OV-Mischsystems gedeutet, während Hinterhölzl (2004) von einem Nebeneinander verschiedener Stilarten innerhalb der gleichen Grammatik ausgeht. Die Nachstellung von Pronomen verstehe ich als die erste dieser Stilarten, die bei der allmählichen Etablierung der reinen Verbendstellung im Nebensatz wegfällt. Die Zitatsyntax bedient sich dieses Stils, um ‚fremd‘ im Sinne von ‚archaisch‘ zu wirken. Dieser von der Syntax vorgegebene postverbale Slot spielt aber auch eine Rolle bei der Textsortendifferenzierung. Die argumentative Rhetorik des theologischen Traktats erlaubt oder erfordert, dass der hervorzuhebende Teil ans Ende gestellt wird und dadurch einen größeren Effekt erzielt als in der ‚kanonischen‘ präverbalen Fokusposition. Die gezielte Nutzung solcher Abweichungen stellt eine stilistische Besonderheit dar und beschränkt sich auf den Traktatteil. Im Zitatteil optiert der Übersetzer dagegen für einen möglichst ‚neutralen‘ Stil, der der unmarkierten Verteilung von Information nach dem Schema Hintergrund > neuer Informationsfokus entspricht. Die Tatsache, dass Pronomen – die doch typischerweise alte Information bereitstellen – ebenfalls in der Position des Neuen Informationsfokus vorkommen, muss keinen Widerspruch darstellen. Da die Zitatteile ohnehin aus dem Zusammenhang des Alten Testaments gerissen sind, ist ihr Bezug keinesfalls ‚gegeben‘ – erst der ihnen folgende theologische Kommentar weist ihnen die richtige Referenz zu. Letztendlich entsprechen die hier vorgeschlagenen Deutungen der postverbalen Konstituenten den Interpretationen Erdmanns in dem zu Beginn von Abschnitt 2.2. wiedergegebenen Zitat. Die modernen Begrifflichkeiten verhelfen zu einem präziseren Verständnis seiner Beobachtungen: Die ‚Hervorhebung‘ kann so mit der engen Fokussierung gleichgesetzt werden, während die ‚enge Verbindung der nachgestellten Konstituente mit dem Verb‘ dem weiten Informationsfokus entspricht.
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„Das Spiel vom Fragen“ – (k)ein Problem der althochdeutschen Syntax? Claudia Wich-Reif (Bonn)
1. Fragesätze „Das Spiel vom Fragen“, so lautet der Titel eines Theaterstücks von Peter Handke. Die ersten Fragesätze erscheinen in Szene 2: Der Mauerschauer sagt: (1)
Aber warum fällt mir das Schönfinden heutzutage schwerer und schwerer? Warum habt ihr Früheren einfach sagen können: Empor die Herzen! oder Heilige Salzflut! oder bloß: Erde! Sonne! oder das Allereinfachste: Zeit genug!? Und warum habt ihr die nach euch noch segnen können? Und warum werde ich mit jedem Schritt weiter wegverschlagen von euch und kann so auch nichts überliefern von eurem Segen an unsere Kinder hinter dem Horizont, die sich dort ahnungslos über dem Abgrund bewegen?1
Der Mauerschauer stellt Ergänzungsfragen mit dem Interrogativadverb warum in Erst- und dem finiten Verb in Zweitstellung. Die Alte und der Alte in derselben Szene: (2)
Die Alte: […] „Hast denn du, in deinem Alter, überhaupt noch Fragen?“ – Der Alte: „Ja, Fragen noch und noch. Und was für welche! Und du?“ – Die Alte: Ja, ich auch. Je älter ich werde, desto mehr Fragen habe ich, desto mehr denke ich alles in Frageform.“2
Die Alte formuliert eine Entscheidungsfrage, für deren Klassifizierung das finite Verb in Erststellung in Kombination mit dem satzschließenden Fragezeichen maßgeblich ist. Der Alte stellt dann eine Frage, die als ellip_____________ 1 2
Handke (1989, 14f.) [Kursivierung im Text durch die Autorin]; Szene 1 ist „sprachlos“. Handke (1989, 23).
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tisch interpretierbar ist. Das finite Verb und die Akkusativergänzung können mit den entsprechenden Satzgliedern gefüllt werden, die die Alte verwendet hat. Syntaktisch eröffnen sich keine Fragen, semantisch eine Menge: Es geht um Fragen, um Infragestellen, um Nicht-Fragen, um Fragen, die keine Antwort erfordern oder auf die keine Antwort gegeben werden kann. Es scheint unstrittig, dass Fragesätze normalerweise in deutlich geringerer Zahl in schriftsprachlichen Texten vertreten sind als Aussagesätze.3 Die den geistlichen / religiösen Textsorten zugehörige Tatianbilingue ist als eines der wenigen umfangreichen Textdenkmäler der althochdeutschen Sprachperiode geeignet, Textgrundlage für die Erforschung von Fragesätzen zu sein.4 Dem Text können folgende Merkmale zugeschrieben werden: „erzählender Stil“, „Nähe zur Mündlichkeit“,5 „wörtliche Rede“.6 Die erste Frage in der Tatianbilingue stellt Zacharias (Lk 1,19). Er richtet sie an einen Engel, der ihm verkündet, dass sein Gebet erhört worden sei und seine Frau einen Sohn gebäre. Zacharias entgegnet: uuanan uueiz ich thaz . (pag. 27,10 'Woher weiß ich das?'). Zacharias verhindert eine sofortige Reaktion des Engels, indem er weiterredet und erklärend ich bim alt Inti mîn quena fram ist gigangan In ira tagun . (pag. 27,11f. 'Ich bin alt und meine Frau ist betagt.') hinzufügt. Syntaktisch ist die Frage im Althochdeutschen entsprechend der deutschen Gegenwartssprache konstruiert (Interrogativadverb, finites Verb in Zweitstellung) und als Ergänzungsfrage zu klassifizieren. Der Bote Gottes nennt als Antwort seinen Namen und seinen Auftrag. Er interpretiert die Frage als Ausdruck der Ungläubigkeit und kündigt als Strafe für diese Ungläubigkeit das Verstummen an. Dieses wiederum zeigt Zacharias, dass der Engel Wahres verkündet hat. Die zweite Frage taucht in einer vergleichbaren Situation auf: Gabriel wird von Gott zu Maria gesandt, um ihr die Geburt eines Sohnes anzukündigen. Diese fragt uuvo mag thaz sîn (pag. 28,25 'Wie kann das sein?'). Auch Maria redet nach der Frage weiter: uuanta ich gommanes uuîs nibin . (pag. 28,25f. 'Ich weiß nämlich von keinem Mann.'). Syntaktisch entspricht die Struktur der obigen. Maria wird nicht bestraft, der Engel fügt eine weitere Erklärung an, und Maria sagt schließlich: seno nu gotes thiu uuese mir after _____________ 3 4
5 6
Prell (2001, 25) weist in einem repräsentativen mittelhochdeutschen Korpus nur 2 % aller Elementarsätze als Fragesätze aus. Für die Tatianbilingue trifft die auf das Mittelhochdeutsche bezogene Aussage Heinz-Peter Prells zum vergleichsweise hohen Aufkommen von Fragen in „geistlichen“ Textsorten voll zu; vgl. Prell (2001, 25): „Ihre Domäne sind die geistlichen Texte: in den Predigten dienen sie als primär rhetorische Mittel der Textgliederung sowie der Lenkung des Lesers / Hörers, in erzählenden Texten wie BerEvg [Berliner Evangelistar] stehen sie in dialogischen Passagen, wo sie ja auch generell am ehesten zu erwarten sind.“ Betten (1987, 398). Ebd., 400f., im Kontext der Wiedergabe lateinischer Partikeln im Althochdeutschen.
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thinemo uuorte . (pag. 29,5f.; 'Siehe, nun bin ich Gottes Magd, gemäß deinem Wort.'). Schon in der ältesten Sprachstufe des Deutschen entsprechen die Fragen formal im Großen und Ganzen den heutigen Formen.7 Svetlana Petrova und Michael Solf weisen für die direkten Fragesätze der „gesamte[n] frühe[n] althochdeutsche[n] Textüberlieferung (vor Notker)“8 nach, dass bereits im Althochdeutschen bei Ergänzungsfragen recht regelmäßig Zweitstellung des finiten Verbs, bei Entscheidungsfragen Erststellung des finiten Verbs vorliegt. Im Folgenden wird die Tatianbilingue dazu herangezogen, zu zeigen, welche syntaktischen, lexikalischen und graphischen Charakteristika Fragen im Allgemeinen sowie bestimmte Fragesatztypen zeigen, wobei der Fokus auf dem finiten Verb und den links davon stehenden Elementen liegt. In einem ersten Schritt werden kurze Überlegungen angestellt, worin die im Vergleich zu Aussagesätzen feste Stellung des finiten Verbs begründet sein könnte. Im Anschluss daran werden die Fragesätze basierend auf der formalen Unterscheidung in Ergänzungs- und Entscheidungsfragen funktional-semantisch klassifiziert.
2. Syntaktische, lexikalische und graphische Markierungen von Fragen Fragesätze haben (in Abgrenzung zu Aussage- und Aufforderungssätzen) in Publikationen, die sich (auch) mit der deutschen Syntax beschäftigen, für alle Sprachstufen des Deutschen einen festen Platz. Es wird betont, dass Form und Funktion nicht übereinstimmen müssen.9 In der jüngsten Auflage der Althochdeutschen Grammatik, für die Richard Schrodt einen Syntax-Band verfasst hat, gibt es zu Fragen nur wenige Informationen. Im Kontext der Verbstellung geht es insbesondere um Entscheidungsfragen.10 Auch in der neuen, 25. Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik von Hermann Paul finden sich nur kurze Ausführungen zu den Fragesät_____________ 7
8 9 10
Grundsätzlich muss hinsichtlich der Satzgliedstellung die besondere Überlieferungssituation der Tatianbilingue berücksichtigt werden. Sie kann eine typische bzw. mögliche für die althochdeutsche Sprachperiode sein, sie kann aber auch durch den mitüberlieferten lateinischen Text, der auf den zweispaltig angelegten Seiten links steht und die Zeilenfüllung vorgibt, bedingt sein. Petrova / Solf (2009, 12) Vgl. etwa Altmann (1993, 1006ff.). Vgl. Schrodt (2004, 198, § S 184, 200, § S 187), zu Ergänzungsfragen 201, § S 188; Interrogativpronomina und -adverbien werden in Kapitel 5.2.2., Konjunktionen mit w-Anlaut, angeführt, 149, § S 137.
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zen; diese haben aber einen besonders hohen Informationsgehalt und laden zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Satztyp ein. 11 Konrad Ehlich, der Verfasser des Artikels „Frage“ im Metzler Lexikon Sprache, nennt die Besonderheiten des Satztyps – Inversion bzw. Interrogativpronomen, Interrogativ- und Pronominaladverbien, besondere Intonation bzw. eigenes Satzschlusszeichen – und stellt fest, dass „[d]ie Ermöglichung von Wissenstransfer […] offenbar in vielen Spr[achen] als eine so elementare sprachl[iche] Aufgabe angesehen [wird], daß für die illokutive Indizierung dieser Sprechhandlung ein vergleichsweise umfängliches explizites Indikatorenarsenal vorgehalten wird“. 12 Dieses formale „Indikatorenarsenal“ ist es auch, was in Grammatiken als elementar für die Charakterisierung von Fragen angesehen wird. Nimmt man den Aussagesatz als den unmarkierten Satztyp, der anzeigt, dass der Produzent Informationen gibt, so ist der Fragesatz ein markierter Typ, der anzeigt, dass der Produzent Informationen erhalten möchte. 13 Interrogativpronomina oder -adverbien wie auch Fragepartikeln (ahd. eno, eno nu, eno ia, inu) bzw. das finite Verb in Spitzenstellung signalisieren, dass die nachfolgenden Informationen von jemandem gegeben werden sollen, der vorher die Rolle eines Rezipienten innehatte. Auf pag. 47 der Handschrift St. Gallen, Stiftsbibliothek 56 14 (Io 1,19-21) findet sich das Gespräch zwischen Priestern und Leviten und Johannes, dessen Anfang zur Darstellung unterschiedlicher Frageformen wiedergegeben wird: (3)
Miſerunt íudęi ab hieruſolimiſ ſacerdoteſ & leuitaſ ut Interrogarent eū tu quiſ eſ . & confeſſuſ eſt & non negauit . & confeſſuſ · ē · quia non ſū ego xſ, & interrogauerunt eum . quid ergo heliaſ eſ tú . & dixit non ſum .
ſantun iudęi fon hieruſalem biscofa Inti diacana thaz ſie Inan frag&in uuer biſ thū , Inti bi Iah her thô Inti nifurſuoh . biiah thô thaz her chriſt niuuari . thô frag&un ſie Inan. uuaz nu biſt thu heliaſ Inti her quad ni bin .
_____________ 11 12 13 14
Vgl. Paul (2007, 398, § S 154, 411ff., § S 170f.). Ehlich (2000, 215). So schon Behaghel (1928, 429f., § 1093). Faksimile online im Internet: http://www.cesg.unifr.ch/virt_bib/handschriften.htm (24.07.2009).
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proph&a eſ tú . & reſpondit . non .
biſt thu uuîzago . Inti her antlingota nein .
Es sandten die Juden von Jerusalem Bischöfe und Diakone, dass sie ihn fragten: „Wer bist du?“ Und er bekannte da und leugnete nicht. Er bekannte da, dass er nicht Christus wäre. Da fragten sie ihn: „Was dann, bist du Elia?“ Und er sagte: „Der bin ich nicht.“ „Bist du der Prophet?“ Und er antwortete: „Nein.“ (pag. 47,6-14; Siev. 13,19-20; Io 1,19-21) Zur Illustration der entsprechende Ausschnitt aus dem Faksimile:
Abbildung 1: Cod. Sang. 56, pag. 47, Z. 6-14, Codices Electronici Sangallenses
Die erste Frage uuer biſ thū , ist eine Ergänzungsfrage mit einem Interrogativpronomen (uuer) in Erst- und dem finiten Verb (biſ) in Zweitstellung. Die nächste Frage uuaz nu bist thu helias wird wieder mit einem Interrogativpronomen (uuaz) eingeleitet. Die Äußerung bietet zwei Interpretationsmöglichkeiten. Ausgehend von einem Satzbegriff, der ein finites Verb voraussetzt, muss die Analyse lauten: Das finite Verb und das Subjekt (bist thu) sind elliptisch. Gleichermaßen könnte uuaz nu als infinite kommunikative Minimaleinheit (KM)15 interpretiert werden. bist thu helias ist eine Entscheidungsfrage mit dem finiten Verb in Erststellung. Die Antwort ni bin . ist eine Variante zu Ja. / Nein., wobei die Kopula sīn der Frage wieder aufgenommen wird. Die Frage bist thu uuîzago . entspricht strukturell der vorausgehenden. Als Antwort folgt nein . Die Interpungierung in der rechten, althochdeutschen Textspalte ist immer im Verbund mit der linken, lateinischen Textspalte zu sehen. Ein gesamt- oder teilsatzbegrenzendes Zeichen wird entweder in der deutschen und in der lateinischen Spalte gesetzt, wobei die Zeichen einander aber nicht entsprechen müssen, oder nur in der lateinischen Spalte.16 Auch ein Fragezeichen (C) findet Verwendung. Es erscheint oft nur in der latei_____________ 15 16
Vgl. Zifonun / Hoffmann / Strecker (1997, 92 u.ö.). Vgl. hierzu auch Simmler (2005, 91ff.).
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nischen Textspalte.17 Prinzipiell scheint die Satzgliedstellung (sei sie nun genuin deutsch oder aber nach lateinischem Muster gestaltet) in Kombination mit lexikalischen Markierungen in schriftsprachlichen Texten für den Leser auszureichen, Äußerungen als Fragen interpretieren zu können. Diese These soll in Abschnitt 3 mittels einer differenzierten Darstellung untermauert werden. Der im Vergleich zum Aussagesatz deutlich weniger frequente Typ des Fragesatzes erfordert eine feste Position des finiten Verbs, wenn es keine lexikalischen Indikatoren gibt oder solche, die mehrdeutig sind.18 Bei Entscheidungsfragen besteht ferner die Möglichkeit, das Satzglied, über das die Entscheidung gefällt werden soll, an die erste Position zu stellen.19 Zu den lexikalischen Signalen gehören die Fragepartikeln eno, enonu und ia: (4)
[...] C nonne hic eſt fabri filiuſ C nonne mater eiuſ dicitur maria C & fratreſ eiuſ iacob & ioseph & simon . & iudas C & ſororeſ eiuſ nonne omneſ apud noſ ſunt C ...
[...] eno nist theser uuercmeistareſ ſun . ia iſt ſín muoter ginemnit maria inti ſine bruoder iacob inti ioseph inti ſimon inti iudaſ inti ſino ſueſter . eno allo mit unſ ſint
Ist er nicht des Zimmermanns Sohn? Heißt nicht seine Mutter Maria und seine Brüder Jakob und Joseph und Simon und Judas? Und seine Schwestern, sind sie nicht alle bei uns? (pag. 114,5-10; Siev. 78,3; Mt 13,55) Innerhalb der Korpusbelege leitet eno häufig den Satz ein.20 In der jüngeren Forschung wird dieser und auch anderen Partikeln aufgrund der Verschiebbarkeit Satzgliedstatus zugewiesen, mit der Konsequenz, dass das
_____________ 17
18 19 20
Es wird von mehreren Schreibern verwendet, so etwa von Schreiber α auf pag. 39, Z. 14, von Schreiber β auf pag. 73, Z. 24 und Schreiber ζ auf pag. 294, Z. 30. Zudem hat der so genannte „Korrektor 2“ im lateinischen Textteil mehrmals Punkte zu Fragezeichen gemacht. Die Korrektur wurde allerdings nur in einem umgrenzbaren Textabschnitt durchgeführt. Die Verbindung spezifischer lexikalischer Formen und syntaktischer Strukturen gibt es auch bei Aussagesätzen; vgl. hierzu etwa Betten (1987, 404f.) zu Uuard thô; Simmler (2003, 9ff.). Vgl. Abschnitt 3.2. Wobei dies ein theoretisch-typologisches Problem ist.
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finite Verb in Drittstellung steht.21 Semantisch sind eno, enonu und ia interessant, weil Fragen, in denen sie verwendet werden „außer der strukturellen Antwortdetermination noch eine bestimmte Antworterwartung zukommt“,22 wie das Textbeispiel deutlich zeigt.23 In der Fragen-Landschaft gehören sie zur Peripherie; in der Tatianbilingue machen sie einen vergleichsweise hohen Anteil aus. Eine weitere wichtige lexikalische Markierung von Fragen ist ein vorausgehendes Verbum dicendi, das als ein eine Akkusativergänzung forderndes Vollverb des Trägersatzes fungiert und den semantisch wichtigen Inhalt der Frage(n) syntaktisch unterordnet. Explizit Fragen einleitende Verba dicendi in der Tatianbilingue sind die Verben eisc@n (lat. sciscitari) '(er)fragen, sich erkundigen nach' (Beispiel 31), fr$g)n (lat. interrogare) '(er)fragen' (Beispiel 33), bouhnen (lat. innuere) 'durch Zeichen erfragen' (Beispiel 30) und wuntr@n (lat. mirari) 'sich wundern' (Beispiele 32, 34).24 Öfters wird zur Einleitung von Fragen wie noch in der Gegenwartssprache kein spezielles, sondern ein allgemeineres Verb aus dem semantischen Feld 'sprechen' verwendet wie quedan (Beispiel 7), sprehhan oder sag)n oder beides tritt zusammen auf, wobei das allgemeine Verb stets auf das spezielle, eine Frage einleitende Verb folgt (Beispiel 1525).
3. Funktional-semantische Klassifikation Wie auch für die deutsche Gegenwartssprache bekannt, gibt es in der althochdeutschen Tatianbilingue Fälle, in denen Form und Funktion einander nicht entsprechen. Das trifft insbesondere für die rhetorischen Fragen zu, die als „indirekte Behauptungen“26 bezeichnet werden können. Im Folgenden werden die Fragesätze in der Tatianbilingue formal in Ergän_____________ 21
22 23 24 25 26
Vgl. Schrodt (2004, 201, § S 188). Petrova / Solf (2009, 8) beziehen sich einleitend auf die Problematik, nehmen aber selbst keine Stellung. Der Negationspartikel ni hingegen, im vorliegenden Beleg Klitikon, wird der Satzgliedstatus zumeist abgesprochen, obwohl auch sie gelegentlich die Position wechselt, also nicht ausschließlich vor dem finiten Verb auftritt; vgl. hierzu auch Wich-Reif (2007, 131ff.). Lühr (1997, 327) mit Bezug auf Conrad (1978). Dieses Beispiel verwendet Lühr (1997, 337f.), um aufzuzeigen, dass die Übersetzung von nonne mit eno bzw. ia dazu dient, im Althochdeutschen zwischen Fragen (eno) und Behauptungen (ia) zu differenzieren. Vgl. auch Wich-Reif (2005, 71ff.). Hier liegt der besondere Fall vor, dass auf das spezielle, hier eine Antwort einleitende Verb antuuurten zweimal hintereinander das allgemeine Verb quedan verwendet wird: hér thó ántlinginti imo ſuſ quedantemo quad . (lat. At ille respondenſ dicenti ſibi ait .). So Meibauer (1986, 163).
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zungs-, Entscheidungs- und indirekte Fragen mit Subgruppen eingeteilt und mit ihren syntaktischen und semantischen Eigenschaften dargestellt. 3.1. Ergänzungsfragen In der Tatianbilingue wird nach folgenden Größen gefragt – die Reihenfolge entspricht der Vorkommenshäufigkeit, dann aber auch der Zugehörigkeit zu einer Wortfamilie: Wer 'wer' (lat. quis) ist das meistverwendete Fragewort in der Tatianbilingue. 27 Gebraucht ein Fragender das Interrogativpronomen uuer bzw. die neutrale Form uuaz (lat. quid), erbittet er vom Gefragten einen Namen, eine Personen- / Sachbezeichnung oder eine Personen- / Sachbeschreibung. Die Form im Nom. Sg. f. / m. ist 34-mal belegt: (8)
[...] . quiſ me t&igit C
[...] . uuer biruorta míh
Wer hat mich berührt? (pag. 95,17; Siev. 60,5; Mc 5,30) Die Genitivform wes (lat. cuius) ist dreimal nachweisbar, die Dativform wemo (lat. (ali)cui) sechsmal. Im Akkusativ, 'wen' (lat. quem), sind neun Belege nachweisbar, zweimal in der später üblichen Form wen, siebenmal in der älteren, flektierten Form wenan (Akk. Sg. m.). 28 Die wen-Formen kommen in Konstruktionen mit doppeltem Akkusativ vor: (9)
quem te ipſum facis .
uuen tuoſ thu thih ſelbon .
Wen / was machst du aus dir selbst? (pag. 219,22f.; Siev. 131,23; Io 8,53) 29 Die neutrale Form waz (lat. quid) ist mit der Bedeutung 'was' 37-mal im Akk. Sg. 30 und 14-mal im Nom. Sg. belegt. Daneben gibt es sieben Belege für die Bedeutung 'was für ein(e) / welche(r)', je nach substantivischem Kern für lat. quis, quid, qui. Dazu kommen vier KM:
_____________ 27 28
29 30
Vgl. auch Braune (2004, 252, § 291). Dazu kommt ein problematischer Beleg auf pag. 150,18 (Siev. 93,2; Mt 17,24), fon wen. Er gibt das lat. a quibus wieder und bildet somit offenbar eine lateinische Pluralform nach; vgl. hierzu Braune (2004, 252, Anm. 2). Für die Verwendung von wenan im indirekten Fragesatz vgl. Abschnitt 3.3. Die zweite Stelle findet sich auf pag. 142,32-143,1; Siev. 90,2; Mt 16,15. Einmal lat. aliquid (pag. 333,29; Siev. 231,1; Lc 24,41), einmal lat. numquid (pag. 337,9; Siev. 236,2; Io 21,5.
435
„Das Spiel vom Fragen“
(10) quid ergo heliaſ eſ tú .
uuaz nu biſt thu heliaſ
Und sie fragten ihn: „Was denn? Bist du Elia?“ (pag. 47,12; Siev. 13,20; Io 1,21) und drei vergleichbare Stellen: (11) quid ad noſ/te
uuaz zi unſ/thih thes/thés (.)
Was [geht] uns / dich [das an]? (pag. 304,19; Siev. 193,2; Mt 27,4; pag. 340,2; Siev. 239,3; Io 21,21; pag. 340,10; Siev. 239,4; Io 21,23) Die Abfolge EAkk (Interrog.pron.) – ENom – Alok – Vfin ist für den althochdeutschen Fragesatz ungewöhnlich. Ein Blick in das Faksimile macht die Anordnung nachvollziehbar: Der Satz wird durch das Seitenende unterteilt. Schreiber γ übernimmt die lateinische Satzgliedfolge, wobei er ein Subjektpronomen zwischen das Interrogativpronomen und das folgende Satzglied positioniert, das Verb trägt er, der lateinischen Spalte entsprechend, auf die nächste Seite ein. (12) pag. 150, Z. 30f. In illa hora cum domi eſſ& interrogabat eoſ . quid in uia pag. 151, Z. 1 tractabatiſ . at illi tracebant .
in thero ziti mittiu her in huſ uuaſ frageta ſie . uuaz ir in uuege trahtotut . ſie tho ſuuigetun
In der Zeit, als er im Haus war, fragte er sie: „Was habt ihr unterwegs besprochen?“ Da schwiegen sie. (p. 150,30f.-151,1; Siev. 94,1; Mc 9,33) Elfmal ist waz mit 'warum' zu übersetzen; der Fragende möchte einen Grund in Erfahrung bringen: (13) Quid me interrogaſ
Uuaz frageſ mih
Warum fragst du mich? (pag. 300,20; Siev. 187,3; Io 18,21) In Verbindung mit zunzu hat uuáz die Bedeutung 'wie lange' und steht für lat. quousque: (14) circum dederunt ergo eum [iudæi] et dicebant ej . quo uſque animam nostram tolliſ .
umbibigabun Inan thie iudæj . Inti quadun Imo . zunzuuúaz nimiſt thu unſera ſela
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Claudia Wich-Reif
Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: „Wie lange nimmst du unsere Seele [= hältst du uns hin]?“ (pag. 226,27ff.; Siev. 134,2; Io 10,24) Die zwei uuie-Belege, auf die sich Wilhelm Braune resp. Ingo Reiffenstein bezieht,31 sind in der Handschrift korrigiert zu uuer:32
Abbildung 2: Cod. Sang. 56, pag. 94, Z. 15-18, Codices Electronici Sangallenses
(15) [...] At ille respondenſ dicenti ſibi ait ., Quæ ē mater mea & qui ſunt fratres mei C33
[...] hér thó ántlinginti imo ſuſ quedantemo quad uuer iſt mín muoter inti uuer ſiN‾ mine bruoder
Er antwortete ihm da. Folgendes sprechend sagte er: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“ (pag. 94,15-18; Siev. 59,3; Mt 12,48) Die uuie-Belege sind singulär und sie sind von einem Zeitgenossen verbessert, so dass sich die Frage stellt, wie weit sie gängig waren. Die Instrumentalform im Sg. n. lautet huuiu. In der Tatianbilingue kommt sie in Kombination mit den Präpositionen bī, in, mit und zi vor: bi hiu (lat. quare) ist mit der Bedeutung 'warum' insgesamt elfmal belegt, davon einmal in einem indirekten Fragesatz (vgl. Abschnitt 3.3.).34 Sie wird verwendet, um nach einem Grund zu fragen. Für in hiu (lat. in quo) mit der instrumentalen Bedeutung 'womit' gibt es zwei Belege, hier der eine:35 (16) quodſi ſal euanuerit . In quo ſali&ur
oba thaz ſalz árItal& In hiu ſelzit man iz thanne
Wenn das Salz seine Kraft verliert, womit salzt man es dann? (pag. 61,13f.; Siev. 24,2; Mt 5,13) Mit hiu (lat. quo) mit der Bedeutung 'womit' ist einmal belegt (pag. 71,6; Siev. 38,6; Mt 6,31 mit hiu uuaten uuir unſih). Zi hiu bzw. ziu ist mit den Be_____________ 31 32 33 34 35
Vgl. Braune (2004, 252, § 291, Anm. 1, 2). Vgl. auch Sievers (1961, 81, Anm. 4). Das Fragezeichen wurde von „Korrektor 2“ eingetragen. Althochdeutsches Wörterbuch (2007), bi hiu, Bd. I Sp. 990f. Ebd., in hiu, Bd. IV Sp. 1578.
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„Das Spiel vom Fragen“
deutungen 'warum' (lat. quid 14-mal, utquid 2-mal, quare 2-mal) und 'was' (lat. quid 4-mal, utquid 1-mal) vertreten: (17) [...] Sed quid exiſtiſ uidere
[...] zihiu giengut úz sehan
Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? (pag. 100,27f.; Siev. 64,5; Lc 7,26) Uuelih 'welcher' ist 15-mal in Fragesätzen nachweisbar sowie in zwei KM. Das Interrogativpronomen bezieht sich auf ein bzw. mehrere Elemente aus einer Gruppe, es hat also immer ein nominales Bezugsglied und hat dementsprechend unterschiedliche Kasus-, Numerus- und Genusformen. Die Nennung der Gruppe kann durch das attribuierte Substantiv erfolgen oder aber schon vorher. Uuelih fungiert alleine als Linksattribut oder aber zusammen mit einem Possessiv- oder einem Demonstrativpronomen. In der folgenden KM wird die Gruppe in der vorausgehenden Äußerung genannt (bibot 'Gebote'): (18) [...] dixit illi . quae .
[...] thó quad her imo . uuelichiu .
Da sprach er zu ihm: „Welche?“ (pag. 171,1f.; Siev. 106,2; Mt 19,18) Das mit fünf Belegen vertretene uuedar (lat. quis / quid) bedeutet 'welcher / was (von beiden / zweien)': (19) non habentibuſ illiſ unde redder& . donauit utrisque quiſ eum pluſ dilig& ,
In tho ni habenten uuanan ſie gultin tho forgab her giuuederemo uuedaran minnota her mer .
Da sie nicht wussten, woher sie bezahlt hätten, erließ er sie beiden. Welcher von beiden liebte ihn mehr? (pag. 238,23-25; Siev. 138,9; Lc 7,42) Uuvo und die Varianten uueo und uuio ('wie'), mit denen lat. quomodo übertragen wird, ist mit 27 Belegen ein oft verwendetes Fragewort, das gebraucht wird, um nach der Art und Weise zu fragen.36 Der folgende Beleg ist ein gutes Beispiel dafür, zu zeigen, wie die deutsche Syntax in der Tatianbilingue verwirklicht werden kann, wenn die Zeile die nötigen Freiheiten gibt, und wie im umgekehrten Fall der lateinischen Satzgliedfolge der Vorzug gegeben wird: _____________ 36
Einmal wird uuvo in einer indirekten Frage verwendet; vgl. Abschnitt 3.3.
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(20) pag. 213 [...] Ait illiſ . quomodo [...] thô quad her In . uuvo ergo david In libro pſalmorū dauid In buohhe ſelmo uocat eum d]m dicenſ . nennit Inan truhtin ſuſ quedanti . [...] [...] ſi ergo david in ſpū Oba dauid uuârlihho In geiſt pag. 214 uocat eum d]m quomodonemnit Inan truhtin uuvo iſt ther ſîn ſun . Inti nioman mohta filiuſ eiuſ eſt . & nemo poterat reſpondere ei uerbum . antlingen Imo uuort . Da sagte er zu ihnen: „Wie nennt David ihn im Buch der Psalmen ‚Herr‘, so sprechend: [...]? Wenn David ihn also im Geiste ‚Herr‘ nennt, wie ist dieser sein Sohn? Und niemand konnte ihm ein Wort antworten.“ (p. 213,24-214,2; Siev. 130,2; Mt 22,43-45 + Lc 20,42) Zu Beginn folgt Schreiber α im deutschen Textteil der lateinischen Satzgliedstellung, auf pag. 214 positioniert er das finite Verb in Zweitstellung, während es in der lateinischen Spalte in Endstellung steht. Zudem liegt im deutschen Satz Inversion vor; das Possessivpronomen ſîn steht entgegen dem Lateinischen vor dem substantivischen Bezugswort. In einem Fall, in Zeile 7 auf pag. 220, hat der deutsche Text uuvo, der lateinische aber et. Es ist die letzte der fünf Seiten, die Schreiber ε zugeordnet wird: (21) [...] dixerunt ergo Iudei ad eū . quinquaginta annos nondum habeſ & abraham uidisti
[...] tho quadun thie Judej zi Imo . finfzug Iaro noh nihabeſ uuvo giſahi thu abrahaman
Da sagten die Juden zu ihm: „Du bist noch keine 50 Jahre. Wie hast du Abraham gesehen?“ (pag. 220,5-7; Siev. 131,25; Io 8,57) Sowohl lat. nondum habeſ & abraham uidisti als auch ahd. uuvo giſahi thu abrahaman sind von einem Korrektor nach- / eingetragen. Der lateinische Satztyp ist ein Aussagesatz, der Sprechakt eine Frage, während im Deutschen durch die Verwendung des uuvo Form und Funktion einander entsprechen. Aus dem Kontext geht hervor, dass es sich um eine rhetorische Frage handelt: Nach menschlichem Ermessen kann Jesus Abraham nicht getroffen haben. In Kombination mit manag übersetzt uuvo lat. quot 'wie viele' (6-mal):
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„Das Spiel vom Fragen“
(22) et dicit eiſ ; quot paneſ hab&iſ C37
tho quad her ín uuvo managu brot háb& ír?
Und er sagte zu ihnen: Wie viele Brote habt ihr? (pag. 118,4ff.; Siev. 80,4; Mc 6,38) In Kombination mit michil oder filu (lat. quantus / -a / -um) ist es zu übersetzen als 'wieviel' (4- bzw. 2-mal), mit einem folgenden temporalen Ausdruck wie stunta (lat. temporis) als 'wie lange' (1-mal), in der Bedeutung 'auf welche Weise' findet es sich als Wiedergabe von lat. quomodo einmal. So ofto übersetzt an einer Stelle lat. quotiens (pag. 158,10; Siev. 98,4; Mt 18,21), so dass angenommen werden kann, dass es 'wie oft' bedeuten soll. Es folgt die KM unzan ſibun ſtunt (ebd., Z. 13). Uuar(a) 'wohin' ist in der Tatianbilingue in Fragesätzen neunmal nachweisbar; es wird nach einem Ort (lat. ubi 6-mal) oder nach einem Ziel (quo 3-mal) gefragt.38 Zu den drei Belegen kommt eine KM. Auf Jesu Antwort auf die Frage nach dem Weltende und dem Zeichen seines Kommens (pag. 256,29ff.) folgt die Frage: (23) ubi d]e .
uuar trohtin .
Wo, Herr? (pag. 258,8; Siev. 147,5; Lc 17,37). In Kombination mit inzin bedeutet wara 'wie lange, wozu': (24) Reſpondenſ autem ihſ dixit o generatio infideliſ & perverſa uſque quo ero apud uoſ & patiar voſ
Tho antuurtita der heilant inti quad uuvolaga ungitriuui cunni inti abuh inzin uuara bin ih mit íu inti tholen iuuih
Da antwortete Jesus und sprach: „Oh ungläubiges und falsches Geschlecht, wie lange muss ich bei euch sein und euch ertragen?“ (p. 148,14-17; Siev. 92,3; Lc 9,41) Frageeinleitendes wanan 'woher' (lat. unde) ist achtmal belegt. Es dient der Ermittlung eines Ausgangspunktes. Zu den acht Belegen kommen zwei KM (pag. 29,19-20; Siev. 4,3; Lc 1,43 und pag. 114,10f.; Siev. 78,3; Mt 13,55). Im lateinischen Textteil gibt es eine weitere KM, im althochdeutschen Textteil wurde ohne Inversion die Kopulaform sint eingefügt,39 so dass sich das finite Verb in Drittstellung befindet: (25) [...] & dicunt ei
[...] tho quadun imo
_____________ 37 38 39
Das Fragezeichen fügte „Korrektor 2“ ein. Zum Gebrauch von war(a) in einem indirekten Fragesatz (1 Beleg) vgl. Abschnitt 3.3. Die Kopula sīn wird öfters ergänzt, vgl. auch p. 87,24.
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disſipuli unde ergo nobiſ in deſerto paneſ tantoſ ut ſaturemuſ turbam tantam .
thie iungoron uuanan unſ ſint in uuoſtinnu ſo manigu brot daz uuir ſatumeſ ſo michila menigi
Da sagten die Jünger zu ihm: „Woher sind uns in der Wüste so viele Brote, dass wir eine so große Menge sättigen?“ (pag. 140,22-25; Siev. 89,1; Mt 15,33) Ein Blick in das Faksimile liefert die Begründung dafür, dass trotz des Abweichens von der lateinischen Vorlage eine eher untypische syntaktische Struktur erzeugt wird:
Abbildung 3: Cod. Sang. 56, pag. 140, Z. 22-25, Codices Electronici Sangallenses
ergo nobiſ wird mit uuanan unſ übersetzt, dann kommt das Zeilenende. Während dieses den Schreiber eher diszipliniert, gibt der Zeilenanfang ihm eine gewisse Freiheit, das Kommende zu füllen, in diesem Fall dem Schreiber γ (der gerade eben im lateinischen Teil diſcipuli ausradieren musste ...): Weil er weniger Abstand zwischen den einzelnen Buchstaben lässt, kann er nicht nur die Attribute in den Nominalgruppen nach links stellen, sondern auch noch ein Verb einfügen. Dass insbesondere die Passagen, die γ einträgt, von typisch deutschen Regel(mäßigkeite)n abweichen, stellen auch Svetlana Petrova und Michael Solf fest.40 Ein singulärer Beleg ist ein oba-Satz, der in keine übergeordnete Struktur eingebettet ist: Nachdem Jesus in der Synagoge von Kafarnaum gesprochen hat und viele Jünger empört über seine Rede sind, äußert er das Folgende:
_____________ 40
Petrova / Solf (2009, 16f.).
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(26) hoc voſ ſcandalizat C Si ergo uideritiſ filiū hominiſ aſcendentem ubi : priuſ :erat;
thaz iſt hiu aſuuih . Voba41 ir giſehet then manneſ ſun úf ſtigantan thar he ér uuaſ
Ist euch das ein Ärgernis? Wenn ihr nun des Menschen Sohn dahin hinaufsteigen sehen werdet, wo er zuvor war? (pag. 125,2-4; Siev. 82,11a; Io 6,61f.) Jesus fährt in seinen Ausführungen fort; er erwartet keine Antwort. Im Faksimile ist der Frageausdruck deutlich vom vorausgehenden abgegrenzt, insbesondere, nachdem „Korrektor 2“ wieder einmal aus einem Punkt ein Fragezeichen gemacht hat:
Abbildung 4: Cod. Sang. 56, pag. 125, Z. 2-4, Codices Electronici Sangallenses
Insgesamt zeigt sich, dass die Ergänzungsfragen im althochdeutschen Teil der Tatianbilingue in der Mehrzahl der Fälle bezogen auf die Verbstellung im Vergleich zu Aussagesätzen feste Strukturen zeigen, die noch in der Gegenwartssprache vorliegen. Durch die Interrogativwörter in Erststellung sowie die vorausgehenden Verba dicendi sind die Fragesätze klar markiert. Die Interpunktion ist nur von untergeordneter Relevanz, was sich unter anderem darin zeigt, dass in vielen Fällen nicht die Schreiber für die charakteristische Interpunktion verantwortlich sind, sondern der so genannte „Korrektor 2“. Alle KM mit Fragefunktion sind dem Typ Ergänzungsfrage zuzuordnen. 3.2. Entscheidungsfragen Während Ergänzungsfragen insbesondere über die Interrogativwörter klassifizierbar sind, sind bei Entscheidungsfragen die Position des finiten Verbs sowie die links davon stehenden Einheiten ausschlaggebend. Es lassen sich drei Typen von Entscheidungsfragen ermitteln: 1. Das finite Verb steht in der für das Deutsche charakteristischen Spitzenstellung (46-mal): _____________ 41
Laut dem Althochdeutschen Wörterbuch (2007), Bd. IV, Sp. 1442, scheint das V von einer anderen Hand vorgesetzt worden zu sein.
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(27) quid ergo heliaſ eſ tú . & dixit non ſum . proph&a eſ tú . & reſpondit . non .
uuaz nu biſt thu heliaſ Inti her quad ni bin . biſt thu uuîzago . Inti her antlingota nein
„Was dann, bist du Elia?“ Und er sagte: „Der bin ich nicht.“ „Bist du der Prophet?“ Und er antwortete: „Nein.“ (pag. 47,6-14; Siev. 13,19-20; Io 1,19-21) Enthält die Frage eine Satznegation, steht sie direkt vor dem finiten Verb wie im folgenden Beispiel: (28) [...] & ait ad illoſ , quid eſt quod mé quęrebatiſ . neſciebatiſ quia In his quae patriſ mei ſunt oport& mé eſſe .
[...] Inti her quad zi In ., uuaz iſt thaz ir mih suohtut . ni uueſtut ir thaz in then thiu mineſ fater ſint gilimphit mir uueſan .
Und er sprach zu ihnen: „Was ist [es], dass ihr mich suchtet? Wusstet ihr nicht, dass es mir zukommt zu sein in dem, was meinem Vater gehört?“ (pag. 43,4-6; Siev. 12,7; Lc 2,49). 2. In Spitzenstellung steht eno, eno ni, eno ia, enonu, enonu ni, enonu ia, ia, noh, noh nu oder noh nu ni, gefolgt vom finiten Verb (49-mal) wie in Beispiel 4.42 Die Setzung der Partikeln deutet darauf hin, dass es sich bei den Fragen im weitesten Sinne um rhetorische Fragen handelt. Einmal stehen zwischen eno und dem finiten Verb die Nominativergänzung und eine Negationspartikel (pag. 201,15; Siev. 122,3; Lc 18,7). 3. Vor dem finiten Verb steht das Satzglied (und gegebenenfalls eine Negationspartikel), über das die Entscheidung gefällt werden soll. Auch im lateinischen Textteil steht es in Spitzenstellung (26-mal):43 (29) & dixit ei nathanahel a nazar&h poteſt aliquid boni eſſe
thó quad imo nathanahel fón nazar&h mág ſihuuaz guotes uueſan
Und Nathanael sprach zu ihm: „Von Nazareth kann irgendetwas Gutes kommen?“ (pag. 52,9-13; Siev. 17,3; Io 1,46) _____________ 42 43
Eingeordnet wurde hier auch der Fragesatz auf pag. 131,18-20; Siev. 87,3; Io 4,11, in dem das Personalpronomen im Althochdeutschen zweimal gesetzt wurde: eno thu biſtu mera ... (lat. numquid tu maior eſ ...). Hierzu gehört auch die Setzung eines Subjektpronomens im lateinischen Textteil.
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Einmal stehen analog zum Lateinischen eine Nominativergänzung, eine Temporalangabe und eine Negationspartikel vor dem finiten Verb (pag. 164,19-20; Siev. 103,4; Lc 13,15), zweimal eno ni (pag. 213,5; Siev. 129,9; Io 7,47; pag. 213,12f.; Siev. 129,10; Io 7,50), einmal eno und die Nominativergänzung (pag. 332,16; Siev. 229,1; Lc 24,32). 3.3. Indirekte Fragen Indirekte Fragen sind von einem Trägersatz abhängig und werden in der Tatianbilingue mit den Verben eisc@n, fr$g)n, wuntr@n oder bouhnen angekündigt. Im Nebensatz, der von einem Verb des Fragens abhängig ist, steht stets der Konjunktiv. Die wenigen indirekten Fragesätze werden in der Tatianbilingue mit den Fragewörtern uuar, uuenan, bi hiu und uuvo oder der Konjunktion oba44 eingeleitet: (30) [...] Innuebant autē patri eiuſ quem uellet uocari eum
[...] bouhnitun thô ſinemo fater uuenan her uuolti Inan ginemnitan uueſan
Da fragten sie seinen Vater durch Zeichen, wie er ihn heißen wollte. (pag. 30,27f.; Siev. 4,12; Lc 1,62) (31) ſciſcitabatur ab eiſ ubi chriſtuſ nascer&ur,
eiſgota fon In uuar chriſt gibôran uuari;
Er erkundigte sich bei ihnen, wo Christus geboren werden solle. (pag. 39,22f.; Siev. 8,2; Mt 2,4) (32) [...] & mirabantur quare cum muliere loquebatur .
[...] inti uuntrotun bi hiu her mit uuibe sprichi [sic] .
[...] und sie wunderten sich, warum er mit einer Frau sprach. (pag. 133,2-3; Siev. 87,7; Io 4,27) (33) Iterum ergo interrogabant eum pharisęi . quomodo uidiſſ& .
abur frag&un ínan thie pharisei uuvo hér giſahí
_____________ 44
Vgl. Althochdeutsches Wörterbuch (2007), Bd. IV, Sp. 1458f. (ibu, V.). Hier wird auch der mit dem Verb bisweren eingeleitete Satz auf p. 303,3-6; Siev. 190,1; Mt 26,63, den indirekten Fragen zugeordnet.
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Wieder fragten ihn die Pharisäer, wie er gesehen hätte. [= sehend geworden wäre] (pag. 221,19ff.; Siev. 132,8; Io 9,15) Mit oba gibt es mit vier Belegen vergleichsweise wenige indirekte Fragesätze. Der Nebensatz folgt stets auf den Trägersatz: (34) pilatuſ autem mirabatur ſi iam obiſſ& & accerſito centurione Interrogauit eum ſi iam mortuuſ eſſ&
pilatus uuntrota oba her iu entoti Inti gihalotemo uualtambahte frageta inan oba her iu entoti
Pilatus wunderte sich, dass er schon gestorben sei, und er rief den Hauptmann herbei und fragte ihn, ob er schon gestorben sei. (pag. 321,17-21; Siev. 212,5 Mc 15,44)
4. Das Spiel vom Fragen (und Antworten) Wie in Abschnitt 1 demonstriert, ist es nicht schwer, deutsche Fragesätze im Allgemeinen syntaktisch zu klassifizieren (vgl. Abschnitt 1). Die Fragesätze der Tatianbilingue folgen Mustern, die noch in der deutschen Gegenwartssprache vorliegen. Syntaktische Abweichungen lassen sich einerseits durch die lateinische Vorlage erklären, andererseits durch die Konzeption der Handschrift St. Gallen Cod. 56. Eine funktionalsemantische Einteilung kann, wie gezeigt, auf der obersten Ebene analog zur syntaktischen Einteilung vorgenommen werden. Inhaltlich ist zu berücksichtigen, dass die elementare sprachliche Aufgabe von Fragen, Wissenstransfer zu ermöglichen (vgl. 4), öfters nicht so einfach funktioniert wie im Gespräch zwischen Johannes und den Priestern und Leviten (vgl. Beispiel 3). Die Erwartungshaltung, dass eine Frage dann gestellt wird, wenn dem Fragesteller eine Information fehlt, die er von einem ausgewählten Hörer zu erhalten meint, wird in der Tatianbilingue in vielen Fällen nicht erfüllt, wobei die Kommunikation aufgrund der erzählenden Passagen, die die Gespräche umgeben und zusammenhalten, nicht gestört ist. Diese Besonderheit ist der Textsorte geschuldet und ist nicht nur für die Tatianbilingue charakteristisch, sondern für viele weitere Texte mit kommunikativer Distanz, in denen konzeptionelle Mündlichkeit imitiert wird.45 Die Gespräche finden nicht unmittelbar statt, sondern sie werden _____________ 45
Hier lässt sich auch ein Bogen zu dem Handke-Text ziehen. Zu kommunikativer Distanz und Nähe, Verschriftlichung und Verschriftung vgl. Oesterreicher (1993, 267ff.).
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durch einen Erzähler vermittelt, der den Rezipienten schon durch das Verbum dicendi manipulieren kann. Ganz dezidiert zeigt sich die Manipulation in den vielen rhetorischen Fragen, die für den Leser oder Hörer – sofort – kenntlich gemacht werden, indem die Fragen etwa mit eno, enonu46 eingeleitet werden: Der Gefragte fällt keine Entscheidung; er wird indirekt dazu aufgefordert, sich der Meinung des Fragenden anzuschließen. Signifikant für die Textsorte sind auch Fragen, denen eine Begründung des Sprechenden folgt, bevor er das Rederecht abgibt (vgl. 2) und Fragen, die als Antworten fungieren, wie es Beispiel 15 zeigt und auch ein Gespräch zwischen Pilatus und Jesus (pag. 306,4-13; Siev. 195,1-3; Io 18,33-35): Pilatus fragt Jesus thu biſ cuning iudeono 'Du bist der König der Juden?'. Jesus antwortet mit der Frage fon thir ſelbemo quidiſtu thaz oda andere thir iz quadun fon mir 'Sagst du das von dir selbst [= von dir aus], oder haben es dir andere von mir gesagt?'. Pilatus erwidert eno bin ih iudeus Thin thiota inti biſgoffa ſaltun thih mir uuaz tati thu 'Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?'. Schließlich gibt es die Fragen, auf die als Antwort der nonverbale „Akt“ des Schweigens folgt wie in Beispiel 12. Und auch hier wird mit der Frageform gespielt. Eine Erklärung für den Handlungsverlauf in den Evangelien und somit auch für die erzählerische und sprachliche Gestaltung der Tatianbilingue gibt Jesus bei seiner Gefangennahme, als er sein Nicht-Handeln erklärt (pag. 298,12f.; Siev. 185,5; Mt 26,54): uuio uuerdent gifultiu thiu giſcrip uuantiz ſo gilimpfit zi uueſanne 'Wie würde die Heilige Schrift [Pl.form] erfüllt, dass [= nach der] es so geschehen muss?'.
Literatur Althochdeutsches Wörterbuch (2007), auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hrsg. v. Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings, ab Band II hrsg. v. Rudolf Große, Reprint der Bände I-IV, Berlin. Altmann, Hans (1993), „Satzmodus“, in: Joachim Jacobs / Arnim von Stechow / Wolfgang Sternefeld / Theo Vennemann (Hrsg.), Syntax. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung / An International Handbook of Contemporary Research, 1. Halbband / Volume 1, Berlin, New York, 1006-1029. Behaghel, Otto (1928), Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung, Bd. III: Die Satzgebilde, (Germanische Bibliothek, I. Sammlung germanischer Elementar- und Handbücher, I. Reihe: Grammatiken 10), Heidelberg.
_____________ 46
Althochdeutsches Wörterbuch (2007), Bd. III Sp. 1636. Vgl. auch Abschnitt 3.2.
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Claudia Wich-Reif
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Mittelhochdeutsch
Pragmatisch indizierte Syntax des Mittelhochdeutschen Mechthild Habermann (Erlangen)
1. Was ist pragmatisch indizierte Syntax? Die mittelhochdeutsche Syntax unterliegt in der Organisation ihrer Sätze den besonderen Bedingungen mittelhochdeutscher Schriftlichkeit. Die Satzorganisation der Vormoderne weist trotz der vorhandenen strukturellen Gemeinsamkeiten mit der gegenwartssprachlichen Syntax Unterschiede auf, die Spuren pragmatisch indizierter Syntax darstellen. In diesem Beitrag sollen Besonderheiten mittelhochdeutscher Syntax vor Augen geführt werden, die höchst unterschiedlich auf eine Verankerung in bestimmten Verwendungskontexten verweisen. Das Ausmaß, in dem sich pragmatisch indizierte Syntax von der der Gegenwart unterscheidet, betrifft nicht die Struktur, sondern vielmehr den Gebrauch der zur Verfügung stehenden Mittel. Grundsätzlich stellt sich hierbei die Frage, ob es „die“ Syntax des Mittelhochdeutschen überhaupt gibt. Wie einheitlich ist also die mittelhochdeutsche Syntax? Wie wirken sich sprachdiatopische und funktionalstilistische Unterschiede auf die Syntax des Mittelhochdeutschen aus? Noch immer können derlei Fragen für die Zeit der Vormoderne nicht befriedigend beantwortet werden. Während sprachregionale Aspekte in diesem Beitrag ausgeklammert bleiben, geht es nachfolgend um bestimmte Funktionalstile insbesondere in der spätmittelalterlichen Gebrauchsliteratur. Pragmatisch indiziert ist eine Syntax dann, wenn sie zum einen eine bestimmte Kontextualisierung braucht, um verstanden zu werden. Und wenn sie zum anderen aus sich selbst heraus Hinweise gibt, in welchen Situations- und Verwendungskontext sie gehört. Die Kontextgebundenheit ist das auffälligste Merkmal ihrer pragmatischen Indizierung. Die zwei Aspekte beleuchten den Gegenstand aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln:
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Zum einen aus der Sicht des Rezipienten, der eine Kontextualisierung wegen der Vagheit und Unterbestimmtheit des Satzbaus erst herstellen muss. Zum anderen aus der Sicht des Textproduzenten, der offenbar mit anderen Mitteln für eine Verständnissicherung sorgt, so dass der Situationskontext der Äußerung nicht missverstanden werden kann. Für den Wandel von der pragmatisch indizierten Syntax der Vormoderne zur entpragmatisierten Syntax lässt sich ein bekanntes Erklärungsmuster anführen: Der Wandel ist Folge der zweiten Medienrevolution, der Erfindung des Buchdrucks, wie sie bereits von Marshall McLuhan,1 Elizabeth L. Eisenstein2 oder Michael Giesecke3 beschrieben wurde. Mittlerweile gehört es zu den anerkannten Gemeinplätzen, dass Bücher die überregionale Verbreitung und Multiplizierung des Geschriebenen beförderten, was die endgültige Herauslösung aus der mündlichen Gebrauchssphäre, etwa die des Vorlesens, und hiermit eine veränderte Rezeption des Geschriebenen zur Folge hatte. Von der „Ohrensyntax“ zur „Augensyntax“ ist ein Schlagwort, mit dem man „Entpragmatisierung“ zu charakterisieren versucht.4 Und dennoch ist der Unterschied ein gradueller. Auch vorher wird die Augensyntax bedient und nachher über längere Zeit die Ohrensyntax. Denn etliche der beobachteten Phänomene können auch in den Frühdrucken des 16. Jahrhunderts beobachtet werden. Im Folgenden werden drei Bereiche aufgeführt, die den Gegenstand der Kontextualisierung von jeweils anderer Seite beleuchten: •
Der Gebrauch des Kasus als textkohäsives Mittel
•
Unter- und Überbestimmtheit der Satzorganisation
•
Formelhafte Sprache in der Satz- und Textorganisation.
2. Der Gebrauch des Kasus als textkohäsives Mittel Es fehlt an systematischen Untersuchungen, die die historische Textlinguistik unter der Entwicklung textkohäsiver Mittel betrachtet. In einer Zeit spärlicher Interpunktion und fehlender Absatzbildung in der Textpräsentation mögen andere Ressourcen genutzt worden sein, Textkohäsion herzustellen. Untersuchungen zu diesem Gebiet fehlen zweifellos nicht zuletzt auch deshalb, weil die normalisierten Textausgaben mittelhoch_____________ 1 2 3 4
Vgl. McLuhan (1962). Vgl. Eisenstein (2005). Vgl. Giesecke (1991). Vgl. Betten (1987, 161).
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deutscher Literatur gerade diese Unterschiede durch Einfügen moderner Interpunktion und neuer Gliederung weitgehend unkenntlich machen und damit keine zuverlässige Grundlage sprachwissenschaftlicher Untersuchungen darstellen. Nur die handschriftliche Überlieferung ist die geeignete Basis für textlinguistische Untersuchungen. Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen bildet die These, dass Textkohäsion in der Vormoderne noch nicht im gleichen Ausmaß über die kohäsionsstiftenden Mittel wie etwa Pronominalisierung oder Konnektorengebrauch verfügt wie dies in der Gegenwartssprache der Fall ist. Ein einfaches Mittel, Textzusammenhalt herzustellen, ist die Wortwiederholung, die lexematische Rekurrenz, von der Texte der Vormoderne in reichem Ausmaß Gebrauch machen. Die Wiederholung ein und desselben Wortes oder ein und desselben Wortstamms wird spätestens in der Zeit des Humanismus obsolet, als das rhetorische Prinzip der variatio, der Veränderlichkeit lexikalischer Ausdrucksmittel, zu einem der wichtigsten Stilprinzipien erhoben wird. Ein weiteres Mittel der Textkohäsion scheint im Alt- und frühen Mittelhochdeutschen der Kasus gewesen zu sein, und zwar die Herstellung von Textzusammenhalt durch die Wahl des Genitivs als Objektkasus. Es gibt im Alt- und Mittelhochdeutschen viele zweiwertige Verben mit konkurrierenden Konstruktionsmöglichkeiten, die neben dem Subjekt im Nominativ entweder ein Genitiv- oder Akkusativobjekt haben. Welche Funktion hat diese scheinbar freie Variation? Über die Funktionen derartiger Alternationen ist noch immer zu wenig bekannt. Es stellt sich deshalb die legitime Frage, ob sich Sprecher einer Sprache über Jahrhunderte hinweg den Luxus freier Variation leisten können. Für gewöhnlich ist das Auftreten von Varianten ein Indiz für Sprachwandel: Die neue Form tritt neben die alte und löst diese im Laufe der Zeit ab. Welche Funktion hat aber die Schwankung in der Kasusrektion bestimmter Verben zwischen Genitiv- und Akkusativobjekt? Erst wenn man verstärkt die alten indogermanischen Kasusbedeutungen in die Überlegungen mit einbezieht, geraten alte Funktionen des Genitivs und Akkusativs in den Blickpunkt, die zumindest noch die frühmittelalterliche Literatur in ein neues Licht rückt.5 Laut mittelhochdeutscher Grammatik besteht bei den meisten zweiund dreiwertigen Verben mit Gen.-Objekt _____________ 5
Für diese Variation wurden immer wieder Erklärungsversuche geboten. Im Folgenden werden vor allem Anregungen aufgegriffen, die Richard Schrodt zunächst zum Objektsgenitiv entwickelt und schließlich auf textlinguistische Aspekte im Syntax-Teil der Althochdeutschen Grammatik übertragen hat; hierzu insbesondere Schrodt (1996, 71ff.); ders. (2004); vgl. auch Habermann (2007, 85ff.).
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Konkurrenz von seiten des Akk. oder präpositionaler Verbindungen oder einer Inf.-Konstruktion, wobei z.T. Nuancen in der Bedeutung des Verbs zu bemerken sind. Auch kann im Laufe des Mhd. eine Verschiebung zugunsten der präpositionalen Verbindung eintreten.6
Dass ein Unterschied zwischen dem Gebrauch von Genitivobjekt und Akkusativobjekt besteht, lässt sich am deutlichsten bei den Verben des Denkens und Wahrnehmens wie etwa gedenken vor Augen führen.7 (1)
Beispiel mit Genitivobjekt: Er gedâhte langer mære, diu wâren ê geschehn Subjekt V Genitivobjekt [Nibelungenlied 1757, 1 (1695, 1)] 'Er erinnerte sich an lange Geschichten, die einst geschehen waren'
Berthold Delbrück stellte in seiner Vergleichenden Syntax der indogermanischen Sprachen fest, dass die Grundbedeutung des Genitivs die der Teilhabe sei. Die Grundbedeutung des Akkusativs hingegen die der Betroffenheit.8 Das im Genitiv Genannte nimmt gewissermaßen von außen Einfluss auf die im Subjekt genannte Größe. Im Subjekt steht kein richtiges Agens, vielmehr ein Experiencer. Denn die im Genitiv vorhandene Größe existiert unabhängig von der Durchführung der Verbalhandlung. Bezogen auf das Beispiel (1) heißt dies, dass die schönen Geschichten schon da sind, bereits existieren, bevor die Handlung des „Gedenkens“ einsetzt.9 Eine ganz andere Bedeutung liegt bei gedenken mit Akkusativobjekt, dem „Kasus der Betroffenheit“, vor. (2)
Beispiel mit Akkusativobjekt: so gedenke ich wol die list Adverbiale(kaus) V Subj Adverbiale(mod) Akk.obj [Herbort, 13450] 'Deshalb denke ich mir gutüberlegt die (meine) Vorgehensweise aus.'
In Beispiel (2) ist die im Akkusativ genannte Größe direkt von der Verbalhandlung betroffen, sie ist das Ergebnis des „Nachdenkens“. Hier wird zusammen mit dem Akkusativ die Bedeutung 'über etwas nachdenken, etwas ausdenken' aktiviert. Die Verbalhandlung ist auf das Objekt gerichtet, das allmählich erst, im Laufe der Handlung, entsteht oder geschaffen _____________ 6 7 8 9
Paul (2007, 340f., § S 71). Zu den betroffenen Verben vgl. Behaghel (1989, 564ff.) und Ebert (1986, 38f.). Diese Verbgruppe wurde insbesondere von Milligan untersucht; vgl. Milligan (1960). Vgl. Delbrück (1893, 308, § 148; 360f., § 176). Ähnlich sind die Verhältnisse auch bei Verben wie sich erschrecken, vergessen, sich befreien.
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wird und eher abstrakter Natur ist. Das im Akkusativ Genannte ist Inhalt oder Ergebnis der durchgeführten Verbalhandlung.10 Der Genitiv verweist also auf ein äußeres, schon vorhandenes Objekt (das durch die Verbalhandlung ins Bewusstsein geholt wird), der Akkusativ auf ein inneres, erst im Entstehen begriffenes Objekt, auf ein Resultatsobjekt. Die Wahl des Komplements, ob bei ein und demselben Verb Genitivoder Akkusativobjekt zu stehen habe, wird neben der Unterscheidung von äußerem Objekt und Resultatsobjekt auch durch textlinguistische Faktoren bestimmt, was zumindest für die älteren mittelhochdeutschen Textzeugnisse noch zutrifft. Je nachdem, ob das Objekt zuvor schon erwähnt wurde oder nicht, steht Genitiv- oder Akkusativobjekt. Hier können nun textdeiktische und textphorische Funktion eng aufeinander bezogen werden: Beim Genitivobjekt korreliert das äußere Objekt mit dem Faktor des Vorerwähntseins bzw. der Bekanntheit und bei der Akkusativergänzung das Resultatsobjekt mit der Nicht-Bekanntheit. Hiermit ist die Verbvalenz bei etlichen Verben entscheidend von der given-new-Dichotomie oder Thema-Rhema-Struktur abhängig. Besonders deutlich ist dieser Unterschied z.B. bei frāgēn im Althochdeutschen sichtbar, das nach Schrodt dann den Genitiv aufweist, wenn der „erfragte Gegenstand oder Sachverhalt [...] meist in irgendeiner Weise bereits vorerwähnt oder kategorial bekannt“ ist.11 Bei Fragen nach Unbekanntem steht hingegen der Akkusativ. Die anaphorische Funktion des Genitivs bei mhd. vragen ist reichlich belegt, so z.B. auch im Iwein: (3)
er sprach ‚niene vürhte dir: sine tuont dir bî mir dehein leit. nû hân ich dir vil gar geseit swes dû geruochtest vrâgen: [...]‘ [Iwein, 516-519]
Der Akkusativ findet sich hingegen in folgenden Fällen, wie „den Weg fragen“ statt „nach dem Weg fragen“.12 Ähnlich auch bei mhd. ahten, mit Genitiv in der Bedeutung 'auf etwas Acht haben, die Aufmerksamkeit auf etw. schon Vorhandenes richten':
_____________ 10 11 12
Ähnlich auch bei Verben wie schreiben oder bauen. Schrodt (2004, 83, § S 78). Vgl. DWB 4, 1, 1, Sp. 52, s.v. fragen.
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(4)
wie si belîben solten des ahten si mit den jungelingen [Kudrun, 908,4, Handschrift E]13
Mit Akkusativ in der Bedeutung 'die Aufmerksamkeit auf etwas Neues lenken, sich etwas überlegen': (5)
ir sult daz ahten schiere, swie sô daz geschehe, daz ich die küneginne unt iwer swester sehe. [Nibelungenlied 546, 1f. (511, 1f.)]
Noch für mhd. hAren können Valenzen rekonstruiert werden, die schon im Althochdeutschen nachweisbar sind. Mhd. hAren ist ein zwei- oder dreiwertiges Verb; neben dem Subjekt steht im Dativ die Person, ‚auf die jmd. hört oder der man gehorcht‘; das, worauf jmd. hört, das ausgesprochene Gebot, dem die im Subjekt stehende Person gehorcht, kann im Akkusativ oder Genitiv stehen: bei Akkusativ hat das Verb die Bedeutung 'etw. hören, auf etw. (hin) hören', bei Genitiv 'auf etwas (schon Vorhandenes, schon Gesagtes) hören, es beachten', z.B. daa ich der schande sumelîcher hAre.14 Genitivobjekte sind später sehr häufig durch Präpositionalobjekte ersetzt worden: statt des hAren nun auf etwas hören, darauf hören. Der relationale Aspekt ist im Präpositionaladverb darauf besonders sichtbar. Empirische Untersuchungen stehen aus, Umfang und Ausmaß dieser Beobachtung zu bestätigen oder zu korrigieren. Es stellt sich auch die Frage, ab wann Funktionsunterschiede dieser Art nicht mehr greifbar sind und durch welche Faktoren die Nivellierung der Unterschiede begünstigt wird.
3. Unter- und Überbestimmtheit der Satzorganisation Die mittelhochdeutsche Syntax lässt einen größeren Spielraum für die situationelle Interpretation als die neuhochdeutsche Syntax der geschriebenen Sprache. Die Gefügestruktur in komplexen Sätzen ist wesentlich durch phorische oder deiktische Mittel organisiert. Elliptische Elemente oder anakoluthartige Strukturen sind aus dem Situationskontext und über die Bedeutung der Lexeme ersetz- oder ergänzbar. Gerade Satzbrüche, Anakoluthe, Apokoinu-Strukturen fordern die Interpretationsleistungen des Rezipienten heraus (vgl. Beispiel (6) aus der _____________ 13
14
Nach Kudrun. Die Handschrift (1969, 300, Anmerkung zu 980, 4). Vgl. auch BMZ I, 16, s.v. AHTE. In der Bedeutung 'sein Augenmerk auf etwas richten' finden sich auch noch spätere Belege mit Genitiv, wie z.B. „die gräfin aber achtete des ironischen tones nicht“ (Fontane 1883, zitiert nach DWB NB 1, Sp. 1389, s.v. achten). Vgl. BMZ I, 711, s.v. HŒRE.
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Gebrauchsprosa des 14. Jahrhunderts, und zwar aus Konrad von Megenbergs Buch der Natur):15 (6)
Das holta hat die art i_t daa man ea allaeit in waaa’ legt. oder ob es allcaeit in dem luft _tet/ _o gefault ea _elten ny^er. [Buch der Natur, Bl. 97r]
Die Ähnlichkeiten mittelhochdeutscher Syntax zur gesprochenen Sprache sind allenthalben augenfällig. Die sprachlich nicht explizierten Verknüpfungen mussten und müssen vom Leser auf der Grundlage des Erfahrungswissens dekodiert werden. Die fehlende Eindeutigkeit im logischgrammatischen Sinn ist weitgehend aus dem Situationskontext ergänzbar. Sich ergebende logisch-grammatische Leerstellen konnten und können durch Erfahrungswissen gefüllt werden. Auf der anderen Seite ist die Syntax stark geprägt durch verständnissichernde Leseanweisungen, die den mittelhochdeutschen Satzbau aus neuhochdeutscher Sicht schwerfällig wirken lassen. Hiervon zeugen die vielen expliziten Hinweise auf den Zitatcharakter von Äußerungen, die die gesamte mittelhochdeutsche Literatur kennzeichnet; hierzu Beispiel (7): (7)
Ari_totiles _pricht. die lerch fGrcht den habich _o _er we] er _i iagt. daa _i dem mē_chen in _ein _choa fleugt vnd le_t _ich oft mit der hant vahen. [Buch der Natur, Bl. 55v]
Vergleicht man damit die neuzeitliche Syntax der geschriebenen Sprache, so ist der Unterschied der, dass in der Gegenwartssprache eine leserorientierte Syntax vorherrscht: Hierfür sorgen zum einen die grammatischlogischen Hinweise, die dem Leser das Verständnis komplexer Satzstrukturen erleichtern. Zum anderen ist die seit dem Frühneuhochdeutschen zunehmend lesersteuernde Funktion der Interpunktion, so etwa die Kennzeichnung der direkten Rede, eine sich entwickelnde zweite Bedeutungsebene; neben den typographischen Zeichen zählen im weiteren Umfeld auch Abbreviaturen wie „z.B.“ oder „vgl.“ dazu. Sie dienen der Gliederung und damit Strukturierung sowie der Klassifikation und Einordnung des Dargebotenen als „Beispiel“, „Vergleich“ oder „direktes Zitat“, die dem Leser implizit, das heißt auf einer dem primären Text unterlegten zweiten Zeichenebene, den Äußerungsstatus anzeigen. Der neuzeitliche Leser hat es gelernt, dieses Instrumentarium in seinem Stellenwert richtig zu interpretieren und zu _____________ 15
Konrad von Megenberg (1377); zur genauen Beschreibung der Handschrift vgl. Hayer (1998, 192f.).
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nutzen. Im Mittelhochdeutschen hingegen werden die notwendigen Operatoren, die der Verständnissicherung dienen, in Worte umgesetzt. Besonders auffällig ist die Verbalisierung von Redewiedergaben. Die Handlungsmittel des Zitierens werden anstatt neuhochdeutscher Interpunktionszeichen, d.h. Doppelpunkt und Anführungszeichen, vielmehr explizit benannt. Die Beispiele mit dem performativen Verb „sprechen“ sind in der gesamten mittelalterlichen Literatur, in prosaischen wie poetischen Texten, Legion, wie etwa in folgendem Beispiel aus dem Buch der Natur: (8)
¶ Aristoteles _pricht. daa die vogel di flei_ch eaaent. nicht mer ayrn. da] ains mala. in dem iar. an die _walben die ayrt awir. er _pricht auch. daa man der vogel _iechtGm erchenn. von der flFgel geprechen / Er _pricht auch. daa vnd allem geflFgel gemainleich der er lenger leb dan die _i. Er _pricht auch. we] die v=gel mit einand’ _treiten. _o legent _i auf die wunden ein akker wurta . hai_t oliganu’ . aber von den wFrtaen werd wir her nach _agend. Er _pricht auch daa di vahenden vogel haiaaer natur _ein . vnd trFkner. die natur hai_t aelatein colerica ¶ Er _pricht auch all vogel chrum’ chloen werffent ir kint aua den ne_t). [...] [Buch der Natur, Bl. 54r]
In diesem kurzen Abschnitt ist Aristoteles _pricht auf engstem Raum insgesamt fünfmal mit er _pricht auch wieder aufgenommen. In nur zwei Fällen ist eine direkte Rede angeschlossen, die mit Ausnahme des verbalisierten Anführungszeichen x _pricht keine weiteren textuellen Markierungen des Zitats aufweist.16 Es überwiegt die mit einem daa-Nebensatz angeschlossene indirekte Rede. Die stereotype Wiederholung der Quelle des Zitats ist zum einen Autoritätsnachweis, zum anderen aber auch Gliederungssignal, mit dessen Hilfe anstelle von Spiegelstrichen oder Nummerierungen, wie 1., 2., 3. etc., die einzelnen Informationen additiv aneinandergereiht werden können. Die Konkordanz zum Nibelungenlied (nach der St. Galler Handschrift) gibt einen Einblick in die Häufigkeit von (relativ) festen Kollokationen, die allenfalls (nebensatzbedingt) in der Wortstellung oder durch Hinzufügen von Adverbialien als nicht-notwendigen Satzgliedern variieren. Für Dô sprach (x) sind im Nibelungenlied allein 335 Textstellen, für Dô sprachen (x)
_____________ 16
Das Interpunktionszeichen ‚Punkt‘ in Beispiel 9 ist nicht hinreichend signifikant, die direkte Rede zu markieren. Zum einen tritt der Punkt zwar häufig, aber nicht regelmäßig auf, zum anderen dient er bereits weitgehend zur Abgrenzung logisch-syntaktischer Einheiten.
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weitere 13 Belege nachweisbar.17 Das am häufigsten gebrauchte Verb zur Redewiedergabe ist sprechen; sagen, antwurten oder heiaen sind vergleichsweise selten belegt. Der Variantenreichtum an Verben der Redewiedergabe, wie er für die Gegenwartssprache feststellbar ist, kann für das Mittelhochdeutsche nicht bezeugt werden. In späteren Zeiten übernimmt die Interpunktion die eindeutige Markierung direkter Rede, so dass eine reiche Vielfalt metaphorischer Übertragungen die Stelle von sprechen einnimmt: z.B. flöten, lachen, lallen, betonen, schwadronieren, zum Besten geben o.ä. Die Verbalisierung der Redewiedergabe ist ein für die mittelalterliche Dichtung wie Prosa textsortenübergreifendes Phänomen. Darüber hinaus gibt es Spezifika, die in besonderer Deutlichkeit in Textsorten hervortreten, die der Alltagswelt besonders nahe stehen, wie etwa in mittelalterlichen Gebrauchstexten: Pragmatisch indizierte Syntax findet sich auch dann, wenn Handlungsszenen konstituiert werden wie etwa die einer konkreten Werkstattunterweisung. In dieser werden die didaktischen Verfahren der Unterweisung, als ob sie in einer real existierenden Unterrichtssituation stattfände, imitiert. Das deiktische du, das das Gegenüber der Gesprächssituation bezeichnet, wird als Merkmal konzeptioneller Mündlichkeit in die Schriftlichkeit übertragen: Du _olt .... Entweder folgen Imperative, durch die unmissverständlich direktive oder appellative Sprechakte markiert werden (z.B. Wiaa daa ...), oder Modalverben wie _uln, _üln: (9)
Du _cholt auch wiaaen daa [...] [Buch der Natur, Bl. 97r]
Der Autor wendet sich mit einer verbalisierten Zeigegeste an den Leser, bevor er seine Erläuterungen anführt. Formulierungen wie Wiaa oder Du _cholt auch wiaaen sind verbalisierte Hinweiszeichen, wie etwa das ikonische Zeichen oder bereits abstrahiert: →, die in ihrem deutlich erkennbaren personalen Bezug aufmerksamkeitsheischend gebraucht sind. Neben den appellativen Sprechakten sind auch deklarative besonders häufig vertreten: Am Beginn eines Buches steht nicht selten ein Satz mit der Proposition, die den Anfang des Buches anzeigt: (10) Assit principio sancta Maria meo. Jncipit liber de naturis rerum Anno domini 1°3°7°7° In nomine domini. [Buch der Natur, Bl. 4r] Nach dem Register folgt der Prolog mit der Überschrift: _____________ 17
Vgl. Reichert (2006 Bd. 1, 218ff., Bd. 2, 837f.). Die Zahlenangaben beruhen auf manueller Auszählung. In weiteren elf Fällen ist im Nebensatz x dô sprach belegt; hinzu kommen 73 Belege von sprach dô x; wenige Beispiele weisen in der Formel Dô sprach (x) vor dem Subjekt ein lokales Adverbiale (vor y / zu y) bzw. ein modales Adverbiale auf.
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(11) Das i_t daa puech von den NatFrleichen dingen ae deut_ch pracht. von mai_ter Chunraten von Megenberch. ~ [Buch der Natur, Bl. 7r] Das Explicit bildet die folgende Schlusszeile in direkter Anrede: (12) Da mit hab eyn end [Buch der Natur, Bl. 153v] Der Unterschied zur heutigen Buchgestaltung besteht insbesondere darin, dass die Titelblattgestaltung meist in nominalisierter Form auf den Inhalt des Buches referiert und das Ende eines Buches in der Regel unbezeichnet ist, mitunter aber durch Ende oder Finis angezeigt wird. Die mittelalterlichen Propositionen bieten Zuschreibungen, die wiederum auf Zeigegesten hinweisen und eine Art Gebrauchsanleitung für das Buch zumindest im Incipit darstellen. Entpragmatisierte Formen der Überschriftsgestaltung, die an lateinischem Beispiel (De Arboribus) orientiert sind, bleiben im darauf folgenden Fließtext nicht unkommentiert. Der Inhalt von Kapitelüberschriften wird hierdurch häufig stereotyp wiederholt, die weitere Vorgehensweise einschließlich der Ausführungen zur alphabetischen Reihung metasprachlich kommentiert. In Beispiel (13) ist eine solche Wiederholung mit der Rechtfertigung des Vorgehens des Autors verbunden: (14) Von mangerlay paumen BJr _chFllen in di_em vierd) _tuckch des puchs _agen von allerlay pau^e. vnd dea er_ten von gemain) paumen. dar nach von wol _mekchenden. vnd gar edeln paumen. vnd _chGllen die orde nHg haben. Daa wir des er_ten von dem _ag) der nam ae latein. _ich. an ain) a. anhebt vnd dar nach an dem .b. recht als daa. a.b.c. geordent i_t. _am vn_er weis vor gewe_en i_t in andn ding). [Buch der Natur, Bl. 96r f.] Neben deklarativen Sprachhandlungen gibt es eine Reihe von obligatorischen bzw. selbstverpflichtenden Sprechakten, die die Syntax der Vormoderne als pragmatisch indiziert bestimmt: (15) aber von den wFrtzen werd wir her nach _agend. [Buch der Natur, Bl. 54r] In einer entpragmatisierten Darstellung kann anstelle der Proposition im Neuhochdeutschen ein kurzer Seitenverweis als Fußnotentext erscheinen: zu den Kräutern vgl. S. xy. Aus den Ausführungen folgt: Die modernen typographischen Repräsentationen werden in der Vormoderne über Verbalisierungen in vollständigen Sätzen zum Ausdruck gebracht. Die unverwechselbare Syntax der
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expliziten Sprechakte verweist indexikalisch auf konkrete Gebrauchssituationen. Sie stellen das mental verankerte Script bei der Produktion und Rezeption von Gebrauchstexten dar und bieten bei der formalen Ausgestaltung der Sätze die slots, die in inhaltlicher Hinsicht gefüllt werden müssen. Die Trias ‚Sender – Empfänger – Welt‘ ist in der relativen Gleichwertigkeit der drei Pole das dominante Bezugssystem. In der Syntax der Vormoderne ist neben der symbolischen Setzung mit Referenz auf die Gegenstände der außersprachlichen Welt der personale Bezug mit Verweisfunktion eines Senders auf einen möglichen Adressaten – auf eine plakative Art und Weise – stets präsent. Die Zeigegeste (das ist...) bestimmt den Gebrauch der syntaktischen Mittel.
4. Formelhafte Sprache in der Satz- und Textorganisation Die mittelhochdeutsche Syntax ist in weiten Teilen der Gebrauchsliteratur schablonenhaft. Auch die metrisch gebundene Dichtung zeigt bekanntlich eine Reihe lexikalischer Füllungen, die im Wortlaut nur minimal variieren. Dies gilt auch für die mittelhochdeutschen Urkunden, deren starke Reglementierung in den obligatorischen Teilen (salutatio, petitio, corroboratio, etc.) formelhaft geregelte Sprache mit nur geringer Variation aufweist.18 Auch in der naturkundlich-medizinischen Gebrauchsliteratur sind sowohl Satz- als auch Textorganisationen stark schematisiert. Die Schematisierung folgt einfachen, elementaren Mustern mit hohem Wiedererkennungswert, die sich auf der Grundlage formalisierter Satzbaupläne beschreiben lassen. Es handelt sich hierbei um abstrakte Schablonen, die aus zahlreichen Gebrauchskontexten bekannt sind. Die entscheidende Einheit ist nicht der nach heutigen Vorstellungen modellierte Satz, sondern die Informationsstruktur, deren vorherrschendes Merkmal – weitaus stärker als heute – die kommunikativ-pragmatische Verortung der einzelnen Textbausteine ist. Die Satz- und Textmuster, die auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Graden formalisierte Schablonen darstellen, können in die Nähe des kognitionspsychologischen Schema-Begriffs gerückt werden. Sie geben deshalb auch Antwort auf die grundlegenden Leitfragen nach _____________ 18
Quantifizierbare Ergebnisse mittelhochdeutscher Kollokationen, Sentenzen, Formeln, stereotyper Texteinleitungen sind erst dann erwartbar, wenn eine computergestützte Korpusanalyse signifikanter Datenmengen möglich ist. Gerade für Untersuchungen im Bereich Formelhafte Sprache sind viele neue Einblicke in den Bausteincharakter mittelhochdeutscher Syntax zu erwarten.
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dem Wer? oder Was?, dem Wie? und Wo? oder Wann?, dem Wozu? und (seltener) nach dem Warum? etc. Die Leitfragen stellen die rationalen Verfahren der Welterschließung spätestens seit Aristoteles dar. Die schematischen Fragestellungen haben sich als standardisierte Formen erfolgreichen kommunikativen Handelns bewährt und führen nun ihrerseits zu einer weitgehenden Schematisierung der entsprechenden Antworten. Die Satzschablonen stellen Formulierungsroutinen dar, die immer dann auftreten, wenn standardisierte Kommunikationsaufgaben bewältigt werden müssen.19 Die Aktivierung solcher Muster hilft dem Autor oder Textproduzenten bei der schnellen Bewältigung der Vertextungsaufgabe. Auf Seite des Textrezipienten führt die Einhaltung bekannter Muster zu einer schnelleren Verarbeitung neuer Informationen durch Einordnung in tradierte Sprachhandlungsformen mit hohem Wiedererkennungswert. Stephan Stein unterscheidet in seiner Untersuchung zur Formelhaften Sprache grundsätzlich zwischen „sprachlichen Routinen“ und „konzeptionellen Routinen“.20 Die beiden Typen erscheinen im Text entweder als Formulierungsstereotype bzw. formelhafte Sprache (= sprachliche Routinen) sowie als Einhaltung eines bestimmten Satz- oder Textmusters (= konzeptionelle Routinen). Die Modellbildung besteht also zum einen in der Übernahme sprachlicher Schablonen mit standardisierter Lexik und zum anderen in der Einhaltung bestimmter formaler Schemata mit variabler Lexik. Bei der Klassifikation spielen Faktoren wie der Grad der lexikalischen Füllung, die kommunikative Funktion, die syntaktische Struktur sowie die Positionierung des Musters in der Textorganisation die entscheidende Rolle. Die erste Gruppe, die Formulierungsstereotypen oder sprachlichen Routinen, sind dadurch gekennzeichnet, dass eine bestimmte lexikalische Füllung in einer ausgewählten Struktur stets gegeben ist. Die lexikalische Füllung, die Wiederholung des immergleichen Wortes bzw. der immergleichen Wörter ist das sie charakterisierende Merkmal. Die Funktion der Formulierungsstereotypen ist in der Regel immer auch die der Textstrukturierung und Organisation im Sinne von Fortsetzungssignalen, Themenwechsel und Herausstellung. Formulierungsstereotypen begegnen: •
in der Kapitelüberschrift, etwa in der Formel: „Von der X“. (15) Von den vogeln in ainer gemain Von dem adelarn Von dem arpen. [Buch der Natur, Bl. 53v-55r]
_____________ 19 20
Vgl. Heinemann / Viehweger (1991, 166). Stein (1995, 301).
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am Kapitelanfang mit Formeln wie: „X (lateinischer (latinisierter) Terminus) heißt Y (deutscher Terminus)“ oder „X (lateinischer (latinisierter) Terminus) ist ein Y (Hyperonym wie z.B. ‚Vogel‘, ‚Baum‘ etc.)“, wie etwa: (16) A Quila hai_t ein adel ar. AN_er oder auca hai_t ein gans. Accipiter hai_t ein habich. Arpia i_t ein vogel [...] [Buch der Natur, Bl. 54v f.]
•
in Scharnierausdrücken, die lexikalisch bis auf eine Leerstelle festgelegt sind. Sie dienen meist als Diskursmarker oder Fortsetzungssignale, indem sie die Einführung eines neuen Gesichtspunktes, eines Themenwechsels, markieren. Ein recht häufig gebrauchter Scharnierausdruck ist: „X hat die Art“: (17) Der fenix hat die art . wenn in deca alter be_wërt. _o _üecht er im in den landen gegē der _unen aufganch. den aller _ch=n_ten paum [...] [Buch der Natur, Bl. 60r] (18) Die erl pleter habnt die art wo man _i _treUt in ainer chamern . da t= tten _i die fl=ch . [Buch der Natur, Bl. 97v]
Bei der zweiten Gruppe, den konzeptionellen Routinen, handelt es sich um Satzmuster, die lexikalisch frei besetzbar sind und prototypisch ganz bestimmte Inhalte transportieren. Die Zahl der Satzmuster ist in der Gebrauchsliteratur in der Regel auf zwei dominante eingeschränkt. Zunächst das erste Muster, das den ersten Teil naturkundlicher Ausführungen bestimmt: (19)
Von dem adelarn A Quila hai_t ein adel ar. Vnd _pricht augu_tin’. daa er der edel_t vogel _ey. Vnd _ey ein chFnich aller vogel. Er i_t ein groaa’ rauber vnd lebt nGr dea flei_chs. Er hat gar _tarkch ge_icht [...] [Buch der Natur, Bl. 54v]
Textteil (19) besteht aus Aussagen, die Minimalpropositionen darstellen: D.h. es gibt ein Verb, das seine obligatorischen und / oder fakultativen Ergänzungen aufweist. Es gibt kaum Adverbialien (Angaben). Die Aussagesätze sind Einfachsätze zur Erläuterung von Sachverhalten. Es kommen allenfalls daa-Sätze als Inhaltssätze von Aussagen vor, die indirekte Redewiedergaben in Abhängigkeit von einem verbum dicendi darstellen. Eine andere Struktur weist Textteil (20) auf:
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(20)
von dem pfaun [...] Jacobi _pricht wenn man den pfaun _chawt vnd lobt. _o _trekt er _ein) aagel auf in aines halben thraiaa weis. vnd aaigt _eins zagels _ch=n. [...] wenn der pfau _ein) aagel ge_trebt hat gegen der _onn). vnd _ein vnge_talt fFaa an_iecht. _o _enkt er den aagel wider auf die erden al_o _pricht daa puch von der aygehait d’ ding [...] plynius _pricht. wenn der pfau die wolgeuerbten vedn’ rert. _o trauert er vnd wirt dan perhaft. s We] d’ pfau in der vin_t’ i_t wachent. vnd _ich _elb’ nicht ge_ehen mag. _o er_chrikt er. vnd _chreit laut. wa] er w*nt er hab _ein _chön v’lorn [Buch der Natur, Bl. 68r]
Textteil (20) besteht aus Sätzen mit der Struktur wenn – so ('dann') mit temporal-konditionaler Bedeutung. Sie werden in diesem Beispiel besonders stereotyp in immer gleicher Konstruktion aneinandergereiht. Die Konstruktionen mit wenn – so bieten die hinreichende Bedingung und konsequente Folge, die im ordo rerum scheinbar mechanistisch eintritt. Im Unterschied zu Textteil (19) sind im Textteil (20) nur Satzgefüge, in denen die näheren Umstände eines besonderen Verhaltens zum Ausdruck gebracht werden. Trotz der Stereotypie des Musters in (20) variiert wenn – so mit Relativsätzen der Form wer – der, lokalen wo-Sätzen, uneingeleiteten Konjunktionalsätzen oder dass-Sätzen. Weitere Nebensätze wie etwa temporal-kausale sind eher selten nachweisbar (z.B. wa] er w*nt er hab _ein _chön v’lorn). Grundsätzlich besteht der Eindruck, dass die stereotyp verwendete Konstruktion mit wenn – so ('dann') vorherrschend ist. Die konzeptionellen Routinen sind volkssprachlich tief verwurzelt, gehören sie doch seit alters her einerseits zum Vertextungsmodell der Deskription und andererseits zu den volkssprachlich überaus gebräuchlichen Mitteln in mittelalterlichen Rezeptstrukturen, die die Wenn-dannGliederung bevorzugt aufweisen.21
5. Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen Der Weg von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Syntax ist verbunden mit dem Prozess der Entpragmatisierung – in folgendem Sinn: 1. Die Emanzipation des geschriebenen Textes aus dem unmittelbaren Situationskontext setzt ein Bewusstsein dafür voraus, dass schriftliche Kommunikation in der Regel Distanzkommunikation _____________ 21
Vgl. hierzu Habermann (2007, 209ff.).
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ist, bei der von den personellen sowie räumlich-zeitlichen Gegebenheiten des Situationskontextes abstrahiert werden muss. Der Wandel von konzeptioneller Mündlichkeit zu konzeptioneller Schriftlichkeit ist ein häufig bemühtes Schlagwort, das in seiner Absolutheit wohl in Abhängigkeit der Sprachenwahl, Textsorte etc. zu differenzieren ist. Dennoch zeigt sich das Verhaftetsein der mittelalterlichen Gebrauchsprosa in der stets vorhandenen Präsenz der Triade ‚Schreiber – Adressat – Mitteilung‘, indem die Sachverhalte der Welt in expliziten Bezug zu einem Sender und Empfänger gestellt werden. Der Textproduzent gibt Auskunft über seine Äußerungsabsichten und appelliert an den Adressaten, wie er seine Äußerungen verstanden wissen will. 2. Zum Prozess der Entpragmatisierung gehört auch die Aufgabe des Gebrauchs des Kasus als textkohäsives Mittel. Dass Schwankungen in der Kasusrektion bestimmter Verben aus der Notwendigkeit, Textkohäsion herzustellen, bedingt sein können, muss in seinem Ausmaß empirisch noch untermauert werden, da es fraglich ist, welche Verbgruppen überhaupt von diesen Schwankungen betroffen sind und für welchen Zeitraum die textkohäsive Funktion des Kasus Genitiv besteht. Der Gebrauch des Genitivs als anaphorisches Mittel ist ein Beweis dafür, dass der Kasus noch die alte Kasusbedeutung der Teilhabe und des Einflusses von außen auf das Verbalgeschehen aufweist. Hier liegt demnach ein lexikalischer Kasus vor, während zum Neuhochdeutschen hin ein Abbau semantischer Kasusfunktionen und somit der lexikalischen Kasus zugunsten struktureller Kasus wie dem Nominativ und Akkusativ erfolgt.22 3. Der Prozess der Entpragmatisierung wird begleitet von der Entwicklung einer Ohrensyntax zu einer Augensyntax. Erst allmählich bildete sich eine doppelte Struktur in der Textgestaltung heraus, die durch eindeutige konjunktionale Markierungen und typographische Kennzeichnungen verlässlich markiert ist. Damit einher geht eine stringente Komposition von Sätzen (unter Vermeidung anakoluthartiger Strukturen) und eine Interpunktion (z.B. zur Kennzeichnung direkter Redewiedergaben) als unterlegter Bedeutungsstruktur, die in der Ohrensyntax entweder fehlt (Unterbestimmtheit der Syntax) oder im Gegenteil durch aufwändige Verbalisierungen (Überbestimmtheit der Syntax) zum Ausdruck kommt. _____________ 22
Strukturelle Kasus weisen in semantischer Hinsicht ein eher unklares Profil auf und sind in erster Linie durch syntaktische Funktionen (Passivierung etc.) beschreibbar. Vgl. hierzu insbesondere Abraham (1995, 351ff.); Dürscheid (1999, 86ff.).
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4. Zur Entpragmatisierung zählt zuletzt auch das allmähliche Abrücken von einer allzu stereotypen, formelhaft festgelegten Sprache, die sich in der naturkundlich-medizinischen Literatur besonders deutlich zeigt, wohl aber stärker als bisher angenommen die gesamte mittelhochdeutsche Literatur durchzieht. Fundierte Ergebnisse sind zum einen auf der Basis von Konkordanzen zu mittelhochdeutschen Handschriften und zum anderen durch computergestützte Auswertungen repräsentativer Textkorpora zu erwarten. In der Zeit des Humanismus weicht die formelhafte, durch Redundanz geprägte Sprache einem durch variatio geprägten aufmerksamkeitsheischenden Stil.
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Konstruktionsmuster und -strategien im mittelhochdeutschen Satzgefüge Ein Werkstattbericht
Heinz-Peter Prell (Oslo) ∗
1. Einleitung Das Projekt einer mehrbändigen mhd. Grammatik auf der Grundlage eines digitalisierten Handschriftenkorpus ist jetzt in die Syntaxphase eingetreten, und Oslo hat hierbei die Untersuchung der komplexen Sätze, insbesondere der Satzgefüge, übernommen.1 In der derzeitigen frühen Phase der Arbeit stehe ich als Bearbeiter vor zwei grundsätzlichen Problemen: einem Material- und einem Darstellungsproblem. Die Menge des gespeicherten Materials ist riesig (s.u.), und eine irgendwie systematische Beschreibung besonders der komplexen Gebilde erscheint angesichts des Variantenreichtums sehr schwierig.2 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, unterschiedliche Erscheinungen im mhd. Satzgefüge auf der Grundlage eines übergeordneten Beschreibungsprinzips zueinander in Beziehung zu setzen. Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Analyse von sieben Textausschnitten, die sich in zwei (bzw. drei) Gruppen einteilen lassen, wobei der Bereich der Urkunden und Gesetzestexte noch nicht repräsentiert ist3, insgesamt aber bereits eine gewisse zeitliche Streuung gegeben ist:
_____________ ∗ 1 2
3
Universität Oslo. Nach heutigem Kenntnisstand dürfte das Satzgefüge der Bereich der Syntax sein, in dem es seit dem Mhd. zu den meisten strukturellen Wandelerscheinungen gekommen ist. Einen ersten, noch ganz vorläufigen Versuch habe ich in der 25. Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik von Hermann Paul (im Folgenden abgekürzt Mhd.Gr.) vor allem auf der Grundlage von Prosatexten unternommen (vgl. ebd., §§ S 222-231). Auf diese Darstellung nehme ich im Folgenden des Öfteren Bezug. Zu den Satzgefügen in mhd. Urkunden vgl. Schulze (1991).
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Heinz-Peter Prell
Zwei Versepen: Nib: Nibelungenlied (C), obd., 1. Hälfte 13. Jh.4 Parz: Wolfram von Eschenbach: Parzival (D), obd., um die Mitte des 13. Jhs. Fünf geistlich-religiöse Prosatexte: 1. Drei Predigtsammlungen: Spec: Speculum ecclesiae C, bair.-alem., Ende 12. Jh. PrMi: Millstätter (früher Kuppittsch’sche) Predigtsammlung, bair.österr., 1. H. 13. Jh. SalH: Salomons Haus, hess.(-rhfrk.), 2. H. 13. Jh. 2. Zwei narrative Texte: Hleb: Hermann von Fritzlar: Heiligenleben, hess.-thür., Mitte 14. Jh.5 GnaÜ: Christine Ebner: Von der Gnaden Überlast (N2), ofrk., Mitte 14. Jh. Pro Text wurden unterschiedliche Passagen im Gesamtumfang von ca. 12.000 Wortformen gespeichert und ausgewertet. Die sieben Texte enthalten insgesamt über 12.000 Elementarsätze und – nach meiner derzeitigen Analyse – 3.195 Satzgefüge.6 1.249 dieser Gefüge enthalten nur einen Nebensatz, 1.164 weisen zwei Nebensätze auf, und in 782 Gefügen sind mehr als zwei Nebensätze enthalten. In den Predigten liegt der Anteil der Nebensätze am Gesamt der Elementarsätze sehr konstant zwischen 43 und 44 %; in den Versepen sowie in GnaÜ ist er deutlich niedriger (Nib: 31,4 %; Parz: 30,7 %; GnaÜ: 32,4 %). Der Text Hleb nimmt mit 37,3 % Nebensätzen eine Mittelstellung ein. Bei den Nebensätzen höheren (zweiten bis fünften) Grades erreichen Spec (25,8 % aller Nebensätze) und SalH (23,9 %) Spitzenwerte; die epischen und narrativen Texte kommen hier lediglich auf ca. 18 %. In Nib, Parz sowie GnaÜ bildet der dritte Abhängigkeitsgrad die Obergrenze; die übrigen vier Texte enthalten insgesamt 16 Nebensätze vierten und einen Nebensatz fünften Grades. Alle diese Werte deuten auf die vielleicht nicht sonderlich überraschende Tatsache hin, dass die geistlichen Prosa_____________ 4
5 6
Die Datierung bezieht sich auf die mutmaßliche Entstehung der jeweiligen Handschrift, nicht des Textes. Genauere Angaben zu den einzelnen Korpustexten und den jeweils gespeicherten Passagen finden sich in Wegera (2000, 1312ff.), sowie online im Internet unter http://www.ruhr-uni-bochum.de/wegera/; zu den Prinzipien der Korpuszusammenstellung vgl. Wegera (2000, 1305ff.). Der Text enthält Exkurse im Stil der Predigtsprache und ist daher nicht eindeutig einzuordnen. Wenn man bedenkt, dass das Gesamtkorpus 102 Texte und das sog. Kernkorpus immerhin noch 66 Texte umfasst, bekommt man einen Eindruck von der Fülle des Materials (eine Hochrechnung ergibt allein für das Kernkorpus die Menge von 30.000 Satzgefügen!). Wie viel hiervon tatsächlich wird berücksichtigt werden können, ist noch ganz ungewiss.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge
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texte – insbesondere die Predigten – syntaktisch komplexer sind als die Versepen.7 Die Unterscheidbarkeit von Haupt- und Nebensätzen als wichtige Voraussetzung für die Analysierbarkeit von Satzgefügen ist – zumindest in der Prosa8 – meistens gegeben. Nur selten treten ganz zweideutige Strukturen auf wie im folgenden Beleg: (1)
Dise íungfrowe °was so schone. daz ír eigín vater °begerte si zu nemene zu eíner elíchen [vrouw)] v] °líez eín) turn buwen dar vffe her síe °wolde behalden. v] °hiez zwei venster dar ín machen. (Hleb 11v)
Die mit unde angeschlossenen Konstruktionen rechts vom Infinitivsatz lassen sich als Fortsetzungen des daz-Satzes analysieren, angesichts eines im Mhd. nicht seltenen Baumusters der Parataxe kann es sich aber auch um Hauptsätze mit sinngemäß zu erschließendem Subjekt (vgl. Mhd.Gr., § S 208.2) handeln. Entsprechend unklar ist der Abhängigkeitsgrad des Relativsatzes. Wie fast immer in solchen Fällen ist die Verständlichkeit des Gefüges durch die syntaktische Unschärfe nicht beeinträchtigt: syntaktische Wohlgeformtheit in unserem Sinne ist für die Verständnissicherung offenbar partiell redundant und nicht unbedingt ein Anliegen mhd. Schreiber.9
2. Integrative vs. serielle Techniken im Satzgefüge Als integrativ werden im Folgenden solche Konstruktionsmuster bezeichnet, bei denen der Untersatz innerhalb der (regulären) Felderstruktur sei-
_____________ 7
8 9
Umgekehrt kann man vielleicht von der immerhin noch beachtlichen Satzkomplexität in den Epen überrascht sein. Im Nibelungenlied tritt die Hypotaxe vor allem innerhalb der höfischen Sphäre, besonders im höfischen Dialog, auf: Mir wart gesaget mære. in mins vater lant. daz hie bi iv wæren. daz het ich gern erkant. die chunsten rechen. des han ich vil verno^. die ie kunic gewnne. (Nib 107); vil lieber herre min. ich wolde ivch biten gerne. m=ht ez mit fNge sin. daz ich [lies: ir] mich sehn liezet. wie ich hete daz versolt. ob ir min) frivnden. wæret innechlichen holt. (Nib 1428). In den Verstexten kann die syntaktische Analyse durch die sehr häufige Späterstellung des finiten Verbs im Hauptsatz erschwert werden (vgl. Mhd.Gr., § S 207.2). Zu Analyseproblemen im mhd. Satzgefüge vgl. auch ebd., § S 222 sowie Kern (1988).
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Heinz-Peter Prell
nes Obersatzes erscheint;10 ist dies nicht der Fall – steht der Untersatz also ganz außerhalb seines Obersatzes –, spreche ich von seriellen Techniken. 69 % aller Satzgefüge in meinem Material beginnen mit einem Hauptsatz. Das einfachste mögliche Muster dieses Typs (ein Hauptsatz mit nur einem Nebensatz im Nachfeld) stellt mit einem Viertel aller Korpusbelege das wohl häufigste Gefügemuster überhaupt dar. Folgen auf den ersten Nebensatz weitere Nebensätze höheren Grades, können recht überschaubare integrative Gefüge mit kontinuierlich fallender Satzlinie entstehen (vgl. Mhd.Gr., § S 223):11 (2)
HS: NS 1.Gr.: NS 2.Gr.: NS 3.Gr.:
ir °het enboten Rvdeger. daz in daz °dvhte gNt. daz si der kuniginne. da mite troste den mNt. Daz si ir °rite engegene. mit den sinen man. vf zN d' ense. (Nib 1327)12
(3)
HS: NS 1.Gr.: NS 2.Gr.: NS 3.Gr.: NS 4.Gr.:
Sechs alter °sint uns irzeiget in dîsem lêbene. in den wir durch got arbeiten °sch§lin. daz wir die êwigen gnâde °besizzen. daz diz sibinte °ist. in enir wêrlt. da wir °rNuuin unze an die urstênte. (Spec 13v)
Schon früh treten nach einem initialen Hauptsatz gelegentlich Nebensatzhäufungen in einer diskontinuierlichen Satzlinie (d.h. mit wechselndem Abhängigkeitsgrad) auf, die nicht immer eindeutig analysierbar sind. Im folgenden Beleg aus dem 12. Jh. enthält das Gefüge acht Nebensätze:
_____________ 10
11
12
Integrative Muster liegen also vor, wenn ein Nebensatz ersten Grades im Vor-, Mittel- oder Nachfeld des Hauptsatzes bzw. ein Nebensatz höheren Grades im Mittel- oder Nachfeld des übergeordneten Nebensatzes steht. Die Existenz eines Vorfeldes wird hier für den Nebensatz nicht angenommen (s.u. Anm. 14). Zur Vorstellung eines Außenfeldes s.u. Beleg (6) und die Anm. 13. Siglen: HS = Hauptsatz; NS x.Gr. = Nebensatz x. Grades; eNS / eHS = eingeschalteter NS bzw. parenthetischer HS; R(est) = Obersatzrest nach eNS; HSi = abhängiger HS (indirekte Rede); ° = finites Verb.; T = nicht satzförmiger Teil des Satzgefüges (ohne finites Verb). Die Einrückungen signalisieren den jeweiligen Abhängigkeitsgrad. Belege aus den Verstexten werden mit der heute üblichen Strophen- bzw. Abschnittszählung nachgewiesen.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge
(4)
HS: NS 1.Gr.: NS 1.Gr.: NS 2.Gr.: NS 1.Gr.: NS 2.Gr.: T / HS-R?: NS 1.Gr.: NS 2.Gr.: NS 3.Gr.:
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div alti ê. °brahti die selben gnâde den kinden die besnîtin °Yrdin. daz si ledich °wârn der sunte. die si von adâme °hetin. also div hêre t?fe nv °ur§mit den. die get?fet °wêrdent. wan des einen. daz si in daz himelrich niht chomin. °mahtin. ê der geborn °wart der uns daz hîmelrich °entslôz. mit sin selbis tôde. (Spec 12r)
In den späten Texten, besonders in SalH, kommt die Konstruktionsweise häufiger vor. Hier ein Gefüge aus zehn Nebensätzen, die auf einen recht kurzen initialen Hauptsatz folgen: (5)
HS: nv °merke aber mit mir E_T: geistlicher menshe. HS-R: nv die minne vnde die liebe. NS 1.Gr.: die dir got svnderliche. aber an disen dingen geoffenberit °hat. NS 2.Gr.: da mide daz ime nivt dar ane °begnvgeda. NS 3.Gr.: daz er dir bewiset °hat. die seilekeit diner geshefnisse vnde diner losvngen. NS 2.Gr.?: offe daz dv dar ane °irkentes. NS 3.Gr.: daz er din ganz frvnt °were. NS 4.Gr.: der dir so groze selikeit zv gekeret °hat. NS 2.Gr.: vnde daz dv dar ane °provetis. NS 3.Gr.: daz dv ime von rehte dinen °soldes. NS 2.Gr.: vnde daz dvz froliche °tedis. NS 3.Gr.: wande dv so manic zeihen siner minnen °hedis. (SalH 55)
Ebenfalls schon früh treten komplexe gestreckte Gefüge mit Einschaltungen und diskontinuierlicher Satzlinie auf. Im folgenden Beleg werden charakteristische serielle und integrative Techniken miteinander kombiniert:
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Heinz-Peter Prell
(6)
NS 1.Gr.: eNS 2.Gr.: NS-Rest: HS: eNS 1.Gr.: HS-Rest: eNS 1.Gr.: eNS 2.Gr.: NS-Rest: HS-Rest: NS 2.Gr.!: NS 1.Gr.:
do in vnser herre in daz parad;s °gesazti. vnde im allez daz §f der erde °ist. vndertân °machte. do °wolte er adames gehôrsam bewârn. v] °zêigte im ein obez. daz schonir °was den ander obiz. unde °gebôt im. daz er allez daz °âzze. daz er °wolte. v] daz eine obiz °verbâre. [verbern 'meiden'] unte °seite im. swenne er daz °gêzze. daz er des êuvigin tôdis °mNse ersterbin. (Spec 4r)
Die im Textbeispiel zutage tretenden seriellen Techniken betreffen generell Nebensätze, die ihrem jeweiligen Obersatz vorangestellt werden. Bei der Voranstellung vor einen Hauptsatz (wie in den ersten vier Zeilen des Beispiels) ist der Nebensatz im Mhd. nicht vorfeldfähig, sondern steht im ‚Außenfeld‘ des Hauptsatzes.13 Im Vorfeld des Hauptsatzes steht in solchen Fällen eine nicht satzförmige Konstituente, meist – wie oben – ein Korrelat, welches den Nebensatz anaphorisch im Hauptsatz vertritt. Im Mhd. kann ein Nebensatz auch vor einem übergeordneten Nebensatz stehen (s. die letzten zwei Zeilen des Beispiels).14 Es handelt sich hierbei um eine wichtige und häufige Abweichung von der nhd. Gefügestruktur, die auch bei höhergradigen Nebensätzen bzw. mehrteiligen Nebensatzgefügen auftritt: (7)
HS: ich °bat daz chlagehafte wip. NS 2.Gr.: sit si mit ir ?gen °sach. daz ich si manliche °rach. NS 3.Gr.: NS 1.Gr.: Daz si dvrch wibes gMte. °senfte ir gemMte. […] (Parz 527)
_____________ 13
14
Es handelt sich um eine serielle Technik, weil das Außen-‚Feld‘ im Gegensatz zu Vor-, Mittel- und Nachfeld nicht zur regulären Struktur des Hauptsatzes gehört; so können Außenfeldkonstituenten stets weggelassen werden, ohne dass der Hauptsatz ungrammatisch wird. Zum Außenfeld im Nhd. vgl. Zifonun u.a. (1997, Bd. 2, 1577ff.); die DudenGrammatik (2005, 899f.) spricht von einem „Vorvorfeld“. Vgl. auch Mhd.Gr., §§ S 209.4 u. 224.2. Da ich im Gegensatz zu manchen Grammatike(r)n (z.B. Duden-Grammatik (2005, 877)) davon ausgehe, dass Nebensätze kein Vorfeld haben, ist auch dieser Konstruktionstyp als seriell einzustufen. Vgl. Mhd.Gr., § S 227.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge
477
Neben den in derartigen Nebensatzpaaren häufig verwendeten Subjektpronomina (s.o.) werden auch andere phorische Elemente eingesetzt, um die Kohärenz des Gefüges zu sichern: (8)
HS: Wie °hete ich daz verdienet. eHS: °sprach Gunther, der degen. NS 2.Gr.: des min vater lange. mit eren °hat gepflegen. NS 1.Gr.: daz wir daz °solden vliesen. von iemannes kraft. (Nib 112)
Die auffälligste integrative Technik in Beispiel (6) ist sicherlich die wiederholte Einschaltung von Nebensätzen ersten und zweiten Grades in ihren jeweiligen Obersatz (hierfür steht im Gefügediagramm die Sigle eNS).15 Die sieben Korpustexte enthalten insgesamt 270 eingeschaltete Nebensätze, meist Attributsätze (48,2 %), seltener Adverbialsätze (30,8 %) und deutlich seltener Ergänzungssätze (19,7 %). In den Verstexten ist Einschaltung selten (nur je 18 Belege in Nib und Parz); deutlich am häufigsten kommt sie vor in den frühen Prosatexten Spec und PrMi, die insgesamt fast die Hälfte aller Belege stellen.16 Sehr fremd wirkt aus heutiger Sicht die Mehrfachbesetzung des Außenfelds durch ungleichartige Konstituenten; es handelt sich jedoch wohl um eine serielle Technik, die vom grammatischen System des Mhd. abgedeckt wird: (9)
NS 1.Gr.: Do daz getân °wârt T: alle NS 1.Gr.: díe daz °gesâhen. HS: die °Yrden alle gesvnt. (PrMi 32v)
_____________ 15
16
Dabei erfolgt nur die erste Einschaltung (zweite Zeile des Beispiels) im Mittelfeld des Obersatzes; in den übrigen Fällen werden die Nebensätze zwischen zwei Verbalphrasen ihres Obersatzes geschaltet, so dass der jeweilige Obersatzrest mit dem Konjunktor unde beginnt. Zwischen diesen beiden den Obersatz unterschiedlich stark dissoziierenden Typen der Einschaltung besteht wohl ein qualitativer Unterschied; vgl. unten Beispiel (12). Es ist sicher noch zu früh, diesen Befund zu verallgemeinern, aber auch an anderem Material gewonnene Befunde deuten darauf hin, dass die Häufigkeit der Einschaltung von Nebensätzen im Mhd. diachron rückläufig ist, vgl. Mhd.Gr., § S 225.
478
Heinz-Peter Prell
Ein extremes Beispiel: (10) NS 1.Gr.:
Do vnser herre dív grozen zeíchen ín dírre wêrlte °begîe. NS 2.Gr.: als mân vns n§ ín dírre vâsten gelêsen °hât. ze frônem âmpte. NS 3.Gr.: wîe er eínen bêtterísen ges§nt °machte eínes svnn)tâges. eNS 4.Gr.: der ahzehen íar gelêgen °wâs. eNS 5.Gr.: als mân ín °h§p v] °leîte. NS-Rest: v] °híez ín sín bette §f hêven. v] heím trâgen. T: Dvrh17 den grôzen nít. NS 1.Gr.: den díe ívden zím °hêten. HS!: do °sprachen sîe. eHSi: er °hête den svnn)tâk zeprôchen. HS-Rest: v] °fl§chten ím dar §mbe. NS 1.Gr.: dar vmbe sín gelôbet °solten haben. (PrMi 26v)
Eine serielle Konstruktion entsteht auch, wenn der Schreiber sich nach einem komplexen Gefügeabschnitt zu einem verständnissichernden Neuansatz entschließt; dabei entsteht ein wahrscheinlich intendierter Anakoluth, der wiederum durch den Einsatz anaphorischer Konstituenten gemildert wird: (11) NS 1.Gr.: vnd °wer allez daz laup eNS 2.Gr.: daz ie °gewuhse NS-Rest: vnd allez daz gras vnd NS 2.Gr.: daz ímmer mer °gewehst. Neuansatz: °wern daz allez meister v@ paris sie °konden niht vol reden noch vol scriben die HS: barmhertzicheit eNS 1.Gr.: die an got °ligt HS-Rest: vnd sunderlich die barmhertzicheit NS 1.Gr.: die er °hat an dez menschen tod. (GnaÜ 85)
_____________ 17
Eine Majuskel innerhalb eines Ganzsatzes ist in PrMi selten, aber möglich. Vielleicht hat der Schreiber hier aber auch die Übersicht über die Konstruktion verloren.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge
479
Ein interessanter Beleg aus dem späten 12. Jh.: (12) HS: eNS 1.Gr.: eNS 2.Gr.!: eNS-Rest: Neuansatz:
do °hetin die iuden in (Jerusalem) wider got vil harte getân. °hetin got [ir] herrin. der si ûz egyptelande °fůrte. unde in daz beste lant daz ûf der erde °ist uergebin [‚unentgeltlich’] °gâb. den °hêtin si uerlazzin unde °bettin an ir abgot. (Spec 34r)18
Ein anderer, gelegentlich zu Analyseproblemen führender Typ von serieller Konstruktion liegt vor, wenn gleichrangige (sowie meist gleichartige) Nebensätze asyndetisch gereiht auftreten, also nicht – wie nach heutigem Verständnis notwendig – durch einen Konjunktor verbunden sind. In Beispiel (13) handelt es sich um zwei Ergänzungssätze, in (14) um zwei Attributsätze: Feirefiz bi Cvndien °enbot. sinem brNder §f Mvnsalvæsce wider. NS 1.Gr.: wi ez im °was ergangen sider. NS 1.Gr.: daz Secvndille versceiden °was. (Parz 823)
(13) HS:
(14) HS: Hîvte °ist ôvch der tak. NS 1.Gr.: daz daz heîlíge cruce vf gerihtet °wârt. NS 2.Gr.: da mít dîe s§ntare behâlten °sínt. NS 2.Gr.: da mít ôvch der tîvfel vertriben °ist. v] ellîv sín craft ím benomen °ist. (PrMi 31v) Eine nhd. kaum noch zulässige Variante integrativer Konstruktion ist die Satzverschränkung, bei der eine Konstituente des Untersatzes im Obersatz (meist im Vorfeld eines Hauptsatzes) erscheint, der auf diese Weise gespaltene Untersatz also auf zwei Felder des Obersatzes verteilt wird. In
_____________ 18
Mit der Einschaltung des ersten NS in das Mittelfeld des HS (s.o. Anm. 15) und der erneuten Einschaltung des NS zweiten Grades liegt hier in einem Text des 12. Jhs. der erstaunliche Ansatz zu einem ‚klassischen‘ Schachtelsatz vor, und nach der heutigen Vorstellung von syntaktischer Wohlgeformtheit müsste der HS-Rest (letzte Zeile) mit dem klammerschließenden uerlazzin beginnen. Eine solche konsequente Verschachtelung ist in einem Text dieser Zeit jedoch wohl kaum erwartbar.
480
Heinz-Peter Prell
meinem Material kommt das insgesamt seltene Phänomen nur in der Prosa (schwerpunktmäßig in den späten Texten) vor:19 (15) HS: Von sogetanime fiwere °schult ir bittin minin trehtin NS 1.Gr.: daz er ivch °beware u] °beschirme. (Spec 82v) waz °wiltv (16) HS: NS 1.Gr.: daz ich dier °sage me. (SalH 151) (17) HS: HSi:
Dírre víncenti °sprechen eteliche her °were bruder laurencij. (Hleb 102v)
3. Resümee Obwohl das mhd. Satzgefüge eine Reihe von Strukturmerkmalen mit der nhd. Hypotaxe gemein hat, folgt es teilweise auch seinen eigenen Regeln, die – so meine Annahme – auf der Grundlage eines ausreichend großen Textkorpus herausgearbeitet werden können. Serielle Techniken, bei denen ein Nebensatz nicht innerhalb der regulären Felderstruktur seines Obersatzes erscheint, werden im Mhd. in weit größerem Umfang genutzt als heute; dabei entstehende ‚logisch‘-kommunikative Defizite werden zumindest teilweise ausgeglichen durch den Einsatz phorischer Elemente wie Korrelate und Pronomina. Gerade mit Blick auf die phorischen Verknüpfungen kann man daher sagen, dass im mhd. Satzgefüge in mancher Hinsicht noch textgrammatische Strukturprinzipien wirksam sind und das Satzgefüge als autonome grammatische Einheit weniger profiliert ist als heute. Neben den reihenden Verfahren stehen aber auch bereits integrative Techniken wie die Einschaltung von Nebensätzen in ihren Obersatz. Bemerkenswert ist insbesondere der hohe Grad von Komplexität, den das Satzgefüge schon in den frühen Prosatexten erreichen kann.
_____________ 19
Zur Satzverschränkung vgl. Mhd.Gr., § S 228, dort auch Belege aus der Verssprache. Dass hier entgegen der diachronen Tendenz eine integrative Technik später aufgegeben wurde, liegt wohl an den strengen Anforderungen an die ‚Sprachrichtigkeit‘, die in der nhd. Standardsprache gelten. In anderen modernen germanischen Sprachen wie dem Norwegischen sind Satzverschränkungen noch gang und gäbe.
Konstruktionsmuster und -strategien im mhd. Satzgefüge
481
Literatur Duden. Die Grammatik (2005), 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl., (Duden Bd. 4), Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich.
Kern, Peter (1988), „Das Problem der Satzgrenze in mittelhochdeutschen Texten“, in: Volker Honemann / Nigel F. Palmer (Hrsg.), Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen, 342-351. Mhd. Gr. = Paul, Hermann (2007), Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl., neu bearb. v. Thomas Klein / Hans-Joachim Solms / Klaus-Peter Wegera, mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neu bearb. u. erw. v. Heinz-Peter Prell, Tübingen. Schulze, Ursula (1991), „Komplexe Sätze und Gliedsatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts“, in: Mittelhochdeutsche Grammatik als Aufgabe, (ZfdPh 110, Sonderheft, besorgt von Klaus-Peter Wegera), Berlin, 140-170. Wegera, Klaus-Peter (2000), „Grundlagenprobleme einer mittelhochdeutschen Grammatik“, in: Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl., 2. Teilbd., Berlin, New York, 1304-1320. Zifonun, Gisela / Hoffmann, Ludger / Strecker, Bruno u.a. (1997), Grammatik der deutschen Sprache, 3 Bde., Berlin, New York.
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit Aus der Werkstatt Mittelhochdeutsche Grammatik − das Werkstück ‚Präposition‘
Sandra Waldenberger (Bochum)
1. Einleitung Forschungskontext der Überlegungen und Ergebnisse, die in diesem Beitrag vorgestellt werden sollen, ist das DFG-geförderte Langzeitprojekt Mittelhochdeutsche Grammatik, in dessen Verlauf eine neue, mehrbändige wissenschaftliche Grammatik des Mittelhochdeutschen (1050-1350) entsteht (vgl. insbes. Wegera 2000; erster Teilband der neuen Grammatik: Klein / Solms / Wegera 2009). Das Werkstück ‚Präposition‘ wurde als Pilotstudie zur Syntaxphase des Gesamtprojekts Mhd. Grammatik im Rahmen einer Dissertation (Waldenberger 2009) bearbeitet. Der vorliegende Beitrag soll sowohl die Schwierigkeiten (Stichwort ‚Frust‘) als auch die Vorteile (Stichwort ‚Lust‘) illustrieren, die korpusbasierte Syntaxarbeit – insbesondere an historischen Sprachdaten – mit sich bringt. Mit dem Attribut ‚korpusbasiert‘ wird dabei nicht nur die Wahl einer Material- oder Belegbasis benannt, sondern gleichzeitig eine Herangehensweise oder Perspektive bei der grammatikographischen Erarbeitung und Beschreibung eines (historischen) Sprachstandes, wie sie im Forschungsprojekt Mittelhochdeutsche Grammatik gewählt und praktiziert wird: Da bei der Erforschung historischer Sprachstufen nicht auf Sprecherkompetenz, Grammatikalitätsurteile etc. zurückgegriffen werden kann, ist als einzig mögliche Basis die (hier notwendigerweise schriftliche) Überlieferung des zu untersuchenden Zeitraums heranzuziehen.1 In Form des Bochumer Mittelhochdeutschkorpus, das 101 Texte des hochdeutschen Sprachraums aus dem Überlieferungszeitraum 1050-1350 enthält, steht ein nach den Kriterien Raum, Zeit und Text‚art‘ (Vers, Prosa, Urkunde) gegliedertes _____________ 1
Vgl. die grundlegenden Überlegungen zu Grammatiken historischer Sprachabschnitte in Wegera (2003).
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Sandra Waldenberger
Korpus zur Verfügung, das die Überlieferung des Mittelhochdeutschen durch handschriftengetreu transkribierte und anschließend durch Annotation erschlossene Texte erforschbar macht (zur Korpusgrundlegung s. Wegera 2000). Bei der Arbeit im Rahmen des Forschungsprojekts Mittelhochdeutsche Grammatik wird also grundsätzlich auf eine Materialbasis zurückgegriffen, die 1. durch Handschriftentreue den überlieferten Sprachstand des Mittelhochdeutschen widerspiegelt, 2. durch ihre Struktur sprach- und zeiträumliche sowie text‚art‘-spezifische Ausdifferenzierungen zulässt, wie es bei der Erforschung einer nicht-standardisierten und damit varietätenreichen Sprach(stuf)e unerlässlich erscheint, und die zudem 3. einen abgesteckten Untersuchungszeit- und Sprachraum in Gänze abdeckt, d.h. auch 4. aufgrund der gesetzten Begrenzung quantitative Aussagen bezüglich bspw. der Ausnutzung der zu beobachtenden sprachlichen Strukturen innerhalb des Korpus erlaubt. Die Perspektive, die bei der Erarbeitung der neuen Mittelhochdeutschen Grammatik gewählt wurde, ist folgerichtig deskriptiv ‚aus dem Material heraus‘: Der Sprachstand soll möglichst adäquat so beschrieben werden, wie er im untersuchten Material entgegen tritt. Dieser Anspruch galt demnach auch für die Bearbeitung des Themenfeldes ‚Präposition‘. Aus den Ergebnissen zu diesem Forschungsfeld wurden für diesen Beitrag drei Aspekte ausgewählt, die dazu dienen können, dies zu illustrieren. Den ausgewählten Aspekten vorangestellt noch einige Präliminarien 1. zum Untersuchungsgegenstand und 2. zu Problemen der Materialgrundlage. 1. Ein Leitmotiv, das im Verlauf der Bearbeitung des Themenfeldes Präpositionen und Präpositionalphrasen im Mittelhochdeutschen wiederholt eine Rolle spielen sollte, ist das Moment der ‚Grenzüberschreitung‘: Die Wortart ‚Präposition‘ und die syntaktischen Konstellationen, an denen Präpositionen beteiligt sind, machen es als Untersuchungsgegenstand nötig, Grenzziehungen der linguistischen Beschreibungsebenen bewusst zu missachten bzw. zu überschreiten, um dem Anspruch einer adäquaten Beschreibung des Gegenstandes ‚Präposition‘ gerecht zu werden. Insbesondere fällt eine strenge Grenzziehung zwischen syntaktischen und lexikalischen Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes schwer, da Präpositionen als ‚Funktionswörtern‘ oder auch ‚Fügewörtern‘2 die genuine Eigenschaft zukommt, in aller Regel im Satz nur im Verbund mit anderen Elementen – im hier untersuchten Phänomenbereich im Verbund mit Phrasen als Präpositionalphrasen3 – aufzutreten, also i.d.R. immer an der Bildung von Syntagmen beteiligt zu sein. Eine Untersuchung der semanti_____________ 2 3
So die Terminologie etwa bei Helbig / Buscha (2001). Im Rahmen der Erarbeitung der neuen Mittelhochdeutschen Grammatik wurden Partikelverben dem Bereich ‚Wortbildung‘ zugeschlagen und dort bearbeitet, vgl. Klein / Solms / Wegera (2009).
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit
485
schen Leistung von Präpositionen ist damit zum einen streng genommen nur auf Ebene des Satzes (nicht auf der Ebene des einzelnen Lexems) möglich, zum anderen – aus der entgegengesetzten Perspektive betrachtet – aufs Engste mit der spezifischen Art der ‚Fügung‘, der spezifischen Funktion der Präposition im betrachteten Syntagma verknüpft. Mit diesen Vorbemerkungen sei vorab erklärt, warum nicht alle der im Folgenden dargestellten Aspekte dem Kernbereich der Syntaxforschung angehören. 2. Eine Frage, die im Rahmen korpusbasierter Forschung auf allen sprachlichen Ebenen zu stellen ist und für die linguistischen Teilbereiche z.T. unterschiedlich beantwortet werden muss, betrifft die Dimensionierung der Materialbasis (vgl. Klein 2007). Der Zuschnitt der Materialbasis für ein Forschungs(teil)unternehmen bewegt sich dabei zwangsläufig in einem Spannungsfeld zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren. Eine ab dem 13. Jh. für das Deutsche kaum mehr zu realisierende gesamthafte Abdeckung der Überlieferung als Korpusumfang stellt dabei den (unerreichbaren) Extrempol des Wünschenswerten dar. Dem gegenüber steht das Minimalziel eines Korpusumfangs, der eine für die anstehende Forschungsaufgabe hinreichende Materialmenge liefert; a priori kann die Frage nach einem hinreichenden Korpusumfang aber kaum beantwortet werden, da erst Erfahrungswerte zu Korpusumfängen / Belegzahlenrelationen die Frage überhaupt zu klären vermögen, welcher Korpusumfang / welche Belegmenge als hinreichend gelten kann. So schlussfolgert Klein (2007, 17): „Um ein Korpus angemessen zu dimensionieren, muss man bereits über ein vergleichbares Korpus verfügen [...]“. Auf der Ebene des zugrunde liegenden Textkorpus konnte bei der Bearbeitung des Werkstücks ‚Präposition‘ mit dem Bochumer Mittelhochdeutschkorpus auf ein Korpus zurückgegriffen werden, dessen Dimensionierung auf Erfahrungswerten (Bonner Frühneuhochdeutschkorpus) aufbaut, und das für grammatikographische Fragestellungen auf den unterschiedlichen sprachlichen Ebenen verlässlich hinreichende Belegmengen liefert – so auch für den Phänomenbereich ‚Präposition‘. Für die Forschungsaufgaben dieses Bereichs – Analysen auf der Wort-, Phrasen- und Satzebene – stellte sich aber wiederum die forschungspragmatische Frage nach der Handhabbarkeit der Belegmengen, die das Bochumer Mittelhochdeutschkorpus für die drei Analyseschritte liefert: So enthält das Gesamtkorpus (101 Texte) ca. 75.000 tokens der Wortart ‚Präposition‘. Eine Analyse der gesamten Belegung von Präpositionen und Präpositionalphrasen im Bochumer Mittelhochdeutschkorpus hätte also die Analyse von 75.000 Präpositionen, damit 75.000 Präpositionalphrasen und 75.000 Sätzen bedeutet. Um eine im Rahmen eines Dissertationsvorhabens bearbeitbare Materialmenge für die einzelnen Analyseschritte zu gewinnen, wurde für das Werkstück ‚Präposition‘ das Prinzip des dynamischen Korpus, das dem Bochumer Mit-
486
Sandra Waldenberger
telhochdeutschkorpus eigen ist, für alle Analyseschritte genutzt: Als Textkorpusgrundlage wurde zunächst für das offenbar hoch frequente Phänomen ‚Präposition‘ das so genannte Kernkorpus gewählt, das die Strukturmerkmale des Bochumer Mittelhochdeutschkorpus ausnahmslos widerspiegelt, sich vom Gesamtkorpus aber darin unterscheidet, dass jedes Rasterfeld des Korpus (Zeit / Raum / Text‚art‘) mit jeweils einem statt wenn möglich mit zwei Texten besetzt ist. Eine diachrone, diatopische und diatextuelle Streuung der Korpustexte ist damit gegeben. Das Kernkorpus enthält ca. 48.000 tokens von Präpositionen, die als Ausgangsmenge für die Untersuchungen des Phänomenbereichs dienten. Auf der Wortebene wurde diese Belegmenge im Ganzen ausgewertet, auf der Phrasenund der Satzebene waren weitere Materialzuschnitte nötig: Als Basis für die Phrasenanalyse (PPn-Korpus) wurde ein Ausschnitt von je 50 PPn pro Text des Kernkorpus (d.h. ca. 3.500 PPn) gewählt; mit diesem Zuschnitt ist gewährleistet, dass alle Texte4 mit der gleichen Anzahl von PPn im PPn-Korpus vertreten sind und damit quantitative Verzerrungen durch unterschiedliche Belegzahlen pro Text weitestgehend ausgeschlossen sind. Für die semantisch-funktionale Analyse der PPn im Satz wurde wiederum das Material des Kernkorpus gewählt, wodurch jedoch lediglich fallstudienartig einzelne Präpositionen, nicht etwa das gesamte semantischfunktionale Spektrum aller Präpositionen, untersucht werden konnten. Mit den in Waldenberger (2009) und in diesem Beitrag in Ausschnitten vorgestellten Ergebnissen werden demnach gleichzeitig Lösungsmöglichkeiten für das Problem der Dimensionierung von Teilkorpora für den Phänomenbereich ‚Präposition‘ vor- und zur Diskussion gestellt.
2. Lexembestand und Belegfrequenzen Die Arbeit mit einem begrenzten, strukturierten Korpus eröffnet grundsätzlich zunächst die Möglichkeit, frequentielle bzw. distributionelle Aussagen für das Korpusmaterial zu treffen. Damit kann zum einen statt einer ungewichteten Auflistung des Lexembestands der Wortart ‚Präposition‘ eine nach Frequenz und damit Ausnutzung differenzierte Darstellung erfolgen, zum anderen sind – unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeiten der verschiedenen Materialbasen – Vergleiche mit anderen korpusbasierten Studien möglich. Zur Illustration sei eine Gegenüberstellung der hoch frequenten Lexeme in der hier vorgestellten Untersuchung und im Material von Wich-Reif (2008) angeboten (vgl. Tabelle 1), die deutlich _____________ 4
Mit Ausnahme des sehr kurzen Korpustextes Merigarto (Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen A III 57), der lediglich 38 Präpositionen enthält.
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Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit
macht, dass der Kernbestand der hoch frequenten Präpositionen sowohl im Mhd. als auch in diachroner Betrachtung einer Texttradition vom 9. bis zum 21. Jh. eine erstaunliche Konstanz aufweist. Frequenzverhältnisse im untersuchten mhd. Material Präp.
Belege % (gerundet)
Frequenzverhältnisse in der Benediktinerregel-Tradition Wich-Reif (2008) Präp. Bele- % ge
1.
in
7652
16,4 %
1.
in
6153
16,75 %
2.
ze
7343
15,7 %
2.
von
6021
16,39 %
3.
von
7011
15 %
3.
zu
5003
13,62 %
4.
mit
6953
14,9 %
4.
mit
4769
12,98 %
5.
an
4849
10,4 %
5.
an
2696
7,34 %
6.
uf
1907
4,1 %
6.
nach
1936
5,27 %
7.
nach
1491
3,2 %
7.
auf
1311
3,57 %
8.
durch
1463
3,1 %
8.
durch
1283
3,49 %
9.
ane
1106
2,4 %
9.
aus
982
2,67 %
10.
vor
1014
2,2 %
10.
vor
943
2,57 %
Tabelle 1: Gegenüberstellung der Frequenzverhältnisse im untersuchten mhd. Material und im diachronen Material in Wich-Reif (2008)
Mit der Ermittlung von Belegfrequenzen von Präpositionen ist aber – wie oben angedeutet – mehr ausgesagt als eine Häufigkeitsangabe für eine Lexemklasse. Gleichzeitig zeigt sich damit, wie häufig ein bestimmter Konstruktionstyp – PP mit einer bestimmten Präposition als Kopf – genutzt wird, d.h. die Frequenzangabe geht über eine bloß lexemorientierte type-token-Relation hinaus. Aus syntaktischer Perspektive rücken im Umkehrschluss selten oder gar nur einmal belegte Präpositionen wie mhd. niderhalp, sider oder vermittels in den Hintergrund. Struktur und Annotation des Bochumer Mittelhochdeutschkorpus erlauben des Weiteren eine Einschätzung des Rektionsverhaltens der Präpositionen im Mhd. Eine Auswertung des Rektionsverhaltens der für das Mhd. als ‚primär‘5 zu wertenden Präpositionen (ab, after, an, ane, bi, binnen, biz, boven, durch, e, fur, gegen, hinder, in, mit ~ bit, nach ~ na, neben(t), ob, _ament, _____________ 5
Der Begriff ‚primär‘ bezieht sich nicht auf die Etymologie der Präpositionen, sondern bezeichnet die Gruppe von Präpositionen, die mhd.-synchron nicht (oder nicht mehr) herleitbar sind.
488
Sandra Waldenberger
_it, _under, uber ~ over, uf, umbe, under, unz, uz, von ~ van, vor, wider, ze, zwischen ~ tuschen) zeigt ein hohes Maß an Konstanz und weist den Dativ als prototypischerweise durch Präpositionen regierten Kasus aus:
mit Dat.rektion: 36.259 PPn (~ 78 %); 13 Präp. zeigen ausschließlich Dat.rektion mit Akk.rektion: 10.217 PPn. (~ 22 %); 5 Präp. zeigen ausschließlich Akk.rektion mit Gen.rektion: 70 PPn Sprachraum obd. Zeitraum bair. 211
/ 112 212
bair.alem.
(~ 0,2 %); keine Präp. zeigt ausschließlich Gen.rektion
alem.
uber ~ ubir uber
uber ~ vber Parz, Iw, Tris, Nib 113
213
vber ~ vb’
vber ~ vb’ ~ Mber
—
ubir ~ ub’ uber ~ ~ vbir ~ ubir [...] vb’ [...] ubir ~ ubir vbir [...] vber ~ vb’ [...] vber ~ vbir vber ~ vb’ ~ Pber [...] [...]
114
vber ~ vb’ ~ Mber
ofrk.
md. wmd. hess.-thür. mfrk. rhfrk.omd. hess. —
—
ub’ (TrPs) ~ ouer (RBib)
uber ~ ubir [...]
—
Guer ~ Nver [...]
ubir ~ Gbir [...]
—
uuer ~ Guer [...]
uber ~ ub’ Nuer ~ Pber ~ ub’ ~ Mber ~ oGer ~ ou’ [...] Mb’ ~ vber [...] ~ vb’
vber ~ ober [...]
vbir ~ ubir [...]
vbir ~ vber ~ ober [...]
ubir ~ ub’ ~ vb’ [...]
Tabelle 2: Sprach- und zeiträumliche Verteilung der Varianten der Präposition über
Wird der Lexembestand nach den Strukturmerkmalen des Korpus, insbes. Zeit und Raum, differenziert betrachtet, so ist bei einigen Präpositionen eine diachrone Entwicklung innerhalb des untersuchten Zeitraums zu beobachten und / oder es scheint ein nach Sprachräumen zu differenzierender Lexembestand auf. Insbesondere das Mittelfränkische zeigt sowohl eigene Varianten von Präpositionen (na statt nach, van statt von, over statt über) als auch – insbesondere im Bereich der seltener belegten Präpositionen – einen eigenen Bestand (z.B. boven oder binnen, das später aus dem Westmitteldeutschen ins übrige hochdeutsche Sprachgebiet übernommen wird). Als ‚Nebenprodukt‘ der Analyse des Lexembestandes kann ein
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit
489
differenziertes Bild der in den Korpustexten belegten Varianz der einzelnen Präpositionen gezeichnet werden (vgl. Tabelle 2).
3. Ausnutzung der strukturellen Möglichkeiten auf Ebene der Phrase Beschreibungen der Struktur von Präpositionalphrasen sind generell mit dem Problem behaftet, dass eine eigenständige Strukturbeschreibung für diesen Phrasentyp nicht möglich ist, da eine PP aus einer Präposition als Kopf und einer weiteren Phrase (Nominalphrase, Pronominalphrase, Adverbphrase) besteht. Diesem Problem begegnen Darstellungen zur Struktur der PP häufig damit, dass neben den Grundtypen (Präp + NP, + ProP, + AdvP) das Augenmerk insbesondere auf die potentielle Komplexität (v.a. Ausbau- und Erweiterungsmöglichkeiten am linken und rechten Phrasenrand) gelegt wird.6 Die Struktur der PP als eigenständiger Gegenstand erhält in diesen Darstellungen also dadurch seine Berechtigung, dass die PP potentiell als komplexer und damit ‚interessanter‘ erscheint als auf den ersten Blick erkennbar.7 Eine Perspektivenveränderung ergibt sich dem gegenüber, wenn – wie im Rahmen der hier vorgestellten Arbeit erfolgt – eine strukturierte, begrenzte Materialmenge von PPn im Ganzen nach den in ihr zu beobachtenden strukturellen Ausprägungen untersucht wird. Statt einem Bild der strukturellen Möglichkeiten ergibt sich ein Bild der tatsächlichen Ausnutzung der Strukturmöglichkeiten. Komplexe Strukturen sowie Erweiterungen links der Präposition sind im untersuchten Material zwar durchaus zu beobachten, bilden aber angesichts ihrer sehr geringen Belegung die Peripherie der PP-Strukturmöglichkeiten. ‚Prototypische‘ PPn (nach Auskunft des untersuchten Materials) bestehen aus wenigen Elementen und weisen eine einfache Struktur auf. Die häufigsten Phrasentypen im untersuchten Material sind:
_____________ 6 7
Vgl. u.a. Fries (1988, 91ff.), Wunderlich (1984), Zifonun u.a. (1997, 2089ff.). So u.a. die Argumentation von Jackendoff (1973, 345): „prepositional phrases are by no means as trivial as generally supposed“.
490
Sandra Waldenberger
[präp [det + nom]NP]PP (3 Elemente)
33,4 %
[präp [nom]NP]PP (2 Elemente)
24,4 %
[präp [pron]ProP]PP (3 Elemente)
12,1 %
[präp [det + adj + nom]NP]PP (4 Elemente) 6,9 % [präp [adj + nom]NP]PP (3 Elemente)
5,6 %8
Durch diese vier Strukturtypen werden 82,4 % der untersuchten PPn abgedeckt. Auf eine mögliche Spezifik im Hinblick auf die Korpusstrukturmerkmale Zeit, Raum und Text‚art‘ hin untersucht, zeigt sich, dass diachron und diatopisch keine nennenswerten Unterschiede zu beobachten sind; in der Überlieferungsform ‚Vers‘ sind jedoch gegenüber Prosatexten (einschließlich Urkunden) wesentlich seltener komplexe Phrasen anzutreffen (vgl. Tabelle 3). Die Gründe hierfür sind in den Gegebenheiten der Versform zu suchen: Über das Reimwort am Versende hinaus werden selten Phrasengrenzen überschritten, so dass der Vers i.d.R. die mögliche Phrasenlänge restringiert. Umfang der Vers Phrase (1605 Belege) (Wortforabsolut % men)
Prosa (1515 Belege)
Urkunde (348 Belege)
absolut
%
absolut
%
2
669
42 %
495
33 %
116
33 %
3
668
42 %
681
45 %
118
34 %
4
202
13 %
182
12 %
53
15 %
5
36
2%
67
5%
20
6%
6
14
<1 %
21
1%
17
5%
7 – 10
11
<1 %
49
3%
20
6%
> 10
5
<0,3 %
18
1%
4
1%
Tabelle 3: Verteilung der Belegung des untersuchten PPn-Materials nach dem Merkmal, Umfang der Phrase (in Wortformen) auf die Text‚arten‘‘
Eine Fragestellung, die sich der Untersuchung der strukturellen Ausprägungen der PP unmittelbar anschließen müsste, im Rahmen der hier be_____________ 8
präp: Präposition; det: Determinativ; nom: Nomen; pron: Pronomen; adj: Adjektiv.
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit
491
schriebenen Studie jedoch nicht beantwortet werden konnte, bestünde im Vergleich der PP- und NP- (bzw. ProP-)Strukturen: Zeigen sich in der Auslastung der Strukturmöglichkeiten Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen ‚einfachen‘ NPn und ProPn und solchen, die Teil einer PP sind? Wenn Unterschiede zu beobachten sind: Worin könnten diese begründet sein? Auf eine solche Anschlussuntersuchung kann an dieser Stelle nur als wünschenswerte Weiterführung verwiesen werden.
4. Präpositionalphrasen als Teil des mhd. Satzes Bei der Beschreibung der Funktion von PPn im Satz – wie oben erwähnt erfolgte die Analyse fallstudienartig für einzelne Präpositionen – ist eine ausgeprägte Heterogenität der Verwendungsweisen zu bewältigen. Die Beschreibungsform, die für die vorliegende Studie gewählt wurde, ist in der Auseinandersetzung mit der Beleglage zu den untersuchten Präpositionen einerseits und der Forschungsliteratur andererseits entstanden – mit dem Ziel, das jeweilige Verwendungsspektrum der untersuchten Präpositionen möglichst adäquat zu beschreiben. Die Analyse verknüpft eine syntaktisch-funktionale Perspektive mit einer semantischen Perspektive: Bei der Bestimmung der syntaktischen Funktion einer PPn sind gleichzeitig die Elemente im Satz ermittelt, die durch die Präposition als ‚Fügewort‘ zueinander in Relation gestellt werden; die aktuelle Semantik der Präposition besteht in der spezifischen Art der Relation, die zwischen den verbundenen Größen (hier: Ziel- und Bezugsgröße)9 zum Ausdruck gebracht wird. Die Bezugsgröße wird immer durch die eingebettete Phrase (NP oder ProP) denotiert, die Zielgröße (in den folgenden Beispielen unterstrichen) ist je nach syntaktischer Konstellation in unterschiedlichen Positionen im Satz zu suchen: •
Steht die PP in prädikativer Funktion, ist die Zielgröße der präpositionalen Relation das Subjekt des Satzes, z.B. „die viande waren hind’ ire rugge“ (PrZü 113ra, 16).
•
In attributiver Funktion ist die Zielgröße in der übergeordneten Phrase zu suchen, z.B. „Ein vuizzer prunno pi rome. _pringit vili _cone“ (Meri 2r, 20f.).
•
Ist die PP ein freies Adverbial, wird die Relation auf die im Satz beschriebene Handlung / das Geschehen angewendet, z.B. „daz ich
_____________ 9
Die Begriffe ‚Ziel‘- und ‚Bezugsgröße‘ sind an Grabowski (1998; ‚Ziel‘- und ‚Bezugsobjekt‘) angelehnt.
492
Sandra Waldenberger
mine _unden. mGze geweinen. bit inneclichen trenen.“ (ArnM 133r, 1ff.). •
In Verbindung mit einem Lokalisierungsverb (z.B. stān, sitzen, ligen) oder einem Bewegungsverb (z.B. gān, loufen, rīten) ist die Zielgröße wiederum mit dem Subjekt des Satzes benannt, z.B. „Do der kúning ge_áz ûffe _înemo _tûole.“ (Will 5v, 32f.).
•
Bei Verben, die die Verursachung einer Bewegung oder Lokalisierung bezeichnen (‚kausative‘ Lokalisierungs- oder Bewegungsverben), ist die Zielgröße der Relation durch das Akk.-Objekt des Satzes denotiert, z.B. „gulter v] lilachen. purper v] bliat. kunchliche betwat. wart vber daz bete geleit.“ (Tris 94vb, 22ff.)
Von diesen Konstellationstypen sind – in terminologischer Anlehnung an Hertel (1983) – so genannte ‚fixierte Fügungen‘ zu unterscheiden: •
Als ‚grammatisch fixierte Fügungen‘ werden Verbindungen aus Verb + Präposition wie rihten, urteilen, klagen, sprechen, wachen, sich erbarmen über jmdn. gewertet. Verb + Präposition gemeinsam benennen eine spezifische Art der Relation zwischen Ziel- und Bezugsgröße, wobei die Zielgröße durch das Subjekt (oder das Akk.Objekt) des Satzes denotiert wird, z.B. „Mber die _ele des armen MFzze _ich got erbarmen“ (Renn 74rb, 5f.).10
•
Präpositionen kommen auch als Teil von lexikalisch fixierten Fügungen vor. Hier haben sie ihre Funktion als ‚Relator‘ weitgehend eingebüßt, die fixierte Fügung als Ganzes hat eine eigene lexikalische Bedeutung angenommen; Bsp. zu under: under wegen ('unterwegs'), under handen ('in Verfügungsgewalt'), under stunden ('von Zeit zu Zeit').
Darüber hinaus sind Präpositionen in quantitativ z.T. nicht unerheblichem Maße an der Bildung von komplexen Prädikaten aus NP / PP + Verb beteiligt.11 Die komplexen Prädikate schließen dabei i.d.R. an Verwendungsweisen an, die auch mit ‚einfachem‘ Prädikat belegt sind, z.B. urteil geben über jmdn. statt urteilen über jmdn. in „die vrteil gib ich _prach got vber alle die rihtær di niht rihtent.“ (BKön 5rb, 28). Nach der Analyse des gesamten Belegmaterials zur Präposition über verteilen sich die 701 analysierbaren Belege wie folgt auf die genannten Typen: _____________ 10 11
Der Begriff ‚Präpositionalobjekt‘ soll hier für die historische Sprachstufe vermieden werden; zur genaueren Begründung vgl. Waldenberger (2009). Zur Frage, ob es sich bei diesen komplexen Prädikaten immer um Funktionsverbgefüge handelt, vgl. Waldenberger (2009).
493
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit
Verwendung
Belege
prädikative Verwendung
89
attributive Verwendung
13
Verwendung als freies Adverbial
87
in Verbindung mit Lokalisierungs- und Bewegungsverben (55 / 123)
178
in Verbindung mit kausativen Lokalisierungs- und Bewegungsverben (13 / 22)
35
fixierte Fügungen Präp. + Verb
158
lexikalisch fixierte Fügungen
29
in Verbindung mit komplexen Prädikaten
100
Sonderfälle (u.a.): statt Akk.-Objekt
12
Tabelle 4: Verteilung der Belege zu über auf Funktionstypen
5. Schlussbemerkung Es wird – ohne dass an dieser Stelle noch beispielhaft die semantische Ausdifferenzierung einer Präposition dargestellt worden wäre – deutlich, dass die Analyse des gesamten Verwendungsspektrums einer Präposition in einem (historischen) Korpus ein sehr heterogenes Bild ergibt. Ein Schwerpunkt der Verwendung liegt dabei im Ausdruck komplexer Relationen – in Verbindung mit Lokalisierungs- oder Bewegungsverben, in grammatisch fixierten Fügungen oder im Zusammenhang komplexer Prädikate aus NP / PP und Verb. Mit der hier in groben Zügen dargestellten Deskription eines ‚realen‘ Korpusbefundes sollte eine Beitrag zu der Diskussion geleistet werden, wie korpusbasierte (historische) Syntax(be)schreibung – hier von Präpositionen und Präpositionalphrasen – aussehen kann, welche Vorteile sich durch einen Perspektivwechsel hin zur Korpusbasiertheit ergeben, aber auch welcher Grad an Heterogenität in einem Korpusbefund bewältigt werden muss.
494
Sandra Waldenberger
Quellen ArnM = Arnsteiner Mariengebet. Wiesbaden, HStA, Hs. Abt. 3004, C 8, fol. 129v-135v. BKön = Buch der Könige. Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 739. Meri = Merigarto. Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen A III 57. PrZü = Züricher Predigten. Zürich, Zentralbibl., Cod. C 58 (olim Nr. 275), fol. 105va, 3-114va, 23; 182rb, 34-183va, 14. Renn = Hugo von Trimberg, Der Renner. Erlangen, Universitätsbibl., Ms B 4 (olim Cod. Erl. 1460) Tris = Gottfried von Straßburg, Tristan und Isolde (M). München, Bayr. Staatsbibl., Cgm 51. Will = Williram von Ebersberg, Hohelied. Breslau, Universitätsbibl., cod. R 347.
Literatur Fries, Norbert (1988), Präpositionen und Präpositionalphrasen im Deutschen und Neugriechischen. Aspekte einer kontrastiven Analyse Deutsch – Neugriechisch, Tübingen. Grabowski, Joachim (1998), „Ein psychologisch-anthropomorphologisches Modell der einheitlichen semantischen Beschreibung dimensionaler Präpositionen“, in: Petra Ludewig / Bart Geurts (Hrsg.), Lexikalische Semantik aus kognitiver Sicht. Perspektiven im Spannungsfeld linguistischer und psychologischer Modellierung, Tübingen, 11-40. Helbig, Gerhard / Buscha, Joachim (2001), Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht, Berlin u.a. Hertel, Volker (1983), Präpositionen in fixierten Fügungen, in: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 3 / 1983, 58-76. Jackendoff, Ray S. (2007), „The base rules for prepositional phrases“, in: Stephen R. Anderson / Paul Kiparsky (Hrsg.), A Festschrift for Morris Halle, New York u.a. 1973, 345-356. Klein, Thomas (2007), „Zur Dimensionierung historischer Textkorpora“, in: Sprache und Datenverarbeitung, 31 / 2007, 1-2, 15-22. Klein, Thomas / Solms, Hans-Joachim / Wegera, Klaus-Peter (2009), Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III: Wortbildung, bearb. v. Birgit Herbers / Thomas Klein / Aletta Leipold / Eckhard Meineke / Simone Schultz-Balluff / Heinz Sieburg / HansJoachim Solms / Sandra Waldenberger / Klaus-Peter Wegera, Tübingen. Waldenberger, Sandra (2009), Präpositionen und Präpositionalphrasen im Mittelhochdeutschen, Tübingen.
Von Lust und Frust korpusbasierter Syntaxarbeit
495
Wegera, Klaus-Peter (2000), „Grundlagenprobleme einer neuen mittelhochdeutschen Grammatik“, in: Besch, Werner u.a. (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl., 2. Teilbd., Berlin, New York, 1304-1320. Wegera, Klaus-Peter (2003), „Grammatiken zu Sprachabschnitten. Zu ihren Grundlagen und Prinzipien zwischen Konstruktion und Wirklichkeit“, in: Anja Lobenstein-Reichmann / Oskar Reichmann (Hrsg.), Neue historische Grammatiken. Zum Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen, Berlin, New York, 231-240. Wich-Reif, Claudia (2008), Präpositionen und ihre Geschichte. Untersuchung deutschsprachiger „Benediktinerregel“-Traditionen vom Anfang des 9. Jahrhunderts bis zum 21. Jahrhundert, Berlin. Wunderlich, Dieter (1984), „Zur Syntax der Präpositionalphrase im Deutschen“, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 3 / 1984, 65-99. Zifonun, Gisela u.a. (1997), Grammatik der deutschen Sprache, 3 Bde., Berlin, New York.
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts Zur syntaktischen und semantischen Wertigkeit mittelhochdeutscher Subjunktionen
Ursula Schulze (Berlin)
1. Einleitung Das Mittelhochdeutsche gilt in verschiedener Hinsicht „als eine Epoche des Suchens und Versuchens“. 1 Die Betonung dieses Übergangscharakters ist keine Banalität, die sich lediglich auf die mittlere Position im sprachgeschichtlichen Ablauf allgemein bezieht, sondern das Urteil gründet sich auf bestimmte Befunde. Es gibt z.B. einen Variantenreichtum in verschiedenen Bereichen der Sprache und daneben Tendenzen zum Abbau der Varianten, zur Ausbildung bestimmter Strukturmuster und zu semantischer Differenzierung. Im Folgenden möchte ich das an einem Teilbereich der mittelhochdeutschen Syntax, speziell an der Hypotaxe, genauer ausführen. Typologisierungen von Nebensätzen (bzw. Elementarsätzen) können aufgrund der Satzstruktur (speziell der Verbstellung) erfolgen, aufgrund der Position im Gefügekomplex und aufgrund der Subjunktionen mit ihren formalen und inhaltlichen (syntaktischen und semantischen) Funktionen, sodass Strukturtypen, Stellungstypen und Bedeutungstypen zu betrachten sind. Von diesen Möglichkeiten wende ich mich der letzten Gruppe zu und stütze meine Beobachtungen auf Urkundentexte des 13. Jahrhunderts. 2
_____________ 1 2
Wolf (2000, 1351ff., spez. 1354). Meine Quellengrundlage ist Wilhelm / Newald / de Boor / Haacke / Kirschstein (Hrsg.) (1986 / 2004). Zitiert als Corp. mit Angabe der Nr. der Urkunde.
498
Ursula Schulze
2. Die Problematik einer semantischen Differenzierung In der Syntax-Darstellung der von Hermann Paul begründeten Mittelhochdeutschen Grammatik haben die verschiedenen Bearbeiter (Ingeborg Schröbler, Siegfried Grosse und Heinz-Peter Prell)3 darauf aufmerksam gemacht, dass das Sinnverhältnis miteinander verbundener Sätze durch einen sprachlichen Ausdruck kaum eindeutig indiziert wird, da die Subjunktionen mehrdeutig sind.4 Für die Schwierigkeit, auf die hingewiesen wird, ist es symptomatisch, dass Prell als eindeutige Subjunktion neuhochdeutsch weil und obgleich, aber keine semantisch genau fixierten mittelhochdeutschen Subjunktionen nennt.5 Obwohl die Problematik als solche angesprochen wird, haben die Bearbeiter die Darstellung der Konjunktionalsätze6 oder Subjunktionalsätze7 „nach dem Inhalt“, nicht „nach der Form“ dieser Sätze vorgenommen.8 Es werden sieben Inhaltstypen von „Adverbialsätzen“ unterschieden: temporale (§ 173), konditionale (§ 174), konzessive (§ 175), kausale (§ 176), finale (§ 177), modal-konsekutive (§ 178) und modale (§ 179) Sätze, unter denen verschiedene mögliche Einleitungselemente (Subjunktionen, Adverbien, adverbiale Ausdrücke) aufgelistet sind. Ich habe die klassifizierten Satztypen und die möglichen Einleitungen in einer Tabelle zusammengestellt (vgl. Tabelle 1). Auffällig ist – abgesehen von der unterschiedlichen Konstitution der Satzeinleitungen –, dass einige von ihnen in mehreren Bedeutungsrubriken auftauchen, d.h. sie werden für verschiedene Inhaltsrelationen in Anspruch genommen. Zur Verdeutlichung habe ich diese Subjunktionselemente in einer weiteren Tabelle parallelisiert (vgl. Tabelle 2). Es handelt sich um und, daz, sô, alsô / alse / als, ob, swie, sît daz, die wîle (daz), nû (daz).
_____________ 3 4
5 6 7 8
Vgl. Paul (2007). Vgl. Schröbler (1969, 420f., § 350); Grosse (1989, 421f., § 458); Prell (2007, 398f., § S 155). Zu dem Problem der polysemen mittelhochdeutschen Subjunktionen s.a. Prell (2001, 43) u.ö. Admoni (1990, 123) konstatiert für das Mittelhochdeutsche: „Es fehlt ein semantisch streng differenziertes System von unterordnenden Konjunktionen. Dies führt zu einer Ungenauigkeit des unmittelbaren sprachlichen Ausdrucks.“ Trotz dieser Feststellungen postuliert er ein differenziertes Verständnis der syntaktischen Relationen. Vgl. Prell (2007, 398, § S 155). Vgl. Grosse (1989, 407, § 444). Vgl. Prell (2007, 399, § S 156). Vgl. ebd., 414-428, § S 173-179.
Tabelle 1: Einleitung von Adverbialsätzen
ob et, ot als, also swenne sô
dô swanne, swenne sô also, alse, als unz (daz) biz (daz) bidaz, bedaz innen des, under des ê (daz) sît (daz) nu(n) daz, nun die wîle (und/daz) swie und da mite und
doch swie aleine ob noch denne daz also, als ane
Konditionale Konzessive Sätze Sätze
Temporale Sätze
Einleitung von Adverbialsätzen Finale Sätze
so als(o), als und sam, alsam swie daz danne (daz)
ModalModale Sätze konsekutive Sätze
sît (daz) durch daz, ûf daz daz nû daz wand(e), want(e), wan(e) durch daz fur daz umbe daz (al) die wîle (daz)
Kausale Sätze
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts
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ob
ob
nû
nû (daz)
Tabelle 2: Gleiche Einleitungen verschiedenartiger Adverbialsätze
die wîle (daz)
die wîle (daz)
Kausale Sätze
sît (daz)
swie
alsô, als
Konzessive Sätze
sô alsô, als
Konditionale Sätze
sît (daz)
swie
sô alsô
und
Temporale Sätze
Gleiche Einleitungen verschiedenartiger Adverbialsätze
daz
Finale Sätze
daz
Modalkonsekutive Sätze
swie
sô alsô, als
daz
und
Modale Sätze
500 Ursula Schulze
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts
501
Eine andere Möglichkeit, die subjunktionalen Nebensätze darzustellen, wäre gemäß dem sonst bevorzugten formalen Prinzip eine Auflistung der verschiedenen Subjunktionen gewesen, jeweils mit Erläuterungen und Beispielsätzen. Bei dieser Alternative würde m.E. deutlicher, dass sich mögliche Inhaltstypen der adverbialen Sätze nicht aus der subjunktionalen Einleitung ergeben, sondern dass die Differenzierung gleichsam ex post nach heutigem Verständnis vorgenommen wird und dass vermeintliche Bedeutungsäquivalente aus einem Übersetzungsbedürfnis resultieren. Dass gleiche Subjunktionen in verschiedenen Inhaltsrelationen auftauchen, führt zu der Überlegung, ob die uns geläufige semantische Differenzierung der Subjunktionen und Adverbialsätze für das Mittelhochdeutsche überhaupt angemessen ist. Norbert Richard Wolf hat das Problem, auf das es mir ankommt, angesprochen. Er schreibt, man müsse fragen, „ob solche Einleitewörter wie sît oder swie [in der von mir angefertigten Tabelle tauchen sie in der temporalen und kausalen bzw. in der konzessiven und modalen Rubrik auf] tatsächlich mehrdeutig und dann in ihren jeweiligen Kontexten zu disambiguieren sind oder ob wir nicht moderne Differenzierungen an das Mhd. herantragen“;9 und noch weiter zugespitzt gibt Wolf zu bedenken, „daß wir heute einen eindeutigen ‚Bedeutungswert‘ formulieren müssen, wo im Mhd. noch keiner vorhanden war“.10 Im Bereich der Literaturwissenschaft wird eine analoge Problematik diskutiert: Verschiedene literarische Diskurse sind im volkssprachigen Bereich des 13. Jahrhunderts noch nicht ausdifferenziert und voneinander abgrenzbar. Es gibt keine genaue Unterscheidung zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Literatur: Das Nibelungenlied wie auch die Artusromane wurden dementsprechend als Werke verstanden, die von Geschichte (Historie) berichten. Zugleich aber ist einerseits durchaus Kritik an bestimmten erzählten Zusammenhängen zu finden und andererseits wird Überliefertes frei umgestaltet.11 Die mangelnde Ausdifferenzierung der logisch-semantischen Relationen von Satzgefügen im Mittelhochdeutschen ist ein vergleichbares Phänomen.
_____________ 9 10 11
Wolf (2000, 1354f.). Ebd., 1355. Vgl. Schulze (1991, 140ff., bes. 169). Vgl. Heinzle (2005, 43).
502
Ursula Schulze
2.1. Angliederung durch daz Als Beleg für die Existenz bedeutungsneutraler Angliederung verweist Wolf auf daz,12 die Subjunktion mit rein syntaktischer Funktion par excellence. Bei Objekt- und Subjektsätzen wird ein Bedeutungswert von daz nirgends in Erwägung gezogen, ebenso nicht, wo daz ein einzelnes Satzglied oder einen Satz erläutert.13 Doch in anderen Fällen werden Übersetzungen wie 'damit' (final § 177), 'in der Weise dass', 'so dass' (konsekutiv § 178) und 'derart dass' (modal § 179) angegeben, um die Relation von Sachverhalten zu bestimmen, auch wenn im übergeordneten Satz keine finalen, konsekutiven und modalen Korrelate enthalten sind. Dabei handelt es sich um analoge Deutungen zu Versionen, in denen der daz-Satz adverbiale Ausdrücke des übergeordneten Satzes genauer ausführt – ein Verfahren, das schon im Althochdeutschen vorkommt und in den mittelhochdeutschen Urkunden reichlich belegt ist. (1)
dvr daz, daz dP ſelbe gift ſtete bPlibe, ſo geben wir diſen Brief… (Corp. 1407,34f.).
(2)
vmbe dc, dc diſ allez ſtÖte blibe v] vnverwert, ſo lege ich min inſigel an diſen brief… (Corp. 1036,30f.).
(3)
vnd dar vmbe, daz ſi vns gedienen mvͤgen deſte baz, haben wir in die genad getan… (Corp. 3097,1f.).
Die adverbialen Bestimmungen (durch daz; darumbe daz) weisen auf einen Zweck oder Grund hin, den der daz-Satz expliziert. Sie zeigen zugleich, dass derartige Zusätze notwendig sind, um finale oder kausale Bestimmungen zu erreichen. Wo solche Zusätze nicht vorhanden sind, kann man dem reinen daz nicht unbedingt eine entsprechende Bedeutung unterstellen, da explizite Signale fehlen. (4)
Vnd daz dev getate ſtete belibe, iſt der brief uerinſigelt mit der vorgenanten herren der Shenken inſigel… (Corp. 1408,11f.).
(5)
ob vnſ vil leicht dehain gewizzenev vnt redleichev not anch=m, daz wier vnſer erbe nicht ver ſporen mochten von rechter not dvrft…, so ſulle wier allez ander vnſer erbe des erſten verchaufen… (Corp. 3412,38ff.).
(6)
Minem dochterlin…ſchaff ich …dreizech phvnt, daz man ez da mit ze manne gebe… (Corp. 923,45ff.).
_____________ 12 13
Vgl. Wolf (2000, 1355). Vgl. Prell (2007, 429, § S 180,2).
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts
503
Dass allerdings die Tendenz vorhanden ist, mit daz subjunktionierte Sätze semantisch zu spezifizieren, zeigen die Kombinationen von daz mit einer Präposition: unz daz, biz daz; sît daz, durch daz, für daz, umbe daz; ûf daz usw., die temporale, kausale und finale Adverbialsätze formieren. Zu diesen zweigliedrigen Subjunktionen kommen außerdem Syntagmen von Adverbien und adverbialen Ausdrücken mit daz: also daz, also lange (biz) daz, darumbe daz, die wîle daz usw. Gerade diese Syntagmen weisen m.E. darauf hin, dass man daz allein keinen eigenen semantischen Wert zusprechen sollte. Zur genaueren Bestimmung werden sprachliche Mittel benutzt. Ähnliche Beobachtungen ergeben sich bei und und sô. 2.2. Angliederung durch unde Abgesehen von der Hauptsatzkoordination kommt die Angliederungsleistung von unde auch bei Sätzen zur Geltung, deren Nebensatzstatus durch End- bzw. Spätstellung des finiten Verbs gekennzeichnet ist. (7)
der ſol dem andern beholfen ſin mit aller der maht, vnd er geleiſten mach… (Corp. 1274B,46ff.).
Die meisten Belege betreffen die Explikation eines Gliedes des übergeordneten Satzes. In diesen Fällen wird gewöhnlich ein bedeutungsneutrales Relativpronomen als Übersetzungswort verwendet. Wenn unde außerdem – wie die Tabelle zeigt – als Einleitung von Temporal- und Modalsätzen aufgeführt wird, mit den Bedeutungsangaben temporal 'als' und modal 'wie', so ergibt sich die entsprechende Interpretation lediglich aus dem weiteren Kontext. (8)
Daz der (sc. der Meineidige) ewechliche di ſtat ſal rumen, vnde ez von alter her iſt kvmmen alſo… (Corp. 903,40f.).
Übrigens ist bei unde die gleiche Tendenz zur semantischen Präzisierung zu beobachten wie bei daz, indem die subjunktionale Funktion genutzt und mit einem adverbialen Ausdruck zu einer bedeutungshaltigen Wortgruppensubjunktion verbunden wird: (alle) die wîle und; alsô lange und; darnâch und. 2.3. Angliederung durch sô In die Reihe der Nebensatz-Einleitungen ohne ausgeprägte Semantik gehört auch sô. Die modale Interpretation eines mit sô angefügten Nebensat-
504
Ursula Schulze
zes ist durch die Bedeutung des Adverbs im Sinne von 'so', 'derart' bewirkt. (9)
die haint eſ gelobt mit ir trãwen, ſi ze antwrten ze Coſtenze ze rehter giſelſchefte, ſwenne ſi ermant werdent…, ie ze den ziln, ſo da vorgeſchriben iſt… (Corp. 531,37ff.).
(10) So ſGln ſi auch iren chinden einen Schulmaiſter ſchaffen…, ſo ſi in aller beſten immer vinden… (Corp. 2345,18ff.). Im übergeordneten Satz des zweiten Belegs hat sô koordinierende Funktion, im anschließenden Nebensatz gliedert es eine Explikation an, wie in den folgenden Beispielen, wo es einem bedeutungsneutralen Relativpronomen entspricht: (11) Wir… henken Pnſer Jngeſigel an diſen brief zeim vrkPnde v] zeiner ſterkervnge alleſ deſ, ſo hie vor geſchriben iſt. (Corp. 634,3ff.). (12) Allen dÖn, so diſen Brîef an sÖhent oder h=rent lÖſen, kúnde ich… (Corp. 2659,29). Eine temporale oder konditionale Deutung von mit sô eingeleiteten Nebensätzen ergibt sich, wenn keine weiteren Bestimmungen vorhanden sind, nur aufgrund des weiteren Kontexts: (13) daz ir kint diſ gidinge ſt#te halden, ſo ſi zi iren tagen chomen… (Corp. 673,16). (14) Man ſol ?ch wizzen, daz dîv Jarzît iſt an dem tage, ſo dennoh dri wochen ſint an den h#ligē abent… (Corp. 656,27f.). 2.4. Angliederung durch dô und dâ Ein ähnlicher Befund wie bei sô liegt auch bei dô und dâ vor, wenn sie Adverbialsätze einleiten. Aus heutiger Sicht kann man sie temporal und lokal verstehen und mit Übersetzungen wie 'als', 'nachdem' und 'wo' wiedergeben. (15) Diz geſchach… ze mittun abrellen Jn dem Jare, do von vnſerſ herren gebùrte zewelf hundert Jare v] triv v] ahtzich Jare warent. (Corp. 584,21f.). (16) Diſer Práf iſt gegeben, da uon Chriſtes gewFrt ſint geweſen Tauſent Jar… (Corp. 2598,16f.).
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts
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(17) Diz biſchach ze Maîenowe, da ze gegen waren diz erb(rin livt… (Corp. 1601,5f.). (18) daz… die nehſten, die da bi geſezzen ſin, do der bruch geſhehen iſt, den lantfriden beſchirmen… (Corp. 879W,29ff.). Die Bedeutung ergibt sich auch hier aufgrund des Bezugswortes (Jn dem Jare; ze Maîenowe) oder aufgrund der übergeordneten Aussage (die da bi geſezzen ſin). Übrigens kommen in der Mittelhochdeutschen Grammatik Lokalsätze nicht als eigene Adverbialsatzgruppe vor, sondern sie sind den Relativsätzen zugeordnet,14 weil da als relatives Adverb betrachtet wird.
3. Zur Anwendbarkeit einer logisch-semantisch ausdifferenzierten Klassifikation auf die mittelhochdeutschen Subjunktionen Bei der Frage, ob man für das mittelhochdeutsche Verständnis nicht von einer bedeutungsdifferenzierenden Beschreibung der Subjunktionen absehen sollte, lenkt Norbert Richard Wolf den Blick exemplarisch auf sît und swie.15 In der Mittelhochdeutschen Grammatik erscheint sît innerhalb der temporalen Rubrik mit den Übersetzungen 'seitdem', 'nachdem'16 und kausal als 'da' und 'weil'.17 Die Abgrenzungsschwierigkeiten werden hier besonders hervorgehoben. Es geht meist um die Benennung einer zeitlichen und sachlichen Voraussetzung, z.B. (19) Man ſol der Judinne von kirchain wider gen, ſwas ir genomen iſt, ſit ſiv Burgerin ze Ezzelinπ wart… (Corp. 1728,15f.). Wenn die Voraussetzung allgemeineren Charakter hat, ist man eher geneigt, sie kausal aufzufassen. Dafür gibt es in den Urkunden zahlreiche Belege: (20) Sit ellP dinch zerganchklich ſint vnd deſ menſchen gehugede langer ſteti nvt enhat, So iſt gewonlich vnde recht, daz man mit ſhrift beſtete ſwaſ man endelicher dinge in diſen tagen zeſhaffen hat. (Corp. 506,40ff.). (21) daz wir di levt…des ſelben dienſtes vnd der ſtiwer lavtterlich begeben haben, ſeit ez ze reht niht ſin ſol alſo… (Corp. 1553,13ff.). _____________ 14 15 16 17
Vgl. Prell (2007, 405, § S 162). Vgl. Wolf (2000, 1354f.). Vgl. Prell (2007, 416, § S 173,10). Vgl. ebd., 421, § S 176,1.
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Zu überlegen ist, da sît auch in Verbindung mit daz gebraucht wird, ob nicht die temporale Semantik des Adverbs und der Präposition sît das Verständnis der einfachen Subjunktion steuert. Auch die neuhochdeutsche temporale Festlegung von seit würde dadurch erklärt. Die neuhochdeutsche Entsprechung für swie 'wie auch (immer)' hat ebenfalls eine klare Semantisierung erfahren, die sich als konzessiv durch den Zusatz von einfachem modalen 'wie' abhebt. Die Zusammenhänge, in denen das mittelhochdeutsche swie angliedernde Funktion besitzt, sind demgegenüber offener (temporal / konditional, konzessiv und modal) interpretierbar. (22) v¤ Swie ſîe ſprechent vffe den eît, dîe ſNne ſi gebrochen, So ſvlnt die burgen drumbe leiſten… (Corp. 225,1f.). (23) Stirbit der vier v] zweinzigon deheine, oder ſwie er abe kumit, ſo ſun die andîrn …einin andirne wellin an des ſtat… (Corp. 248B,10ff.). (24) vnd ſwie doch ich ez an meiner chinde vnd erben hant wol mohte getNn, doch dvrch pezzere ſtætichhait vnd gewarhait habent meine toehter… geben ellev dev reht… (Corp. 3401,42ff.). Berührung von temporaler und kausaler Relation zeigt sich auch bei mit die wîle daz / so / und o.ä. eingeleiteten Nebensätzen.18 Wegen der neuhochdeutschen Bedeutung von 'weil' ist das von besonderem Interesse. Es handelt sich um die Verbindung eines adverbialen oder präpositionalen Ausdrucks, der temporale Bedeutung besitzt, mit einer Subjunktion. Nicht immer ist klar zu entscheiden, wo die Zäsur liegt, d.h. ob sît der wîle und, alle wîle die u.ä. als Wortgruppenkonjunktionen aufzufassen sind. Nebensatzeinleitungen ohne weiteren subjunktionalen Zusatz, die wîle und alle die wîle, sind in den Urkunden reichlich belegt, und zwar überwiegend in temporaler Relation vom Typ die wîle er lebet. Selten kommen kausal deutbare Fälle vor. (25) daz der abbt vnd dev Samnvng ze fvrſtncelle vnſer da bei gedenchen ſchullen, alle di weil ſi den nvtz in nement … (Corp. 2303,23f.). Einmal begegnet die Reduktionsform wîl allein als Subjunktion, und zwar im kausalen Sinne wie neuhochdeutsch 'weil': (26) vnd ig Eber, graue von wirtenberg, han min Jngeſigel her ane gehenket, wil ez mit minem willen beſchehen iſt. (Corp. 729,31f.). _____________ 18
Eine sprachgeschichtliche Untersuchung der kausalen Konjunktionen liegt vor von Eroms (1980, 73ff.).
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts
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Betrachtet man die mittelhochdeutschen variierenden Zusammensetzungen mit wîle einerseits und die Verwendung des im Neuhochdeutschen fortexistierenden 'weil' andererseits, so sind hier formal die Entwicklung von einer Wortgruppe zu einer Einwortsubjunktion und die semantische Vereindeutigung evident.19 Als wichtige kausale Satzeinleitung gilt wande, wanne, wan u.ä. in parataktischer und hypotaktischer Funktion. Ihr wird eine eindeutige Semantik zugeschrieben, und sie taucht nur in der kausalen Rubrik der Grammatik auf.20 Aber wenn man die vorkommenden Laut- und Formvarianten und ihre Verwendung ins Auge fasst, dann begegnet wan, wanne, wenne auch in konditional und temporal zu deutenden Relationen, z.T. mit den gleichen Korrelaten im Hauptsatz wie in den kausalen Fällen.21 Z.B. kausal zu verstehen ist: (27) v] wan das ſelbe hus verbrunnen was, do verbuten wir daran drú v] zwanzig pfunt pfenninge… (Corp. 2769,28f.). (28) wan wir vnſer gr=zzes jnſigel bá vnſ niht haben, ſo hab wir vnſer chlaynez inſigel an diſen brief geleit… (Corp. 1603B,20ff.). Eine konditionale / temporale Relation liegt aus heutiger Sicht vor bei: (29) daz vnſer bruder Rudolf die ſelbe ſtat, wanne er zu ſinen dagen kumet, vf gebe, alſe wir han gedan. (Corp. N193,31f.). Auch eine konzessive Deutung ist möglich: (30) daſ wernher Romer … fúnf iucherte akers…V] ein hofſtat halbe…vor vnſ mit willen v] mit handen Adelheide, ſinre wirtin, Mechthild’, Heilwige v] Gerdrud’, ſinre t=chtren, durch ein gewarſami, wand’ er ez wol ane ſi m=chte han getan, Verk?fte rechte v] redeliche… (Corp. 2313,8ff.). Die homophonen Erscheinungsformen der Subjunktion signalisieren keine Bedeutungsunterschiede. Obwohl Lexer die verschiedenen Varianten jeweils notiert, setzt er zwei Lemmata mit je eigener Semantik an: wan exzipierend ('nur', 'sondern' u.ä.) und wande ('denn', 'weil').22 Die temporale Bedeutung wird bei diesen Stichwörtern nicht erwähnt. Sie ist swanne, swenne vorbehalten. Und auch in der Paul’schen Grammatik erscheinen in der temporalen Rubrik nur swanne, swenne, dort allerdings mit zwei Belegen _____________ 19 20 21 22
Vgl. ebd. Vgl. Prell (2007, 422, § S 176,3). Vgl. Wolf (1981, Bd. 1, 210f.). Vgl. Lexer (1979, Bd. 3, Sp. 667f. und Sp. 669).
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ohne s-: wenn aus den Liedern Oswalds von Wolkenstein.23 Gerade bei den wande-, wanne-, wan-Varianten wird noch einmal deutlich, dass ausdrucksseitig von den Subjunktionen keine genaue Bedeutungsdifferenzierung markiert wird.
4. Zusammenfassung Ich breche die Betrachtung der Adverbialsatzeinleitungen hier ab und fasse die Beobachtungen zusammen: Das sprachliche Material der Urkunden bestätigt die bekannte Einsicht, dass die meisten Subjunktionen primär eine syntaktische Funktion haben, während für den Bedeutungswert bzw. die logische Relation zum übergeordneten Satz der Kontext die bestimmende Rolle spielt. Darüber hinaus ist festzustellen, und zwar nicht nur für die Urkunden: Bei den eingliedrigen Subjunktionen enthalten nur diejenigen ein semantisches Signal, die Präpositionen oder Adverbien wie âne, biz, unze; aleine, sam, ê entsprechen und bei denen wahrscheinlich ein zunächst syntaktisch stützendes daz, sô oder und entfallen ist. Die generelle Abbildung der Adverbialsatzeinleitungen erfolgt in den Grammatiken vor dem Hintergrund eines ausdifferenzierten Koordinatensystems logischsemantischer Klassifizierungen, die die Relation von Angaben oder Angabesätzen bestimmen.24 Dieses Koordinatensystem kann für das Mittelhochdeutsche nicht in gleicher Weise vorausgesetzt werden. Allerdings zeichnet sich eine Tendenz ab, Bedeutungsrelationen der Adverbialsätze, die an verschiedenen Stellen im Satzgefüge positioniert sein können, genauer zu markieren. Unterschiedliche Einleitungstypen stehen nebeneinander. Der Befund erscheint als offenes System, in dem die semantische Wertigkeit der nebensatzeinleitenden Elemente tendenziell präzisiert wird.
Literatur Admoni, Wladimir (1990), Historische Syntax des Deutschen, Tübingen. Eisenberg, Peter (2006), Grundriss der deutschen Grammatik, 2. Aufl., Stuttgart, Weimar.
_____________ 23 24
Vgl. Prell (2007, 414f., § S 173,2). Vgl. Helbig / Buscha (2005), die die Subjunktionen des heutigen Deutsch in zwei verschiedenen Kapiteln behandeln, einmal mit Erläuterungen zu den einzelnen Wörtern und ihrem Gebrauch ( 401-415), dann unter den semantischen Klassen der Adverbialsätze ( 599-622). Eisenberg (2006, Bd. 2: Der Satz, 322) hält es bei der Behandlung der Bedeutung von Konjunktionen aus systematischen Gründen für problematisch, die bezeichneten semantischen Beziehungen zur Grundlage der Beschreibungen zu machen.
Nebensatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts
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Eroms, Hans-Werner (1980), „Funktionskonstanz und Systemstabilisierung bei den begründenden Konjunktionen im Deutschen“, in: Sprachwissenschaft, 5 / 1980, 73115. Grosse, Siegfried (1989), „Syntax“, in: Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 23. Aufl. Tübingen, 283-473. Heinzle, Joachim (2005), Die Nibelungen. Lied und Sage, Darmstadt. Helbig, Gerhard / Buscha, Joachim (2005), Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht, 5. Aufl., Berlin, München u.a. Lexer, Matthias (1979), Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde., Leipzig 1878, Neudruck Stuttgart. Online im Internet: http://gaer27.uni-trier.de/MWV-online/WBInfos.html (Stand: 28.01.2009). Paul, Hermann (2007), Mittelhochdeutsche Grammatik, 20. Aufl. v. Hugo Moser / Ingeborg Schröbler, Tübingen 1969. – 23. / 24. Aufl. neu bearb. v. Peter Wiehl / Siegfried Grosse, Tübingen 1989 u. 1998. – 25. Aufl. neu bearb. v. Thomas Klein / Hans-Joachim Solms / Klaus-Peter Wegera, mit einer Syntax v. Ingeborg Schröbler, neu bearb. u. erweitert v. Heinz-Peter Prell, Tübingen. Prell, Heinz-Peter (2001), Der mittelhochdeutsche Elementarsatz. Eine syntaktische Untersuchung an Prosatexten des 11. bis 14. Jh.s, (Acta Humaniora 112), Oslo. Prell, Heinz-Peter (2007), „Syntax“, in: Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl., Tübingen, 285-471. Schröbler, Ingeborg (1969), „Syntax“, in: Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 20. Aufl., Tübingen, 281-502. Schulze, Ursula (1991), „Komplexe Sätze und Gliedsatztypen in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts“, in: ZfdPh, 110 / 1991, Sonderheft, 140-170. Wilhelm, Friedrich / Newald, Richard / de Boor, Helmut / Haacke, Diether / Kirschstein, Bettina (Hrsg.) (1986 / 2004), Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, bis 54. Lfg., Lahr, 55. Lfg., Berlin. Online im Internet: http://urts52.uni-trier.de/cgi-bin/iCorpus/CorpusIndex.tcl (Stand 28.01.2009). Wolf, Norbert Richard (1981), Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 1: AlthochdeutschMittelhochdeutsch, Heidelberg. Wolf, Norbert Richard (2000), „Syntax des Mittelhochdeutschen“, in: Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., 2. Teilbd., Berlin, New York, 1351-1358.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen im Prosalancelot (Lancelot I) Jürg Fleischer (Marburg)
1. Einleitung Für die neuhochdeutsche Standardsprache ist wiederholt festgestellt worden, dass die Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen relativ fest ist: Während bei vollen Nominalphrasen (zumindest bei gewissen Verbtypen) die dativische Nominalphrase der akkusativischen meist vorangeht, aber auch die umgekehrte Stellung auftreten kann, steht bei zwei Personalpronomen in der Regel der Akkusativ vor dem Dativ (vgl. z.B. Lenerz 1977, 68; Grundzüge 1981, 734; IDS-Grammatik 1997, 1519f.; Duden-Grammatik 2005, 885): (1)
*Anna will ihr ihn morgen übergeben (nach Duden-Grammatik 2005, 885)
Dagegen ist die Abfolge Dativ vor Akkusativ bei Personalpronomen in älteren Sprachstufen durchaus belegt, wie etwa das folgende Beispiel zeigt: (2)
ob mir yn gott nit gesant enhet (Prosalancelot I; ed. Kluge 1948, 494) wenn mir ihn Gott nicht gesandt hätte (vgl. Steinhoff 1995b, 41)
Allerdings scheinen auch für die moderne Standardsprache Ausnahmen von der Regel „Akkusativ vor Dativ“ zu bestehen. So wird häufig darauf hingewiesen, dass etwa bei Klitisierung die Abfolge Dativ vor Akkusativ auftreten kann (vgl. z.B. Lenerz 1977, 68; Grundzüge 1981, 734; IDSGrammatik 1997, 1520), was in der schriftlichen Standardsprache ausschließlich den Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum betrifft, die neben der Form es auch als ’s auftreten und sich in dieser Form auch nach
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Jürg Fleischer
dativischen Personalpronomen finden kann, etwa in gib mir’s.1 Sodann gilt nach Lenerz (1993, 141f.), der mehrere Beispiele für die Abfolge Dativ vor Akkusativ anführt, die für den Standard häufig postulierte Regel „Akkusativ vor Dativ“ vielleicht nur für Pronomen der 3. Person. Schließlich weist die Duden-Grammatik (2005, 885) darauf hin, dass die Abfolge Dativ vor Akkusativ in regionalen Varietäten vorkommt. Für die moderne Standardsprache kann aber insgesamt nicht daran gezweifelt werden, dass beim Aufeinandertreffen eines akkusativischen und eines dativischen Personalpronomens in der Regel die Abfolge Akkusativ vor Dativ gilt. Dies kann aufgrund von Recherchen in mehreren vom Institut für deutsche Sprache Mannheim zur Verfügung gestellten Korpora bestätigt werden; Beispiele für die umgekehrte Abfolge sind im modernen Standard selten (vgl. Fleischer i. Dr.; untersucht wurden vorwiegend zeitungssprachliche Korpora). Dagegen findet sich in einer Auswahl von Goethes Prosawerken, die das Institut für deutsche Sprache Mannheim als elektronisches Korpus zur Verfügung stellt, die Abfolge Dativ vor Akkusativ in immerhin ca. 30 % der Belege (vgl. ebd.); die Sprache Goethes entspricht in dieser Hinsicht also nicht dem modernen Standard. Die Abfolge Dativ vor Akkusativ findet sich vom Althochdeutschen bis ins Neuhochdeutsche. Behaghel (1932, 73ff.) führt zahlreiche Belege aus älteren und jüngeren Sprachstufen des Deutschen an (sein ältestes Beispiel stammt von Notker) und geht dabei auf einzelne Pronomen bzw. Kombinationen von akkusativischen und dativischen Pronomen ein; nach Behaghel (ebd., 74f.) gilt besonders bei den Pronomen ihn und es, zum Teil in Abhängigkeit von der Form des dativischen Pronomens, die Reihenfolge Dativ vor Akkusativ. In einigen Fällen konstatiert Behaghel ein Schwanken zwischen den beiden möglichen Abfolgen. Auch nach Ebert (1999, 119), der sich auf die Periode von 1300 bis 1750 bezieht, sind „während unseres ganzen Zeitraums sowohl die Folge Dativ vor Akkusativ als auch die Folge Akkusativ vor Dativ gebräuchlich.“ Er weist darauf hin, dass die Abfolge der Pronomen offenbar von den Möglichkeiten der klitischen Anlehnung an das vorangehende Wort beeinflusst wird, und geht (teilweise nach Behaghel 1932) auf verschiedene Kombinationen ein (vgl. Ebert 1999, 119f.). Obwohl Ebert (1999) einige Angaben zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen macht, listet er die Stellung der nominalen und pronominalen Glieder im Mittelfeld als ein Forschungsdesiderat auf (vgl. ebd., 27). Wie sich vor allem in Abschnitt 3 zeigen wird, reichen die Angaben, wie sie Behaghel (1932) und Ebert (1999) bieten, nicht für _____________ 1
Nach Duden-Grammatik (2005, 885) ist dies allerdings auch für die volle Form es der Fall, wenngleich speziell auf die Kurzform hingewiesen wird.
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Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
eine in die Tiefe gehende Behandlung des Phänomens aus. Deshalb versuche ich im vorliegenden Beitrag, ein einzelnes Denkmal zu analysieren, dies jedoch detailliert und in der gebotenen Feinkörnigkeit. Ich schließe damit an eigene Untersuchungen zum selben Phänomen im Althochdeutschen und Altniederdeutschen des 8. / 9. Jahrhunderts (vgl. Fleischer 2005) und im Neuhochdeutschen (Fleischer i. Dr.) an und versuche, mit der Untersuchung eines mittelhochdeutschen Denkmals einen ersten Schritt zu tun, um die Lücke zu füllen, die zwischen diesen beiden Arbeiten in Bezug auf die abgedeckten Daten besteht.
2. Zu den untersuchten Kombinationen Bevor ich auf die Befunde, die sich aus der Analyse eines mittelhochdeutschen Denkmals ergeben, eingehe, müssen einige Überlegungen zur Methodologie angestellt werden. Dazu ist es sinnvoll, sich zunächst einen Überblick über die möglichen Kombinationen zu verschaffen. In der folgenden Tabelle werden in der horizontalen Achse die akkusativischen und in der vertikalen Achse die dativischen Personalpronomen dargestellt, wie sie in der modernen Standardsprache auftreten: Dat. Akk.
mir
dir
ihm
ihr
ihm
uns
euch
ihnen
mich dich ihn sie es uns euch sie Tabelle 1: Mögliche Kombinationen von Akkusativ- und Dativpronomen
In dieser Tabelle steht jede leere Zelle für eine mögliche Kombination eines akkusativischen und eines dativischen Personalpronomens. Zwar sind gewisse Kombinationen unwahrscheinlich (etwa die von akkusativischen und dativischen Pronomen derselben 1. und 2. Person, die dann ja koreferent sind und sich somit auf die gleiche Entität beziehen; vgl. z.B. ?er hat mich mir vorgestellt), was mich in Fleischer (2005) dazu bewog, gewisse Zellen in den Tabellen grau zu hinterlegen (vgl. ebd., 12, Fußnote 19); zumindest bei großen standardsprachlichen Korpora zeigt sich allerdings,
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dass auch eher unwahrscheinliche Kombinationen auftreten können (vgl. Fleischer i. Dr.). Insgesamt bestehen 64 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, die jeweils sowohl in der Abfolge Akkusativ vor Dativ als auch in der Abfolge Dativ vor Akkusativ realisiert werden können. Mit derselben Zahl ist auch für die älteren Sprachstufen zu rechnen.2
3. Überlegungen zur Methodologie Nach den Angaben Behaghels (1932, 73ff.) haben gewisse Pronomen eine besondere Affinität, in einer bestimmten Abfolge aufzutreten. In bisherigen Untersuchungen konnte dies bestätigt werden: Im Althochdeutschen des 8. / 9. Jahrhunderts, zu dem insgesamt nur relativ wenige Belege existieren, scheint es vor allem der Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum zu sein, der häufig in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftritt (vgl. Fleischer 2005, 32f.). Bei Otfrid, dem Denkmal, aus dem die meisten Belege stammen, dominiert die Abfolge Dativ vor Akkusativ beim Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum mit über vierzig Belegen klar (die umgekehrte Abfolge ist insgesamt zehn Mal belegt, darüber hinaus tritt die Abfolge Dativ vor Akkusativ nur noch zweimal beim Akkusativ der 3. Person Singular Maskulinum auf; vgl. ebd., 25). In einer Auswahl von Goethes Prosawerken findet sich die Abfolge Dativ vor Akkusativ in erster Linie bei den Dativpronomen der 1. und 2. Person Singular in Kombination mit einem Akkusativpronomen der 3. Person; daneben tritt auch das Dativpronomen der 3. Person Singular Femininum in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auf, allerdings wesentlich weniger häufig als in der umgekehrten Abfolge (vgl. Fleischer i. Dr.). Derartige Regularitäten bzw. Unterschiede zwischen verschiedenen Pronomen oder Kombinationen können nur festgestellt werden, wenn eine gewisse Masse von Belegen zu einem bestimmten Text bzw. zu einem in sich möglichst einheitlichen Korpus nebeneinander betrachtet und miteinander verglichen werden kann; davon ausgehend kann – wenn genügend Daten vorhanden sind – ein System rekonstruiert werden, das für eine bestimmte geographisch und zeitlich lokalisierbare Ausprägung des Deutschen steht. In einem zweiten Schritt können dann durch den Vergleich derartiger Einzelanalysen Unterschiede (etwa regionaler oder zeitlicher Art) festgestellt werden. Beispielsweise ergibt sich so für das 8. / 9. _____________ 2
Die Zahl würde noch höher ausfallen, wenn die verschiedenen Genera des Akkusativs der 3. Person Plural, wie sie etwa im älteren Althochdeutschen noch voll erhalten sind, als eigene Formen gezählt würden; umgekehrt würde die Zahl kleiner, wenn die synkretistischen Formen nur einmal gezählt würden (vgl. Fleischer 2005, 12f.).
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Jahrhundert, dass im Altniederdeutschen praktisch ausschließlich die Abfolge Akkusativ vor Dativ auftritt, womit sich ein starker Kontrast zum Althochdeutschen ergibt (vgl. Fleischer 2005, 32f.). Vor diesem Hintergrund ist zu Behaghels und Eberts synoptischer Behandlung des Phänomens anzumerken, dass durch die angeführten Belege, die aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen stammen, eventuell vorhandene Unterschiede zwischen verschiedenen Systemen verdeckt werden: Handelt es sich bei den von Behaghel (1932) und Ebert (1999) festgestellten Fällen schwankenden Gebrauchs um Schwanken in ein und demselben System (und somit also um Variation in einer bestimmten Ausprägung des Deutschen) oder kann das „Schwanken“ auf Unterschiede zurückgeführt werden, die beispielsweise regional oder zeitlich bedingt sind (womit dann vielleicht nur Variation zwischen verschiedenen Systemen bestünde)? Lässt sich beispielsweise aus der Tatsache, dass Behaghel (1932, 73) einen Schiller-Beleg für die Abfolge Akkusativ vor Dativ aufführt (indem ich sie mir aneigne), dagegen zur gleichen Kombination einen Beleg aus Lessing mit der umgekehrten Abfolge (Just hat mir sie wiedergegeben; Behaghel 1932, 74) angibt, schließen, dass diesbezüglich systematische Unterschiede zwischen der Sprache Schillers und Lessings bestehen? Inwiefern sind die beiden isolierten Belege für die Sprache Schillers bzw. Lessings repräsentativ? Um Aussagen zu verschiedenen Kombinationen bzw. Pronomen machen zu können, ist es sinnvoll, pro Quelle möglichst große Datenmengen zu sammeln. Da Beispiele von Sätzen, in denen ein akkusativisches und ein dativisches Pronomen im Mittelfeld auftreten, nicht besonders häufig sind – für Prosalancelot I ergibt sich eine Häufigkeit von einem Beleg je ca. 715 Wörter (was als eine ziemlich hohe Belegdichte erscheint) –, ist es sinnvoll, ganze Textexemplare exhaustiv auszuwerten. Eine Beschränkung auf 30 Normalseiten (= 12 000 Wortformen), wie sie etwa im Rahmen der Korpusarbeiten zur Grammatik des Frühneuhochdeutschen vorgenommen wurde und nun bei der neuen Mittelhochdeutschen Grammatik zur Anwendung kommt (vgl. Wegera 2000, 1310), kommt beim untersuchten Phänomen nicht in Frage: Von der oben angeführten Zahl ausgehend würde dies bedeuten, dass etwa bei Prosalancelot I auf 30 Normalseiten durchschnittlich 17 Belege erfasst würden; bei einer Berücksichtigung des ganzen Textes kommt man dagegen auf immerhin 482 Belege. Die Ansicht, „daß Hss., die länger sind als 30 Normalseiten, nicht komplett analysiert werden müssen“ (Wegera 2000, 1310), gilt für das untersuchte Phänomen, da es nicht hochfrequent ist, keinesfalls.
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Jürg Fleischer
4. Zum ausgewerteten Denkmal: Lancelot I nach der älteren Heidelberger Handschrift Cod. pal. germ. 147 Die Tatsache, dass aus einem großen, in sich einheitlichen Datenbestand in Bezug auf das untersuchte Phänomen genauere Befunde herausgelesen werden können als aus mehreren kleinen, kann als Richtlinie für die Auswertung genommen werden. Unter der Bedingung, dass überhaupt so viele und verschiedenartige Texte vorhanden sind, dass man eine Auswahl treffen kann (was etwa beim Althochdeutschen und älteren Mittelhochdeutschen nicht der Fall ist; vgl. Wegera 2000, 1305), ist es für syntaktische Untersuchungen sinnvoll, von Prosatexten auszugehen (dazu bereits Ebert 1978, 6f.: „Womöglich soll man von Prosatexten ausgehen, in denen der normale Gebrauch nicht von den Bedürfnissen von Reim und Rhythmus beeinflußt wird.“). Damit besteht ein weiteres Auswahlkriterium. Um einen möglichst großen, aber in sich einheitlichen Prosatext zu analysieren, fiel deshalb die Wahl auf den Prosalancelot (bzw. dessen ältesten Teil). Mit dem Prosalancelot wird in der vorliegenden Untersuchung der älteste deutsche Prosaroman analysiert. Hierbei handelt es sich zweifelsohne um einen sehr großen Text (Kluges Edition des ersten Teils bietet 642 Seiten Text, dem entsprechen in der Handschrift 139 beidseitig mit jeweils über 60 Zeilen beschriebene Folio-Blätter; vgl. Kluge 1948, XVII-XVIII; insgesamt dürfte der Text ca. 345 000 Wörter bieten). Der ProsalancelotText, wie ihn die älteste (bis auf eine auch andere Zeugen konstituierende Textlücke) vollständige Handschrift, Cod. pal. germ. 147, bietet, besteht aus drei unterschiedlichen Teilen (denen die drei Bände der Edition Kluges entsprechen). Bei näherem Hinsehen zeigen sich zwischen den Teilen deutliche Unterschiede: „Die Übersetzungsqualität des ersten ist besser, seine Sprache um einiges archaischer, dem klassischen Mittelhochdeutschen näher als die der beiden anderen Teile“ (Steinhoff 1995b, 764). Rothstein (2007, 128), von der die jüngste Untersuchung zur Entstehungsund Überlieferungsgeschichte des Prosalancelot stammt, geht davon aus, dass die drei Teile zu verschiedenen Zeiten entstanden sind. Ihr zufolge stammt nur Teil I aus dem 13. Jahrhundert, Teil II dagegen aus dem 15. und Teil III aus dem 14. Jahrhundert (vgl. Rothstein 2007, 130f.). Da die Teile auf jeden Fall sprachlich nicht einheitlich sind, beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf den ersten, ältesten Teil, den ich mit Kluge (1948) als Lancelot I bezeichne. Der untersuchte Text hat – neben der Tatsache, dass er sehr groß und nicht durch Reim und Metrum gebunden ist – mehrere Vorteile: Mit der
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Edition Kluges existiert eine vertrauenswürdige Edition,3 die abgesehen von der Einführung von Großbuchstaben und einer modernen Interpunktion nicht normalisiert wurde und die sich nur auf einen Textträger, nämlich Cod. pal. germ. 147, bezieht (wenngleich natürlich im Apparat die Lesarten anderer Textzeugen Berücksichtigung finden); diese Handschrift ist als digitales Faksimile online zugänglich,4 sodass Zweifelsfälle bequem und effizient am Manuskript überprüft werden können. Mit der Übersetzung Steinhoffs (1995), die auch den Text nach Kluge (1948) enthält, hat man für die Untersuchung außerdem ein exzellentes Hilfsmittel zur Hand, das praktischerweise auch in einer digitalen Version verfügbar ist, womit gewisse Fragen schnell und effizient geklärt werden können. Nichtsdestoweniger hat der Text jedoch auch Nachteile. Der deutsche Prosalancelot (bzw. der hier untersuchte älteste Teil Lancelot I; vgl. oben) ist nach Ausweis des ältesten Münchner Fragments, das Rothstein auf Grundlage der Datierung von Tilvis (1957, 132), der es in der Mitte des 13. Jahrhunderts ansiedelt, auf 1240-1260 datiert (Rothstein 2007, 38; vgl. z.B. auch Steinhoff 1995a, 764), spätestens um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden. Rothstein (2007, 130) geht davon aus, dass die Übersetzung „wohl in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts“ fertig gestellt wurde. Der älteste, bis auf eine Textlücke vollständige Textträger, die (ältere) Heidelberger Handschrift Cod. pal. germ. 147, die in der vorliegenden Arbeit in Bezug auf den ältesten Teil, d.h. Lancelot I, analysiert wird, ist dagegen wesentlich jünger; Rothstein (2007, 34) datiert diese Handschrift aufgrund des kunstgeschichtlichen Befunds zwischen 1455 und 1511. Wegen des Abstands zwischen Textentstehung und Alter des Überlieferungsträgers kommt der Text beispielsweise für die entstehende neue Mittelhochdeutsche Grammatik nicht in Frage, da dort für die zu untersuchenden Texte der Abstand zwischen Textentstehung und Textzeugen nicht mehr als 50 Jahre betragen darf (vgl. Wegera 2000, 1310). Allerdings weist Knapp (2003, 223) mit Bezug auf den Prosalancelot darauf hin, dass „die späte Überlieferung des Textes, gemessen an den ältesten Fragmenten, erstaunlich treu“ sei, wenn er auch auf Änderungen im Bereich der Negationssyntax hinweist; er vertritt die Ansicht, dass die Einbeziehung des Prosalancelot und der damit verbundene Verstoß gegen die Richtlinien der Mittelhochdeutschen Grammatik „weniger schwer wiegen würde als die Beschreibung der mhd. Syntax unter Verzicht auf den einzigen großen, vom Latein völlig unabhängigen, nicht dem geistlichen oder rechtlichen _____________ 3 4
Nach Steinhoff (1995b, 776) hat sich Kluges Edition „bei Stichproben als sehr zuverlässig erwiesen.“ Auch aufgrund meiner Überprüfungen einzelner Stellen am digitalen Faksimile kann ich dies bestätigen. Vgl. online im Internet: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg147.
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Bereich angehörenden, weltlichen Prosatext aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts“ (Knapp 2003, 223). Neben der späten Überlieferungszeit spricht auch die Tatsache, dass es sich beim Prosalancelot um eine Übersetzung (wenn auch nicht aus dem Lateinischen) handelt, gegen diesen Text. Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass die Quelle der Übersetzung umstritten ist. Der gegenwärtige Forschungsstand zur Quellenfrage kann dahingehend zusammengefasst werden, dass es sich „um die Übersetzung einer altfranzösischen Vorlage handelt, die z.T. über eine niederländische Zwischenstufe vermittelt sein könnte […]“ (Ridder / Huber 2007, 1). Im deutschen Prosalancelot finden sich Stellen, die auf einen Einfluss des Niederländischen hinweisen und die Tilvis (1957) als Erster systematisch zusammengetragen hat. Aufgrund der Niederlandismen kam er zum Schluss, dass der deutsche Prosalancelot „unmöglich eine direkte Übersetzung aus dem Afrz. darstellen kann, sondern auf eine mnl. Vorlage zurückgehen muss“ (Tilvis 1957, 13). Diese Ansicht ist nicht unwidersprochen geblieben. Problematisch ist unter anderem, dass es keine Zeugnisse für die postulierte mittelniederländische Zwischenstufe gibt; beispielsweise geht Steinhoff (1995b, 764) davon aus, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Französischen handelt. Für die These sprach jedoch unter anderem, dass auch keine französische Handschrift bekannt war, die einen Text bietet, der dem deutschen relativ nahe kommt. An dieser Stelle setzt die Untersuchung von Hennings (2001) ein. Aus der reichen Überlieferung des altfranzösischen Textes ist es Hennings gelungen, eine (bisher ungedruckte) Handschrift aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts zu identifizieren, deren Text dem deutschen Prosalancelot „beträchtlich näher [steht] als der aller anderen bislang gedruckten frz. Handschriften“ (Hennings 2001, 424). Was die Abfolge der einzelnen Handlungsabschnitte betrifft, stimmen nach Hennings (ebd.), die Teile von Lancelot I mit der französischen Entsprechung vergleicht und einen Teil dieser Handschrift in einer Synopse mit dem deutschen Text ediert, „beide Texte […] weitgehend überein.“ Allerdings gibt es ungeachtet des hohen Übereinstimmungsgrades „an einigen Stellen beträchtliche inhaltliche Abweichungen“ (ebd.). Nach Hennings (ebd., 430) „liegt in ca. 50 % des gesamten untersuchten mhd. Textabschnitts eine traduction littérale vor.“ Dieser Befund spricht sehr dafür, dass eine Übersetzung aus dem Französischen vorliegt, und nicht aus dem Niederländischen; für die – unzweifelhaft vorhandenen – Niederlandismen bietet Hennings folgende nicht ganz befriedigende Mutmaßung an:
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
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Wir möchten hingegen die mhd. Übersetzung viel eher einem Niederländer zutrauen, der sein Werk etwa in den vierziger Jahren des 13. Jh.s im mittelrheinischen Gebiet für den Hof des Pfalzgrafen bei Rhein schuf […]. (Hennings 2001, 438)
Eine bedenkenswerte alternative Erklärung für die Niederlandismen gibt Rothstein (2007, 144f.): Sie weist zunächst darauf hin, dass die Anzahl der (eindeutigen) Niederlandismen angesichts der Länge des Textes relativ gering ist, wenn auch deren Existenz grundsätzlich nicht geleugnet werden kann. Nach ihrer Beobachtung handelt es sich bei den meisten Niederlandismen „um singuläre Vokabeln“ (ebd., 144), weshalb die Annahme einer französischen Handschrift mit niederländischen Glossen plausibel erscheint. Der Befund zu den Niederlandismen lässt den Schluss zu, „daß am Rand eines frz. Textes ein entsprechender mndl. Vermerk zu finden war, auf den der mhd. Übersetzer zurückgegriffen hat.“ (ebd., 145). Wie auch immer sich das Verhältnis von Französisch und Niederländisch für die deutsche Fassung letztlich erklären lässt, scheint sich doch abzuzeichnen, dass das Französische für die Übersetzung eine wesentlich größere Rolle spielt, als etwa Tilvis (1957) angenommen hatte. Als Grundlage syntaktischer Untersuchungen sind Übersetzungstexte problematisch, weil syntaktische Strukturen der Ausgangssprache in die Zielsprache übernommen werden können – dieses Problem ist vielleicht am besten vom althochdeutschen Tatian bekannt (vgl. Fleischer 2006, 31ff.; Fleischer u.a. 2008, 213f.). Aus diesem Grund ist es geboten, kurz auf die Frage einzugehen, ob sich beim untersuchten Phänomen in Lancelot I allenfalls Strukturen der Ausgangssprache finden. Wie oben diskutiert worden ist, spricht aufgrund der zumindest teilweisen hohen Ähnlichkeit mit der von Hennings (2001) identifizierten altfranzösischen Handschrift trotz der Niederlandismen einiges dafür, den deutschen Prosalancelot als eine Übersetzung aus dem Französischen zu betrachten. Aus diesem Grund stelle ich im Folgenden einen Vergleich mit dem altfranzösischen Text an, den Hennings (2001) ediert. Wie oben diskutiert worden ist, handelt es sich nach Hennigs (2001, 436) beim deutschen Prosalancelot zwar um eine „traduction littérale“; doch die Abhängigkeit vom Französischen erstreckt sich nach Knapp (2003, 223) „doch nur ganz vereinzelt bis in die syntaktische Gestalt.“ Beispielsweise zeigt der folgende deutsche Beleg (3b) zwei Personalpronomen, doch findet sich im französischen Text, wie (3a) zeigt, keine Struktur, in der dies ebenfalls der Fall wäre; der deutsche Text steht also ohne direkte Vorlage da:
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(3a) sene fust vne seule chose (zit. n. Hennings 2001, 42) das=nicht sei eine einzige Sache (3b) beneme es uch ein sach nit (ed. Kluge 1948, 492) nähme es Euch eine Sache nicht (vgl. Steinhoff 1995b, 35) Im folgenden Beleg finden sich neben dem deutschen zwar auch im französischen Text zwei Personalpronomen, doch weisen diese im Vergleich zum deutschen Text gerade die umgekehrte Abfolge auf – es liegt hier also einer jener Differenzbelege vor, wie sie etwa bei der Erforschung des althochdeutschen Tatian besonders ausgenutzt werden können (vgl. Fleischer 2006, 31ff.; Fleischer u.a. 2008, 213f.): (4a) et il les men uoiera moult volentiers (zit n. Hennings 2001, 37) und er sie mir=zuschicken wird sehr gern (4b) Er solt mirs gern senden (ed. Kluge 1948, 489) er wird mir sie gerne schicken (vgl. Steinhoff 1995b, 27) Die beiden diskutierten Beispiele legen nahe, dass der Prosalancelot, obwohl es sich um eine Übersetzung handelt, in Bezug auf das ausgewertete Phänomen authentisch ist. Trotz gewisser Nachteile überwiegen die Vorteile von Prosalancelot I bei weitem. Insbesondere spricht die Tatsache, dass es sich um eine Übersetzung handelt, in Bezug auf das untersuchte Phänomen nach Ausweis der diskutierten Belege nicht gegen die Auswertung des Textes. Die Belege aus Prosalancelot I werden im Folgenden nach der Edition Kluges (1948) zitiert; sie werden mit einer Übersetzung versehen, die möglichst wörtlich ist und keinerlei stilistische Ansprüche erhebt. Bei meinen Übersetzungen verweise ich jeweils auf Steinhoff (1995), dessen sich teilweise vom mittelhochdeutschen Wortlaut entfernende Übersetzung ich konsultiert habe, der ich aber – zugunsten einer größtmöglichen Wörtlichkeit – nur selten genau gefolgt bin. In einigen Fällen, in denen meine wörtliche Übersetzung kaum mehr den Sinn verständlich machen kann, zitiere ich Steinhoffs Übersetzung zusätzlich zu meiner eigenen.5 Die Belege für die vorliegende Arbeit wurden, obwohl auch eine elektronische Edition existiert, traditionell „von Hand“, d.h. durch Lektüre und anschließende Exzerption der Belege, gewonnen – dies deshalb, weil ich befürchtete, bei einer elektronischen Suche aufgrund der orthographischen Varianz nicht alle einschlägigen Belege zu finden. Im Nachhinein stellt sich die orthographische Varianz der untersuchten Pronomi_____________ 5
Von Steinhoff (1995) übernehme ich in den Übersetzungen auch die Gepflogenheit, die 2. Person Plural der höflichen Anrede – die im Roman sehr häufig ist – groß zu schreiben.
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nalformen als relativ gering heraus (vgl. das Paradigma in Tabelle 2), so dass wahrscheinlich auch eine Suche in der elektronischen Edition die meisten oder sogar alle einschlägigen Belege gefunden hätte. Eine vollständige Erfassung aller Belege kann umgekehrt auch bei der hier durchgeführten Exzerption trotz sorgfältiger Lektüre nicht garantiert werden, unterliegt sie „von Hand“ doch dem menschlichen Irrtum.
5. Zu den untersuchten Pronominalformen Bevor auf die Abfolge der akkusativischen und dativischen Personalpronomen in Lancelot I, wie er in Cod. pal. germ. 147 überliefert ist, näher eingegangen wird, ist es notwendig, sich einen Überblick über die Akkusativ- und Dativformen des Personalpronomens zu verschaffen, wie sie in diesem Denkmal auftreten. Einige Probleme bei der Zuordnung einzelner Belege, wie sie weiter unten besprochen werden, erklären sich unter anderem durch gewisse Synkretismen. Die folgende Tabelle zeigt die Akkusativ- und Dativformen des Personalpronomens, wie sie in Lancelot I in Cod. pal. germ. 147 belegt sind; seltene Formen stehen in eckigen Klammern, durch ‚=‘ werden Formen bezeichnet, die graphisch an das vorangehende Wort angelehnt sind:6
Sg.
Pl.
1. 2. 3. m. 3. f. 3. n. 1. 2. 3.
Akk.
Dat.
Mich Dich yn, =n sie, =s es, =s [=ß] Uns Uch sie, =s
mir dir im [ym] ir im uns uch [úch, ǔch] yn
Tabelle 2: Akkusativ- und Dativformen des Personalpronomens in Prosalancelot I
_____________ 6
Dieses Paradigma wurde zunächst anhand der exzerpierten Belege erstellt und danach durch gezielte Suche anhand der elektronischen Edition ergänzt; das Paradigma sollte vollständig sein, allerdings könnten darin seltenere Formen, die nicht in den hier untersuchten Kombinationen von akkusativischen und dativischen Pronomen belegt sind, fehlen.
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Jürg Fleischer
Im Vergleich zum Neuhochdeutschen verfügt dieses System über mehr klitische Formen,7 die allerdings auf die Akkusative der 3. Person beschränkt sind. Die klitischen Formen werden durch die folgenden Belege illustriert, wobei für jede Form Beispiele für das Auftreten in Kombination mit einem dativischen Pronomen angeführt werden, und zwar jeweils in beiden möglichen Abfolgen: (5a) Da fraget sie myn herren Ywan umb synen namen, und er sagten ir (ed. Kluge 1948, 564) da fragte sie Herrn Iwein nach seinem Namen und er sagte ihn ihr (vgl. Steinhoff 1995b, 223) (5b) Nu bringent mirn herre (ed. Kluge 1948, 238) nun bringt mir ihn her (vgl. Steinhoff 1995a, 647) (6a) ob alle die welt uwer were und irs im gebent (ed. Kluge 1948, 296) wenn die ganze Welt Euer wäre und Ihr sie ihm gäbet (vgl. Steinhoff 1995a, 801) (6b) Sie ist myn […] der herczog von Kambenig gab mirs (ed. Kluge 1948, 357) sie ist mein […] der Herzog von Cambenic gab mir sie (vgl. Steinhoff 1995a, 963)
_____________ 7
In einer bestimmten Konstellation ist es unmöglich festzustellen, ob eine bestimmte Form als klitisch oder als voll gewertet werden soll, nämlich dann, wenn ein Wort, das auf -e auslautet (oder auslauten könnte), auf den Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum trifft und mit diesem zusammengeschrieben wird, wie dies im folgenden Beleg der Fall ist: (I) got lones im (ed. Kluge 1948, 291) Gott lohne es ihm (vgl. Steinhoff 1995a, 787) Hier könnte sowohl von einem klitischen Pronomen ausgegangen werden (lone + s) als auch von einer apokopierten Form des Verbs, in diesem Fall wäre die Pronominalform voll (lon + es). Da die entsprechende Verbform, wie die folgenden Stellen zeigen, ansonsten mit und ohne Apokope belegt ist, kann dieses Problem für (I) nicht entschieden werden: (II) Got lone uch (ed, Kluge 1948, 349) Gott lohne Euch (vgl. Steinhoff 1995a, 941) (III) Got lon uch (ed. Kluge 1948, 438) Gott lohne euch (vgl. Steinhoff 1995a, 1175) Insgesamt traten sieben Zweifelsfälle wie (I) auf; da das Pronomen jeweils mit dem vorangehenden Wort zusammengeschrieben wird, wird es als klitisch gewertet.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
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(7a) Lancelot stund nyder von sym pferd und gabs im (ed. Kluge 1948, 37) Lancelot saß ab von seinem Pferd und gab es ihm (vgl. Steinhoff 1995a, 113) (7b) Ich sagen uch warumb ich ims nit gestattet (ed. Kluge 1948, 503) ich sage Euch, warum ich ihm es nicht gestattet (vgl. Steinhoff 1995b, 65) (8a) Sie entfliehent uns dann uß dem lande, wir gebens uch (ed. Kluge 1948, 98) Sie entfliehen uns denn aus dem Land, wir geben sie Euch = „Wenn sie uns nicht aus dem Lande entfliehen, liefern wir sie Euch aus“ (Steinhoff 1995a, 273) (8b) die kint enwerdent uch nymer wiedder, ir engewinnent mirs mit gewalt an (ed. Kluge 1948, 65) die Kinder werden Euch niemehr wieder, Ihr gewinnt mir sie mit Gewalt ab = „die Kinder bekommt Ihr nur zurück, wenn Ihr sie mir mit Gewalt nehmt“ (Steinhoff 1995a, 187) In Zusammenhang mit den untersuchten Pronomen bzw. Abfolgen treten einige orthographische Besonderheiten auf. Der Akkusativ Singular Maskulinum tritt, was die volle Form betrifft, praktisch ausschließlich als auf, und das gilt auch für den Dativ Plural; ist der Präposition in vorbehalten.8 Ebenso treten die vollen Formen des Akkusativs der 3. Person Singular Femininum und der 3. Person Plural scheinbar nur als <sie>, nicht jedoch als <sy> oder <si> auf; diese Schreibungen sind für die 1. / 3. Person Singular des Konjunktivs Präsens von sein reserviert.9 In einigen wenigen Fällen wird ein Personalpronomen mit selb zusammengeschrieben, etwa im folgenden Beleg: _____________ 8
Die folgende Stelle zeigt die beiden Schreibungen in der skizzierten Distribution nebeneinander, es scheint, dass die graphische Unterscheidung zwischen Pronomen und Präposition ziemlich konsequent durchgehalten wird: (IV) und nam yn in beide sin arm (ed. Kluge 1948, 484) und nahm ihn in seine beiden Arme (vgl. Steinhoff 1995b, 13).
9
Der folgende Beleg zeigt das Pronomen <sie> neben der Verbform <sy>; auch diese graphische Unterscheidung scheint ziemlich konsequent durchgehalten zu werden: (V) sie wenet das ir keyne jungfrauwen mögent geminnen, sie sy dann die schönst von aller der werlt und die edelst (ed. Kluge 1948, 410) sie glaubt, dass Ihr keine Jungfrau lieben möchtet, sie sei denn die Schönste der ganzen Welt und die Edelste = „Sie hat ein Bild von Euch, das nicht zutrifft: sie glaubt, daß Ihr Eure Liebe nur der Schönsten und Edelsten der Welt schenken werdet“ (Steinhoff 1995a, 1103).
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(9)
so wil ich sie imselb nemen (ed. Kluge 1948, 601) dann will ich sie ihm selbst nehmen (vgl. Steinhoff 1995 b, 321)
Eine Überprüfung dieses Belegs am digitalen Faksimile zeigt, dass im und selb hier tatsächlich eine graphische Einheit bilden.10 Da sich das selb hier und in anderen Fällen jedoch nicht auf das Dativpronomen, sondern auf das Subjekt bezieht, gehe ich nicht davon aus, dass imselb als eigenständige Wortbildung anzusehen ist; derartige Fälle werden als normale Belege gewertet und mitgezählt. Aus dem in Tabelle 2 angeführten Paradigma geht hervor, dass im Pronominalsystem des Prosalancelot I einige Synkretismen auftreten: Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die volle Form des Akkusativs der 3. Person Singular Maskulinum mit dem Dativ der 3. Person Plural homonym ist; da sich diese beiden Formen sowohl im Kasus als auch im Numerus unterscheiden, treten nur selten Stellen auf, deren Interpretation zweideutig ist. Dann besteht – wie auch im Neuhochdeutschen – ein Synkretismus der Akkusativformen der 3. Person Singular Femininum und der 3. Person Plural, und zwar sowohl, was die volle, als auch, was die enklitische Form betrifft. Diese enklitische Form, nicht aber die volle, ist außerdem homonym mit dem enklitischen Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum. In der Enklise wird also eine sonst bestehende Opposition des Pronominalsystems aufgehoben. Schließlich tritt (wie im Neuhochdeutschen) ein Synkretismus zwischen den Akkusativ- und den Dativformen der 1. bzw. 2. Person Plural auf.
6. Probleme bei der Interpretation der Belege Bei der Interpretation der Belege treten mehrere Probleme auf, die hier kurz diskutiert werden. Sie stehen teilweise in Zusammenhang mit den eben behandelten Synkretismen. Da der Zusammenfall des germanischen s mit dem Lautverschiebungs-s, die bis ins 13. Jahrhundert verschieden realisiert wurden (vgl. Paul u.a. 2007, 170), in Prosalancelot I generell durchgeführt ist (es finden sich etwa auch bei das keine -Schreibungen mehr), kann in Prosalancelot I, anders als im klassischen Mittelhochdeutschen, beim Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum nicht mehr zwischen einer Nominativ- / Akkusativform (normalmhd. ëʒ) und einer Genitivform (normalmhd. ës) unter_____________ 10
Der Beleg findet sich in Cod. pal. germ. 147 auf f. 131v, Z. 8; vgl. online im Internet: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg147.
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
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schieden werden (vgl. ebd., 214). So ist beispielsweise fraglich, für welchen Kasus es im folgenden Beleg gewertet werden soll: (10) er dörfft es yn nit dancken das er den lip behalten het (ed. Kluge 1948, 371) er dürfe es ihnen nicht danken, dass er das Leben behalten habe (vgl. Steinhoff 1995a, 1001) In diesem Beleg tritt es bei einem Verb auf, das im Mittelhochdeutschen nach Lexer (1869-1878, I, 409) mit Dativ der Person und Genitiv der Sache konstruiert wird; ein Akkusativ wird nicht erwähnt, dies spricht für die Interpretation als Genitiv. Umgekehrt wird nach Paul u.a. (2007, 214) es im Neuhochdeutschen in Wendungen wie ich bin es zufrieden, leid, satt, überdrüssig, etc. „als Akk. empfunden“, was dennoch dafür sprechen würde, das es im angeführten Beispiel als Beleg für den Akkusativ zu werten. Allerdings können viele dieser Verben im Neuhochdeutschen – vom fraglichen es abgesehen – keinen Akkusativ zu sich nehmen (vgl. *ich bin dich zufrieden, *ich bin meinen Mitarbeiter zufrieden, *er dankt ihn ihnen) was dagegen spricht, in es einen Akkusativ zu sehen (für die Sprache des Prosalancelot I kann natürlich keine muttersprachliche Kompetenz befragt werden). Derartige Fälle sind als Belege gewertet und in die Auswertungen mit einbezogen worden, und zwar zunächst deshalb, weil es selten so hinreichend klar wie beim angeführten Beispiel ist, dass das Verb einen Genitiv, nicht aber einen Akkusativ zu sich nehmen kann – im Gegenteil ist es ja beispielsweise im Althochdeutschen bekanntermaßen so, dass bei manchen Verben Alternationen zwischen Akkusativ- und Genitivobjekten gang und gäbe sind (vgl. z.B. Donhauser 1998, 73ff.), und auch im Mittelhochdeutschen stehen bei vielen Verben Akkusativ und Genitiv zueinander in Konkurrenz (vgl. Paul u.a. 2007, 336 u. 340f.). Deshalb ist eine Grenze zwischen eindeutig akkusativischen und eindeutig ‚genitivischen‘ Fällen kaum zu ziehen. Ein anderes Problem besteht darin, dass in einigen Fällen nur schwer zu entscheiden ist, für welche Form ein klitisches =s steht, etwa im folgenden Beleg: (11) Hett er auch dumber minne an mich gegeret, so moch ichs im nit versagt han (ed. Kluge 1948, 588) Hätte er auch törichte Liebe an mich begehrt, so mochte ich sie / es ihm nicht versagt haben = „Hätte er mich um törichte Liebe gebeten, ich hätte sie ihm nicht versagen können“ (Steinhoff 1995b, 287) Hier hängt klitisches s vom Verb versagen ab; denkbar ist sowohl, dass es sich hier auf das vorerwähnte Femininum dumbe minne bezieht (ich hätte sie
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[= dumbe minne] ihm nicht verweigert), aber auch, dass es für es steht, womit dann Bezug auf den gesamten Sachverhalt vorliegt (ich hätte es ihm nicht verweigert). Dieses Problem kann teilweise auch bei genauer Berücksichtigung des Kontexts kaum befriedigend gelöst werden. In manchen Fällen waren hier Entscheidungen zu treffen, bei denen sicherlich Diskussionsbedarf bestünde. Wie im Neuhochdeutschen ist der Nominativ der 2. Person Plural in Prosalancelot I homonym mit dem Dativ der 3. Person Singular Femininum, was für die Interpretation mancher Belege ein Problem darstellt. Im folgenden Beispiel treten diese beiden Pronomen (zusammen mit einem Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum) auf: (12) Und wollent irs ir gleuben nit (ed. Kluge 1948, 494) Und wollt ihr es ihr nicht glauben (vgl. Steinhoff 1995b, 40) Dass hier ein Beleg für die untersuchten Abfolgen von akkusativischen und dativischen Personalpronomen vorliegt, kann zwar nicht bezweifelt werden, allerdings kann zunächst nicht entschieden werden, für welche Abfolge er steht: Aufgrund des Neuhochdeutschen liegt es nahe, dass man das erste ir als Nominativ, das zweite dagegen als Dativ interpretiert ('und wollt ihr2.PL.NOM es ihr3.SG.F.DAT nicht glauben'), doch könnte letztlich auch die umgekehrte Auffassung möglich sein ('und wollt ihr3.SG.F.DAT es ihr2.PL.NOM nicht glauben'). Da in den ausgewerteten Stellen allerdings nie ein Beleg für ein nominativisches Pronomen auftritt, das nach zwei obliquen Pronomen steht (allerdings gibt es Fälle, in denen das Subjektspronomen nach einem akkusativischen oder dativischen Pronomen auftritt), zähle ich diesen Beleg (und mit ihm zwei weitere) für die Abfolge Akkusativ vor Dativ. Bei der Interpretation mancher Belege, in denen unzweifelhaft ein akkusativisches und ein dativisches Personalpronomen zusammentreffen, tritt ein syntaktisches Problem auf, indem unklar ist, ob das Akkusativpronomen und das Dativpronomen vom gleichen Verb abhängen. Dies illustrieren die folgenden Beispiele; entsprechende Fälle wurden grundsätzlich als Belege gewertet: (13) er hieß mich uch alsus sagen (ed. Kluge 1948, 342) er hieß mich Euch so sagen = „Er läßt Euch ausrichten“ (Steinhoff 1995a, 923) (14) laßent mich im den hals ab slagen (ed. Kluge 1948, 558) lasst mich ihm den Kopf abschlagen (vgl. Steinhoff 1995b, 209)
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7. Resultate: die Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen in Lancelot I In Lancelot I, wie dieser Textteil von Cod. pal. germ. 147 geboten wird, finden sich nach meiner Zählung insgesamt 482 Belege für die untersuchten Kombinationen von akkusativischen und dativischen Personalpronomen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Anzahl der belegten Kombinationen: Dat. Akk. 1. 2. Sg. 3. m. 3. f. 3. n. 1. Pl. 2. 3.
1. – – 17 6 113 – 2 3
Sg. 3. m. 3. f. 3. n. 2 – – – – – 20 5 – 1 4 2 – 13 108 26 – – – – – – – – – – 7 3 –
2. – – –
1. – – – – 4 – – –
Pl. 2. 2 – 12 4 102 – – 6
3. – – 1 1 17 – – 1
Tabelle 3: Belegte Kombinationen in Prosalancelot I
Wie aus dieser Tabelle hervorgeht, sind die Belege über die verschiedenen Pronomen und Kombinationen ungleich verteilt: Manche Personalpronomen sind gar nie in einer der untersuchten Kombinationen belegt (etwa der Akkusativ der 1. Person Plural oder der Dativ der 3. Person Singular Neutrum), andere dagegen sehr häufig (etwa der Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum oder die Dative der 1. Person Singular, der 3. Person Singular Maskulinum und der 2. Person Plural). Entsprechendes gilt auch für die Kombinationen: Während über die Hälfte der theoretisch denkbaren Kombinationen gar nie belegt sind, sind manche sehr häufig. In drei Fällen, nämlich bei der Kombination des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der ersten Person Singular (es mir / mir es), des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 3. Person Singular Maskulinum (es ihm / ihm es) und des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 2. Person Plural (es euch / euch es) finden sich jeweils über hundert Beispiele, auf diese drei Kombinationen entfallen ziemlich genau zwei Drittel aller Belege. Dagegen finden sich für die nächsthäufigere Kombination, diejenige des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ 3. Person Singular Femininum (es ihr / ihr es), nur noch 26 Belege. Es versteht sich von selbst, dass Aussagen zur
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Abfolge der akkusativischen und dativischen Personalpronomen nur über die überhaupt belegten Kombinationen gemacht werden können. Von den Belegen entfallen 310 (64 %) auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ, 172 (36 %) auf die Abfolge Dativ vor Akkusativ. Die folgenden Tabellen geben einen Überblick über die Anzahl der belegten Kombinationen für die beiden Abfolgen: Dat. Akk. 1. 2. Sg. 3. m. 3. f. 3. n. Pl. 1. 2. 3.
1. – – – 2 4 – 2 –
2. – – – – – – – –
Sg. 3. m. 3. f. 3. n. 2 – – – – – 20 4 – 4 2 – 99 23 – – – – – – – 6 1 –
1. – – – – 4 – – –
Pl. 2. 2 – 12 4 94 – – 5
3. – – 1 1 17 – – 1
Tabelle 4: Belegte Kombinationen für die Abfolge Akkusativ vor Dativ
Dat. Akk. 1. 2. Sg. 3. m. 3. f. 3. n. Pl. 1. 2. 3.
1. – – 17 4 109 – – 3
Sg. 3. m. 3. f. 3. n. – – – – – – – 1 – 1 – – – 13 9 3 – – – – – – – – – – 1 2 –
2. – – –
1. – – – – – – – –
Pl. 2. – – – – 8 – – 1
3. – – – – – – – –
Tabelle 5: Belegte Kombinationen für die Abfolge Dativ vor Akkusativ
Aus einem Vergleich der beiden Tabellen geht hervor, dass gewisse Kombinationen eine klare Affinität zur einen oder anderen Abfolge haben: So ist bei der Kombination des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 1. Person Singular die Abfolge Akkusativ vor Dativ wesentlich seltener als die Abfolge Dativ vor Akkusativ (das Verhältnis beträgt 4 zu 109, d.h. nur 4 % aller Belege für diese Kombination entfallen auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ, 96 % dagegen auf die Abfolge Dativ vor Akkusativ). Dagegen ist das Verhältnis bei der Kombination des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 3. Person
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Singular Maskulinum gerade umgekehrt (es beträgt 99 zu 9, d.h. 92 % aller Belege entfallen auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ), und das gleiche gilt auch für die Kombination des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 2. Person Plural (hier beträgt das Verhältnis 94 zu 8, d.h. 92 % aller Belege entfallen auf die Abfolge Akkusativ vor Dativ). Prototypisch wird diese Distribution durch die folgende Stelle illustriert, in der hintereinander ein Beleg für die Kombination des Akkusativs der 3. Person Singular Neutrum mit dem Dativ der 1. Person Singular und ein Beleg für die Kombination desselben Akkusativs mit dem Dativ der 3. Person Singular Maskulinum auftreten – im ersten Fall in der Abfolge Dativ vor Akkusativ, im zweiten Fall dagegen in der Abfolge Akkusativ vor Dativ: (15) da stieß ich mynen fuß in mynen stegreif und wolts im nit geben, er gewúnne mirs dann an mit jostieren (ed. Kluge 1948, 292) da setzte ich meinen Fuß in meinen Steigbügel und wollte es ihm nicht geben, er gewönne mir es denn ab mit tjostieren (vgl. Steinhoff 1995a, 789) Die folgenden Tabellen zeigen für die einzelnen Akkusativ- und Dativpronomen, wie häufig jeweils die Abfolge Akkusativ vor Dativ bzw. Dativ vor Akkusativ ist. Aus der ersten Spalte, die das Total der Belege angibt, kann ersehen werden, welche Pronomen so häufig in einer Kombination mit einem Dativpronomen belegt sind, dass es wahrscheinlich ist, dass die Prozentwerte tatsächlich eine gewisse Tendenz aufzeigen:
1. Sg. 2. Sg. 3. Sg. m. 3. Sg. f. 3. Sg. n. 1. Pl. 2. Pl. 3. Pl.
Total Belege
Akk. > Dat.
Dat. > Akk.
% Dat. > Akk.
4 – 55 18 383 – 2 20
4 – 37 13 241 – 2 13
– – 18 5 142 – – 7
0% – 33 % 28 % 37 % – 0% 35 %
Tabelle 6: Auftreten und Häufigkeit der Akkusativpronomen in den beiden Abfolgen
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1. Sg. 2. Sg. 3. Sg. m. 3. Sg. f. 3. Sg. n. 1. Pl. 2. Pl. 3. Pl.
Total Belege
Akk. > Dat.
Dat. > Akk.
% Dat. > Akk.
141 14 139 36 – 4 126
8 – 129 30 – 4 117
133 14 10 6 – – 9
94 % 100 % 7% 17 % – 0% 7%
20
20
0
0%
Tabelle 7: Auftreten und Häufigkeit der Dativpronomen in den beiden Abfolgen
Aus dem Vergleich der beiden Tabellen geht hervor, dass die Akkusativformen, wo einigermaßen zahlreiche Belege vorhanden sind, alle jeweils zu etwa 30 % bis 40 % in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftreten; zwischen den einzelnen Akkusativpronomen gibt es keine großen Unterschiede. Bei den dativischen Pronomen treten dagegen deutlich unterschiedliche Werte auf: die Dativpronomen der 1. und 2. Person Singular finden sich sehr oft, nämlich mit über 90 %, in der Abfolge Dativ vor Akkusativ; dagegen liegt dieser Wert beim Dativpronomen der 3. Person Singular Maskulinum bei 7 %, und dasselbe gilt auch für das Dativpronomen der 2. Person Plural; bei den anderen Pluralformen liegt dieser Wert gar bei 0 % (wobei bei der 1. Person Plural nur relativ wenige Belege vorhanden sind). Einzig beim Dativ der 3. Person Singular Femininum liegt der Wert für die Abfolge Dativ vor Akkusativ etwas höher, wenn diese Abfolge auch mit 17 % noch immer deutlich in der Minderheit ist. Das Auftreten der verschiedenen Abfolgen kann also am besten in Abhängigkeit der involvierten Dativpronomen beschrieben werden, kaum jedoch in Abhängigkeit der Akkusativpronomen: Bei den Dativen der 1. und 2. Person Singular tritt die Abfolge Dativ vor Akkusativ sehr häufig auf, seltener ist diese beim Dativ der 3. Person Singular Femininum; bei den übrigen Dativen ist sie dagegen sehr selten. Prototypisch sind deshalb die folgenden Belege, die die dativischen Pronomen jeweils in der für sie häufigeren Abfolge zeigen: (16) Nu gent mir sie zuhant (ed. Kluge 1948, 144) nun gebt mir sie sogleich (vgl. Steinhoff 1995a, 397) (17) Nu wil ich dirs sagen (ed. Kluge 1948, 395) nun will ich dir es sagen (vgl. Steinhoff 1995a, 1065) (18) und man bracht yn im (ed. Kluge 1948, 413) und man brachte ihn ihm (vgl. Steinhoff 1995a, 1109)
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Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
(19) Man bracht yn ir (ed. Kluge 1948, 469) man brachte ihn ihr (vgl. Steinhoff 1995a, 1257) (20) sagents uns (ed. Kluge 1948, 231) sagt es uns! (Steinhoff 1995a, 629) (21) ich wil yn uch sagen (ed. Kluge 1948, 218) ich wil ihn Euch sagen (vgl. Steinhoff 1995a, 593) (22) Sie enwolts yn nicht sagen (ed. Kluge 1948, 60) sie wollte es ihnen nicht sagen (vgl. Steinhoff 1995a, 173) Aus den angeführten Belegen geht hervor, dass sowohl volle als auch klitische Akkusativpronomen der 3. Person in beiden Abfolgen auftreten. Dazu soll nun untersucht werden, inwieweit in Bezug auf das Auftreten der Pronomen in den untersuchten Kombinationen Unterschiede zwischen klitischen und vollen Formen bestehen. Wie die in Abschnitt 5 angeführten Belege (5) bis (8) zeigen, kommen die klitischen Formen grundsätzlich in beiden Abfolgen vor; im Folgenden soll jedoch überprüft werden, ob sich für das Auftreten in der einen oder anderen Abfolge Unterschiede zwischen den vollen und den klitischen Formen ergeben. Die folgende Tabelle zeigt zunächst, wie häufig die klitischen und die vollen Formen in den ausgewerteten Belegen jeweils sind:
3. Sg. m. 3. Sg. f. 3. Sg. n. 3. Pl.
Total Bel.
voll
klit.
% klit.
55 18 383 20
31 13 100 10
24 5 283 10
44 % 28 % 74 % 50 %
Tabelle 8: Anzahl voller und klitischer Akkusativformen in den untersuchten Kombinationen
Aus dieser Tabelle geht zunächst hervor, dass mit Abstand am meisten Belege für die 3. Person Singular Neutrum vorhanden sind, gefolgt von der 3. Person Singular Maskulinum. Entsprechend können sich die Aussagen zu diesen beiden Pronomen auf die meisten Daten stützen. Es zeigt sich, dass der Anteil klitischer Formen bei der 3. Person Singular Neutrum am größten ist: Hier sind fast drei Viertel aller Formen klitisch, wogegen dies bei den anderen Formen nur bei der Hälfte oder noch weniger aller Belege der Fall ist. In der folgenden Tabelle wird aufgeschlüsselt, wie häufig die vollen und die klitischen Formen in den beiden Abfolgen belegt sind:
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Jürg Fleischer
3. Sg. m. 3. Sg. f. 3. Sg. n. 3. Pl.
in =n sie =s es =s sie =s
Akk. > Dat.
Dat. > Akk.
% Dat. > Akk.
29 8 9 4 99 142 8 5
2 16 4 1 1 141 2 5
6% 67 % 31 % 20 % 1% 50 % 20 % 50 %
Tabelle 9: Häufigkeit des Auftretens der vollen und klitischen Formen in den Abfolgen
Aus dieser Tabelle kann ziemlich eindeutig herausgelesen werden, dass die volle Form der 3. Person Singular Maskulinum nur sehr selten in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftritt (nämlich nur in 6 % aller Fälle), und dasselbe gilt (mit noch eindeutigeren Zahlen, die sich zudem auf mehr Belege stützen) bei der 3. Person Singular Neutrum (hier tritt die volle Form in der Abfolge Dativ vor Akkusativ nur in einem einzigen Beleg auf, was 1 % entspricht). Bei den Formen der 3. Person Singular Femininum und der 3. Person Plural besteht dieselbe Tendenz, allerdings sind die Zahlen hier weniger eindeutig. Vom Belegpaar (23) zeigt also der erste Beleg das typische, der zweite das atypische Auftreten der vollen Formen des Akkusativs der 3. Person Singular Maskulinum; das gilt auch für die in (24) zitierte Stelle, in der hintereinander beide Abfolgen derselben Kombination auftreten, zuerst in der typischen, danach in der atypischen: (23a) das ich yn ir benomen hab (ed. Kluge 1948, 338) dass ich ihn ihr genommen habe (vgl. Steinhoff 1995a, 911) (23b)Ir mögent mir yn wol nemen (ed. Kluge 1948, 635) Ihr könnt mir ihn wohl nehmen (vgl. Steinhoff 1995b, 409) (24) ‚Ich wil es uch geben‘, sprach myn herre Gawan, ‚mag ich uch es mit eren geben […]‘ (ed. Kluge 1948, 204) ‚Ich will es Euch geben‘, sprach Herr Gawan, ‚kann ich Euch es mit Ehren geben […]‘ (vgl. Steinhoff 1995a, 555) Im Gegensatz zu den vollen Formen der 3. Person zeigen die klitischen Formen keine besondere Tendenz dazu, vor oder nach dem dativischen Pronomen aufzutreten. Besonders bemerkenswert ist dies bei der Form der 3. Person Singular Neutrum = s, welche in beiden Abfolgen ziemlich genau gleich häufig auftritt, und dies ist auch bei der 3. Person Plural der Fall; einzig die enklitische Form der 3. Person Singular Maskulinum tritt
Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
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etwas häufiger nach als vor dem Dativpronomen auf, wogegen die 3. Person Singular Femininum, zu der allerdings nur wenig Belege vorhanden sind, häufiger in der umgekehrten Abfolge belegt ist.
8. Zusammenfassung und Ausblick Aus der Untersuchung der Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen in Lancelot I hat sich ein relativ konsistentes System ergeben: Die Dative der 1. und 2. Person Singular treten sehr häufig in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auf, die übrigen Dative dagegen in der umgekehrten Abfolge. Einzig der Dativ der 3. Person Singular Femininum kommt ebenfalls etwas häufiger in der Abfolge Dativ vor Akkusativ vor, aber auch diese Form findet sich in dieser Abfolge wesentlich seltener als in der Abfolge Akkusativ vor Dativ. Die klitischen Akkusative treten in beiden Abfolgen gleichermaßen auf; hingegen weisen die vollen Formen des Akkusativs, am deutlichsten zu sehen bei der 3. Person Singular Maskulinum und der 3. Person Singular Neutrum, eine klare Tendenz dazu auf, vor dem dativischen Pronomen zu stehen. Für die Prosalancelot-Philologie könnte in Zukunft eine Untersuchung von Lancelot II und Lancelot III interessant werden: Lassen sich in Bezug auf das untersuchte Phänomen Unterschiede zwischen den Textteilen feststellen, können daraus vielleicht weitere Schlüsse zur Entstehungsgeschichte gezogen werden. Der Befund, dass die Abfolge Dativ vor Akkusativ vor allem bei den Dativen der 1. und 2. Person Singular, gefolgt vom Dativ der 3. Person Singular Femininum (der sich allerdings schon wesentlich seltener in dieser Abfolge findet), auftritt, entspricht ziemlich genau jener Distribution, wie sie auch in einem Korpus aus Prosawerken Goethes beobachtet werden kann (vgl. Fleischer i. Dr.). Dagegen ergibt sich, wenn man die Befunde zu Lancelot I mit den Befunden zu Otfrid vergleicht, zumindest ein klarer Unterschied (leider bietet Otfrid in Bezug auf viele Kombinationen zu wenig Daten): Bei Otfrid findet sich der Akkusativ der 3. Person Singular Neutrum sehr häufig auch nach anderen Dativformen als denjenigen der 1. und 2. Person Singular (vgl. Fleischer 2005, 25, Tabelle 2). Wodurch diese Unterschiede bedingt sind (beispielsweise stellt sich die Frage, ob sie diachron oder dialektal eingeordnet werden können), muss vorderhand offen bleiben, bis durch weitere Einzelanalysen ein klareres Bild der Abfolge von akkusativischen und dativischen Personalpronomen im deutschen Diasystem gewonnen werden kann. Die Distribution, wie sie sich in Lancelot I bietet, kann vielleicht durch das Wirken der Belebtheitshierarchie erklärt werden (vgl. Fleischer i. Dr.): Pronomen der 1. und 2. Person stehen vor Formen der 3. Person. Die
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Jürg Fleischer
eher gegen diese Erklärung sprechende Tatsache, dass sich die 1. und 2. Person Plural anders verhalten als die 1. und 2. Person Singular, könnte durch eine weitere Regularität, gemäß welcher Singular- vor Pluralformen stehen, allenfalls erklärt werden; doch passt der Befund, dass neben der 1. und 2. Person Singular auch der Dativ der 3. Person Singular Femininum doch häufiger in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftritt als etwa der Dativ der 3. Person Singular Maskulinum, nicht gut in diese Erklärung. Dieser Befund spricht eher dafür, dass phonologische Faktoren zumindest eine gewisse Rolle spielen: Die drei Pronomen, die insgesamt am häufigsten in der Abfolge Dativ vor Akkusativ auftreten, weisen alle den gleichen Vokal und den gleichen Auslaut auf. Diese Fragen der Analyse müssen allerdings noch wesentlich genauer erforscht werden, als es hier getan werden konnte.
Quellen Lancelot I. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. germ. 147, Reinhold Kluge (Hrsg.) (1948), (Deutsche Texte des Mittelalters 42), Berlin. Lancelot und Ginover I. Prosalancelot I. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, Reinhold Kluge (Hrsg.) (1995a), ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 80178020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert u hrsg. v. HansHugo Steinhoff, (Bibliothek des Mittelalters 14), Frankfurt a. M. Online im Internet: http://klassiker.chadwyck.com/deutsch/home/home. Lancelot und Ginover II. Prosalancelot II. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, Reinhold Kluge (Hrsg.) (1995b), ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 80178020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert u. hrsg. v. HansHugo Steinhoff, (Bibliothek des Mittelalters 15), Frankfurt a. M. Online im Internet: http://klassiker.chadwyck.com/deutsch/home/home.
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Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen
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Duden-Grammatik = Duden: die Grammatik (2005), 7., völlig neu erarb. u. erw. Aufl., Mannheim u.a. Ebert, Robert Peter (1978), Historische Syntax des Deutschen, (Sammlung Metzler 167), Stuttgart. Ebert, Robert Peter (1999), Historische Syntax des Deutschen 2: 1300-1750, 2., überarb. Aufl., Berlin. Fleischer, Jürg (2005), „Zur Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen im Althochdeutschen und Altniederdeutschen (8. / 9. Jahrhundert)“, in: Franz Simmler (Hrsg.), Syntax Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch: eine Gegenüberstellung von Metrik und Prosa, in Zusammenarbeit mit Claudia Wich-Reif / Yvon Desportes, (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 7), Berlin, 9-48. Fleischer, Jürg (2006), „Zur Methodologie althochdeutscher Syntaxforschung“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 128 / 2006, S. 25-69. Fleischer, Jürg, „Norm and variation in the relative order of accusative and dative personal pronouns in German: evidence from corpora (18th-21st century)“, in: Alexandra Lenz / Albrecht Plewnia (Hrsg.), Grammar between norm and variation. [im Druck] Fleischer, Jürg / Hinterhölzl, Roland / Solf, Michael (2008): „Zum Quellenwert des althochdeutschen Tatian für die Syntaxforschung: Überlegungen auf der Basis von Wortstellungsphänomenen“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 36 / 2008, 210-239. IDS-Grammatik = Zifonun, Gisela / Ludger Hoffmann / Bruno Strecker (1997), Grammatik der deutschen Sprache, (Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7), Berlin, New York. Grundzüge = Heidolph, Karl-Erich / Flämig, Walter / Motsch, Wolfgang (Leitung eines Autorenkollektivs) (1981), Grundzüge einer deutschen Grammatik, Berlin. Hennings, Thordis (2001), Altfranzösischer und mittelhochdeutscher ‚Prosa-Lancelot‘: Übersetzungs- und quellenkritische Studien, Heidelberg. Knapp, Fritz Peter (2003), „Anforderungen eines Philologen an die neue Mittelhochdeutsche Grammatik“, in: Anja Lobenstein-Reichmann / Oskar Reichmann (Hrsg.), Neue historische Grammatiken: zum Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen, (Reihe Germanistische Linguistik 243), Tübingen, 217-230. Lexer, Matthias (1869-1878), Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke, 3 Bde., Leipzig, Nachdruck, Stuttgart 1974. Lenerz, Jürgen (1977), Zur Abfolge nominaler Satzglieder im Deutschen, (Studien zur deutschen Grammatik 5), Tübingen. Lenerz, Jürgen (1993), „Zu Syntax und Semantik deutscher Personalpronomina“, in: Marga Reis (Hrsg.), Wortstellung und Informationsstruktur, (Linguistische Arbeiten 306), Tübingen, 117-153.
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Textsortenabhängige syntaktische Variation in Christine Ebners Schwesternbuch des Dominikanerinnenklosters Engelthal (Mitte 14. Jh.) – Wie weit reicht sie? Gisela Brandt (Berlin)
1. Betrachtungsrahmen Das Schwesternbuch des Dominikanerinnen-Klosters Engelthal bei Nürnberg, Christine Ebners „Büchlein von der Genaden Uberlast“, ist vor 1346 entstanden und als einzige der bekannten neun historiographischen Quellen dieses Typs in einer zeitgenössischen Abschrift erhalten (N, Mitte bzw. 2. Hälfte des 14. Jh.). Diese Nürnberger Handschrift besteht aus 69 initial markierten Abschnitten, in denen fortlaufend geschrieben ist. Die meisten dieser Abschnitte lassen sich als selbständige Texte auffassen (vgl. Brandt i. Dr.). 37 dieser Texte (37 Abschnitte) fungieren als Quellen dieses Beitrages. Sie werden in der Regel durch eine Textsorte definierende Gegenstandsanzeige eröffnet (Belege 2-14). Der Einstiegstext ordnet sich der Textsorte Vorwort zu. Alle anderen Texte sind Geschichtserzählungen, Geschichtserzählungen der Subklassen Ereignis- bzw. Situationsskizze und Schwesternporträt. •
Das Vorwort ist als Erörterung ausgelegt und hat eine dreigliedrige Makrostruktur, es besteht aus Gegenstandsanzeige, Gegenstandsbetrachtung und Selbsteinschätzung der Autorin.
•
In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen wirken die Kommunikationsverfahren Anzeigen und Beschreiben zusammen. Personencharakteristiken verleihen einigen von ihnen (T5, T6, T11) porträthafte Züge. Diese Skizzen fügen sich zu einer Chronik, welche die Vorund Gründungsgeschichte des Klosters umreißt und sich damit auf den Zeitraum 1211-1248 bezieht.
538
Gisela Brandt •
Den Schwesternporträts kann eine drei- bzw. achtgliedrige Makrostruktur unterlegt werden, die sich am Aufbau einer vollständigen Vita orientiert (Tab. 1; vgl. Brandt i. Dr.). Diese Schwesternbilder werden von einer Personencharakteristik (Segment I-III) eröffnet. Danach wird von Gnadenerleben der Schwestern zu Lebzeiten (Segment IV) und / oder im Ableben (Segment V) erzählt. In keinem Text aber ist die Matrix vollständig ausgeführt.
Bei der Erschließung und Bewertung syntaktischer Variation ist also von folgender Konstellation auszugehen: Funktionalbereich: religiöse Erbauung Texttyp: Erörterung - Erzählung Textsorte: Vorwort - Chronik - Ereignisskizze - Situationsskizze - Schwesternbild. Der Gesamttext ordnet sich der religiösen Erbauungsliteratur zu. Ein Subtext vertritt den Texttyp Erörterung. 36 Subtexte stellen sich zum Texttyp Erzählung. Dem thematischen Bezug bzw. der funktionalen Ausrichtung nach ist der erörternde Text ein Vorwort. Von den 36 Erzählungen sind die acht Ereignis- bzw. Situationsskizzen Subtexte einer Chronik; 28 sind Schwesternbilder. Alle drei Komponenten – Funktionalbereich, Texttyp und Textsorte – beeinflussen die Textgestaltung. In meinem Beitrag geht es vornehmlich um die Prägekraft der Textsorte. Mit der ihm zugrunde liegenden Textsorten konfrontierenden syntaktischen Studie bin ich folgenden Fragen nachgegangen: •
Zum einen: Wie sind Textfugen und Prädikatsvorfelder der Text eröffnenden Ganzsätze besetzt, und welche Rolle spielen die hier positionierten syntaktischen Einheiten bei der Textverflechtung?
•
Zum andern: Wie werden Ganzsatzfugen und Prädikatsvorfelder der nachgeordneten Ganzsätze belegt, und welchen Beitrag leisten diese Belegungen zur textinternen Aussagenverflechtung?
•
Zum dritten: Mit welchen Ganzsatztypen operiert Christine Ebner in den drei Basistextsorten?
•
Und schließlich: Inwiefern kann nach den Ergebnissen dieser auf nur fünf Parameter orientierten Untersuchung mit Bezug auf das Engelthaler Schwesternbuch von Textsorten abhängiger syntaktischer Variation die Rede sein?
539
Textsortenabhängige syntaktische Variation
Text Nr.
T13° T44 T34 T14* T32* T36° T49 T50 T51 T58 T65* T68 T18* T28 T38 T48 T66 T53 T35* T37 T33 T62 T69 T45 T47 T52 T54 T46 28T
I
II
III
Pers
Umst
Tug
+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + 28x
– – – – – – – – – – – – + + + + + – – – – – – + + – – – 7x
– + – + + + + + + + + + + + + + + – – – + + + + + + + – 22x
Textstruktur IV V – Gnadenerweise im Ableben im vT iSt T nT Leben + – – – – + – – – – – + – – + – + – + – – + – + + – + – – + – + + – – – + – + – – + – – + – + – + – – + – + – – + – + – – + + – – – + – + – – + – + – – + – – – – + – + – + – – – + + + – + – + + – + – + + – + – + + – + + + – – + – + + – + + + + – + – + + – + – + + + + – + + – + + 12x 24x 3x 19x 8x
TL Zeit
7 21 12 18 36 53 98 14 18 20 12 10 12 67 8 25 11 21 47 27 45 26 30 39 44 146 106 111
TSorte (vorläufig)
OAnz kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kP kV kP kP kV kP kV kV kV
Tabelle 1: Textstruktur der 28 Schwesternbilder (nach Brandt i. Dr., Übersicht 2)1
_____________ 1
Pers: Person, Umst: Begleitumstände, Tug: Tugenden, vT: vor dem Tod, T: Todesanzeige, iSt: im Sterben, nT: nach dem Tod, im Leben: Gnadenerweise und Verhalten im Leben, TL: Textlänge, Zei: Zeilen, kP: Kurzproträt, kV: Kurzvita, O: Offenbarung, Anz: Anzeige, °: Schwester des 1. Schweinacher Konvernts, *: Konventualinnen im 13. Jahrhundert.
540
Gisela Brandt
2. Textsorten differenzierende Besetzung von Textfuge und Prädikatsvorfeld des Text eröffnenden Ganzsatzes? Textanfänge sind in der Handschrift N regelmäßig durch Hervorhebung der initialen Majuskel an einem Zeilenanfang markiert. Die Textfuge bleibt in der Regel unbesetzt. Allein zwischen den Stiftungsgeschichten Text 5 und Text 6 ist sie mit einem Text verknüpfenden Erzählerkommentar gefüllt (1). Da heißt es nach der Stiftungsgeschichte von Kirche und zwei Altären: (1)
Wıe der drıtte alter her ıſt kumē daa wıl ıch euch auch kunt tu:n [CE-T5,8.5f.].
Die Belegung des Prädikatsvorfeldes des initialen Ganzsatzes variiert mit der Textsorte (vgl. Tabelle 2 im Anhang). In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen erscheint hier in der Regel eine adverbiale Zeitangabe, in den Schwesternporträts durchgängig eine auf die besprochene Person bezogene nominale Statusangabe, im Vorwort eine pronominale Angabe zur ausführenden Person. Textsortenabwandlung in der Skizzenreihe wird durch abweichende Füllung des Vorfeldes signalisiert. Die Angabe zur sprechenden bzw. ausführenden Person im initialen Ganzsatz des Vorwortes (2) und später ist durch das Personalpronomen Jch realisiert: (2)
Jch heb eın bu:chlín hıe an [CE-T1,1.1].
Eine Auflösung dieser Chiffre erfolgt auch später nicht. Die porträtierten Schwestern als besprochene Personen (3) dagegen haben zumeist einen Namen, der in der Regel über hıeʒ mit der Satz eröffnenden Statusangabe verknüpft ist: (3)
Eín ſweſter hıeʒ alheıd von Gríndlach [CE-T34,55.9] Eín laıſweſtˤ hıeʒ jewt von vnʒelho uen [CE-T44,69.9f.] Dıe erſt meıſterın dıe do/e Thilbet/C habet hıeʒ alheıt Rotteren [CE-T13,17.9f.] [Hs W die da hıeʒ ] Ein ſweſter dıe het vndˤn hˤren lang vmb eın dínk gebetē daʒ er ír ... [CE-T53,89.22f.].
Wo die Statusangabe ins Prädikatsnachfeld gerückt ist, tritt ein unbestimmtes Pronomen (4) oder das unpersönliche Pronomen eʒ (5) an die Spitze des Satzes:
Textsortenabhängige syntaktische Variation
(4)
Eınev hıeʒ ſweſter leugart von || perg [CE-T14,17.16f.]
(5)
E ʒ waʒ eín fraw díe híeʒ alheit || von herſpruk [CE-T28,38.21f.].
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Die Variante mit grammatischem Subjekt eʒ eröffnet auch die beiden porträtnahen Stiftungsgeschichten in der Skizzenreihe (6): (6)
E ʒ ſaʒ eín reıcher pfaff ʒe Vilſeck dˤ || híeʒ Vlſchalk [CE-T5,7.8f.] E ʒ ſaʒ eın edel man ʒe Schonberg || auf der burge der ward ... [CET6,8.8f.].
Fünf der sechs temporal eingeführten Ereignis- bzw. Situationsskizzen eröffnen mit temporalen Kernsubstantiven in attributiv erweiterten Nominalgruppen, mit IN der ʒeıt da ... da (7), JN den ʒıten da ... da (10), Jn den ſelben ʒeıten do (12), JN dem erſten aduent da ... [da] (11), Der anuank ırs lebens (9). Viermal erfolgt Wiederaufnahme durch anaphorisches da/do. Eine feste Verankerung im äußeren Zeitrahmen durch Jahresangaben unterbleibt. Alle Zeitpunkte sind situationsdefiniert. (7)
IN der ʒeıt da der kuníg uon vngerne ſeín heılıgeu tohter Elíʒabethen gemehe let dem Lantgrauen Ludwıg uō Heſ ſen da ſant er ſıe mít gróʒʒē eren hıntʒ Nurnberch da deu brautlauft ſolte ſeín Da gab er ır eín Rotterín auf dē wek dıe hıeʒ Alheıt ob daʒ kínt wur de waınen daʒ ſıe eʒ danne ſtıllet mıt dem ſaıtenſpıl [CE-T2,2.21ff.]
(8)
Da dıe brautlauft uergınk , v] daʒ heılıg kínt von dannē wart ge furet da wolt ím dıe Rotterín nıht mer nach uolgen . [CE-T3,2.7ff.]
(9)
Der anuank ırs lebens waʒ alſo . [CE-T4,3.10]
(10) JN den ʒıten da ſıe daʒ geſank heten gelernt da bat der ſtıfter der frawē maıſtˤın daʒ ſıe ırre frawē hıntʒ Reıch nek breht daʒ ſıe ım meſſe ſungē ın eıner Capeln an dem pfıngſtag daʒ geſchach . [CE-T10,14.17ff.]
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(11) JN dem erſten aduent da ſie nach dē oɿden ſungen [da ...] vnd ır erſte ſankmeıſt’ ın dıe hıeʒ haılrat [CE-T11,15.6ff.] (12) Jn den ſelben ʒeıten do fugt eʒ ſıch alſo daʒ dıe predıger uon Regenspurch ın dıſe gegend wurden wandeln [CE-T12,16.9ff.] Textsortenmischung führt in Text 11 (11) zu einem doppelten Anakoluth. Hier scheitert der Versuch, die auf die Ausstrahlung der Sangmeisterin ausgerichtete Ereignisskizze als chronikalische Erzählung auszuführen: Die temporale Einleitung bricht nach dem Attributsatz ab; für die koordinierende Anknüpfung der Personencharakteristik mit vnd in der Fuge zum nachgeordneten Ganzsatz fehlt die inhaltliche Basis. Textverknüpfende Funktion haben die initialen Satzglieder der Text eröffnenden Ganzsätze nur in der Ereignis- bzw. Situationsskizzenreihe. Alle temporalen Angaben definieren den zeitlichen Abstand zum vorausgehenden Ereignis und signalisieren chronologische Ordnung der Geschichtserzählungen. Textverflechtung erfolgt darüber hinaus durch das Kernsubstantiv des Temporals in Text 3: brautlauft (8) und durch das pronominale Attribut des Adverbials in Text 12: den ſelben (12). Während Textsorten abhängige syntaktische Variation des initialen Ganzsatzes in Christine Ebners Schwesternbuch also allgemein gilt, findet Textverflechtung über Textfuge (einmal) und Textspitze (sechsmal) nur in der Skizzenreihe statt. Sie signalisiert die Teiltextfunktion der Skizzen in einem größeren Textganzen. Dass es sich bei diesem Großtext um ein Exemplar der Textsorte Chronik handelt, ergibt sich aus dem Inhalt der Teiltext eröffnenden temporalen Angaben.
3. Textsorten differenzierende Belegung von Ganzsatzfuge und Prädikatsvorfeld des nachgeordneten Ganzsatzes? Setzt man von Textfuge und initialem Ganzsatz zurück auf die nachgeordneten Ganzsätze und auf die Ganzsatzfugen, so ergibt sich folgendes Bild (vgl. Tabelle 3). Die Ganzsatzfuge (Spalte 5) wird von Christine Ebner in Vorwort und Porträtreihe vor jedem zehnten nachgeordneten Ganzsatz mit einer Konjunktion besetzt, in der Skizzenreihe vor jedem fünften nachgeordneten Ganzsatz, d.h. doppelt so häufig wie in den komplementären Textsorten des Schwesternbuches.
543
Textsortenabhängige syntaktische Variation
Textsorte
Texte
GS
nGS
Vorwort Skizze Porträt
1
10
9
1
–
–
8 28
110 394
102 366
22 37
– 1
16 30
Ko
GSFu sA
vnd(e)
Konjunktionen aber wann(e) 'denn' – 1 1 3
5 4
Tabelle 3: Besetzung der Ganzsatzfuge2
Meist wird mit vnd(e) allgemein auf eine kopulative Beziehung zwischen den auf einander folgenden Ganzsätzen verwiesen, selten mit wann(e) auf eine kausale und noch seltener mit aber auf eine adversative Beziehung. In einem Schwesternporträt ist die Ganzsatzfuge außerdem mit einem Satzadverb belegt (13), mit Unabänderlichkeit signalisierendem halt: (13) [aSG] [HS] Eín ſweſtˤ hıeʒ dıemu:t vō Nurnbˤg vnd waʒ dev [atNS1] dıe beı den erſtē wont vnd níe entʒuket wart . [eeS] vnd halt ī allen ırn leben da tet ır got keíne ſunder gnade nıht [CE-T36, 58.2-6]. Im argumentativen Vorwort (14) korrespondiert die Fugenfüllung wanne ′denn′ (Zeile 12) mit der Besetzung je eines Prädikatsvorfeldes mit einem kausalen und einem konsekutiven Adverbial: da uon ′deshalb′ (Zeile 13), Nu ′also, folglich′ (Zeile 16). Daraus folgt jedoch nicht, dass die Argumentationslinie von der Autorin stringent markiert wäre. Nicht ausgezeichnet sind die Begründung der ersten Sentenz (Zeile 9) und die Schlussfolgerung (Zeile 15). Reflektiert wird mit den Auszeichnungen der Texttyp Erörterung, den der Einstiegstext repräsentiert, nicht die Textsorte Vorwort. (14) Anz
Erört Sent 1
1 [eeS] {S-P} Jch heb eın bu:chlín hıe an [sSG] [HS] {l-A}da kumet mā an deʒ Cloſters ʒe Engeltal anuank vnd die meníg der genaden gotes [atNS1] dıe er mít den frawen getan hat an dem anuang . vnd 5 nv ſıder uon der menıg ſeíner auʒbrechen den tugende [atNS1] dıe als wenig geſtıllen mak als daʒ mer ſíner auʒ flíʒʒenden kraft . ↑ [eeS] {S-P}níe
_____________ 2
GS: Ganzsatz, nGS: nachgeordneter Ganzsatz, GSFu: Ganzsatzfuge, Ko: Konjunktion, sA: Satzadverb.
544
Gisela Brandt
Sent 2
Sent 3
Selbst
mant ıſt kumē ʒv groʒʒer heılíkeıt uon ſeın ſelbeʒ fru:míkeıt . [wann] [eeS] {S-P} er hat ſıe alle dar ge 10 ʒogen uon ſıner frıen wille ku:r . ↑ [aSG] [HS] {S-P}er ıſt ge waltıg noch dar ʒu daʒ er ſınen freunden gutlıch tu . ↑ wanne ['denn'] [eeS] {S-P} er derkent alleín alle dínk [eeS] {k-A} da uon ['deshalb'] tut er eínē gutlıch vnd dē andern nıht ↑ [eeS] {O4-P}daʒ mugen vnder menſche 15 lıchen ſínne niht begreıfen . [eeS] [also] {–} wollen wír an werren ſeín . ↑↑ [aSG] {ks-A} Nu ['also, folglich'] wolt ıch gern ſchreı ben etſwaʒ uon der genaden uberlaſt . [kzNS1] So ['doch, obgleich'] han ıch laıder cleínen ſın . vnd kan dar ʒv der ſchrıft nıht . [kNS1] wanne daʒ ['weil'] ıch ʒv dıſē dín gen mıt der gehorſam betwungē bín [CE-T1,1.1ff.]
Anz(eige des Gegenstandes), Erört(erung), Sent(enz), Selbst(einschätzung), eeS: einfacher Einfachsatz, sSG: gestrecktes Satzgefüge, aSG: abperlendes Satzgefüge, HS: Hauptsatz, <>: gespreizt, NS1: Nebensatz ersten Abhängigkeitsgrades, S: Subjekt, O4: Akkusativobjekt, l(okale), k(ausale), k(on)s(ekutive), k(on)z(essive) Angabe, P(ronomen), A(dverb), at(tributiv)
Charakteristisch für den Texttyp Erörterung ist auch, dass temporale Ganzsatzverknüpfung über diese Position unterbleibt (vgl. Tabelle 4 im Anhang). Die auf Bewegung in der Zeit orientierten Geschichtserzählungen dagegen zeichnen sich durch die Belegung des Prädikatsvorfeldes mit Temporalen aus. In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen geschieht das in einem Drittel der nachgeordneten Ganzsätze, in den Porträts in fast zwei Dritteln dieser syntaktischen Einheiten. Die besonders hohe Frequenz der Temporale in den Schwesternbildern resultiert aus der chronologischen Einordnung einer mitunter großen Zahl von Gnadenerleben in die Lebensläufe der porträtierten Schwestern. Und die Ausrichtung dieser Erzählungen vornehmlich auf Gnadenerleben bringt es mit sich, dass Subjekte nicht einmal in einem Drittel der nachgeordneten Ganzsätze ins Prädikatsvorfeld gerückt sind, während das in den Skizzen bei fast der Hälfte der Sätze der Fall ist. Ausgeführt sind die Anschlussglieder im Prädikatsvorfeld des nachgeordneten Ganzsatzes von Christine Ebner Textsorten übergreifend vor-
Textsortenabhängige syntaktische Variation
545
nehmlich als Pronomen oder Adverbien (vgl. Tabelle 5 im Anhang), also in lexikalischen Einheiten, die zumeist grammatisch-kategoriale Parameter des vorhergehenden Satzes aufnehmen und in kürzester Form syntaktische Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Sätzen explizieren. Im Vorwort werden sogar nur solche Wörter verwendet. Die Differenz zwischen Ereignis- bzw. Situationsskizzen und Schwesternbildern im Aufkommen der Subjekte und Temporale reflektiert sich hier im höheren Anteil von pronominalen und nominalen Anschlussformen in den Skizzen sowie im höheren Anteil von Adverbien und Nebensätzen in den Schwesternporträts. Als Prowörter fungieren in den EbnerTexten: er/ſie/eʒ, der/die/daʒ; da/do, da ... ınnē (3x), dar nach (7x), da uon (2x), dar ʒu (1x), doch (1x), nv (3x), furbaʒ (1x); ſo (2x), alſo (3x), ſunderlıch (1x). Sie nehmen mehrheitlich durch d-Initial auf Vorausgehendes Bezug oder verweisen durch so-Komponente auf Ableitungen daraus. In Skizzen und Porträts (vgl. Tabelle 6 im Anhang) erfolgt diese Auszeichnung bei mehr als der Hälfte der pronominalen Formen. Bei den adverbiellen Formen (vgl. Tabelle 7 im Anhang) ist diese Markierung noch stärker ausgeprägt. In den Skizzen beträgt sie 100 %, in den Porträts 97,7 % und im Vorwort 66 %. Textsorten übergreifend nutzt Christine Ebner die Ganzsatzfuge also relativ selten zur Ganzsatzverknüpfung. Dafür nutzt sie fast ausschließlich das Prädikatsvorfeld, das sie vorwiegend mit Pronomen und Adverbien besetzt, von denen die meisten durch d-Initial oder so-Komponente entsprechend markiert sind. Wo die Autorin die Ganzsatzfuge mit einer Konjunktion belegt, hat das wie die funktionale Besetzung des Prädikatsvorfeldes Texttyp markierende Wirkung. Besonders deutlich wird das im Vorwort, wo – das Kommunikationsverfahren Erörtern unterstützend – über die Konjunktion in der Satzfuge nur eine kausale Beziehung und über die Umstandsangabe im Prädikatsvorfeld lediglich eine kausale und eine konsekutive Beziehung signalisiert wird. In den Textsorten Ereignis- bzw. Situationsskizze und Schwesternporträt dagegen wird – das Kommunikationsverfahren Erzählen unterstützend – die Ganzsatzfuge vornehmlich mit einer reihenden Konjunktion besetzt, die Umstandsangaben im Prädikatsvorfeld machen vorwiegend auf temporale Beziehungen aufmerksam. Zur Textsortendifferenzierung trägt die gegebene Vorfeldbesetzung nicht bei.
546
Gisela Brandt
4. Textsorten differenzierende Ganzsatztypenverwendung? Richtet man das Augenmerk auf die Ganzsatzstruktur (vgl. Tabelle 8 im Anhang), so ist unter Berücksichtigung der admonischen Ganzsatztypologie einmal festzustellen, dass die Autorin Textsorten übergreifend den Einfachsatz mit sehr hoher Frequenz als Aussageform verwendet. Zum anderen ist nicht zu übersehen, dass diese Frequenz im Vorwort extrem hoch ist. Der Einfachsatzanteil beträgt hier 70 % des Ganzsatzaufkommens. Auf sieben Einfachsätze entfallen lediglich drei Satzgefüge. Und die Argumentation zum zweiten Schwerpunkt ihres Buches (14) vollzieht Christine Ebner in sechs Einfachsätzen und nur einem Satzgefüge. In den Ereignis- bzw. Situationsskizzen beträgt der Einfachsatzanteil nur 48,6 % der Ganzsätze, in den Schwesternbildern lediglich 45,7 %. Diese Differenz könnte also ebenfalls texttypologisch begründet sein, aus Unterschieden zwischen den Kommunikationsverfahren Argumentieren und Erzählen erwachsen. Es wäre aber auch denkbar, dass daneben die Funktion des Eröffnungstextes, nämlich Vorwort zu sein, die Autorin zu besonders einfachen Satzformen veranlasst hat. Die Überprüfung hat ergeben, dass das gewählte Kriterium tatsächlich für die signifikante Differenz im Aufkommen der abperlenden Satzgefüge relevant ist (vgl. Tabelle 9). In den Skizzen beträgt der Anteil der RedeGefüge am Gesamt der abperlenden Gefüge 53,1 %, in den Porträts 62,1 %. Hier erreicht die Differenz 9 %, liegt damit 1,8 % über der Differenz des Gesamts der abperlenden Satzgefüge. Für die signifikante Differenz im Anteil der abperlenden Satzgefüge habe ich geprüft, ob sie sich auf den hagiographischen Charakter der Schwesternporträts zurückführen lässt, der sich in der Auflistung von Gnadenerleben reflektiert, womit sich die serielle Wiedergabe von Offenbarungsgesprächen und Auditionen verbindet. Die einfachste Wiedergabeform dafür ist ein Gefüge aus Rede einleitendem Hauptsatz und Rede explizierendem Nebensatz, also das abperlende Satzgefüge. Der Anteil dieser eingeleiteten Rede-Gefüge an den verschiedenen Satztypen ist in Tabelle 83 mit IndexR markiert (vgl. Tabelle 8 im Anhang).
_____________ 3
Für die Textsorte Schwesternporträt differieren die Ganzsatzfrequenzen in den Tabellen 3, 4, 5, 6, 7 (Zählung 2007) und Tabelle 8 (Zählung 2008). Die höheren Werte sind vor allem Resultat der konsequenteren Beachtung von Einfachsätzen mit unbesetztem Prädikatsvorfeld und – in Text 46 – selbständiger Sätze in uneingeleiteter direkter Rede.
547
Textsortenabhängige syntaktische Variation
SG-Typ aSG zSG gSG sSG SG
R17 R2 R0 R3 R22
v v v v v
Skizzen 32 = 53,1 % 7 = 28,6 % 5 = 0,0 % 12 = 25,0 % 56 = 39,3 %
Porträts v 161 = 62,1 % R20 v 37 = 54,1 % R0 v 21 = 0,0 % R5 v 20 = 25,0 % R125 v 239 = 52,3 % R100
Tabelle 9: Anteil von Satzgefügen mit Redewiedergabe
Aber: Bei den zentrierten Satzgefügen, die in den Skizzen 6,4 % und bei den Porträts 8,4 % der Gefüge stellen, deren Anteil in den Porträts also lediglich um 2 % höher liegt, ist der Anteil der Rede-Gefüge sogar um 25,5 % größer. Und auf das Gesamt der Satzgefüge bezogen, liegt der Anteil der Rede-Gefüge in den Porträts um 13 % höher als in den Skizzen. Es ist also von einer Textsortendifferenz auszugehen, von einem besonderen Drang zum Redegefüge an sich in den Schwesternbildern, der auf ihrem hagiographischen Charakter mit dem starken Offenbarungsakzent beruht. Sie legt sich über das texttypologische Merkmal Dominanz des Satzgefüges, welches das Porträt mit den Skizzen und anderen Erzählungen verbindet.
5. Resümee In der Regel werden die 37 Texte von einer Textsorte definierenden Gegenstandsanzeige eröffnet. Diese Definition wird unterstützt durch die Besetzung des Prädikatsvorfeldes des initialen Ganzsatzes und der Textfuge. Die Variation in diesen beiden syntaktischen Positionen reflektiert in der gegebenen Quelle die Zugehörigkeit der Texte zu den Textsorten Vorwort, Porträt, Ereignis- bzw. Situationsskizze und Chronik. Die Besetzung von Ganzsatzfuge und Prädikatsvorfeld des nachgeordneten Ganzsatzes sowie die Satztypenwahl unterstützen vornehmlich die Ausprägung des Texttyps, in der gegebenen Quelle Erörterung und Erzählung. Lediglich die hohe Frequenz des Rede-Gefüges darf als Textsorten differenzierendes Merkmal, als Merkmal der Textsorte Schwesternporträt, betrachtet werden. Doch als absolutes Alleinstellungsmerkmal ist sie wohl nicht einzustufen, sondern als Textsorten übergreifendes Merkmal von Offenbarungstexten. Die Prägekraft der Textsorte auf die Textsyntax verbindet sich in den Ebner-Texten vornehmlich mit dem Prädikatsvorfeld des Text eröffnenden Satzes.
548
Gisela Brandt
Quellen Christine Ebner, Büchlein von der Genaden Uberlast, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 1338, Nürnberg.
Literatur Brandt, Gisela, „Textsorten und Erzählstrukturen in Christine Ebners ‚Büchlein von der Genaden Uberlast‘“, in: Mechthild Habermann (Hrsg.), (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien), Berlin. [im Druck] Brandt, Gisela (2008), „Gebrauchsformen der initialen Ganzsatzverknüpfung in den Schwesternbildern des ‚Büchlein von der Genaden Uberlast‘ der Christine Ebner (vor 1346)“, in: Gisela Brandt (Hrsg.), Bausteine für eine Geschichte des weiblichen Sprachgebrauchs VIII. Sprachliches Agieren von Frauen in approbierten Textsorten. Internationale Fachtagung Magdeburg 10.-11.9.2007, (S.A.G. 445), Stuttgart, 17-40.
Porträt
Erzähl
+ + + Ell + 8
T5 kP T6 kP T10 T11 kP T12 8T +
+
T4
T13°
+
+
+
iGS
T3
T2
Erzähl
Ereignisskizze
Situationsskizze
T1
TNr
Erört
KV
Vorwort
Textsorte
–
–
–
–
–
–
↓
–
–
–
–
bTFu
+
8
+
[+]
+
+
+
+
+
+
+
bPVF
–
pP
S 1.Pers
5 N+NS
uP/gS
uP/gS
tN
S 3.Pers
–
5
tN+do
tN+NS+[da]
tN+NS+da
tNS+da
tN+NS+da
Temporale
initiales Satzglied
Tabelle 2: Textstruktur der 28 Schwesternbilder KV: Kommunikationsverfahren, Erört(ern), Erzähl(en), kP: Kurzportät, Ell: Ellipse, iGS: initialer Ganzsatz, bTFu: besetzte Textfuge, bPVF: besetztes Prädikatsvorfeld, S(ubjekt), Pers(on), N(omen), P(ronomen), NS: Nebensatz, t(emporal), i(ndefinit), u(npersönlich), p(ersönlich), g(rammatisch)
Textsortenabhängige syntaktische Variation
549
Anhang
Porträt
Textsorte
Erzähl
KV
+ + + + + + + + + + + + + +
T34 T14* T32* T36° T49 T50 T51 T58 T65* T68 T18* T28 T38
iGS
T44
TNr
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
bTFu
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
bPVF S 1.Pers
iP
uP/gS
uP
N
N
N
N
N
N
N
N
iP
N
N
S 3.Pers
Temporale
initiales Satzglied
550 Gisela Brandt
Porträt
Textsorte
Erzähl
KV
+ + + + + + + + + + + + + 28
T66 T53 T35* T37 T33 T62 T69 T45 T47 T52 T54 T46 28T
iGS
T48
TNr
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
bTFu
28
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
bPVF
–
S 1.Pers
28
N
N
N
N
N
N
N
iP
N
N
N+die
N
N
S 3.Pers
Temporale
initiales Satzglied
–
Textsortenabhängige syntaktische Variation
551
9
102
366
Skizze
Porträt
nGS
Vorwort
TSorte
4
–
–
Ell
8
8
1
uPVF
354
94
8
bPVF
4
103
45
S
1
2
–
O2
2
–
–
O3
14
8
1
O4
5
–
–
OP
2 6
206
1
L
31
–
T
initiales Satzglied
1
3
1
K
–
–
1
Ks
8
–
–
Kd
8
3
–
M
Tabelle 4: Belegung von Ganzsatzfuge und Prädikatsvorfeld des nGS (vgl. Brandt 2008, Tab. 2) nGS: nachgeordneter Ganzsatz, GSFu: Ganzsatzfuge, Ko: Konjunktion, sA: Satzadverb, Ell: Ellipse, uPVF: unbesetztes Prädikatsvorfeld, bPVF: besetztes Prädikatsvorfeld, S: Subjekt, O: Objekt, 2: Genitiv, 3: Dativ, 4: Akkusativ, P: präpositional, T(emporal), L(okal), K(ausal), K(on)s(ekutiv), K(on)d(itional), M(odal)
552 Gisela Brandt
Texte
1
8
28
Textsorte
Vorwort
Skizze
Porträt
366
102
9
nGS
354
94
8
bPVF
103
36
5
29,1 %
38,3 %
62,5 %
Pronomen
24,5 % 36,4 %
129
37,5 %
23
3
Adverb
70
23
–
–
19,7 %
24,5 %
Nomen
initiale Anschlussform (iAF)
Tabelle 5: Initiale Anschlussformen des nachgeordneten Ganzsatzes (vgl. Brandt 2008, Tab. 3) nGS: nachgeordneter Ganzsatz, bPVF: besetztes Prädikatsvorfeld
52
12
–
–
14,6 %
12,8 %
Satz
Textsortenabhängige syntaktische Variation
553
94
354
Skizze
Porträt
d-
d-
d-
5
55 = 53,4 %
103
21 = 56,8 %
36
1 = 20,0 %
Gesamt
Gesamt
8
Pronomen
bPVF
Vorwort
Textsorte
–
4
4
45
92
103
15
29
45
S
O2
–
–
1
–
–
2
O3
2
2
2
6
7
8
1
1
1
7
8
14
O4
initiales Satzglied OP
–
–
5
1T
1
1
Advb
OP
4
4
pron Adv
Tabelle 6: Pronominaler Anschluss des nachgeordneten Ganzsatzes (vgl. Brandt 2008, Tab. 6) bPVF: besetztes Prädikatsvorfeld, pron Adv: Pronominaladverb, S(ubjekt), O(bjekt), Advb: Adverbiale, 2: Genitiv, 3: Dativ, 4: Akkusativ, P: präpositional
554 Gisela Brandt
94
354
Skizze
Porträt
122 4
s-
2
s-
d-
21
–
s-
d-
2
d-
=
=
=
=
=
Gesamt
Gesamt
8
Adverb
bPVF
Vorwort
Textsorte
3,1 %
94,6 %
129
8,7 %
91,3 %
23
66,0 %
3
2
107
112
206
–
–
1
5
6
–
1
17
2
–
–
–
1
1
–
3
3
3
–
1
1
1 1
1
K 1
1
L
17
31
T
–
–
1
1
Ks
initiales Satzglied
Tabelle 7: Adverbieller Anschluss des nachgeordneten Ganzsatzes (vgl. Brandt 2008, Tab. 10) T(emporal), L(okal), K(ausal), K(on)s(ekutiv), K(on)d(itional), M(odal)
–
–
–
8
Kd
2
5
7
8
2
–
2
3
M
–
4
4
4
OP
pron Adv
Textsortenabhängige syntaktische Variation
555
43
12
25
24
6 kP
10
11 kP
12
%
24
5 kP
R22v56=39,3
91
4
(KV Erzählen)
7
37,6 %
41
109 100 %
5
5
1
7
6
14
3
70 %
eeS
1
1
1
1
6
2
12
zeS
11,0 %
eS-Typ
11
10
4
19
10
43
9
3
Situationsskizze
25
3
10
2
10
GS
Ereignisskizze
20
Z
Textlänge
100 %
1
TNr
(KV Erörtern)
Vorwort
Textsorte
2 12
R2 R5
1 2 3 32
R1 R1 R1 R17
29,4 %
8
R6
2
2
30 %
3
R1
aSG
R2
R1
R1
7
1
1
2
1
2
6,4 %
zSG
SG-Typ
4,6 %
5
4
1
gSG
R3
R1
R1
R1
12
1
1
1
1
1
5
1
1
11,0 %
sSG
Tabelle 8: Textsorten – Ganzsatztypen KV: Kommunikationsverfahren, Z: Zeilen, GS: Ganzsätze, eS: Einfachsätze: e: einfach, z: zusammengesetzt; SG: Satzgefüge: a: abperlend, z: zentriert, g: geschlossen, s: gestreckt, R: eingeleitete Rede
556 Gisela Brandt
21
12
18
36
53
98
14
18
20
12
10
12
44
34
14*
32*
36°
49
50
51
58
65*
68
18*
7
(KV Erzählen)
Z
4
5
9
2
8
5
4
9
7
11
32
18
15
GS
Textlänge
13°
TNr
Porträt
Textsorte
4
5
2
2
4
6
3
2
3
2
3
12
eeS
eS-Typ zeS
1
1
1
1
2
2
1
2
10 13 6 3 4
R6 R7 R6 R1 R1
1
9
2
2
1
R6
R2
R1
aSG
R1
R1
R2
R1
zSG
1
1
1
1
3
2
1
1
1
1
1
1
gSG
R1
SGTyp sSG
2
1
1
Textsortenabhängige syntaktische Variation
557
Textsorte
67
8
25
11
21
47
27
45
26
30
39
44
146
38
48
66
53
35*
37
33
62
69
45
47
52E
Z
54
24
13
17
13
13
13
19
5
4
5
5
26
GS
Textlänge
28
TNr
16
8
5
6
5
1
4
7
1
2
4
11
eeS
eS-Typ zeS
4
4
3
2
2
2
2
1
1
2
2
4 5 8 3 10
R4 R2 R1 R2 R9
28
3
R2
R18
6
R3
1
R1
4
1
R1
R3
9
R5
aSG
R1
R1
R1
R2
R2
1
R1
1
1
2
3
3
1
1
2
R1
R2
zSG
SG-Typ
3
1
2
1
gSG
R1
sSG
2
1
1
1
2
1
2
1
1
558 Gisela Brandt
=52,3%
R125v239
Textsorte
46
54
TNr
111
106
Z
12 155 35,2 %
440 100 %
25
eeS
2
8
46
zeS
10,5 %
eS-Typ
44
56
GS
Textlänge
161
R100
36,6 %
16
12
R13
R6
aSG
R20
R3
R1
37
8
3
8,4 %
zSG
SG-Typ
4,8 %
21
4
5
gSG
R5
R1
R2
20
2
3
4,5 %
sSG
Textsortenabhängige syntaktische Variation
559
Konstantes und Variables im Aufbau von deutschen mittelalterlichen heilkundlichen Texten und angrenzenden Textsorten Catherine Squires (Moskau)
1. Einführende Bemerkungen Die Überlieferung von medizinischen Texten in Deutschland fängt mit den ältesten Rezeptsammlungen an – den Baseler Rezepten aus dem 8. Jh. – und ist im 9.-10. Jh. durch mehrere Kurztexte vertreten.1 Seit dem 11. Jh. werden wissenschaftliche Traktate und Lehrbücher zusammen mit praktischen Anweisungen produziert, dabei wird massiv auf Deutsch verfasst. So soll die mittelniederdeutsche Überlieferung des berühmten Bartholomäus Salernitanus ins 12. Jh. zurückgehen und ab 1200 erscheint das Werk als das erste deutsche Arzneibuch in seiner östlichen hochdeutschen Überlieferung (der deutsche Bartholomäus aus Kärnten, dann die mittelbairische Fassung und die ostmitteldeutsche aus Thüringen).2 Schon im 13. Jh. fängt die Zeit der Großformen an: Es werden Großkompendien wie das Breslauer Arzneibuch verfasst, die gleichzeitig die medizinische Schriftlichkeit auf Hochschulniveau aufheben. Textsammlungen und -kompilierungen verwandeln die bekannten Texte in neue Texteinheiten. Im Weiteren wird die typologische Vielfalt der medizinischen Schriftlichkeit durch zwei Faktoren bereichert: durch den Sprachwechsel (deutsche Übersetzungen und Kompilationen neben der immer noch aktuellen lateinischen Schriftlichkeit) und durch die wechselnde Orientierung auf unterschiedliche Empfängerkreise.
_____________ 1 2
Zu den älteren Zeugnissen gehören die lateinisch-deutschen Glossen, zum Beispiel die des Walafrid Strabo (809-849) zu Isidors Etymologien. Vgl. Keil (1978, Bd. 1, Sp. 612).
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Die nordniedersächsische Übersetzung aus dem 14. Jh. des Bartholomäus Salernitanus wird ihrem Charakter nach ein gelehrtes Werk.3 Der Ältere deutsche Macer, ein wissenschaftliches Werk über Kräuter und ihre Wirkung, hat als Vorlage den im Hexameter gedichteten lateinischen Macer Floridus. In der Gegenrichtung verändert sich der soziopragmatische Status eines der führenden theoretischen medizinischen Traktate, der Capsula eburnea, dessen lateinische (toledanische) Fassung 1280 verdeutscht und als praktisches Arzneibuch für medizinische Fachleute – das Arzneibuch des Ortolf von Baierland – bekannt wird. Auf diesen Stufen der Entwicklung von medizinischen und naturwissenschaftlichen Textsorten macht sich eine in unterschiedlichen Aspekten verlaufende Diversifizierung bemerkbar: eine für die Textsortentypologie relevante Aufteilung in lateinische und volkssprachliche Texte und eine soziopragmatische Differenzierung zwischen wissenschaftlichen Traktaten, akademischen Lehrwerken, praktischen beruflichen Anweisungen und laienorientierten Textsorten, unter denen weiter zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden ist – den medizinischen Büchern für den öffentlichen Gebrauch und den Büchern und Anweisungen für den privaten Gebrauch (Hausbücher). Auf diesen späteren Überlieferungsstufen haben wir immer öfter mit Kompilierung zu tun: Textteile von bekannten Werken werden zusammengetragen (Streuüberlieferung), wobei ihre Reihenfolge geändert wird und sie in neue thematische und soziofunktionale Einheiten arrangiert werden. Die Geschichte der medizinischen Literatur handelt von Kompendien und Kompilationen, in denen heilkundliche Anweisungen mit medizintheoretischen Werken, aber auch mit Rezepten und anderen Kurzformen vereinigt werden. Dabei geht oft der Unterschied zwischen medizinischen Traktaten, Kräuterbüchern und Rezeptsammlungen verloren und die Merkmale der Textsorte werden modifiziert. Rezepte für die Behandlung von Menschen, aber auch von Tieren,4 werden zusammen mit medizinischen und hygienischen Anweisungen, akademischen Beschreibungen von Pflanzen und ihrer heilkundlichen Wirkung aufgeschrieben. Häufig sieht man in Sammelhandschriften und Konvoluten mehrere, vom modernen Standpunkt aus gesehen, thematisch und textsortenhistorisch heterogene Schriftstücke nebeneinander unter dem selben Einband. Diese Tatsache hat auf den ersten Blick die einleuchtende und logische Erklärung, dass der Verfasser bzw. Kompilator einem praktischen Ziel folgte. Er hatte offensichtlich die Absicht, alles _____________ 3 4
Vgl. Norrbom (1921, 45). Unten wird das Nebeneinandersein von Anweisungen und Rezepten für Menschen und veterinären Rezepten anhand eines medizinischen Buches des 14. Jh. ausführlicher besprochen.
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zusammenführen, was für die Erhaltung des körperlichen Wohlseins aller Lebenden (oder der Bekämpfung von lebendigen Mitbewohnern des Haushalts, vgl. Rezepte und Anweisungen gegen Fliegen und Läuse) nützlich und notwendig sein könnte.5 In späteren Phasen der Kompilierung von privaten medizinischen Büchern kommen noch kleine Gedichte, Lieder und Gebete dazu. Einen großen Teil eines volksmedizinischen Buches aus dem 15. Jh. können – neben Rezeptsammlungen, Auszügen aus bekannten Arzneibüchern und Pestregeln – Apostelgedichte und Gebete (Segen) ausmachen.6 Ein Verhältnis zur medizinischen Thematik ist oft für solche nichtmedizinischen Texte zwar nachweisbar,7 aber eine Abgrenzung dieser Arten gegen die eigentliche medizinische Schriftlichkeit ist schwierig und die Frage nach den Kriterien und der Identität der Textsorte scheint nicht überflüssig zu sein. Häufig ist zu beobachten, dass spätere Kompilationen volkstümlicher in ihrer Pragmatik und Ausführung werden als ihre Vorlagen. Am weitesten entfernt vom Theoretisch-Wissenschaftlichen sind die Hausbücher für den privaten Gebrauch, sie sind es auch, die die unterschiedlichsten Textsorten unter einem Einband vereinigen. Diese Bücher sollten alles enthalten, was vermutlich dem selben Ziel dienen sollte – für die (körperliche) Gesundheit zu sorgen, die man wiederum als eine Widerspiegelung der seelischen Reinlichkeit sah.8 Die populären Arzneibücher gehören nicht nur – zusammen mit allen übrigen medizinischen Anweisungen – „zum verbreitetsten und ältesten Schrifttum“,9 sondern sie haben eine besondere Stellung in der Erforschung der syntaktischen Entwicklung: Sie haben durch ihre Verbreitung zwischen den Laiennutzern von unterschiedlicher sozialer und beruflicher Stellung und durch ihre große prakti_____________ 5 6
7
8
9
Das textsortentypologische Verhältnis zwischen Rezepten und Arzneibüchern ist ein interessantes Problem, auf das hier nicht eingegangen werden kann. Zu einer kurzen Notiz dazu vgl. Anm. 24. Segen und Zaubersprüche haben einen festen Platz in medizinischen Sammelbüchern. Die Beispiele sind zahlreich. Das Büchlein aus der UB Moskau (vgl. Quelle 2 und 5) enthält einen lateinischen Kleider-Flecken-Segen und die von Priebsch beschriebene medizinische Sammelhandschrift enthält zwei Wurmsegen; vgl. Морозова (2003, 74); Морозова (2004, 71); Priebsch (1901, 41). Eine Sammlung von kurzen Apostelgedichten aus der Moskauer medizinischen Hs. (Quelle 2) hat Morozova 2003-2004 interpretiert und in jedem Falle eine Schutzfunktion oder einen anderen symbolischen Hinweis feststellen und medizinisch deuten können; vgl. Морозова (2004, 71ff., 94ff.). Zum engen Verhältnis der medizinischen und der seelsorgerischen Thematik in Gebettexten in Verbindung mit ihrer textgrammatischen und textsyntaktischen Form vgl. Морозова (2004, 86); Squires (2008a); Сквайрс (2008b). Rösler (1997, 84).
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sche Bedeutung für das alltägliche Leben eine besondere normprägende Bedeutung für den allgemeinen Sprachgebrauch errungen.
2. Fragestellung und Quellen Für die historische Syntax hat darum eine textsortenparadigmatische Übersicht der Schriftlichkeit eine besonders wichtige Stellung als Rahmen für die Auswertung der verschiedenen Sprachquellentypen in Bezug auf ihre Aussagekraft für die Erfassung von diachronen Prozessen und, ferner, in Bezug auf die Rolle und den Einfluss der unterschiedlichen Textsorten in der Verbreitung von syntaktischen Neuentwicklungen. Mit Anlehnung an Wladimir Admoni10 legt beispielsweise Irmtraud Rösler ihrer Studie zur historischen Syntax des Deutschen im Mittelalter eine Klassifizierung der spätmittelalterlichen Textsorten zugrunde.11 Als Ergänzung und konkrete Weiterentwicklung der Auslegungen dieser Autoren wird unten versucht, eine dieser Textsorten (einen Textsortenkomplex) – die medizinische Sachprosa – in ihrer Dynamik, in ihrer text- und sprachsyntaktischen Entwicklung stichprobenartig zu betrachten und mit den sprachhistorischen (an erster Stelle den syntaktischen) Neuentwicklungen in Verbindung zu stellen. Dabei werden syntagmatische Verhältnisse zwischen den medizinischen Textsorten im Blickfeld stehen und angrenzende Textsorten (Kräuterbücher, Rezepte, Segen, Gedichte) herangezogen, sodass die Gesamtheit des Textsortenkomplexes, der im Mittelalter häufig als medica in Sammelhandschriften verbunden wurde, wenigstens eine vorläufige Betrachtung bekommt. Mit Hinblick auf die soziopragmatische Differenzierung der Textsorten muss besondere Aufmerksamkeit den populären Sorten gewidmet werden, die in privatem Gebrauch Verbreitung fanden. Die Wechselbeziehungen zwischen Textgrammatik und syntaktischer Entwicklung muss mit den soziopragmatischen Charakteristiken der Quellen korreliert werden. Im Laufe der Kompilierung erfolgen Änderungen in dem Text und der Sprache der zusammengetragenen Stücke. Die Reihenfolge der Textteile wird geändert, die Thema-Rhema-Verhältnisse können häufig umgebaut werden, fast immer wird eine auf den gesamten Text bzw. die gesamte Sammelhandschrift bezogene Vereinheitlichung des Ganzen unternommen, bei der ein bestimmter Grad des Sprachausgleiches erfolgt. Die neugeschaffene Einheit wird durch Merkmale wie Überschriften, Zeichen der _____________ 10 11
Vgl. Admoni (1986); ders. (1980). Vgl. Rösler (1997, 75ff., 230ff.).
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Paragraphen bzw. eingeführte Markierung des Paragraphschlusses gestärkt. Die heterogenen Stücke bekommen in dieser neuen Sammelhandschrift eine einheitliche paläographische Ausführung (gemeinsames Schreibmaterial, Format und Schriftspiegel, Linierung, Zeilen- und Spaltenzahl, Schrift, Verwendung von Initialen, Rubriken und Verzierungen). Thematisch heterogene Inhalte werden zu größeren Texteinheiten verbunden (manchmal unter einem gemeinsamen Titel) und werden dadurch einer semantischen Umdeutung unterworfen. Letzteres kann sowohl die Text- als auch die Wortsemantik betreffen.12 Eine neue Einheitlichkeit tritt ein, die durch syntaktische, sprachliche und auch paläographische Mittel gefestigt wird. Mit Rücksicht auf diese zu erwägenden Aspekte der medizinischen Schriftlichkeit wird unten ein spezieller Akzent auf die Verwendung von Quellen gesetzt, die für diesen Versuch in den Originalhandschriften zugänglich waren. In manchen Aspekten konnte durch den Vergleich mit Texteditionen einiges ergänzt oder überprüft werden. In dem Verzeichnis der verwendeten Quellen sind als solche nicht die gesamten Handschriftenkomplexe (Kodices) aufgelistet, sondern die einzelnen Texte, die in der Liste in traditionelle Textsorten untergegliedert sind. Die Angaben zur Handschrift werden bei dem ersten erwähnten Teil gemacht, für weitere Teile derselben Handschrift wird auf diese Angabe verwiesen.13 Arzneibücher 1. Medizinisches Büchlein, Ende des 14. Jh. • Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 43, fol. 2ab. • Abdruck: Schmidt, Gustav (1881), „Halberstädter Bruchstücke IV. Medicinisches“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, XII / 1881, Halle, 150-155. 2. Ortolf‘s von Baierland Arzneibuch, Kap. 72 „Von den zeichen des todes“ • Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 49 (Volksmedizinisches Büchlein, 15. Jh.), fol. 2ab. • Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный лечебник“. _____________ 12
13
Ein interessantes Beispiel dafür, wie kodikologische Umgestaltung einer Handschrift und paläographische Faktoren zur Umdeutung von konkreten Lexemen und des ganzen Texts führen können, ist zu finden in: Squires (2008a). Zu den Moskauer Handschriften sind im 2008 erschienenen Katalog weitere Auskünfte zu finden: Сквайрс / Ганина / Антонец (2008). Im selben Band sind Forschung, Bibliographie und Abbildungen zu finden.
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Abbildung in Сквайрс Е.Р. / Ганина Н.А. / Антонец E.B. (2008), Abb. 52, 53.
Kräuterbücher 3. Lateinisches Kräuterbuch, 13. Jh. • Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 18. • Abgebildet in: Сквайрс / Ганина / Антонец (2008), Abb. 51. 4. Macer Floridus (Kräuterbuch) (Fragment). Ende 14. Jh., deutsch. • Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 42. • Abdruck: Schmidt, Gustav (1881), „Halberstädter Bruchstücke V. Aus einem Alphabetisch geordneten Kräuterbuche. [Macer Floridus]“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, XII / 1881, Halle, 155-182. Rezepte 5. Drei Rezepte aus Meister Albrants Roßarzneibuch, 15. Jh. • Originalhandschrift: s. oben Quelle 2, fol. 1a. • Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный лечебник“; Морозова, П.В. (2004), Язык и жанр немецких медицинских рукописей. Pestregimente 6. Auszug aus einer Pest-Regel, 15. Jh. • Originalhandschrift: s. oben Quelle 2, fol. 2b. • Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный лечебник“; Морозова, П.В. (2004), Язык и жанр немецких медицинских рукописей. 7. We man sik regeren schal in der pestilencien, 15. Jh. • Originalhandschrift: HAB, Helmst. 1229, fol. 165v-169. Segen 8. Lateinisches Gebet gegen Urine-Verschmutzung der Kleidung, 15.Jh. • Originalhandschrift: s. oben Quelle 2, fol. 1a. • Abdruck: Морозова, П.В. (2003), „Немецкий рукописный лечебник“; Морозова, П.В. (2004), Язык и жанр немецких медицинских рукописей. 9. Niederdeutsches Gebet gegen eine Krankheit, 15. Jh. • Originalhandschrift: UB Moskau, Fonds 40, Verz. I, Nr. 48. • Abdruck: Squires, Catherine (2008), „Wort- und Textsemantik im Rahmen paläographischer und kodikologischer Determinanten“, mit Abbildung.
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10. Ein Segen, in: Collectanea medica, spätestens 1. Hälfte 15. Jh. • Originalhandschrift: S.-Petersburg, RNB, Fonds 955, Verz. 2, Nr. 76, in einem hineingelegten Heft, auf fol. 6. • Transkription: Squires. Ergänzende Quellen Macer Floridus (Kräuterbuch), lateinisch. • Abdruck: Choulant, Ludwig (Hrsg.) (1832), Macer Floridus de viribus herbarum, Leipzig. Rezeptbuch aus einer medizinischen Sammelhandschrift, 15.Jh; British Museum, Arund., 164, fol. 108a-110a. • Abdruck: Priebsch, Robert (1901), Deutsche Handschriften in England, II / 1901, Nr. 61. Als Gegenstand der Analyse sind unten Erscheinungen der Syntax gwählt, die in der sprachhistorischen Literatur als allgemein wichtige Tendenzen der Entwicklung angesehen werden: •
in der gesamten Textstruktur: Textumfang bzw. Satzlänge;
•
in der Satzstruktur: die Anordnung der Information in den Elementarsätzen, die Reihenfolge der Elementarsätze;
•
im Elementarsatz: Stellung und Form des finiten Verbs.
Neuerscheinungen in diesen Aspekten der Text- und Satzstruktur haben, so die Syntaxhistoriker, mit der Informationsbewahrung und -vermittlung zu tun, sie übernehmen das Signalisieren der logischen und auch grammatischen Abhängigkeit. Die Stirnstellung des Verbs im Satz bedeutet die Abhängigkeit eines Bedingungssatzes und hat folglich eine besonders wichtige Signalfunktion.14 Das lässt uns vermuten, dass diese sprachsystematischen Züge und ihre historische Entwicklung ein wichtiger Bestandteil der textsortentypologischen Problematik sind. Sie sollen folglich in einer engen Verbindung mit der Genese der Textsorten aus dem Bereich ‚medizinisches Allgemeinwissen‘ stehen und die Entfaltung der Vielfalt der letzten und die Richtung der Neuentwicklungen markieren.
_____________ 14
Vgl. Rösler (1997, 129).
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3. Wissenschaftliche Herbarien und die praktische Heilkunde Die Entwicklung eines wissenschaftlichen Herbariums zu einem volkssprachlichen praktischen Kräuterbuch kann anhand des berühmten Macer Floridus beobachtet werden. Die Übersetzung des lateinischen Kräuterbuches ins Deutsche kann erwartungsgemäß als ein Schritt zur Aneignung dieser naturwissenschaftlichen Quelle von Seiten eines breiteren Leserkreises als nur der lateinkundigen Gelehrten angesehen werden. Die Verdeutschung ermöglicht seine Veränderung zu einer Textsorte, die nicht nur den Gelehrtenkreis anspricht, sondern für den breiten öffentlichen Gebrauch geeignet ist. Mit dieser textsortentypologischen Verwandlung gehen, wie unten gezeigt wird, inhaltliche und textuelle Änderungen Hand in Hand. Macer, Nr. 14, 51. V. 549-58515 Anthemim magnis commendat laudibus auctor Asclepius, quam Chamaemelum nos vel Chamomillam Dicimus; haec multum redolens est et brevis herba, Herbae tam similis, quam iusto nomine vulgus Dicit Amariscam, quod foetat et sit amara, Ut collata sibi vix discernatur odore. Auctores dicunt species tres illius esse, Quas solo florum distingui posse colore Tradunt: est cunctis medius flos aureus illis, Sed variis foliis flos circumcingitur ille, Albi vel nigri sunt purpureive coloris. Dicitur Anthemis proprie, cuius foliotum Purpureus color est, maiorque et fortior haec est; At Leucanthemum foliis deprehenditur albis, Melinis Chrysanthemum ; vis omnibus illis Sicca calensque gradu primo conceditur esse.
Der deutsche Macer floridus, UB Moskau [C]amonilla, wizzelblumen ―
ist eyn wolrechende crut unde ist drierhande : ir izlich irkennit man bi der blůmen. in allen ist die blume mittene goltvar unde ummesatzet mit bleteren maniger var, die eine mit witzen, die ander mit swarzen, die dritte pfellervar:
― unde sind alle heiz unde trocken in dem ersten grade. swellich iz si, dicke getrunken mit wine (= 568) hilfet dem,
_____________ 15
Ausgabe: Choulant, Ludwig (Hrsg.) (1832), Macer Floridus de viribus herbarum, Leipzig; zitiert nach Schmidt (1881) mit beibehaltenen Zeilenangaben.
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Macer, Nr. 14, 51. V. 549-58515 Provocat urinam cum vino quaelibet hauste, Vesicae frangit lapides... ...et menstrua purgat Si fiveatur aqua matrix qua cocta sit herba, Aut si cum vino potetur saepius illa ; Tormina sec sedat, stomachique inflatio potu Pelletur tali. Squamas de vultibus aufert, Si tritam apponass solam mellive iugatam. etc., etc.
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Der deutsche Macer floridus, UB Moskau der mit arbei[t] harnet, unde vertribet den stein in der blasen. de wizselblome gesoten mit wazzare.vurdirt de wip an ir suche, ab sie zu lange sumen. [... ...] vnde ob sie sie dicke trinke mit wine, daz selbe stillet des buches curren. daz selbe hilfet getrunken den zusw(o)llen magen. camomila gestozen mit honige oder alleyne und under de ougen gestrichen ist gut der scelenden hut. camomila gesoten ist gut genutzet, swer kichet. [...]
Tabelle 1: Veränderungen im Textinhalt und -aufbau im Laufe der Verdeutschung eines Herbariums
In Tabelle 1 ist zum Vergleich ein Auszug des deutschen Macer aus dem ausgehenden 14. Jh.16 mit seiner lateinischen Vorlage angeführt. Die entsprechenden Textteile sind nebeneinander in zwei Spalten angeordnet, sodass die im Laufe der Verdeutschung erfolgten Textverluste und Abweichungen gut zu beurteilen sind. Der Vergleich zeigt, dass bei der Übersetzung deutliche Veränderungen im Text vorgenommen worden sind. Der verdeutschte Macer ist in Prosa verfasst, während die Vorlage, wie schon oben erwähnt, eine Dichtung war. Die deutsche Fassung ist in den einführenden Teilen wesentlich kürzer als ihre Vorlage: Ganze lateinische Textteile sind ausgefallen (in der Tabelle durch Kursivierung hervorgehoben), und wenn man sie betrachtet, merkt man, dass der deutsche Verfasser nur bestimmte Inhalte ausgelassen hat. Zu diesen weggelassenen Informationen gehören Verweise auf die wissenschaftlichen Vorgänger und Autoren, wie der im Beispiel erwähnte Asclepiades in commendat laudibus auctor Asclepius und im übrigen Text Erwähnungen von Plinius (743, 1433), manche von Galienus (955) und einzelne wie jene von Tradit Anaxilaus (2045). In der deutschen Fassung fehlen verweisende Parenthesen wie Auctores dicunt und Tradunt. Damit bleibt die spätklassische wissenschaftliche Argumentation des Originals zum größten Teil in der deutschen Fassung nicht überliefert. Da diese Text- und Inhaltselemente zu den wesentlichen Merkmalen der mittelal_____________ 16
Die Datierung geht auf Gustav Schmidt, den ersten Herausgeber des deutschen Macers zurück; vgl. Schmidt (1881, 155ff.).
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terlichen wissenschaftlichen Prosa gehören,17 sollte diese Arbeitsweise des deutschen Übersetzers bedeuten, dass er absichtlich von dem akademischen Stil und Genre abweichen wollte. Als unnötig für die neuen Aufgaben hält der Bearbeiter die ausführlichen Beschreibungen der verschiedenen Arten der Heilpflanzen; diese werden in dem deutschen Text kürzer oder fallen ganz aus (vgl. Tabelle 1). Verzichtet wird auf synonymische Bezeichnungen der Pflanzen: anstatt der Namenreihe Chamaemelum, Anthemis, Amarisca ('Hundskamille'),18 Leucanthemum und Chrysanthemum ('Wucherblume')19 wird nur die gängige Camomilla beibehalten, der die volkssprachliche Bezeichnung wizzelblume beigefügt wird. Von Bedeutung dürfte auch die Tatsache sein, dass diese doppelten lateinisch-volkssprachlichen Bezeichnungen im deutschen Macer immer am Anfang des Kapitels, als Lemmata stehen und nicht wie in der Vorlage, in einem poetischen Text zerstreut sind. Der Abbildung 1 (s. unten), die der Kamille und dem Drachenwurtz ([C]olubrina oder naterwort) gewidmete Textteile zeigt, ist zu entnehmen, dass diese Prinzipien im Buch durchlaufend angewendet werden. Durch die unternommene Kürzung werden nicht nur der Inhalt und die Struktur des gesamten Paragraphen auf das Praktische und Nützliche reduziert, sondern die ihn konstituierenden Sätze bekommen eine größere Überschaubarkeit und ihre syntaktischen Strukturen kommen stärker zur Geltung. Die Veränderungen greifen jedoch tiefer in den Sprachstoff hinein, indem die einzelnen, aneinander gereihten Sätze sich einem einheitlichen syntaktischen Muster annähern. In der unten angeordneten Zitatliste sind die syntaktischen Muster der Sätze klar zu sehen, die nach der kurzen Beschreibung der Kamille kommen und Anweisungen für ihre medizinische Verwendung enthalten: (1-2) [C]amonilla, wizzelblumen.. swellich iz si,.. dicke getrunken mit wine hilfet dem, der mit arbei[t] harnet, unde vertribet den stein in der blasen; (3)
de wizselblome gesoten mit wazzare. vurdirt de wip ...;
(4)
ob sie sie dicke trinke mit wine, daz selbe stillet des buches curren;
(5)
daz selbe hilfet getrunken den zusw(o)llen magen;
_____________ 17 18 19
Vgl. den Abschnitt „References to Authorities“ in: Taavitsainen / Pahta (1998, 167ff.). Vgl. Schmidt (1881, 174). Vgl. Mildenberger (1997, 297f.).
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(6)
camomila gestozen mit honige oder alleyne und under de ougen gestrichen ist gut der scelenden hut;
(7)
camomila gesoten ist gut genutzet, swer kichet.
Die hier zusammengestellte Liste zeigt, dass in der überwiegenden Mehrheit der Sätze, wie auch im ganzen Kapitel, die Erststellung dem Namen der Pflanze camomila, de wizselblome (1-2, 3, 6, 7) oder einer Ersatzform des Namens (daz selbe in 5) zugewiesen ist.
Abbildung 1: Der deutsche Macer: Camomilla und Colubrina
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Für die Anweisung zur Zubereitung (mit der darauf folgenden Rezeptur) oder / und zur Verwendung des Heilkrauts sind nur wenige syntaktische Konstruktionen benutzt. Fast in allen Fällen ist es die Partizip-Form: (dicke) getrunken (mit wine), gesoten (mit wazzare), getrunken, gestozen (mit honige oder alleyne), (under die ougen) gestrichen, gesoten, dicke getrunken. Ein Satz weicht von diesem Modell ab und hat eine Konjunktivform des Verbs: ob sie sie dicke trinke mit wine (4). Die Formulierung der Zubereitungs- bzw. Anwendungsweise als Bedingungssatz, die durch das Optativ / Konjunktiv des Verbs realisiert ist, bedeutet den Übergang von einem beschreibenden Texttyp zu einem anweisenden (praktischen). Die Verwendung des Optativs / Konjunktivs für das Signalisieren der Abhängigkeit liegt in der Bahn der Normenentwicklung im hochdeutschen wie auch im (mittel)niederdeutschen Sprachraum.20 Wir sehen, dass in der dargestellten Quelle diese Entwicklung erst angedeutet ist. Nach der Anweisung ist in mehreren Sätzen die Wirkung des pflanzlichen Heilmittels bestätigt – als Prädikat im Hauptsatz – hilfet (1, 5), ist gut, ist gut genutzet (6, 7). Nur in den Fällen, in welchen eine spezifische Wirkung der Behandlung genauer erklärt werden musste, finden wir andere Verben: vertribet (2), vurdirt (3), stillet (4). Die Beschwerde, gegen die das Mittel empfohlen wird, ist am Ende des Satzes erwähnt, wofür oft eine Dativform verwendet wird: den zusw(o)llen magen (5), der scelenden hut (6). Längere Symptom-Angaben sind als Nebensatz formuliert, der auch durch eine Dativform eingeleitet werden kann: dem, der mit arbei[t] harnet (1), aber swer kichet (7). In anderen Fällen sind die Beschwerde und die Wirkung in einem einfachen Satz mit Direktobjekt ausgedrückt: vertribet den stein in der blasen (2), stillet des buches curren (4) oder, seltener, in einer Satzkette, vurdirt de wip an ir suche, ab sie zu lange sumen ... (3). Durch die unternommene Bearbeitung erzielt der deutsche Verfasser eine praktische Textkürze und eine Überschaubarkeit der Information, die seinem Werk die Funktionalität eines populären Nachschlagewerkes oder einer Anweisung verschaffen, im Gegensatz zum beschreibenden Charakter der lateinischen poetischen Vorlage. Das offensichtliche Bestreben, den Benutzern auf eine anschauliche und einfache Art berufliche Kenntnisse zur Verfügung zu stellen, wird zusätzlich durch Mittel der paläographischen Ausführung des deutschen Macers unterstützt. Auf Abb. 1 ist zu sehen, dass der Schreiber an jedem Paragraphkopf Platz freigelassen hat für eine große (zwei Zeilen hohe) Initiale, die im nachfolgenden Arbeitsgang in Farbe auszuführen war. Leider ist in der Handschrift die Rubrizierung nicht durchgeführt worden, _____________ 20
So beispielsweise Rösler mit Anlehnung an Härd / Magnusson / Nissen / Schöndorf; vgl. Rösler (1997, 129).
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aber die Absicht war es offensichtlich, den im Lemma stehenden Pflanzennamen optisch noch stärker hervorzuheben. Für die weitere Analyse sind die oben gemachten Beobachtungen in den folgenden Punkten zu formulieren: Die Abschaffung von typischen Merkmalen der mittelalterlichen wissenschaftlichen Textsorte, der Verzicht auf theoretische, für den Laien überflüssige Information, die Vereinfachung der Text- und Satzstrukturen, eine zum Teil sogar erreichte Einheitlichkeit der konstituierenden Teile des Texts demonstrieren den soziopragmatischen Wandel der ursprünglichen Textsorte. Im Vergleich zu seiner Vorlage weist der deutsche Macer den Versuch auf, eine Annäherung der im lateinischen Traktat überlieferten Kenntnisse an den Bedarf und die alltäglichen Wünschen der Leute zu erreichen. Die unternommenen Veränderungen im Inhalt, in der Anordnung der Information, in den sprachlichen syntaktischen und grammatischen Mustern und in der paläographischen äußerlichen Gestaltung, selbst die volkssprachliche Form, ändern wesentlich sein textsortentypologisches Profil. Dennoch bleibt der Macer aus dem 14. Jh. grundsätzlich dasselbe, ein Kräuterbuch, also ein beschreibendes Werk. Die Thema-Rhema-Gliederung ist unverändert geblieben: Der Leitbegriff ist das Heilmittel, dem in rhematischer Stellung seine Anwendung für bestimmte Erkrankungen und Beschwerden folgt. In einem medizinischen Notfall bietet das Werk zweifelsohne viel leichteren Zugriff zu den nötigen Auskünften als seine Vorlage; dennoch würden die kranken Laien und ihre Betreuer im Text unter den Bezeichnungen von Krankheiten bzw. betroffenen Organen nachschlagen und dann zur Behandlung und zu den Mitteln nachlesen wollen. Dem Schreiber war dieses Problem offensichtlich bewusst, denn er hat ihm in der Hs. durch lateinische und deutsche Randglossen beikommen wollen: vgl. ad vrinam, ad lapide(m), Muhe(r)ib(us), curren, stomacho, sw(er) kichet, usw. gegenüber den entsprechenden Textabschnitten (vgl. Abb. 1). Diese entgegengerichtete Anordnung des Stoffes – von der Erkrankung zu den zur Verfügung stehenden Mitteln – ist ein charakteristisches Merkmal einer anderen Gattung der medizinischen Textsorte, des Arzneibuches. Vorläufig kann hier die (im Weiteren zu überprüfende) Vermutung formuliert werden, dass die unterschiedlichen Quellentypen sich in der Textsortengenese des späten Mittelalters überschneiden.
4. Kräuterbücher und Arzneibücher Diese textsortengenetische Überschneidung von Kräuter- und Arzneibüchern ist vermutlich anhand von älteren Quellen klarer zu beobachten. Ein medizinisches Büchlein aus dem 14. Jh. ist in der Wissenschaftlichen Bib-
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liothek der Universität Moskau befindlich. Es ist erwartungsgemäß nach diesem nutzerfreundlichen Ordnungsprinzip – von der Erkrankung zum Heilmittel – zusammengestellt, wie beispielsweise diese zwei Paragraphen zeigen, die im Text unmittelbar hintereinander folgen: 21 § 2. deme die augen driefen, der neme salbeien, unde halb also vil ruden, unde zwirnet also vil kervelen alse der salbeien ist, unde stoz daz zusamene in eime morsere, daz is saf gebe, unde so er slafen get, so netze daz crut in eines eyes clare, unde belege domide dine stirnen unde dine wangelin. daz ist gut. § 3. dem der harm so calt ist, daz er den harm nit wole mag behalden, der siede selbe ein wazzer unde drinke daz dicke also warm. daz ist gut.
Am Kopf des Paragraphen steht in diesem Text die Bezeichnung der Beschwerde, was die praktische Anwendung des Buches für die Krankenpflege erleichtert und der Bezeichnung Arzneibuch entspricht. Was die in der Anweisung zur Pflege erwähnten Medikamente anbetrifft, so besteht das Heilmittel in beiden Fällen aus pflanzlichen Komponenten: Im ersten Paragraphen sind es Salbei, Raute und Kerbel, im zweiten wird nur Salbei empfohlen. In den übrigen Teilen der Handschrift ist auch die Rede von pflanzlichen Heilmitteln, und es ist schon auf den ersten Blick klar, dass dieses Arzneibuch inhaltlich, also in Hinblick auf die dargebotene Information, dem oben vorgeführten Kräuterbuch-Typ sehr ähnlich ist. Der Unterschied liegt in der Anordnung dieser Information. Der textsortentypologische Unterschied zwischen einem Kräuterbuch und einem Arzneibuch liegt also, wenn man diese zwei Quellen vergleicht, nicht in der beinhalteten Information, sondern in den syntaktischen Mustern, nach denen diese Information angeordnet ist. Dieselben, aber auf unterschiedliche Arten zusammengestellten Elemente bilden in den beiden Büchern semantisch-syntaktische Komplexe, deren Inhalte aber nicht dieselben sind. Denn ihre text- und sprachpragmatischen Charakteristiken, ihre thema-rhematischen Strukturen sind unterschiedlich, und diese leisten einen wichtigen Beitrag zum semantischsemiotischen Wert der gesamten Texte. Kann es denn möglich sein, dass die Strukturierung und formelle Arrangierung der überlieferten Information entscheidend ist für die textsortentypologische Einschätzung, während die eigentliche extralinguistische Information kein bestimmendes Kriterium ist? Vermutlich soll uns der praktische, auf Zweck und Wirksamkeit orientierte Charakter unserer, zur Sachprosa gehörenden Quellen einen besonders klaren Einblick ermöglichen in das Verhältnis zwischen Inhalt und Form in der Textsortengenese des späteren Mittelalters. Von dem Standpunkt des formulierten Problems aus hat das oben angeführte Textbeispiel eine große Ähnlichkeit mit einer weiteren Sorte – _____________ 21
Die Handschrift hat keine Paragraphnummern, ich führe sie für diesen Aufsatz ein.
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den Rezepten.22 Die beiden oben zitierten Paragraphen des medizinischen Büchleins sind eigentlich zwei Salbei-Rezepte. Sie werden für unterschiedliche Beschwerden empfohlen, sind aber zusammen angereiht. Weitere Textbelege aus derselben Quelle überzeugen davon, dass dieses Arznei(bzw. Rezept(?)-)buch das Anordnungsprinzip eines Kräuterbuches hat. Die Paragraphen des Buches sind, obwohl sie mit der Erwähnung der Krankheit bzw. Beschwerde anfangen, nach der Hauptingredienz gruppiert: dem Namen der zuerst erwähnten Pflanze (bei der Zitierung durch größere Schrift hervorgehoben). Hintereinander folgen beispielsweise, obwohl sie für verschiedene Krankheiten verwendbar sind, drei Petersilierezepte: § 12. deme in dem herzen oder in dem milze oder in der siten we si, der neme petersilien, unde side den mit wine unde mit eim wenig ezzeges, unde du gnuc honeges darzu, unde sihe daz durch ein duch, unde drinc daz dicke. § 13. deme der klobelauch we du gezzen, der ezze zu hant petersilien. daz hilfet. § 14. deme der stein we dut, der neme petersilien unde daz dritteil steinbrechen, unde side daz mit wine,...
Zwei Fenchel-Rezepte stehen nebeneinander, obwohl eins für Menschen, das andere – für Schafe ist: § 10. der gerne drunken wirdet, der ezze fenichilsamen. daz hilfet. § 11. ob die schaf beginnent sichen, so neme man fenchil, unde ein wenic minre dilles, unde lege daz in ein wazzer, daz is darnach smacke, unde gib is den schafen zu drinkene.
Das gesamte Fragment des Arzneibuchs überliefert 36 aufeinander folgende Paragraphen. In jedem steht die Bezeichnung der Erkrankung (des betroffenen Körperteils) bzw. der Beschwerde (Fliegen, Läuse) am Anfang. Die Symptomatik ist jedoch nicht das Gruppierungsprinzip des Buches: Die Paragraphen sind nicht nach diesen Kopfbegriffen eingeordnet, sondern nach der ersten erwähnten Zutat, einer Heilpflanze. So ist Pfeffer die Hauptzutat in § 1, Salbei in den §§ 2, 3, Raute in den §§ 4, 5, Lattich und Zimt in § 6, Ysop in § 7, Fenchel in den §§ 8-11, Petersilie in den §§ 12-14, Kerbel in den §§ 15, 16, Liebstöckel in § 17, usw. Das hat zur Folge, dass die zu denselben Erkrankungen gehörenden Rezepte nicht zusammen stehen, sondern in manchen Fällen sogar weit voneinander entfernt sind. Zum Beispiel würde man bei der Behandlung eines Leberkranken unter den §§ 5 und 6 nachlesen, für jene eines Herzkranken aber die _____________ 22
Als Rezeptbuch ist der Text klassifiziert, in dem beispielsweise steht: Dem sin mage we tů d(er) siede haselwurz mit wazzer vn(d) trinch daz (Arund. 164, vgl. oben ‚Ergänzende Quellen‘). Die Wortformulierung, Grammatik und funktionalsyntaktische Anordnung sind genau dieselben wie im Arzneibuch des 14. Jhs.
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§§ 12 und 34 finden müssen, und wegen Augenproblemen sollte man die §§ 2, 4, 8 und 21 aufsuchen. In Übereinstimmung mit diesem Prinzip sind unter den Anweisungen gegen Menschenerkrankungen veterinäre Rezepte bei den entsprechenden Kräuter-Gruppen mituntergebracht: ein Fenchel-Rezept für Schafe (vgl. oben § 11) und ein Sonnenblumenrezept für Rinder und Schafe: § 29. so die rindere oder die schafe iht gezz[en han], daz sie gehelingen swellen, so man[ge rin]gelin mit ein wenig wazzers, unde gebe [ine] daz zu drinkene. daz hilfet.
Man dürfte wohl vermuten, dass der Verfasser ein Kräuterbuch als Vorlage hatte und bei der Kompilation die auf die Haupt-Ingredienz orientierte Reihenfolge – also das Kräuterbuch-Prinzip – beibehalten hat. Nicht auszuschließen ist sogar, dass es sich um mehrere solche Quellen handelt: Die Paragraphen unterscheiden sich so stark in ihrer Länge, dass dies auf ihre Herkunft aus verschiedenen Sammlungen hindeuten könnte. Die kürzesten Paragraphen (beispielsweise § 10) sind unter anderthalb Zeilen lang, während der längste (§ 16) 11 Mal so lang ist und mit seinen 16,5 Zeilen über zwei Drittel des Blattes einnimmt (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Medizinisches Büchlein aus dem 14. Jh., fol. 2b-3a.
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Oben wurde formuliert, dass der textsortentypologische Unterschied zwischen einem Kräuterbuch und einem Arzneibuch nur in der ungleichartigen Anordnung derselben Information liegt, also in der Textstruktur und -syntax. Der inhaltliche Unterschied eines Rezepts zum Arzneibuch liegt wohl darin, dass im ersten der anweisende Akzent auf die Zubereitung eines (manchmal komplizierten) Heilmittels gelegt wird. Solche Anweisungen können auch im Kräuterbuch stehen, sie beschränken sich jedoch auf nur pflanzliche Heilmittel. Die Unterschiede zwischen diesen drei Quellentypen sind folglich fließend und, was die überlieferte Information anbetrifft, nicht prinzipiell. Der Verfasser des deutschen Macers versuchte, wie man oben sehen konnte, noch ohne die ursprünglichen Thema-Rhema-Verhältnisse zu ändern, neue Suchmöglichkeiten durch Randglossen einzubauen. Im zweiten zitierten Büchlein ist der Umbau in den Paragraphen erfolgt, das alte Suchprinzip der botanischen Quelle bleibt jedoch auch beibehalten: Die Einleitung der Paragraphen, die durch große rote Initialen hervorgehoben ist, thematisiert den Zweck der Behandlung (die Beschwerde bzw. den betroffenen Körperteil), während im Text derselben die Namen der Ingredienzen leicht zu finden sind, weil, erstens, alle Paragraphen mit derselben Hauptzutat im Text nebeneinander stehen, und, zweitens, weil diese erste Pflanzen-Erwähnung in den Paragraphen dank der einheitlichen Satzstruktur an ähnlichen Stellen vorkommt. Zum Beispiel sind mhd. kerbel und mhd. sisemar (wohl lat. sisymbrium wie Schmidt erläutert)23 problemlos am Ende der ersten oder zweiten Zeile der entsprechenden Paragraphen zu finden (vgl. in Abb. 2: kerbel auf fol. 2b und sisemar auf fol. 3a). Dem Benutzer sind gleichzeitig zwei Suchmöglichkeiten geboten: nach dem neuen Suchprinzip anhand der Kopfbegriffe (der medizinischen Beschwerde), aber auch nach dem alten (sekundär gewordenen) Prinzip der Hauptzutat, die im Text leicht ins Auge fällt. Wenn jedoch, wie oben vermutet wurde, die Arrangierung dieser Information, das Muster, in der sie kombiniert wird, ein textsortenbildendes Merkmal ist, dann sollte das bedeuten, dass Kompilierung häufig in der Verwandlung von einer Textsorte in die andere resultieren sollte. In anderen Worten: Ist die Genese von Textsorten wie Arznei- und Kräuterbüchern und Rezepten als ein Wandel im Laufe von praxisbedingter Kompilierung zu sehen? Um diese Vermutung zu überprüfen, könnte man in der Art eines Experiments versuchen, in den Sätzen aus dem deutschen Macer die Satzteile umzustellen. Die Erststellung soll der Angabe der Beschwerde zugewiesen werden (unten in den Macer-Belegen unter (1) zu sehen), dann soll die _____________ 23
Schmidt (1881, 150ff., hier 153, Anm. 4).
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Anweisung zur Pflanzenkur folgen (2) und der Rest des Satzes soll zuletzt kommen (in den Belegen durch (3) markiert). Gleichzeitig soll das Partizip, dem Charakter einer Anweisung gemäß, durch den Imperativ des Verbs ersetzt werden. Die auf diese Weise präparierten Sätze würden dann so aussehen (in den folgenden Beispielen wird in den oberen Zeilen der Macer zitiert und in den unteren Zeilen das Ergebnis des Stellenwechsels angeführt): (5)
daz selbe hilfet getrunken den zusw(o)llen magen. (1) zusw(o)llen magen – (2) trinke – (3) daz hilfet
(6)
camomila gestozen mit honige ..und under de ougen gestrichen ist gut der scelenden hut; (1) der scelenden hut....(2) stoze camomila mit honige...und striche under de ougen – (3) ist gut.
(7)
camomila gesoten ist gut genutzet, swer kichet; (1) swer kichet – (2) siede camomila – (3) [daz] ist gut
Das Resultat ist dem oben vorgeführten Arzneibuch aus dem 14. Jh. sehr ähnlich: Die syntaktische Umordnung genügte dafür, dass es kein beschreibendes Werk mehr ist, das mit irgendeiner wissenschaftlich-theoretischen Absicht verfasst wurde, sondern ein Nachschlagewerk oder eine Anweisung für praktische Zwecke mit einem bequemen Doppelsuchsystem. Seine praktische Anwendung ist, wie oben schon betont wurde, durch die Einführung eines einheitlichen syntaktischen Satzmusters erleichtert. Die drei Bestandteile werden durch nur wenige syntaktische Muster realisiert. Im ersten Teil (Benennung der Beschwerde) kommen Nebensätze in folgenden syntaktischen Mustern vor: 1. der daz biever hat; 2. der vergifft hat gezzen oder gedrunken; der iht rowes habe gezzen; 3. deme die augen dunkelen driefen; deme die augen dunkelen; dem der harm so calt ist; dem daz freisliche erhebet; deme in dem herzen oder in dem milze oder in der siten we si; dem in der leberen oder in der lungen we ist; deme der klobelauch we du gezzen; deme der stein we dut; 4. den wiben, den ir sache in unrehten ziden zu fil wirret Seltener kommen Bedingungssätze vor. Sie gehören zwei syntaktischen Typen an: 1. mit Inversion: beginnet der mensch in der leberen fon unfrauden sichen; der grawe augen hat, beginnent sie siechen ader dunkelen; der swarz oder crumpvar
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augen habe, dunt sie deme we oder beginnent sie ime dunkelen; Ist er aber sich, er genieset, daz pulver [sal] man...; Ist ieme danne noch nit baz; 2. mit der Konjunktion ob: ob de schaf beginnent sichen...; ob dem manne ein geschwolst beginnet sich heben...; Obe sie aber [brec]hen, so neme... Im zweiten Teil des Paragraphen folgt die medizinische Anweisung. Hier überwiegen Imperativformen des Verbs (ein typisches Rezeptmuster,24 vgl. Anm. 5); nur in einem Fall hat der Schreiber sich für eine Indikativform entschieden: ( den wiben, ...), die legen bathenien,.. unde drinken. In einem zweiten Fall wäre die Verwendung des Imperativs unmöglich gewesen: (die fliegen,) die daz ezzent. Die Formulierung einer Fenchel-Kur für Schafe ist möglicherweise im Konjunktiv zu verstehen und stellt eine andere, noch seltene Ausnahme dar: ob die schaf beginnent sichen, so neme man fenchil... Diese kurz formulierten Anweisungen sind durch die Verwendung einer hohen Anzahl von Verben charakterisiert. In dem verhältnismäßig kleinen Textumfang sind über 120 syntaktische Verbpositionen enthalten, was durchschnittlich ein Verb pro Zeile ausmacht (die Zeilenlänge beträgt nur 80 mm). Diese Verbpositionen sind durch nur 30 Verblexeme besetzt, von denen einige an stereotypen, textsortentypischen Ausdrücken teilhaben und sehr häufig wiederholt werden. Am häufigsten kommen vor: neme (über 20 Fälle), drinke (13-mal) und ezze (10-mal). Während neme das übliche Verb in den einleitenden Teilen der Anweisungen ist und eine Konstruktion mit dem Namen der empfohlenen Heilpflanze bildet (vgl. neme salbeien, neme petersilien), werden drinke und ezze an den Schluss gestellt und bezeichnen die Weise, auf die die Arznei einzunehmen ist. Etwas seltener sind siede, stoze, pulvere und lege; in wenigen oder nur einzelnen Fällen kommen die Verben bade, begrabe, belege, binde, dribe, du, gebe, gieze, lazze, mache, mange, mische, netze, salbe, sihe, striche, werme, winde und andere vor. Wie leicht zu sehen ist, bezeichnet diese letzte Gruppe konkrete medizintechnische und pharmazeutische Vorgänge, weshalb unterschiedliche Lexeme in diesem Falle zu erwarten sind. Die über 120 Verbformen sind in den etwa 40 Sätzen der 36 Paragraphen unregelmäßig verteilt. In drei Fällen genügte ein Verb: ezze accleia; der ezze fenchilsamen; der ezze zu hant petersilien. In den übrigen Paragraphen _____________ 24
Rezepte sind auch anweisende Texte, die durch Kürze und das überwiegende ImperativMuster charakterisiert sind, zum Beispiel: Nem eyn gluwenden ysen..., Nym hundes myst... (ediert in: Морозова 2008, 77; – Морозова 2004, 71). Diese grammatischen Besonderheiten bleiben auch für die späteren populären Kompilationen typisch, geändert wird nur der ThemaRhema-Aufbau des Textabschnittes: Ins Thema wird die Bezeichnung der Beschwerde gestellt. Zu ergänzen wäre noch, dass im zitierten populären medizinischen Buch diese Thematisierung auf eine interessante Weise durchgeführt worden ist: in der Form eines gemeinsamen Titels für die drei Rezepte aus Meister Albrants „Roßarzneibuch“: Wider den muchen.
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braucht der Verfasser mehrere Verben, um die Zubereitung und Verwendungsweise der Arznei zu erklären. In diesen mehrgliedrigen verbalen Ketten sind die Zahl, die Abfolge der Verbformen und die Stellung des Pflanzennamens von Interesse. Die unten (Tabelle 2) aufgelisteten Verbbelege sind in Gruppen mit zwei, mit drei oder mit mehr als drei Verben eingeteilt. Die Reihenfolge der Verben in jedem Beleg bleibt dieselbe wie im Text; die Stellung des Direktobjekts (der Bezeichnung der Heilpflanze bzw. der ersten erwähnten Pflanze) ist durch den Vermerk „Zt“ gekennzeichnet: Sätze mit 2 Verben: neme Zt – drinke neme Zt – lege man[ge] Zt – gebe (zu drinkene) pulvere Zt – ezze pulver Zt – striche (– ezzent) siede Zt – drinke siede Zt – ezze stoze Zt – drinke Sätze mit 3 Verben: [...Zt. ] – [menge] – ezze, drinke neme Zt – zwernent – ezze neme Zt – stoze – lege neme Zt – siede – lege neme [Zt] – stoze – salbe (2 Sätze) neme Zt – pulvere – ezze neme Zt – [smel]ze – salbe stoze Zt – drinke, du daz dicke
Sätze mit mehr als 3 Verben: neme Zt – zwirnet, stoz, netze – belege neme Zt – zwiernent, mische, lege – binde neme Ztt – du, siede, begrabe, sihe. – Drinke,... neme Zt – stoze, neme, mache – binde neme Zt – side, du, sihe – drinc neme Zt – side, sihe – drinc; siede – lesche neme Zt – mache, du – striche, du neme Zt – mache, siede – ezze siede Zt – drinke, lege, werme, lege – drinke stoze Zt – winde, du – drinke neme [Zt] – siede, winde, du, lazze, gieze, laz, sundere, du, dribe, du, laz sten – salbe, bade neme Zt – siede, winde; neme Zt – pulvere, mache – drinc neme [Zt] – pulver, du, [mis]che – ezze oder drinke
Tabelle 2: Stellung der Verben und des Direktobjekts (Pflanzenbezeichnung) − Arzneibuch aus dem 14. Jh.
Die tabellarische Darstellung zeigt nicht nur die Kombinationen von unterschiedlichen und sich wiederholenden Verben, sondern verdeutlicht die Verwendung des Pflanzennamens in der Rolle des Direktobjekts in der Stellung nach dem ersten Verb. Durch diese stereotype Anordnung ist das Funktionieren des sekundären Suchprinzips (des Kräuterbuch-Prinzips) gesichert, von dem oben die Rede war.
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Der dritte Teil kommt zwar nicht in allen, aber doch in mehreren Paragraphen vor. Er realisiert zwei unterschiedliche Grundmuster: 1. In neun Belegen kommt als Schlusswort daz hilfet vor, in einem zehnten in der Variante so hilfet ez dich ane zwifel; 2. zwei Paragraphen schließen mit daz ist gut, in einem dritten ist eine Variante so iz alliz gut zu finden. Diese Schlussworte stehen am Ende und sind durch Interpunktion vom vorangehenden Paragraphteil getrennt, zum Beispiel: Deme der klobelauch we du gezze(n) d(er) ezze zu hant pet(er)silien. daz hilfet.25 Obwohl sie ihrer Semantik nach scheinbar den Nutzer von der guten Wirkung der empfohlenen Arznei überzeugen sollen, machen sie in den kurzen praktischen Anweisungen den Eindruck eines überflüssigen Nachtrags. Vermutlich ist eine Erklärung für die Herkunft dieser Schlussworte aus dem Vergleich mit dem deutschen Macer zu finden. Oben wurde schon die Vermutung ausgesprochen, dass praktische populäre Arzneibücher unter anderem als Quellen kompilierten und bearbeiteten Textstoff aus Kräuterbüchern enthalten mögen. Die Bearbeitung musste, wie wir schon sahen, den Umbau der Kräuterbuch-Paragraphen miteinschließen, wobei die Textteile ihre Stellung wechselten. Zum Beispiel in einem Satz wie diesem aus dem deutschen Macer: camomila gesoten ist gut genutzet, swer kichet – hier muss nach dem Muster und in Übereinstimmung mit der Pragmatik eines Arzneibuches die zu behandelnde Erkrankung an den Anfang des Absatzes gerückt werden und der Ratschlag, zu dieser oder jener Pflanze zu greifen, danach folgen. Der Macer-Satz (2)
camomila gesoten (3) ist gut genutzet (1) swer kichet
soll nach dem Prinzip so umgebaut werden und das Partizip gesoten, wie das Vorbild des oben analysierten Arzneibuches aus dem 14. Jh. vorschreibt, durch den Imperativ ersetzt werden (also siede). Der daraus resultierende Satz *swer kichet, siede camomila ist einem typischen ArzneibuchSatz sehr ähnlich. Es bleibt nur noch etwas Textstoff übrig (ist gut genutzet), auf den der Kompilator entweder ganz verzichten musste, oder den er am Schluss anhängen konnte, vgl.: Aus dem Macer geändert: Aus dem Arzneibuch:
* swer kichet, siede camomila. daz ist gut. Deme die augen driefen, der neme salbeien ... . daz ist gut.
_____________ 25
In der Schreibung und Interpunktion der Handschrift zitiert.
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Das Schlusswort, das in dem Arzneibuch des 14. Jh. den Eindruck einer fakultativen Ergänzung machte, mag folglich auf wichtige Textteile der vorangehenden Textform zurückgehen.
5. Populäre medizinische Textsorten Zum Arzneibuch des 14. Jh. seien noch wichtige Bemerkungen gemacht in Bezug auf seinen praktischen Charakter und seine äußerliche Form und Ausführung. Mit der Blattgröße 14 × 11 cm ist das Buch in einem bequemen und praktischen Handformat gestaltet. Es ist jedoch, wie die Abbildung beurteilen lässt, kein billiges Büchlein, wenn man die Ausführung der Handschrift betrachtet. Die regelmäßige Schrift ist schön und von einer professionellen Hand; der Text ist auf liniertes Pergament mit zahlreichen, leicht verzierten roten Initialen kopiert. Alles weist darauf hin, dass für den Nutzer dieses Büchleins kein Aufwand gescheut wurde. Obwohl praktisch und möglicherweise für den privaten Gebrauch verfertigt, ist es jedoch das Werk einer professionellen Hand, die wahrscheinlich für einen wohlhabenden Auftraggeber gearbeitet hat. Der Alltag des 14.-15. Jh. muss jedoch medizinische Quellen von einer noch einfacheren Art privater Schriftstücke gekannt haben, die unbedingt für die sprachhistorische Forschung heranzuziehen sind. Tatsächlich sind zwei kleine Büchlein dieser Art entdeckt worden, in eine großformatige Sammelhandschrift mit medizinischen Kollektaneen gelegt (s. Quellenliste, 10). Ein Büchlein in der Form eines Heftes in der Formatgröße 210 × 150, aus drei ineinander gelegten Doppelblättern bestehend, auf Papier, ist ein sehr bescheiden aussehendes Schriftstück ohne Verzierungen und ist in einer geläufigen, aber unaufwendigen Schrift geschrieben. Dieselben Ausmaße und ähnliche, sehr bescheidene äußere Charakteristiken hat auch das zweite Heft aus 15 Blättern. Beide sind zwar zum größten Teil in Latein geschrieben, enthalten aber unterschiedliche zusammengetragene Texte, unter denen in einem der Büchlein ein deutscher Segen und in dem anderen ein Lied mit Noten des Sanctus Christus duo sind. Die große Sammelhandschrift und die eigenen Züge der Büchlein weisen auf das 15. Jh. als Entstehungszeit hin. Obwohl nicht volkssprachlich, belegen diese zwei Funde, zusammen mit einem dritten, deutschen medizinischen Büchlein (s. Hinweis für Quelle 2)eine Art von handschriftlichen Heilbüchern, die nicht auf Auftrag, sondern mit eigener Hand der kalligraphisch nicht sehr geschickten, aber in allen drei Fällen lateinkundigen Nutzer (Mönche?) wohl für ihren eigenen Bedarf geschrieben waren.
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Für das deutsche Buch konnte die erste damit befasste Forscherin und Herausgeberin Polina Morosova nachweisen, dass es nicht ein erster Entwurf, sondern eine Abschrift eines schon kompilierten Werkes ist.26 Es ist also kein Einzellfall, sondern vertritt, wie die zwei anderen Büchlein bestätigen, eine Gattung von Büchern, die für den privaten Bedarf und von privater Ausfertigung sind. Dieses volksmedizinische Büchlein aus dem 15. Jh. enthält unter anderem ein Bruchstück des Arzneibuches Ortolfs von Baierland: das Kap. 72 „Von den zeichen des todes“, der deutschen Fassung der Capsula eburnea. Die Capsula eburnea ist ein theoretisches Traktat, das in mehreren volkssprachlichen Fassungen überliefert ist. Auch „Signa mortis“ genannt, ist es ein Todes-Prognostikon, das davon handelt, wie man anhand der Lokalisierung von Hauptsymptomen (platter, blater) bescheiden kann, wie lange der Kranke noch zu leben hat. Sein Inhalt hatte keine praktische Bedeutung für die Aufgaben der Krankenheilung. Trotzdem wurde dieser medizinische Text nicht nur in wissenschaftliche Kompendien aufgenommen, sondern auch in heilkundlichen Büchern für medizinische Laien bearbeitet, in dem hier analysierten Buch zusammen mit Anweisungen zur Krankenbehandlung, mit veterinären Rezepten, Segen, Pest-Regeln und anderem. Wissenschaftlicher Traktat a. Cod. HB XI 11, WLB 1. Wenn eynem siechen ein platter an der mittelen zehen auf dem lincken füesz wirt, so wisz daz der mensch stirbt an dem xxij tag, ob jn der siehtag mit begerung fremdes gutes an kommen ist 2. Wenn dem siechen die nagel swarcz werden oder pleich oder grün vnd jm ein rot platter wirt an der stiren, so stirbt er an dem vierden tag, ob in der siehtag mit nyeszen an kummen ist. 3. Wenn eynem siechen ein platter an seinem antlicz wirt vnd daz jm die ader gelegen ist vnd daz er sein lincke hant hat gelegt vff sein prust, so saltu wissen daz der mensch in newnczzehen tagen stirbt, vnd ob er in sein naszlocher greyfft
Privates volksmedizinisches Buch b. UB Moskau, 15. Jh. wert eynem sechen eyn blatere an der myttel czeon vff dem lynken fusze so sterbt her an dem czwey wnde czwenczigesten tage et cetera wen dem sechen dye nagele swarcz werden oder bleich ader grone wnde yn der suchte mit nysen quam wnde wyrt ym vorn an der stern eyn rot blater der sterbt an dem funften tage et cetera wert eynem sichen eyn blater an synem antlitcze wnde ist yme dye adere geleyn wnde hat syne lincken hant geleget vff syn brust wnde griffet her in dye naszelocher der sterbet in dem nunczenden tage noch dem alzo yn dye sucht an quam et cetera
Tabelle 3: Bearbeitung eines wissenschaftlichen Textes in einem volksmedizinischen Büchlein (nach Morozova 2004)
_____________ 26
Vgl. Морозова (2008, 73).
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Beim Übergang von diesem wissenschaftlichen Werk für Gelehrte zur Stufe der volksmedizinischen Bücher für Laien wurden, wie schon Morosova feststellen konnte,27 die kompilierten Textteile syntaktisch überarbeitet. Als Beispiel dieses Übergangs verglich die Forscherin 2004 zwei deutsche Darstellungen des Arzneibuchs des Ortolf von Baierland: ein berufliches Werk in der Wolfenbüttler Hs. und die Fassung der Moskauer Hs. Aus dem reichhaltigen Material dieses Vergleichs in Tabelle 3 drei Beispiele angeführt: Die Moskauer Handschrift unterscheidet sich von der wissenschaftlichen Fassung durch mehrere syntaktische Züge. Wie es für praktische Arzneibücher schon nachgewiesen wurde, steht auch hier in den meisten Fällen (vgl. die Ausnahme unter 2b) die Erwähnung des Hauptsymptoms (der Blattern) an der ersten Stelle (1b und 3b). Der schon in dem wissenschaftlichen Kodex vorhandene Wechsel im einleitenden Bedingungssatz zwischen dem Modell mit Wenn und der Verb-Inversion (wert) ist im Moskauer Fragment zugunsten der zweiten Variante verstärkt (vgl. 1a-b und 3a-b), was eine kürzere Ausdrucksweise erlaubt und, so Morozova, für eine klare und besser überschaubare Textstruktur sorgt. Der gleichen Logik zufolge werden Aussagen über ergänzende Symptome, die in der Vorlage in zusätzlichen Sätzen am Ende des Paragraphen erwähnt waren, an eine Stelle vor dem Hauptsatz verschoben. Wie die Belege 2b und 3b zeigen, ist das der zweite Satz, der unmittelbar nach der Erwähnung des Hauptsymptoms folgt. Damit ist die ganze medizinische Symptomatik zusammengetragen und steht links vom Hauptsatz (so sterbt her ... oder der sterbet ...). Aussagen über nicht-medizinische Merkmale wie mit begerung fremdes gutes (3a) und rhetorische Figuren wie so saltu wissen daz ... (3a) werden weggelassen, vermutlich als thematisch überflüssig klassifiziert. Die Beobachtungen, die Morosova zur Beschreibung ihrer konkreten Quelle gemacht hat, nehmen, wenn sie aus der Perspektive der in den vorangehenden Abschnitten verfolgten diachronen Prozesse und Veränderungen betrachtet werden, einen logischen und wichtigen Platz sowohl in der Genese der medizinischen Textsorten als auch in der Entwicklung von sprachlichen – syntaktisch-grammatischen – Mitteln unmittelbar vor dem Beginn der deutschen frühen Neuzeit ein.
_____________ 27
Морозова (2004, 161ff.).
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6. Zusammenfassendes und Ausblick Arzneibücher werden zu Lehrtexten28 oder anleitenden Texten29 gezählt, und diese sind durch Minimallängen der Sätze charakterisiert. Eine Interpretierung dieser quantitativen Besonderheit bietet Wladimir Admoni: Er führte die Minimallänge in bestimmten Textsorten auf funktionale und intentionale Faktoren, nämlich Wissensvermittlung und Handlungsanweisung, zurück; sie verschaffen, so Admoni, dem Mitzuteilenden besondere Einprägsamkeit.30 Diese Aussage bezieht sich allgemein auf die ganze medizinische Literatur, was aber eine Differenzierung binnen dieser Art anbetrifft, so kann man ergänzend schließen, dass die Bedeutung der erwähnten funktionalen und intentionalen Faktoren für das private medizinische Schrifttum sogar höher sein sollte als für die wissenschaftlichen Texte. Des Weiteren wurde oben erwiesen, dass die Tendenz zur Kürzung der Text- und Satzteile ein dynamisches Merkmal der medizinischen Textsorten ist, das in der Evolution von wissenschaftlichen zu populären Textgattungen immer deutlicher wird. Im Laufe der Kompilierungstätigkeit des 14.-15. Jhs. entwickelt sich die Gattung der populären (privaten, volks-) medizinischen Bücher, in denen Textstoff aus Arznei-, Kräuterbüchern und Rezepten zusammengetragen und zu einem kohärenten Ganzen verarbeitet ist. Die Vereinigung von medizinischen Kenntnissen aus unterschiedlichen Textsorten in kompilierten Sammlungen wird in Stufen erreicht und durch unterschiedliche Eingriffe begleitet, die zur Kürzung der Text- und Satzlänge führen und besonders für den alltäglichen Gebrauch textsortenprägend sind: •
Verzicht auf für den Laien überflüssige Information, allgemeine Tendenz zur Kürze der Ausdrucksweise;
•
Anschaulichkeit der Inhaltstruktur und durch sprachliche (Stellung im Satz bzw. im Paragraphen) und optische (paläographische Hervorhebung) Merkmale gesteuerte praktische Suchmöglichkeiten.
_____________ 28 29
30
Vgl. Rösler (1997, 141). Zur Übersicht der Klassifikationsprinzipien und zur textsyntaktischen und textgrammatischen Theorie seien die Untersuchengen von J. Meier und A. Ziegler eingesehen: Meier / Ziegler (2006, 116); dies. (2002, 85ff.). Admoni (1967, 159).
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Die Tendenzen zur Popularisierung des medizinischen Wissens finden konsequenten Ausdruck in der sprachlichen Realisierung. Zu Sprachmerkmalen dieser textsortengenetischen Prozesse gehören: •
eine dem anweisenden Charakter der populären Sachprosa entsprechende Thema-Rhema-Gliederung der Textteile;
•
Vereinheitlichung der Text- und Satzstrukturen nach einfachen klaren Mustern;
•
Repetitivität von syntaktischen Mustern, was ihre Einprägsamkeit erhöht.
•
Wiederholt wird im Material das Überwiegen von solchen Mustern belegt, wie Bedingungssätze mit Inversion, der Optativ / Konjunktiv als Signal der logischen Abhängigkeit, Imperativsatz in der anweisenden Funktion.
Die Kohärenz des kompilativen Textes wird durch weiteren Ausgleich auf mehreren Ebenen gefestigt: •
durch sprachlichen bzw. mundartlichen Ausgleich, lexikalische, grammatische und graphematische Vereinheitlichung;
•
Verbindung des Ganzen durch Einführung von Überschriften, Randglossen, Schlussformeln (daz hilfet oder et cetera);
•
einheitliche kodikologische und paläographische Gestaltung der Handschrift.
Eine neue Texteinheitlichkeit tritt ein, in der die strukturellen Unterschiede der einzelnen Gattungen (Rezept, Arznei-, Kräuterbuch, Pest-Regel) verschmolzen sind. Thematisch heterogene Inhalte und semantisch abweichende Elemente werden häufig einer semantischen Umdeutung unterworfen,31 was die Effektivität dieser Vereinigungskraft bezeugt. Die durch diese Kraft geförderten sprachlichen Züge werden von Sprachhistorikern zu wichtigen Entwicklungstendenzen der Syntax gezählt, die in der Bahn der Normenentwicklung im gesamten deutschen Sprachraum liegen. Da die populären (im privaten Gebrauch befindlichen) Quellen gerade diese Züge deutlicher darstellen, soll das wiederum bedeuten, dass diese neuen Tendenzen sich durch diese einflussreichen Textsorten effektiv durchsetzen konnten. _____________ 31
Wie man dem populären Buechlein aus dem 15. Jh. entnehmen kann, können im Laufe der Kompilierung sogar solche Textquellen mitgebraucht und in die Kompilierung eingearbeitet werden wie „Die Zeichen des Todes“, die dem Laien-Nutzer keine Hilfe und Auskunft bieten können.
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Diese ergänzenden Überlegungen zur Erklärung der diachronen syntaktischen Prozesse können hilfreich sein für die Wahl der sprachlichen Quellen für zukünftige syntaxhistorische und textgrammatische Untersuchungen. Eine Erfassung von Texten des privaten, populären Gebrauchs erscheint auf jeden Fall als ein sehr aktueller, notwendiger, aber auch für die Sprachgeschichte viel versprechender Forschungsschritt.
Literatur Admoni, Wladimir (1967), „Der Umfang und die Gestaltungsmittel des Satzes in der deutschen Literatursprache bis zum Ende des 18. Jahrhunderts“, in: PBB, 89 / 1967, 144-199. Admoni, Wladimir (1980), Zur Ausbildung der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges (1470-1730). Ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssystems der deutschen Sprache, Berlin. Admoni, Wladimir (1986), Der deutsche Sprachbau, Moskau. Admoni, Wladimir (1990), Historische Syntax des Deutschen, Tübingen. Choulant, Ludwig (Hrsg.) (1832), Macer Floridus de viribus herbarum, Leipzig. Keil, Gundolf (1978), „Bartholomäus“, in: Kurt Ruh / Gundolf Keil (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin, New York. Meier, Jörg / Ziegler, Arne (2002), „Textstrukturen – Basiskategorien der Kommunikation“, in: Ingmar ten Venne (Hrsg.), ‚Was liegt dort hinterm Horizont?‘ Zu Forschungsaspekten in der (nieder)deutschen Philologie. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. phil. Habil. Dr. h. c. Irmtraud Rösler, (Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft 12), Rostock, 85-101. Meier, Jörg / Ziegler, Arne (2006), „Textlinguistische Überlegungen zur städtischen Kommunikation im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit“, in: Gisela Brandt / Irmtraud Rösler (Hrsg.), Historische Soziolinguistik des Deutschen VI. Kommunikative Anforderungen – Textsorten – Sprachgebrauch soziofunktionaler Gruppen, (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 434), Stuttgart, 111-134. Mildenberger, Jörg (1997), Anton Trutmanns ‚Arzneibuch‘, Teil II: Wörterbuch, Bd. 1, (Würzburger medizinhistorische Forschungen 56, hrsg. v. Gundolf Keil), Würzburg. Морозова, Пoлина В. (2003), „Немецкий рукописный лечебник XV в.“, in: Вестник Московского университета. Серия «Филология», 4 / 2003, Москва, 71-87. Морозова, Пoлина В. (2004), Язык и жанр немецких медицинских рукописей XIV–XV вв., Диссертация, Москва, 1-209.
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Die Praxis des Interpungierens in Editionen mittelalterlicher deutschsprachiger Texte Veranschaulicht an Werkausgaben zu Hugo von Montfort
Wernfried Hofmeister (Graz)
1. Einführende Überlegungen Ein germanistischer Mediävist hat bekanntlich viele Möglichkeiten, seine Befassung mit sprachwissenschaftlichen Themen zu rechtfertigen: Geeignet sind z.B. Ergebnisse aus der Analyse von Schrift-, Laut- und Bedeutungsphänomenen, welche oft die Basis interpretatorischer Schlüsse bilden, oder – all das und noch mehr vereinend – eine Tätigkeit, die diesen Beitrag motiviert, nämlich das Edieren: Editionen stellen gewissermaßen eine ‚klassische‘ Schnittstelle auch hin zur Historiolinguistik dar. Öffentlich betont wurde diese spezifische Fachverbindung vor wenigen Jahren auf der Baseler Tagung „Edition und Sprachgeschichte“: Ziel dieser Veranstaltung des germanistischen Editorenverbandes war es, sprachwissenschaftliche Berührungspunkte zu reflektieren, um sie in Zukunft verstärkt zu Angelpunkten bei der Herausgabe mittelalterlicher Texte machen zu können. 1 Allgemein begrüßt hat man dafür das Grazer Modell der mediävistischen Editorik, genannt die ‚dynamische Editionsmethode‘. Weil dieses Konzept für den Einstieg in die folgenden Ausführungen von Bedeutung ist, sei es kurz erläutert. Die dynamische Editionstechnik, die von Andrea Hofmeister-Winter 2 und – mit wesentlich bescheidenerem Anteil – vom Verfasser entwickelt wurde, meint ein mehrschichtiges Edieren. 3 Als Grundlage und zugleich erste Schicht dient die sog. ‚Basistransliteration‘: Sie zeichnet sich aus _____________ 1 2 3
Vgl. Stolz (Hrsg.) (2007). Vgl. Hofmeister-Winter (2003). Grundinformationen zur dynamischen Editionsweise liefert die Homepage von Hofmeister-Winter: http://webdb.uni-graz.at/~hofmeisa. Vgl. Hofmeister (2007, 73ff.).
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durch eine extrem detailreiche, prädiplomatisch genaue Wiedergabe der überlieferten Textgestalt in elektronisch codierter Form.4 Für die darauf aufbauende Gewinnung eines z.B. auch gut lesbaren, typographisch standardisierten Drucktexts können einzelne Informationsschichten wieder ausgeblendet werden. Dafür treten auf anderer Ebene – sei es als textkritische Kommentare oder sonstige Verstehenshilfen – neue Informationen hinzu. Dies sei am Beispiel der Interpunktion verdeutlicht: Die dynamische Edition bietet in der Basitransliteration eine überlieferungstreue Wiedergabe auch all jener Auszeichnungen, die einst in einer Handschrift eine text-, zeilen- oder satzgliedernde Funktion hatten. In der Druckfassung lassen sich diese historischen Textmarker durch ein modernes Interpunktionssystem ersetzen, um den Leserinnen und Lesern eine raschere syntaktische Orientierung zu ermöglichen; die dynamische Editionsweise erlaubt es aber jederzeit, vom Drucktext wieder auf die Basistransliteration und damit auf die historische Zeichensetzung zurückzublicken. Angewandt habe ich diese Editionstechnik im Zuge der Neuausgabe der poetischen Werke des Alemannen und späteren ‚Wahlsteirers‘ Hugo von Montfort, indem zeitgleich mit dem Buch auch die Basistransliteration publiziert wurde: ersteres ‚kostenpflichtig‘ im Verlag de Gruyter,5 letztere kostenlos auf einer Editionshomepage.6 Dort können jetzt von jedermann aus der Basistransliteration konkrete Zahlen zum historischen Gebrauch von Satzzeichen gewonnen werden. Nur um die Kapazität dieses Angebots zu veranschaulichen, seien dazu ein paar Daten geliefert, konkret zum Hauptüberlieferungsträger, das ist der Heidelberger Codex 329: Er wurde großteils (von fol.1r bis 48v) knapp vor 1415 geschrieben;7 an der Aufzeichnung waren laut neuesten Analysen insgesamt drei verschiedene Hände beteiligt.8 Überliefert haben sie 40 Reimtexte in insgesamt rund 5500 zweispaltig geschriebenen Zeilen. Die Auszählung der darin enthaltenen Punkte (oft sog. Reimpunkte am Zeilenende) hat die Zahl 120 ergeben. An Virgeln, die separiert nach einem Spatium stehen, _____________ 4
5 6 7
8
Die graphetische Codierung erfolgt in der Basistransliteration ‚hyperdiplomatisch‘ genau durch eine getrennte Wiedergaben sowohl aller Einzelgraphe als auch der allfällig diakritisch hinzutretenden Graphelemente, welche sich als Super- oder Subskripte typisieren lassen, etwa in Form diverser Striche oder Häkchen. Hugo von Montfort (2005). Online im Internet: http://www-gewi.uni-graz.at/montfort-edition. Die ab fol. 48v aufgezeichneten und wahrscheinlich nicht von Hugo stammenden Texte 39 und 40 stellen Nachträge aus etwas späterer Zeit (wahrscheinlich wenige Jahre nach dem Tod Hugos von Montfort 1423) dar. Das erhärten die graphetischen Untersuchungen von Hofmeister-Winter (2007, 89ff.). Gestützt wird diese Studie von den weiteren Untersuchungsergebnissen, die 2008 im Rahmen des geförderten Projekts DAmalS gewonnen werden konnten: Hofmeister / Hofmeister-Winter (2008, 39ff.).
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finden sich aber nur 38: Sie markieren häufig Versgrenzen, wenn diese bei der Aufzeichnung ins Zeileninnere gerutscht sind, manchmal stehen sie auch bzw. zugleich an syntaktisch-syntagmatischen Einschnitten. Daneben finden sich noch 600 Virgeln, die jedoch eher nur Zierstrich-Charakter zu haben scheinen, denn sie sind ohne Abstand und in nur haarfeiner Gestalt an einzelne Buchstaben direkt angeschlossen.9 Textgliedernde Bedeutung signalisieren 869 Initialen sowie – potenziell – einige der vieltausenden Majuskeln, welche sich anhand ihrer authentischen Wiedergabe in der Basistransliteration genauso selektiv auswerten lassen wie die mitcodierten blauen und roten Farbinformationen. In Hinblick auf eine moderne Textdarbietung verdeutlicht uns dieser historische Befund zur Hugo von Montfort-Überlieferung, dass aus ihm zwar viele Indizien für die intendierte Makro- und Versstruktur aller Texte zu gewinnen sind, aber kaum Indizien speziell für syntaktische Markanzen. Entsprechend frei – oder wir mögen auch sagen ungesichert – bewegt sich daher ein Editor, wenn er Interpunktionsvorschläge in die Textausgabe einfügt, so auch bei jenen neun Textzeilen, deren moderne Interpungierung es weiter unten exemplarisch zu erörtern gilt. Vorab will jedoch eine grundsätzliche Frage beantwortet sein: Welchen präsumtiven Nutzen zieht die historische Syntaxforschung überhaupt aus einer modernen Zeichensetzung in Editionen? Wohl dann keinen, wenn das Bestreben eines Sprachforschenden allein dahin geht, alle Analysen nur an den Quellen durchzuführen, also exklusiv am handschriftlichen Original bzw. an guten Faksimiles zu arbeiten – dann bleiben alle Editionen gleichsam links liegen. Allerdings zeigen auch aktuelle Beispiele für Satzbauuntersuchungen,10 dass dies keineswegs die Regel ist, und zwar weil ein Quellenzugang rein technisch nicht in Frage kommt oder weil man sich aus anderen Gründen fernhält vom Dickicht der verschiedenen Schreiberhände mit ihren mehr oder weniger gut nachvollziehbaren und manchmal korrekturbedürftigen Graphien. In diesen Fällen ist und bleibt eine Edition die erste Wahl, und mit ihr kommen auch ihre Satzzeichen ins Spiel, getragen von der editorischen Textkompetenz des Herausgebers. Daher scheint es durchaus einsichtig, dass wir ganz explizit über die editionstechnischen und editionshistorischen Grundfaktoren für die Praxis des Interpungierens reflektieren sollten.
_____________ 9 10
In 395 Fällen stehen sie am Zeilenende. Vgl. z.B. folgende Syntaxuntersuchung, die für die Analyse der Satzformen z.B. im „Frauenbuch“ Ulrichs von Liechtenstein mit den Satzauszeichnungen in Franz Viktor Spechtlers „Frauenbuch“-Edition lückenlos konform geht: Robin (2005, 123ff.).
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2. Editorische Zeichensetzungsstrategien im Vergleich – exemplarische Eindrücke Zur Veranschaulichung des Themas konzentriere ich mich auf bloß neun Zeilen (aufgeteilt auf drei Textausschnitte) aus dem Werk Hugos von Montfort, möchte aber mehrere Editionsversionen heranziehen. Natürlich wird sich aus diesem geringen Textmaterial keine repräsentative Vorstellung von all den vielfältigen editorischen Zeichensetzungsstrategien in der germanistischen Mediävistik ableiten lassen, doch vielleicht ein paar exemplarische Eindrücke, denn die ausgewählten Zeilen haben einiges an syntaktischer Dynamik zu bieten: Entnommen sind sie dem Anfang des Textes Nr. 29, eines 12-strophigen Liedes, in welchem es – grob zusammengefasst – um die Verführungskünste der ‚Frau Welt‘, der personifizierten ‚Ikone‘ mittelalterlicher Lebenslust geht. Ihr stemmt sich ein Verfechter des gottesfürchtigen Lebenswandels tapfer (und letztlich erfolgreich) entgegen; für diskursive Spannung ist also gesorgt. Der erste Herausgeber dieses Textes war Karl Bartsch im Jahr 1879.11 Zu seiner Interpunktionsmethode ist generell Folgendes anzumerken: Er hält sich weitgehend an Karl Lachmann und dessen (rund 50 Jahre davor etablierte) Vorgaben für altgermanistische Interpunktionstechnik.12 In diesem Auszeichnungssystem, welches zahlreiche Editionen bis heute prägt, dient die Interpunktion nicht immer nur bzw. primär der Auszeichnung aller syntaktischen Einheiten. Vielmehr wird versucht, auch einer imaginären Vortragssituation gerecht zu werden, also zugleich den gefühlten Sprechrhythmus zu unterstützen.13 Einer solchen Praxis liegt zum einen die Tradition der lateinischen Rhetorik zugrunde, welche dem Altphilologen Lachmann bestens vertraut war, zum andern (und in Anlehnung daran) die Betonung metrischer Einheiten, wie sie fallweise auch durch historische Zeichensetzungen in den mittelalterlichen Handschriften gestützt wird. Somit begegnet uns in Editionen, die sich (mehr oder weniger konsequent) an Lachmanns Vorgaben halten, eine Interpunktion mit einer im Grunde doppelten Ausrichtung zwischen Metrik und Syntax, wobei aber erfahrungsgemäß meist die syntagmatischen Strukturen erheblich stärker gewichtet werden. Hat man als Nutzer einer Edition deren Lachmann’schen Interpunktions-Usus einmal erkannt, reduziert sich die Gefahr, auf der Suche nach Satzgebilden anhand der Interpunktion unwillkürlich den bloß metrisch relevanten Einheiten zu folgen. _____________ 11 12 13
Vgl. Bartsch (1879). Wir dürfen nur von einem ‚stillschweigenden‘ Anschließen an Lachmanns Usus ausgehen, da sich Bartsch dazu im Vorwort seiner Edition nicht explizit äußert. Vgl. Gärtner (1988, 86ff.).
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2.1. Editorische Möglichkeiten der Rede-Markierung Nun soll entsprechend sensibilisiert der erste Textausschnitt betrachtet werden, der Liedbeginn bei Bartsch (Abb. 1),14 und gleich mit dem Interpunktionseinsatz von Josef Eduard Wackernell (Abb. 2) konfrontiert werden: Dessen Ausgabe15 erschien 1881, also nur drei Jahre nach der Bartsch-Edition, ebenfalls als kritische Ausgabe, aber sie zeigt sich in mancher Hinsicht als ‚moderner‘, so auch bezüglich der Zeichensetzung:
Abbildung 1: Edition Bartsch, Z. 1-4
Abbildung 2: Edition Wackernell, Z. 1-4
An bzw. schon vor der allerersten Textstelle fällt uns beim Editionsvergleich auf: Erst Wackernell führt eine Markierung der Sprecherrolle in der 1. Zeile ein – und tut dies zu Recht, denn schon am Beginn dieses Texts sollte man ganz unzweifelhaft signalisiert bekommen, dass hier eine direkte Rede vorliegt: In ihr wendet sich ein (männlich gedachtes) Erzähler-Ich ganz nachdrücklich an die verführerische Frau Welt, die dann erst in der 2. Strophenhälfte antwortet. Gewiss war diese Wechselrede-Situation schon dem verdienten Editor Karl Bartsch bewusst, aber er verzichtete auf die Kennzeichnung durch Anführungsstriche. Wer nun jedoch ohne das Hintergrundwissen von Bartsch nur dessen Textoberfläche zur Grundlage weiterer Analysen macht, muss sich diese dialogische Textstruktur nolens volens selbst rekonstruieren und ihr dann auch in jenen Passagen zu folgen versuchen, wo sich die Redeanteile der Sprechenden weniger deutlich zu _____________ 14
15
Für die Belegung der einzelnen Textabdrucke sollen uns deshalb faksimilierte Ausschnitte (und nicht bloß abgetippte Wiedergaben) dienen, da damit für den angestrebten Vergleich ein Höchstmaß an typographischer Authentizität geboten werden kann, etwa mit Blick auf die schriftproportionale Signifikanz und Ästhetik der Interpunktionszeichen. Vgl. Wackernell (1881). In Wackernells äußerst umfangreicher Einführung in seine Edition findet sich nichts zur Erhellung seiner Interpunktionstechnik.
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erkennen geben – kein leichtes Unterfangen! Somit bietet Wackernells ‚Auszeichnungsservice‘ eine durchaus hilfreiche Textorientierung für die einzelnen Figurenrede-Abschnitte, denn damit fällt es wesentlich leichter, die allfällige Ergiebigkeit der einzelnen Figurenreden für eine kommunikationsorientierte Sprachforschung unter die Lupe zu nehmen, etwa in Hinblick auf allfällige Spuren authentischer Oralsprachlichkeit, welche wiederum gender-spezifisch, hierarchisch, ständisch-sozial, alters- oder arealtypisch abgetönt sein mögen. Freilich hätte man dabei immer zu bedenken, dass in der vorliegenden poetisierten Textsorte ein nicht geringes Maß an Sprachstilisierung und Simulierung von authentischer Rede vorliegt. 2.2. Zur Problematik einer sensiblen Wahl der Interpungierungsmittel Wenden wir uns jetzt aber den weiteren Textauszeichnungen zu und damit den Interpunktionszeichen im engeren Sinn resp. den Interpungierungsmitteln (laut Simmler 2003).16 Unproblematisch zeigt sich das Komma nach Fro Welt, dem Subjekt des ersten Satzes: Bei Bartsch und Wackernell trennt es die direkte Anrede an diese imaginäre Person von der nachfolgenden Proform ir, was überzeugt. Diskussionswürdig scheint hingegen das nächste Komma, welches in beiden Editionen die 2. Zeile beschließt. Der Inhalt dieser Passage besteht – pointiert paraphrasiert – darin, dass Frau Welt als attraktiv, aber ausbeuterisch bezeichnet wird. Für diese Aussage werden in den ersten beiden Zeilen Prädikatsnomina eingesetzt: Das erste zeigt sich getragen vom expliziten Hilfsverb sint (in der Bedeutung 'seid'), das Prädikatsnomen der zweiten Zeile basiert implizit auf der Verbform ist, erscheint hier aber nicht an der Oberfläche, sondern steht nur elliptisch im Raum; oder es liegt schlicht eine ‚constructio ad sensum‘ vor: Dann wäre auch die 2. Zeile noch von sint regiert, jedoch gegenüber der sprachlogischen Personalform ist inkongruent in den Kategorien ‚Person‘ (2. versus 3. Person) und ‚Numerus‘ (Plural vs. Singular). Verbunden werden beide Zeilen durch die Konjunktion und am Beginn von Zeile 2: Sie ist jedoch eher adversativ zu verstehen in der Bedeutung von 'aber'. Die Frage, ob dann nicht besser – so wie das später in unserer Zeichensetzung für adversative Anschlüsse üblich wurde – am Ende von Zeile 1 ein Komma stehen sollte, zumal in Zeile 2 mit ewer lon auch ein weiteres Subjekt hinzutritt, kann man mit dem Hinweis darauf verneinen, dass zum einen diese Adversativität eben nicht explizit auftritt, und zum _____________ 16
Vgl. Simmler (2003, 2472ff.); die oben erwähnte Begriffseinführung erfolgt auf S. 2473.
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andern beide Zeilen unmittelbar auf ihr gemeinsames Anredesubjekt ‚Frau Welt‘ hin ausgerichtet sind, was aber durch die Setzung eines Kommas wieder verwischt würde. Demgegenüber ordnet sich Zeile 3 gar liebe wort und suess gedön nicht mehr gleichermaßen direkt der ‚Frau Welt‘ (in Zeile 1) unter, sondern einem Bezugswort aus Zeile 2, nämlich dem nichtigen lon: Dieser ‚Welten Lohn‘ beschere – wie ich übersetze – „bloß reizende Worte und betörende Klänge“.17 Grammatikalisch mag man wieder an ein elliptisches Prädikatsnomen denken, dem in diesem Fall die tiefenstrukturelle SubjektPrädikatsfolge ‚das sind‘ fehlen würde, oder man sieht darin eine Apposition, die den lon präzisierend beschreibt. Bei beiden Annahmen haben wir es aber im Grunde mit derselben Argumentationsstrategie zu tun, die eben nicht mehr direkt an ‚Frau Welt‘, sondern an das Subjekt lon anknüpft. Diese textgrammatische Feinheit kommt durch die Setzung eines Kommas, wie es Bartsch und Wackernell anbieten, nicht optimal zum Ausdruck. Deshalb hat meine Edition (Abb. 3),18 die ich nun ebenfalls ins Spiel bringen darf, hier einen Doppelpunkt:
Abbildung 3: Edition Hofmeister, Z. 1-4
Dieser Doppelpunkt nach der zweiten Zeile kann besser als ein Komma zugleich die syntaktische Zäsurierung und die thematische Vertiefung durch die katalogartig aufgezählten Begriffe signalisieren. Doch ich gebe gerne zu: Der daraus erwachsende satzzeichentechnische Unterschied ist gering. Nur um alle vier vollständigen Montfort-Editionen einbezogen zu haben, binde ich hier noch kurz den Textabdruck von Franz Viktor Spechtler19 (Abb. 4) mit ein, obwohl dieser Abdruck als sog. diplomatische Ausgabe keinerlei Interpunktionsangebote enthält und daher für unsere weiteren Fragstellungen ohne größere Bedeutung bleibt: _____________ 17
18 19
Hofmeister (2007, 17). Ziel dieser speziell für die CD-Ausgabe hergestellten Übersetzung war es weniger, alle syntaktischen Bewegungen der Vorlage exakt nachzuzeichnen, sondern durch eine etwas freiere Sprachgebung auch für ein breiteres Laienpublikum vor allem semantisch gut fasslich zu sein. Hofmeister (2005); allg. Hinweise zur Zeichensetzung finden sich auf S. XXXIf. Spechtler (1978), Bd. II.
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Abbildung 4: Edition Spechtler, Z. 1-4
Im weiteren Kontext des Rahmenthemas beachtenswert scheint, dass Spechtler beim Frau Welt-Lied synchron zur dafür überlieferten Melodie erstmals eine strophische Durchzählung einführt: Dies ist nämlich auch syntaktisch bedeutend, weil ja nicht damit zu rechnen ist, dass sich Satzgebilde über die markante, deutlich pausierte Strophengrenze hinweg fortsetzten.20 Für die Interpunktions-Analyse von Zeile 4 soll der Blick wieder zuerst auf die Darstellung bei Bartsch (Abb. 1 oben) gelenkt werden: Ohne eine erkennbare syntaktische Zäsurierung lautet sie bei ihm: Als irr da ist kain slichte. Ein Syntaxproblem bereitet hier sicher nicht die Großschreibung von Als, denn solche Großbuchstaben lernt man schnell zu ignorieren, da sie Bartsch ganz stereotyp für jeden Versbeginn bemüht, einerlei, ob durch die Überlieferung gestützt oder nicht. Nein, sie verunsichert deshalb, weil nach Als irr ein Satzzeichen fehlt, welches die offenkundig selbstständige Wortfolge da ist kein slichte abtrennen würde. Erst Wackernell (vgl. Abb. 2 oben) fügt dieses syntaktisch wertvolle Komma ein und signalisiert damit, dass schon als irr ein – wenn auch elliptisch formuliertes – Syntagma darstellt mit der Bedeutung 'Das ist alles wirr'. Hinter dieser Satzwertigkeit kann nun auch die eigenständige Perspektive erkennbar werden, welche der Wortfolge als irr illokutiv innewohnt: Als irr zielt nämlich auf alle drei vorangehenden Zeilen. Deren Inhalt – eine Kette aus subvokalen Vorwürfen – wird nun summarisch erfasst und daraus eine Zurückweisung gewonnen. Das Argument für diese Zurückweisung steckt in dem Wort irr: Mit seiner Bedeutungskomponente 'ungeordnet, sinnlos' stützt dieses Wort die Ablehnung des irdischen Treibens. Verstärkt wird sein argumentativer Kern vom gleich nachfolgenden, grammatikalisch
_____________ 20
Keine gleichermaßen strikte Grenzlinie verläuft jedoch zwischen den metrisch untergeordneten Stolleneinheiten, denn über sie können einzelne Sätze sehr wohl hinweglaufen. Spechtler schreibt auch sie alle groß. Daher dürfen wir diese Großbuchstaben nicht zugleich als ein syntaktisches Signal für jeweils auch neue Satzanfänge missverstehen (vgl. z.B. in Text Nr. 3 die Verse 64f.).
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vollständigen Satz in Zeile 4: da ist kain slichte (wörtlich: 'darin gibt es keine Geradlinigkeit').21 Wackernell dürfte diesen engen argumentativen Zusammenhalt beider Sätze gespürt haben, denn er relativiert deren rein syntaktisch notwendige Trennung durch ein Komma dadurch, dass er diese gesamte Zeile 4 von der Zeile 3 betont stärker absetzt, wozu ihm der signifikante lange Gedankenstrich am Ende der Zeile 3 dient, der das Komma von Bartsch ersetzt. Was Bartschens Verzicht auf eine syntaktische Untergliederung der Zeile 4 betrifft, mag man vermuten, dass für ihn entweder der argumentative Konnex beider Sätze in Zeile 4 stärker wog als deren syntaktische Eigendynamik oder dass er einer sprechrhythmischen Intuition im Sinne Lachmanns folgte; er bietet jedenfalls – prosaischer gesagt – schlicht einen Satz weniger. Diskussionsbedürftig bleibt in dieser ersten Liedpassage nur noch der Unterschied zwischen den in Zeile 4 satzschließenden Zeichen bei Bartsch und Wackernell, denn da steht ein Punkt einem emphatischen Rufzeichen gegenüber und bei mir (vgl. Abb. 3 oben) dann wieder nur ein Punkt. Meine Entscheidung folgt dem Grundsatz, Rufzeichen möglichst nicht zu beliebig gesetzten ‚Graph-Emoticons‘ für all das werden zu lassen, was ein Editor betont sehen möchte. Vielmehr sollen sie nur wirklich hervorstechende und dabei grammatisch nachvollziehbare Intensivierungen kennzeichnen, wie sie von syntaktischen Konstruktionen oder bestimmten Wortarten signalisiert werden: Derartiges liegt recht eindeutig vor bei Befehlssätzen mit einer Imperativform, sodann bei ähnlich nachdrücklichen Konjunktiv I- bzw. Optativ-Konstruktionen in Wunschsätzen und bei diversen exklamativen Interjektionen. Darüber hinaus markiert das Rufzeichen bei mir nur noch einzelne besonders nachdrückliche Sätze mit einer latent direktiven Perspektive. Da man den vorliegenden Satz in Zeile 4 zu keiner dieser Kategorien zählen kann, scheint mir für ihn eben bloß ein Punkt angemessen. 2.3. Die Auswirkungen der editorischen Satzzeichenwahl auf die hierarchische Satzstruktur Als zweite, weiterführende Passage bieten sich für unseren Interpunktionsvergleich die Zeilen 9-11 an. In ihnen ergreift soeben die Frau Welt das Wort, um sich gegen die Anschuldigungen ihres Anklägers zur Wehr _____________ 21
Dieser Satz repräsentiert zwar ein eigenes Syntagma und verdient daher seine Abtrennung durch das Komma, er braucht aber keine stärkere Zäsurierung, weil er das Argument von als irr nur variierend unterstützt.
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zu setzen: Bartsch (Abb. 5) und Wackernell (Abb. 6) interpungieren hier einheitlich und gewinnen dabei drei Hauptsätze: je einen Interrogativ-, einen Deklarativ- und einen Exklamativsatz:
Abbildung 5: Edition Bartsch, Z. 9-11
Abbildung 6: Edition Wackernell, Z. 9-11
Liegt hier aber wirklich eine solche parataktische Reihung vor? Speziell die Struktur des dritten Satzes überzeugt nämlich keineswegs, denn bei Hugo von Montfort würde man die Wortstellung / interjektives dass + Subj. (+ fak. Obj.) + Verbalphrase / kein zweites Mal als Hauptsatz finden. Sehr wohl aber treten ganz ähnliche Konstruktionen des Öfteren als Gliedsatz auf, und zwar auch recht häufig in genau derselben Reihung, bei der das Prädikat nicht an letzter Stelle steht. Sie lauten z.B. folgendermaßen, wobei ich aus Gründen der Nachvollziehbarkeit zuerst immer auch den Hauptsatz mitzitiere, von dem dann ein mit der Konjunktion das eingeleiteter Gliedsatz abhängt: das zúg ich an den werden gott, / das ich doch tún nach sím gebott22 ('Ich schwöre beim ehrwürdigen Gott, dass ich nach seinem Gebot handle' 1/16f.), du fragist denn den schreiber glich, / das er dir gebi rát ('so frag einfach den Schreiber, auf dass er dir raten möge' 3/73f.) oder damit so mag ich also leben, / das ich tún úbel oder gút ('damit [gemeint ist der freie, von Gott dem Menschen gegebene Wille] kann ich so leben, dass ich böse oder gut handle' 4/50f.) etc. Somit liegt auch in Lied 39/11 die Annahme einer hypotaktischen Gliedsatzkonstruktion nahe, wie sie mein Editionstext (Abb. 7) vorschlägt:
_____________ 22
Die folgenden Textzitate stammen aus der Edition von W. Hofmeister: Hugo von Montfort (2005).
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Abbildung 7: Edition Hofmeister, Z. 9-11
Nunmehr ist zu sehen, dass erstens der Satz in Zeile 11 vom Fragesatz in Zeile 9 abhängt, und zwar mit konsekutiver Anbindung, und dass zweitens dazwischen ein Satz eingeschoben ist – halb kommentarhaft, halb argumentativ. Ganz eng am Text übersetzt ergibt dies: 'Lieber Freund, was wirfst du mir vor (ich habe dich doch so oft erbaut), dass du mich derartig verachtest?' Solche gedanklichen Einschübe finden sich bei Hugo von Montfort häufig, ja er liebt sie geradezu, wie seine über 100-fache Verwendung dieses Stilmittels zeigt. 2.4. Die Möglichkeit der editorischen Kennzeichnung sprichwortartiger Mikrotexte Schließlich sei ein drittes und damit letztes Beispiel angeführt, um noch eine weitere interpunktorische Auszeichnungsoption kennen zu lernen: Anführungszeichen, Punkt, Doppelpunkt, Beistrich, Gedankenstrich und runde Klammer wurden bereits vorgefunden.23 Es fehlt also noch der Strichpunkt. Schon Bartsch und Wackernell haben ihn gerne bemüht, um damit (wie noch heute üblich) satzwertige Gebilde, deren Thema sich eng an den vorhergehenden Satz fügt, weniger stark abzusetzen, als dies durch einen Punkt der Fall wäre. Hier herrscht aber meiner Erfahrung nach ein erheblicher und oft schwer argumentierbarer Ermessensspielraum zwischen Strichpunkt, Punkt, Gedankenstrich oder auch Komma: Sie alle sind Satzzeichen, die auch Hauptsätze voneinander trennen können.24 Für die vorliegenden Überlegungen würden sich jetzt aus solchen Alternativen keine substanziell neuen Erkenntnisse ergeben, die über die oben geführten Diskussionen hinausreichten, daher wende ich mich noch einer Spezialauszeichnung im Rahmen meiner Editionstechnik zu, den einfachen _____________ 23 24
Nur der auszeichnungstechnischen Vollständigkeit halber sei hier noch auf die einfachen Anführungsstriche verwiesen: Wie in vielen Editionen üblich, dienen sie für die Markierung von Werkzitaten im poetischen Text oder von Reden in Reden. Stichprobenartig sei zum Einsatz von Strichpunkten durch Ba(rtsch), Wa(ckernell) und Ho(fmeister) für die Anfangspassage unseres Textes (Z. 1-48) überblicksartig vergleichend festgehalten: Ba und Wa bieten ein Semikolon in Z. 18 (Ho dafür einen Gedankenstrich); Ba in 30 (Wa dort Beistrich, Ho Doppelpunkt); Ba in 35 (Wa Doppelpunkt, Ho Beistrich); Wa in 36 (Ba Punkt, Ho Beistrich: Außerhalb dieser Passage kommen Strichpunkte bei Ho gemäß den oben genannten Grundsätzen durchaus häufig zum Einsatz).
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Spitzklammern: Sie gelten den präsumtiven Kollektivzitaten bzw. Sprichwörtern und Sentenzen. Generell werden solche parömischen Sätze in Editionen bislang nur ganz selten hervorgehoben.25 Aber speziell linguistische Fragestellungen würden von dieser auszeichnungstechnischen Unterstützung profitieren. Es ist zwar hier nicht der Ort, alle Gründe für das Setzen dieser Markierungen zu erörtern,26 doch die wichtigsten seien zumindest erwähnt: Sprichwörter bzw. Parömien oder (wie ich sie in meinen phraseologischen Studien27 vorsichtiger genannt habe) ‚sprichwortartige Mikrotexte‘ treten textfunktional als gerne herbeizitierte normative Aussagen auf und entfalten dabei eine vielschichtige Kommentierungsleistung, die den Zieltext meist persuasiv bestätigt, ihn manchmal aber auch ironisch unterläuft. Kaum ein anderes Stilmittel vermag einem zwingender und zugleich aufschlussreicher vor Augen zu stellen, wie seit jeher komplexeste Diskurse zielsicher versprachlicht wurden: Die Syntaxforschung etwa lernt daran zu erkennen, welche Kernbereiche den satzartigen Phraseologismus ausmachen und welche peripheren Teile davon abzugrenzen sind (z.B. einleitende, meist elliptische Wörter wie zwar oder wand in der Bedeutung 'wahrlich' oder 'denn'); und für die Textgrammatik öffnet sich der Blick auf ein wahres Netzwerk an kataphorischen wie anaphorischen Sinnbezügen. Es lohnt sich daher auf jeden Fall, Parömien näher zu betrachten. Für den Editor aber bedeutet dies natürlich, die Herausforderung anzunehmen, möglichst viele ‚verdächtige‘ Sätze zu erkennen, zu überprüfen und hernach in sein Interpunktionssystem mit einzubeziehen, was ja insofern prinzipiell stringent wäre, als alle Parömien im Grunde auch eine Art von Figurenrede darstellen, jedoch im Unterschied zu fiktiven Figurenreden eben Beiträge aus dem ‚Off‘ sind, weil sie (zumindest vorgeblich) aus einem gemeinschaftlichen Wissensschatz stammen. Erkennen lassen sich diese stets satzwertigen Phraseologismen an einer Vielzahl von Merkmalen, von denen etwa ihre Nachweisbarkeit in diversen Sprichwortsammlungen ein zwar nicht unbedingt notwendiges, jedoch sehr willkommenes _____________ 25
26 27
Gewagt werden Auszeichnungen von Parömien in der Editorik bislang fast nur dort, wo solche Parömien (bis heute!) als gängige Sprichwörter bekannt geblieben sind und vor allem durch einen metatextuellen Hinweis direkt bei der Parömie ‚ausreichend abgesichert‘ erscheinen. So etwa zu beobachten bei folgender Textstelle Oswalds von Wolkenstein (mit editorisch allerdings irreführender Integrierung des nicht zur Parömie gehörigen Fragezeichens in die Parömie-Markierung durch doppelte Spitzklammern): Güt mütter, hand ir nie gelesen / vor langer zeit: »ie lieber kind, ie grösser besen?«, Oswald von Wolkenstein, Die Lieder. Die zahlreichen weiteren Parömien Oswalds, welche für uns heute etwas weniger deutlich hervortreten, bleiben jedoch ignoriert: vgl. Hofmeister, Sprichwortartige Mikrotexte. Mehr dazu findet sich in Hofmeister [im Druck] So auch in dieser terminologisch besonders ausführlichen Monographie: Hofmeister (1995).
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Indiz für ‚echte Sprichwörtlichkeit‘ ist. Mithilfe meiner eigenen Merkmalsmatrix28 ließen sich von mir bei Hugo von Montfort insgesamt 82 Parömien explizit markieren und damit für weitere Sprachanalysen anbieten.29 Bei Bartsch (Abb. 8) und Wackernell (Abb. 9) findet sich keine einzige Sprichwortmarkierung, daher auch keine in dem nun folgenden Beispiel aus dem „Frau Welt-Lied“: Hier äußert der Erzähler in Zeile 33 seine Ratlosigkeit und begründet sie hernach mit einer parömisch eingekleideten vanitas-Weisheit:
Abbildung 8: Edition Bartsch, Z. 33-34
Abbildung 9: Edition Wackernell, Z. 33-34
Nicht übersehen werden sollte beim raschen Überfliegen der ersten Zeile, dass Bartsch hier wieder einen Satz ‚liegen lässt‘, diesmal den Gliedsatz was ich machen wil; Wackernell, der ‚Syntaktiker‘, markiert ihn hingegen durch ein Komma. Die nachfolgende Sentenz ›die welt ist ain zergangkleich leben‹ (>Vergänglich ist das Erdenleben.<30) könnten beide Editoren bereits gespürt haben, sofern man ihren Doppelpunkt am Ende der ersten Zeile so deuten darf: Dieses Satzzeichen eignet sich nämlich am besten dafür, vor einer Parömie gedanklich kurz innezuhalten, um darauf aufmerksam zu machen, dass nun ein eigentextueller Kommentar zum soeben Gesagten folgt. Wirklich ausreichend hervorheben lässt sich die zitathafte Proverbialität des damit angekündigten Satzes aber erst durch eine gesonderte, den Satz umschließende Auszeichnung, wie sie meine Edition vorschlägt:
_____________ 28
29 30
Als essenzielle Merkmale gelten: Erfahrungsbasis, geschlossene Aussage / potenzielle diskursive Abgeschlossenheit, geschlossene Satzstruktur, Kürze und Prägnanz, lexikalische Publikumsläufigkeit. Frei hinzutretende Merkmale sind (sprichwort-intern) Alliteration, Bildhaftigkeit, Binnenreim, Identität, Indefinitausdruck, Indikativ, Komparativ und Superlativ, Kontrast, Prädikatslosigkeit, Präsens und (sprichwort-extern) Autoritätsappelle, Deletierbarkeit, Distribution, Gruppierung, Kommentar, Quellenbeleg, Überleitungswort. Siehe die Sprichwortliste im oben genannten Beitrag: Hofmeister (2009). Hofmeister (2007, 18).
602
Wernfried Hofmeister
Abbildung 10: Edition Hofmeister, Z. 33-34
Als merkmalhafte Stütze für die Sprichwortartigkeit unseres Beleges dienen außer der Erfüllung aller essenziellen Indikatoren (wie ‚generalisierte Erfahrungsbasis‘, ‚geschlossene Aussage und Satzstruktur‘, ‚Kürze und Prägnanz‘ sowie ‚lexikalische Publikumsläufigkeit‘) u.a. vier weitere, völlig gleich lautende Sätze in Hugos Werk,31 an deren Seite man noch viele Belege für diese ‚Welt-Parömie‘ durch andere Autoren und Quellen stellen könnte. Es lohnt sich daher, derartige Sprach- und Denkstereotype hervorzuheben, damit sie in weiterer Folge umfassender als bisher gemeinsam mit der historischen Phraseologieforschung näher untersucht werden, etwa in Hinblick auf Fragen nach ihrer kommunikativen Relevanz oder ihren Intertextualitäts-Bezügen.
3. Fazit Was kann am Ende dieses Beitrages als Summe und Ausblick festgehalten werden? Vielleicht dies: Durchinterpungierte Editionen älterer Texte dürfen nie den Blick auf die Überlieferung verstellen, denn immer wird es wichtig sein, sich auch von den historischen Textgliederungssymbolen ein Bild zu machen. Darauf aufbauend mögen Sprachforschende die in Editionen angebotenen modernen Satzzeichen als eine Art Brücke sehen, welche Syntax- und Sinnstrukturen miteinander zu verbinden versucht. Allerdings empfiehlt es sich immer, die jeweilige Edition vorab darauf hin zu überprüfen, ob bzw. wie weit ihre Textauszeichnungs-Konvention eher der konservativen, auch metrisch-rhetorisch orientierten, Interpunktionsweise verpflichtet ist (und daher womöglich so manches syntaktisch relevante Signal unmarkiert lässt) oder ob sich die Textausgabe davon unabhängig zeigt, indem sie möglichst konsequent dem historischen Satzbau nachzuspüren und ihn interpunktionstechnisch auch abzubilden versucht; manchmal, wenn auch nicht immer, wird da das Lesen der editorischen Vorwörter für eine gewisse Groborientierung sorgen können. Doch einerlei, ob eher konservativ oder radikal modern interpungierte Edition: Beide vermögen letztlich nie alle Syntaxphänomene von histori-
_____________ 31
Vgl. 28, 378; 29, 94; 31, 206 u. 38, 137f.
Die Praxis des Interpungierens in Editionen
603
schen Texten direkt wiederzugeben32 und zudem riskieren sie es mit ihrer ‚bis auf Punkt und Beistrich‘ genauen Zeichensetzung, das eine oder andere Mal eine denkbare Variante außer Betracht zu lassen oder auch schlicht danebenzugreifen. Aber selbst an jenen Stellen, an denen das Syntaxwissen oder die interpretatorische Intuition des Editors einmal versagt haben sollten, wird für das Zielpublikum summa summarum speziell durch modern und vor allem differenziert interpungierte Editionen auf jeden Fall mehr zu gewinnen sein als zu verlieren. Gewendet in ein Schlussplädoyer, ergibt sich aus dieser Perspektive, dass Editorik und historische Syntaxforschung einander weiter bzw. noch stärker als Partner sehen sollten, um voneinander kooperativ zu profitieren.
Quellen Bartsch, Karl (Hrsg.) (1879), Hugo von Montfort, Tübingen. Hofmeister, Wernfried (Hrsg.) (2005), Hugo von Montfort. Das poetische Werk, mit einem Melodie-Anhang von Agnes Grond, Berlin, New York. Klein, Karl Kurt (Hrsg.) (1987), Oswald von Wolkenstein. Die Lieder, unter Mitwirkung von Walter Weiss / Notburga Wolf, Musikanhang von Walter Salmen, 3., neubearb. u. erw. Aufl. v. Hans Moser / Norbert Richard Wolf / Notburga Wolf, (ATB 55), Tübingen. Spechtler, Franz V. (Hrsg.) (1978), Hugo von Montfort. Bd. II: Die Texte und Melodien der Heidelberger Handschrift cpg 329, (Litterae 57), Göppingen. Wackernell, J. E. (Hrsg.) (1881), Hugo von Montfort. Mit Abhandlungen zur Geschichte der deutschen Literatur, Sprache und Metrik im XIV. und XV. Jahrhundert, (Aeltere Tirolische Dichter 3), Innsbruck.
Literatur Gärtner, Kurt (1988), „Zur Interpunktion in den Ausgaben mittelhochdeutscher Texte“, in: Editio, 2 / 1988, 86-89. Hofmeister, Wernfried (2007), „Mehrschichtiges Edieren als neue Chance für die Sprachwissenschaft“, in: Michael Stolz (Hrsg.) in Verbindung mit Robert Schöller / Gabriel Viehhauser, Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.-4. März 2005, (Beihefte zu editio 26), Tübingen, 73-88.
_____________ 32
Daher wird man einige Fälle entsprechend zu kommentieren haben. Grenzen setzen bekanntlich auch die in mittelalterlichen Texten beliebten Anakoluthe. Vgl. dazu die interpunktionskritischen Anmerkungen von Gärtner (1988, 89 mit Fußnote 15).
604
Wernfried Hofmeister
Hofmeister, Wernfried (1990), Sprichwortartige Mikrotexte. Analysen am Beispiel Oswalds von Wolkenstein, (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 537), Göppingen. Hofmeister, Wernfried (1995), Sprichwortartige Mikrotexte als literarische Medien, dargestellt an der hochdeutschen politischen Lyrik des Mittelalters, (Studien zur Phraseologie und Parömiologie 5), Bochum. Hofmeister, Wernfried (Übersetzer) (2007), in: Booklet zur CD „fro welt, ir sint gar húpsch und schón“. Die Lieder des Hugo von Montfort, gesungen von Eberhard Kummer, (ORF Edition Alte Musik 3011), Wien, 10-33. Hofmeister, Wernfried (2009), „Der Sprichwortgebrauch bei Hugo von Montfort: Eine Spurensuche zwischen editorischer Herausforderung und literaturwissenschaftlichem Gewinn“, in: Aller weishait anevang ist ze brúefen an dem aussgang. Symposion zum 650. Geburtstag Hugos von Montfort, Dornbirn 2007. [im Druck] Hofmeister, Wernfried, Hugo von Montfort, Begleitende Internetplattform zur Neusausgabe, http://www-gewi.uni-graz.at/montfort-edition (Stand: 22.07.2008). Hofmeister, Wernfried / Hofmeister-Winter, Andrea (2008), „Schriftzüge unter der High-Tech-Lupe. Theoretische Grundlagen und erste praktische Ergebnisse des Grazer Pilotprojekts DAmalS (‚Datenbank zur Authentifizierung mittelalterlicher Schreiberhände‘)“, in: editio, 22 / 2008, 39-66. Hofmeister-Winter, Andrea (2003), Das Konzept einer „Dynamischen Edition“, dargestellt an der Erstausgabe des „Brixner Dommesnerbuches“ von Veit Feichter (Mitte 16. Jh.). Theorie und praktische Umsetzung, (Göppingen Arbeiten zur Germanistik 706), Göppingen. Hofmeister-Winter, Andrea (2007), „Die Grammatik der Schreiberhände. Versuch einer Klärung der Schreiberfrage anhand der mehrstufig-dynamischen Neuausgabe der Werke Hugos von Montfort“, in: Michael Stolz (Hrsg.) in Verbindung mit Robert Schöller und Gabriel Viehhauser, Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.-4. März 2005, (Beihefte zu editio 26), Tübingen, 89-116. Hofmeister-Winter, Andrea, [Homepage], http://webdb.uni-graz.at/~hofmeisa (Stand: 22.07.2008). Robin, Therese (2005), „Parataxe und Hypotaxe bei Ulrich von Liechtentein und Berthold von Regensburg“, in: Franz Simmler (Hrsg.), Syntax. Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch. Eine Gegenüberstellung von Metrik und Prosa. Akten zum internationalen Kongress an der Freien Universität Berlin vom 26. bis 29. Mai 2004, unter Mitarbeit von Claudia Wich-Reif u.a., (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 7), Berlin, 123-156. Simmler, Franz (2003), „Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen“, in: Werner Besch (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 3. Teilband, 2., vollst. u. völlig neu bearb. Aufl., (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.3), Berlin, New York, 2472-2504. Stolz, Michael in Verbindung mit Schöller, Robert / Viehhauser, Gabriel (Hrsg.) (2007), Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2.-4. März 2005, Tübingen.
Frühneuhochdeutsch
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex im Frühneuhochdeutschen – Textlinguistik und Grammatik Andreas Lötscher (Basel)
1. Einleitung Bekanntlich hat sich die Regelung der Abfolge der Elemente innerhalb des mehrteiligen Verbalkomplexes im Laufe der deutschen Sprachgeschichte stark gewandelt. Im Gegenwartsdeutschen und grundsätzlich seit dem Neuhochdeutschen des 17. Jahrhunderts gilt im zweiteiligen Verbalkomplex generell die Stellung V2-V1. Mehr oder weniger bis ins 15. Jahrhundert war demgegenüber die Abfolge von übergeordneten und untergeordneten Verbalelementen, also beispielsweise Modalverben oder Hilfsverben und Vollverben relativ frei, mit Frequenzunterschieden zwischen den Stellungsvarianten mit Modalverben und solchen mit Hilfsverben. Betrachten wir nur zweiteilige Verbalgruppen, kommen somit grundsätzlich beide denkbaren Abfolgemöglichkeiten zwischen regierendem Verb (V1) und regiertem Verb (V2) vor; dazu gibt es noch die Möglichkeit, dass bei vorangestelltem regierendem Modal- oder Hilfsverb zwischen dem regierten und dem regierenden Verb weitere Satzglieder stehen (getrennte Stellung, Zwischenstellung):1
_____________ 1
Vgl. Reichmann / Wegera (Hrsg.) (1993, 438ff.). Alle Beispiele in den Abschnitten 1 und 2 sind aus Pauli (1970), Predigt II entnommen.
608
Andreas Lötscher
V1-V2 (zentrifugale Stellung) Hilfsverbkonstruktionen sälig ist der mensch, den du hast usserwelt daz Judas sinem ruoff nit wurde folgen sider er ist usserwelt mit den andren zwelf botten alle, die je verzukt sint worden
Modalverbkonstruktionen daz der sunnenschin hini muge komen daz wir alweg etwas guotz söllint tuon
Tabelle 1: Zentrifugale Stellung
V2-V1 (zentripetale Stellung) Hilfsverbkonstruktionen daz er sin kraft verloren habe als geschriben ist im buoch Canticis Paulus, der verzukt ward inn dritten himel
Modalverbkonstruktionen dahin der lib des menschen nit komen kann waz wir tuon sollint
Tabelle 2: Zentripetale Stellung
mit zwischengestelltem V2-Gliedteil (nur mit V1 ... V2) Hilfsverbkonstruktionen Modalverbkonstruktionen die wort mins anfang, so ich hab für do er uns wolt kuntbar machen mich genomen Tabelle 3: Zwischenstellung
Das Thema ist schon des Öfteren Gegenstand von Untersuchungen gewesen, zuletzt bei Robert P. Ebert, der ausführlich die Verteilung in Nürnberger Schriftquellen auf ihre Verteilung in soziolinguistischer und diachroner Sicht untersucht hat.2 Ich möchte in diesem Beitrag diese Untersuchungen in zwei Hinsichten weiterführen: Erstens möchte ich stichprobenartig weitere Quellen einbeziehen, zweitens möchte ich die etwas grundsätzlichere Frage stellen, wie die Variationen im Gebrauch aus der Perspektive einer Beschreibung eines damals geltenden grammatischen Systems zu interpretieren sein könnten. Ich konzentriere mich dabei auf die Periode etwa zwischen 1480 und 1580. Die bisherigen Beschreibungen konzentrieren sich zumeist auf eine mehr statistische Beschreibung des Vorkommens der einzelnen Typen an sich, ohne die Frage zu stellen, wie diese in einem präziseren syntaktischen _____________ 2
Vgl. Ebert (1998).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
609
Rahmen genauer zu fassen wäre. Allfällige Systematisierungsversuche andererseits müssen zwei nahe liegende Gefahren vermeiden: erstens jene, die von Vilmos Ágel als Synchronizismus bezeichnet wurde, die unhinterfragte Erklärung eines historischen Sachverhalts aus Kategorien, die für die heutige Grammatik entwickelt worden sind, zweitens den Skriptizismus, die Erklärung eines historischen Sachverhalts aus den Voraussetzungen bezüglich Standardsprachlichkeit-Schriftlichkeit, wie sie für die Gegenwartssprache gelten.3 Auch wenn es schwer ist, eine theoretisch orientierte Beschreibung aus einer anderen als der eigenen Betrachtungsweise zu entwickeln, sollte man sich doch immer bewusst machen, dass man stets Gefahr läuft, für historische Zustände unhinterfragt Kategorien anzuwenden, die für die eigene Sprachpraxis angemessen sein mögen, aber doch kontingenterer Natur sind, als wir unreflektiert anwenden. Insbesondere die Interpretation der Beziehung zwischen Variabilität und grammatischer Fixierung und der möglichen Einflüsse von pragmatischen und textfunktionalen Faktoren kann nicht unbesehen von heutigen Verhältnissen auf historische Zustände übertragen werden. Vielfach wird aus dieser heutigen Sicht die Entwicklung als ein allmähliches Entstehen von Regularität und Systematik aus einem Sprachgebrauch der Freiheit, wenn nicht Beliebigkeit formuliert. Das ist eine Sicht von heute aus. Wie aber präsentierte sich das System aus der zeitgenössischen Sicht des 15. und 16. Jahrhunderts? Und wenn es sich damals wirklich um freie Variabilität handelte, wie wäre eine solche Variabilität in einem grammatischen System zu beschreiben?
2. Pragmatische und grammatische Einflussfaktoren bei der Wahl zwischen V1-V2 und V2-V1 2.1. Rhythmische Faktoren Zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen möchte ich den Umstand machen, dass die Verteilung zwischen den verschiedenen Stellungsmöglichkeiten im älteren Deutsch zwar breit gestreut, aber statistisch ungleichmäßig ist. Für diese Ungleichgewichte in der Häufigkeit der Stellungen V1-V2 und V2-V1 sind verschiedene Arten von Einflussfaktoren namhaft gemacht worden. Ein erster Faktor betrifft die rhythmische Struktur eines Verbkomplexes unter Einschluss des vorangehenden Wortes; diese hat Ebert (1998) detailliert anhand seines Nürnberger Korpus untersucht. Stark vereinfacht lässt sich aus Eberts Darstellung die Grund_____________ 3
Vgl. Ágel (2002, 1ff.).
610
Andreas Lötscher
tendenz formulieren, die auch schon Behagel formuliert hat:4 V2-V1 (die neuhochdeutsche Folge) wird eher bevorzugt, wenn das vorangehende Wort schwach betont ist, die umgekehrte Folge entsprechend, wenn das vorangehende Wort stark betont ist: stark betontes Wort + V1 + V2:
die das leben ... Jhesu Christi hond beschriben daz wir allweg etwaz guotz söllint tuon
schwach betontes Wort + V2 + V1:
daz gebot, so im bevolhen ist dahin der lib des menschen nit komen kann
Tabelle 4: Einfluss der Betonung des vorangehenden Wortes auf die Verbstellung
Das Kriterium der Betonung vorangehenden Wortes überschneidet sich vielfach mit einem anderen Kriterium, der grammatischen Kategorie des vorangehenden Wortes, die nach Ebert ebenfalls die Wahl zwischen den einzelnen Abfolgevarianten beeinflusst.5 grammatische Kategorie des vorangehenden Wortes -
Pronomen Negationspartikel Adverb Substantiv Adjektiv
begünstigt V1-V2
begünstigt V2-V1 X X X
X X
Tabelle 5: Einfluss der grammatischen Kategorie des vorangehenden Wortes auf die Verbstellung
2.2. Grammatisch-semantische Eigenschaften der beteiligten Verben Stark beeinflusst ist die Abfolge ferner durch die Art der involvierten Verben. Generell sind Modalverben dem regierten infiniten Verb häufiger vorangestellt als Hilfsverben. Ebert stellt aber auf der Grundlage seiner äußerst differenzierten statistischen Untersuchungen auch Unterschiede _____________ 4 5
Vgl. Behaghel (1932, 87ff.). Vgl. Ebert (1998).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
611
zwischen den einzelnen Hilfsverben fest: sein ist häufiger vorangestellt als haben, am seltensten werden:6 Voranstellungswahrscheinlichkeit: grösser Modalverben ↑
Hilfsverben: sein haben sein Passiv-werden / -sein
↓ kleiner
Tabelle 6: Einfluss der grammatischen Kategorie des regierenden Verbs auf die Verbstellung
In Bezug auf den Unterschied zwischen Modalverben und Hilfsverben könnte man das grammatisch und semantisch größere Gewicht der Modalverben für die stärkere Voranstellungstendenz verantwortlich machen. Weniger klar ist dies bei Hilfsverben. Hier liegt eher der umgekehrte Aspekt nahe, nämlich die relative semantische Eigenständigkeit des regierten infiniten Verbalelements. Mit dem Hilfsverb sein nähert sich das Partizip semantisch sehr oft einem prädikativen Adjektiv als Zustandsbezeichnung. Zweiteilige Prädikate mit haben und werden sind in semantischer Beziehung viel weniger transparent, anders gesagt, es sind semantisch gesehen nicht kompositional auflösbare Konstruktionen, sondern die spezielle temporale oder modale Bedeutung ergibt sich nur aus dem Zusammenwirken beider Formen. Noch mehr gilt dies für die Passivkonstruktionen. Dieser Aspekt der Kompositionalität, der semantischen Transparenz und damit der relativen strukturellen Eigenständigkeit des regierten Verbs lässt sich auch auf Modalverbkonstruktionen anwenden. Vollverben sind in Bezug auf das regierende Modalverb relativ eigenständige semantische Einheiten, deshalb kann ihre Stellung in Bezug auf das Modalverb auch relativ eigenständig gehandhabt werden. In diesem Zusammenhang kann die semantische Eigenständigkeit sich auch in satzpragmatischer Hinsicht, d.h. in Bezug auf die Thema-Rhema-Gliederung auswirken. Je eigenständiger satzsemantisch gesehen ein Element ist, desto eher kann es auch eine eigene rhematische Einheit darstellen. Rhematische Elemente werden aber bekanntlich bevorzugt an das Satzende positioniert. Die Stellung V1V2 wäre in dieser Perspektive weniger als Voranstellung eines regierenden Verbs als als Nachstellung bzw. Ausklammerung eines rhematischen _____________ 6
Vgl. Ebert (1981) und (1998).
612
Andreas Lötscher
Verbs zu interpretieren. So gesehen ist auch der anscheinende Sonderfall der V1-V2-Stellung mit zwischengestelltem V2-Gliedelement kein Sonderfall, sondern lediglich eine pragmatisch natürliche Erweiterung der Möglichkeit, rhematische Elemente mit Verb am Satzende zu positionieren; denn nicht nur einzelne Verben, sondern auch Verben mit ihren Ergänzungen können in sich geschlossene rhematische Strukturen sein, die als solche nachgestellt werden können. Auch in dieser Perspektive ist die Variabilität zwischen V1-V2 und V2-V1 lediglich eine pragmatische Angelegenheit; die Variabilität wäre danach deshalb möglich, weil ihr keinerlei grammatische Beschränkung entgegensteht. 2.3. Performanzaspekte Aus einer anderen Perspektive, jener der Performanzproblematik bei der Produktion und Rezeption grammatischer Strukturen, ist demgegenüber allerdings umgekehrt die Nachstellung eines regierenden Elements ein Problemfaktor. Die Nachstellung eines regierenden Verbs hinter das regierte Verb, also die Folge V2-V1, kann wohl nur in seltenen Fällen allein mit rhythmischen oder pragmatischen Faktoren begründet werden, dagegen würden Performanzgründe in den meisten Fällen grundsätzlich sprechen. Dass ein regiertes Element einem regierenden nachfolgt, ist auf jeden Fall performanzmäßig aufwendiger als die umgekehrte Folge, denn sie verursacht einen höheren Planungs- und Speicheraufwand in Bezug auf die zwischenzuspeichernden Lexeme und deren grammatische und semantische Merkmale. Wenn ein regiertes Element erscheint, bevor das regierende bekannt ist, ist im Analyseprozess die Identifikation seiner syntaktischen und funktionalen Einstufung nur teilweise und bedingt möglich und die endgültige Einordnung in das Analyseresultat muss auf den Zeitpunkt nach der anschließenden Analyse des regierenden Elements verschoben werden; dies verursacht einen Zwischenspeicherungsaufwand mit zusätzlichen Unsicherheitselementen.7 Die Abfolge V2-V1 als unnatürliche Abfolge ist deshalb, vor allem auch im Hinblick auf die reale Häufigkeit, die jede statistische Wahrscheinlichkeit übersteigt, allein aus grammatischen Bedingungen zu begründen, genauer, sie repräsentiert die Stellung, die vom grammatischen System definiert wird. _____________ 7
Dies ist eine Konkretisierung des von Hawkins entwickelten Prinzips des „Early Immediate Constituent“ (vgl. Hawkins 1994).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
613
2.4. Zwischenfazit Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgendes Zwischenfazit: •
Die Häufigkeit der V2-V1-Stellung ist angesichts der offenkundigen performanzmäßigen „Unnatürlichkeit“ bzw. Schwierigkeit zunächst nur erklärbar, wenn sie rein grammatisch-syntaktisch motiviert ist.
•
Dagegen sind die V1-V2-Stellungen auch durch rhythmische, d.h. sprachästhetische, und pragmatische Einflüsse wie die ThemaRhema-Gliederung erklärbar.
•
Aufs Ganze gesehen und im Einzelfall spielen bei der Wahl der Stellungen offensichtlich mehrere Faktoren eine Rolle, oft parallel, gleichzeitig, oder auch gegeneinander. Einerseits lässt sich die breite Streuung der Verwendungen durch dieses schwer entwirrbare Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren auf unterschiedlichen Sprachebenen erklären. Andererseits ist auch im Einzelfall kaum je klar entscheidbar, welcher Faktor nun für die konkrete Wahl entscheidend war.
Man kann sich oft des Eindrucks nicht erwehren, dass bei allen Tendenzen im Ganzen die Wahl im Einzelfall zufällig oder beliebig ist oder weitere, nicht erwähnte Faktoren eine Rolle spielen. In einem Satz wie in Beispiel (1) aus der Schönen Magelona dürfte es beispielsweise in jedem Falle schwierig sein, die Variation der Stellungen in ein und demselben Satz präzise aus klar bestimmbaren Faktoren zu begründen; allenfalls könnte noch das Prinzip der ästhetischen Variation (variatio delectat) eine Rolle spielen: (1)
Als die schön Magelona des Ritters erbietung hette verstanden / und sach auch der kostlichen ringe / der jhr der Ritter vberschickt hette / [...] (Die schön Magelona , 612)
Dies ist aber weder theoretisch noch praktisch überraschend, und auch aus theoretischer Sicht durchaus nachvollziehbar. Wenn mehrere Faktoren gleichzeitig einen Einfluss zu haben scheinen, führt das aus deskriptiver wie aus theoretischer Perspektive zu einer gewissen Intransparenz: Es ist – bei aller Eindeutigkeit der Tendenzen in statistischer Perspektive – deskriptiv im Einzelfall nicht klar, welcher Faktor nun in welcher Weise zur Entscheidung beigetragen hat. Dies kann auch für die einzelne Äußerung des individuellen Sprachbenutzers gelten: Er oder sie fällt im Einzelfall sozusagen intuitive Bauchentscheide, wie das bekanntlich generell gemacht wird, wenn man für einen Einzelentscheid viele miteinander verwickelte Entscheidungsgrößen
614
Andreas Lötscher
zu berücksichtigen hat. Wenn verschiedene gleichzeitig geltende Entscheidungskriterien zu berücksichtigen sind, ist es auch aus theoretischer Sicht keineswegs klar, wie diese Faktoren ineinander wirken, wenn man nicht klare Kriterien hat, wie diese einzelnen Faktoren gegeneinander zu gewichten sind und das Resultat zu bewerten ist. Aus den Einzelfällen ist es kaum je möglich, derartige klare Gewichtungen abzuleiten. In dieser Frage der Gewichtung der einzelnen Entscheidfaktoren ergibt sich aus theoretischer Sicht jedoch aufgrund der statistischen Verteilung eine weitere, allgemeinere Schlussfolgerung: Die Abfolge V2-V1 ist einerseits als grammatisches Prinzip motivierbar, andererseits wird dieses Prinzip gegenüber pragmatischen Einflussfaktoren nur relativ höher gewichtet, nicht absolut; mit anderen Worten, es kann im Einzelfall gegenüber anderen Einflussfaktoren zurücktreten müssen. Die statistisch ungleichmäßige Verteilung bei den verschiedenen Typen von Verbkomplexen lässt sich durch das unterschiedliche Gewicht der einzelnen pragmatischen Faktoren – u. U. auch je nach den pragmatischen Bedingungen einer Äußerung – gegenüber den grammatischen Stellungsanforderungen beschreiben.
3. Textsortenspezifische Unterschiede Für die Bewertung und Beschreibung des Sprachgebrauchs im Frühneuhochdeutschen ist nun noch ein weiterer Einflussfaktor wichtig, nämlich jener der Textsorte. Es ist zu beobachten, dass zwischen den verschiedenen Texten jener Zeit teilweise markante Unterschiede in der Wahl zwischen den verschiedenen Abfolgen bestehen. Allerdings ist es nicht immer ganz einfach, aus den einzelnen Texten klare Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, inwiefern die Tendenzen auf bestimmte konventionelle Textsortenregularitäten zurückzuführen sind. Im Rahmen dieses Beitrags kann ich auch nur einzelne, stichprobenhaft ausgewählte Beispiele beiziehen.8 3.1. Urkunden Relativ klar ist die Sachlage bei den Urkunden. In diesen wird offensichtlich seit jeher die Abfolge V2-V1 sehr stark bevorzugt, wenn nicht absolut durchgeführt: _____________ 8
Ausgezählt wurden für die nachfolgenden Statistiken jeweils Textausschnitte mit 100 Belegen für zweiteilige Verbalgruppen. Wo die Statistiken anderen Arbeiten entnommen sind, wird die betreffende Untersuchung direkt bei der Quellenangabe angegeben.
615
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
Basler Urkunden (1487-1488) (nach Lötscher 2000) Kaiserliche Kanzlei: Maximilian I (14931519) (nach Ebert 1998) Reichsabschied Freiburg 1498 (nach Ebert 1998) Aarburger Urkunden (14991519) (nach Lötscher 2000)
Hilfsverbkonstruktionen V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1
Modalverbkonstruktionen u.ä. V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1
3
64
96 %
4
38
90 %
0
131
100 %
[2]
105
98 %
0
119
100 %
[2]
94
98 %
13
57
81 %
14
28
67 %
Tabelle 7: Verbstellung in Urkunden
Gewisse Unterschiede sind allerdings erkennbar; die (lokalen) Urkunden aus der bernischen Kleinstadt Aarburg zeigen die erwähnte Tendenz wesentlich weniger deutlich als kaiserliche Urkunden oder Urkunden einer wichtigen Stadt wie Basel, die ein höheres Prestige beanspruchen. 3.2. Geistliche und moralische Texte vor der Reformation Urkunden haben gegenüber den meisten anderen Texten jener Zeit einen besonderen Status, denn die meisten anderen Texte zeigen wesentlich häufiger die Abfolge V1-V2. Das zeigt sich vor allem im Vergleich mit vorreformatorischen religiösen und erbaulichen Schriften:
616
Augsburger Sittenlehre (1475) Pauli, Predigten (1493) Geiler von Kaisersberg, Berg des Schauens (1500) L. Sprenger, Beschreitung (1514) (nach Ebert 2001, 142)
Andreas Lötscher
Hilfsverbkonstruktionen V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1
Modalverbkonstruktionen u.ä. V1-V2 V2-V1 %-Anteil
7
35
83 %
38
26
41 %
28
47
62 %
17
7
29 %
10
38
63 %
26
25
49 %
48
89
65 %
15
45
75 %
V2-V1
Tabelle 8: Verbstellung in vorreformatorischen religiösen und erbaulichen Schriften
Diese Schriften zeigen im Allgemeinen im Vergleich zu Urkunden eine starke Tendenz zur V1-V2-Abfolge. Allerdings gibt es auch hier zusätzliche Abstufungen. Am stärksten zur Abfolge V1-V2 zu neigen scheinen Predigten, was die Hypothese aufkommen lassen könnte, dass hier die Mündlichkeit eine gewisse Rolle spielen könnte. Jedoch sollte man sich hier nicht täuschen lassen, denn gedruckte Predigten gehen zwar oft auf tatsächlich gehaltene Predigten zurück, sind jedoch in den vorliegenden Fällen nachträgliche Bearbeitungen, zum Teil mehrere Jahre später erstellt, die zum Lesen bestimmt sind. Beibehalten wurde allerdings bei der Umsetzung in den Druck der Appellcharakter der Texte. 3.3. Streit- und Flugschriften der Reformationszeit Die Problematik einer schematischen Textsortenkategorisierung zeigt sich bei einer Textsorte, die auf den ersten Blick mit jener der Erbauungsschriften verwandt zu sein scheint, nämlich jener der reformatorischen Streit- und Flugschriften. Zweck, Autorentyp und Adressaten sind zwar in allen diesen Schriften ähnlich oder gleich. Theologen schreiben argumentative Texte mit starkem Appellcharakter zur Verteidigung einer konfessionellen oder religiösen Position. Von den einzelnen Autoren werden dabei allerdings Anlehnungen an unterschiedliche bestehende Textmuster
617
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
gemacht; man muss hier tendenziell vom Begriff der Textallianz sprechen, wie er in der Literaturwissenschaft für frühneuzeitliche Texte entwickelt worden ist.9 Je nachdem wird die V2-V1-Abfolge unterschiedlich stark bevorzugt.
Murner, An den Adel (1520) Bucer, Ursache (1524) Luther, Vom Kaufhandel (1524) Zwingli, Schlussreden (1523) Sonnenthaller, Ursache (1524) Müntzer, Ausgedrückte Entblößung (1524) Eberlin, Mich wundert (1524) Dietenberger, Der Laie (1524)
Hilfsverbkonstruktionen V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1
Modalverbkonstruktionen u.ä. V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1
4
64
93 %
7
24
77 %
7
53
88 %
9
25
74 %
6
32
84 %
23
38
62 %
11
33
75 %
16
37
70 %
10
44
81 %
20
25
56 %
10
58
85 %
18
22
55 %
7
51
87 %
29
14
36 %
10
75
87 %
13
8
38 %
Tabelle 9: Verbstellung in Streit- und Flugschriften der Reformationszeit
Was generell auffällt, ist, dass die Häufigkeit der V1-V2-Folge im Allgemeinen gegenüber Predigten wie jenen von Johannes Pauli und Geiler von Kaisersberg geringer ist. Das hängt wohl mit dem Umstand zusammen, dass die meisten dieser Texte weniger dem Muster von Predigten als jenem von Traktaten oder Abhandlungen folgen. Innerhalb dieses Musters gibt es allerdings deutliche Variationen. Manche Autoren, vor allem katholische, können sich stilistisch kaum von einem theologisch-wissenschaftlichen Traktatstil trennen und schreiben eher komplizierte, umständliche argumentative Texte. Der angeführte Text von Bucer (Bucer, Ursache) andererseits ist eine Verteidigungsschrift, die weniger für die Re_____________ 9
Zum Begriff der Textallianz vgl. Schwarz (2001, 9ff.).
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Andreas Lötscher
formation werben, als eine Rechtfertigung gegenüber den öffentlichen Institutionen sein will. Andere Autoren versuchen, mit einer direkteren, appellativeren und damit auch einfacheren Sprache auf die Leserschaft zu wirken, etwa Thomas Müntzer. Einen Mittelweg wählen hier vor allem Luther und Zwingli, die im Übrigen beide in ihrer Verbindung von Appellativität und Argumentativität stilistisch nicht nur musterbildend, sondern auch musterhaft sind. Am nächsten einer direkten appellativen Zuwendung zum Leser sind natürlich die Streitschriften in Dialogform, von denen hier als Musterbeispiele die Dialoge von Eberlin von Güntzburg Mich wundert, dass kein Geld im Land ist und von Johannes Dietenberger Der Laie. Ob der Glaube allein selig macht angeführt werden. All diese textfunktionalen Eigenarten finden ihre Entsprechung in der Häufigkeit der jeweiligen Abfolge von regiertem und regierendem Verb. Je traktatmäßiger der Sprachstil ist, desto stärker wird die neuhochdeutsche Abfolge V2-V1 gewählt; in Dialogen ist demgegenüber die Abfolge V1-V2 im Vergleich dazu häufiger. 3.4. Literarische Prosawerke Ähnliche Klassifizierungsprobleme wie bei reformatorischen Flugschriften stellen sich bei literarischen Werken. Auch literarische Prosatexte jener Zeit folgen nicht einem einheitlichen Muster, sondern sind das Ergebnis unterschiedlicher Stilentscheidungen und Formulierungstraditionen. Entsprechend findet sich auch eine sehr unterschiedliche Sprachverwendung in den einzelnen Werken. Auf der einen Seite steht als ein Extrem Steinhöwels Übersetzung des Appolonius-Romans, auf der anderen Seite Johannes Paulis Schwanksammlung Schimpf und Ernst, Werke von kaum vergleichbarem Zuschnitt. Steinhöwels Werk ist ein Produkt der literarischen Bemühungen des deutschen Frühhumanismus, letztlich von elitärem Zuschnitt. Johannes Paulis Schwanksammlung ist eine populär gehaltene Sammlung von unterhaltsamen Anekdoten und Schwankgeschichten. Steinhöwel wendet mit großer Konsequenz die Abfolge V2-V1 an, Johannes Pauli demgegenüber folgt eher dem Sprachgebrauch, wie er ihn in seinen Predigten anwendet. Unterschiedlich sind die typischen Prosaromane jener Zeit gehalten. Im Allgemeinen sind diese Prosaromane in einem sachlich-neutralen Stil gehalten, der auf Manifestationen einer Erzählperspektive möglichst verzichtet, im Einzelnen allerdings Variationen durchaus zulässt. Die schön Magelona etwa ist stärker auf ein empathisches Miterleben des Erzählten durch den Leser hin formuliert als der Fortunatus, der die Handlung in einem überaus distanzierten Stil präsentiert. Jedenfalls kann man die
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Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
grammatischen Unterschiede zwischen den Prosaromanen, die an sich eher gradueller als grundsätzlicher Art sind, tendenziell durchaus mit der generellen Stilhaltung der Werke in Beziehung bringen.
Steinhöwel, Appolonius (1476) Hug Schapler (1500) Fortunatus (1509) Pauli, Schimpf und Ernst (1522) Die schön Magelona (1524 / 1535) Wickram, Nachbarn (1556)
Hilfsverbkonstruktionen V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1 4 63 94 %
Modalverbkonstruktionen u.ä. V1-V2 V2-V1 %-Anteil 2
34
95 %
5
46
91 %
16
32
67 %
6 20
63 34
91 % 63 %
9 25
22 19
71 % 43 %
13
54
81 %
16
16
50 %
2
49
96 %
13
38
75 %
V2-V1
Tabelle 10: Verbstellung in literarischen Prosawerken zwischen 1470 und 1560
3.5. Schlussfolgerungen Welche Schlussfolgerungen kann man aus diesen Beobachtungen ziehen? Wenigstens für die ausgewählte Periode zwischen 1475 und 1540 kann man die Hypothese aufstellen, dass ein zusätzlicher Faktor für die Wahl einer bestimmten Verbabfolge, neben den früher genannten, die tetxtlinguistisch-textfunktionalen Eigenschaften eines Textes im weitesten Sinne sind. Angesichts der Heterogenität der Texte, in denen sich diese Unterschiede finden, ist es nicht leicht, die für die Wahl entscheidenden funktionalen Merkmale genauer anzugeben. Nahe liegt die Hypothese, dass ursächlich hier der Gegensatz Mündlichkeit – Schriftlichkeit verantwortlich ist. Diese Vermutung halte ich allerdings, wie bereits erwähnt, für problematisch, da es sich ja in allen Fällen um Texte handelt, die gezielt für die schriftliche Produktion und Rezeption produziert wurden. Außerdem ist hier an die erwähnten Gefahren des Skriptizismus und des Synchronizismus zu erinnern, an die Gefahr, Variationen und Abweichungen in historischen Zuständen aus Bedingungen heutiger Sprachzustände zu erklären. Aber selbst für heutige Bedingungen ist ja von Peter Koch und Wulf Oesterreicher auf die Unzulänglichkeit des Begriffspaars Mündlich-
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Andreas Lötscher
keit – Schriftlichkeit für die Beschreibung von Sprachvariation hingewiesen worden. An dessen Stelle schlagen sie die Kategorien der konzeptuellen Mündlichkeit und konzeptuellen Schriftlichkeit bzw. die pragmatischen Kategorien von Nähe und Distanz vor.10 Wenn wir der Ausarbeitung dieses Konzepts durch Ágel und Hennig für die formale Ebene der Sprache folgen,11 wäre die pragmatisch bestimmte Abfolge V1-V2 der Dimension der Nähe, die grammatisch bestimmte, performanzmäßig schwierigere Abfolge der Dimension der Distanz zuzuordnen. Nun kann man allerdings die Verknüpfung von Sprachvariation und Nähe – Distanz m.E. nicht ohne Weiteres nach dem heutigen Muster direkt auf die faktisch vorkommenden Variationen im Frühneuhochdeutschen anwenden.12 Während heute im schriftlichen Sprachgebrauch vor dem Hintergrund der normierten und systematisierten Standardsprachlichkeit bestimmte Arten von Abweichungen von einer als standardsprachlich markierten Struktur als Nähe-Signale interpretiert werden, sind im Frühneuhochdeutschen Variabilität und damit auch eine gewisse grammatische Unsystematik Teil der Sprachnorm13 und können somit als solche nicht direkt als Nähe-Signale interpretiert werden. Innerhalb der Sprachnorm des Frühneuhochdeutschen ist daher eine andere Perspektive anzuwenden. Ansetzen möchte ich bei dem früher erwähnten Umstand, dass die Abfolge ‚Regiertes vor Regierendem‘ perzeptuell aufwendiger ist als die umgekehrte Abfolge, aber offenbar im Deutschen aus irgendwelchen Gründen spätestens seit dem Spätalthochdeutschen im Verbalkomplex Teil des grammatischen Systems ist. Nur wird von der grammatisch fundierten Abfolge im konkreten Fall häufig zugunsten der Anwendung pragmatisch und perzeptuell begründeter Formulierungsprinzipien abgewichen. Anders gesagt: Die pragmatischen Vorteile einer V1-V2-Abfolge werden häufig gegenüber der Systemtreue und der vom System geforderten V2-V1-Abfolge stärker gewichtet und demzufolge wird die erstere Abfolge gewählt. Eine konsequentere Durchführung der rein grammatisch motivierten Abfolge V2-V1 impliziert demgegenüber eine gegenteilige Gewichtung: Das grammatische Prinzip wird zuungunsten perzeptueller und pragmatischer Gesichtspunkte stärker gewichtet. Eine solche Entscheidung bedeutet in gewissem Maße einerseits eine Systematisierung des Sprachgebrauchs, andererseits eine Erschwerung der Sprachverwendung, der Produktion und der Rezeption. Die V2-V1_____________ 10 11 12 13
Vgl. z.B. Koch / Oesterreicher (1994, 587ff.) und Koch / Oesterreicher (2007, 346ff.). Vgl. Ágel / Hennig (2006, 3ff.). Vgl. Lötscher (2009). Norm als gesellschaftlich etablierter Gebrauch, im Sinne von Coseriu, im Gegensatz zu (grammatisches) System und Rede (konkreter Sprachgebrauch); vgl. Coseriu (1979, 193ff.).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
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Stellung stellt höhere Anforderungen an die Performanzleistung; sie impliziert eine kognitiv-gedächtnismäßig integrierte Verarbeitung von größeren syntaktischen Einheiten als die V1-V2-Stellung. Sie ist insofern mit dem Kriterium der „Integrativität“14 in der Theorie des Nähe-DistanzSprechens in Verbindung zu bringen. Beides, Systematisierung wie Erschwerung der Sprachverwendung, muss innerhalb einer Norm, die Variabilität zugunsten pragmatischer und perzeptueller Faktoren zulässt, als Distanz-Signal interpretiert werden. Die konsequente Bevorzugung der Abfolge V2-V1 ist also funktional ein Distanz-Signal, anders gesagt, Texte, welche diese Abfolge bevorzugen, sind Texte, welche durch Distanzsprachlichkeit markiert werden sollen. Dies kann auch unabhängig vom Kriterium der Verbstellung als gemeinsames Merkmal so heterogener Textsorten wie Urkunden, humanistischer Übersetzungen und theologischer Traktate identifiziert werden. Es handelt sich um Texte, die von der Funktion her einen gewissen Prestigeanspruch und zum Teil auch Fachsprachlichkeit oder Spezialsprachlichkeit zum Ausdruck bringen sollen. Zusammengefasst: Die Wahl zwischen den verschiedenen Abfolgemöglichkeiten im Verbalkomplex ist spätestens im Frühneuhochdeutschen auch durch funktional-stilistische Entscheidungen des Autors oder die entsprechende Einstufung einer Textsorte mit beeinflusst. Primär wurde hier argumentiert, dass die Bevorzugung der grammatisch begründeten Abfolge V2-V1 ein Signal für Distanzsprachlichkeit ist. Umgekehrt können wir nun daraus auch gewisse Schlussfolgerungen für einen besonders extensiven Gebrauch der V1-V2-Abfolge ziehen, also einen Gebrauch, der über das feststellbare Mittelmaß hinausgeht. Grob geschätzt kann man aufgrund der beobachtbaren Verteilungen die Hypothese aufstellen, dass dieses Mittelmass bei etwa 60 bis 75 Prozent V2-V1Stellungen bei den Hilfsverbkonstruktionen und bei etwa 50 bis 60 Prozent V2-V1-Stellungen bei den Modalverbkonstruktionen liegt.15 Wenn Texte wie etwa die Predigten und Schwankerzählungen von Johannes Pauli spürbar von diesen Verteilungen zugunsten einer stärkeren Gewichtung der V1-V2-Abfolge abweichen, können sie vor dem Hintergrund unserer Überlegungen als stärker nähesprachlich eingestuft werden.
_____________ 14 15
Ágel / Hennig (2006, 26). Vgl. neben den Zählungen in diesem Beitrag auch Lötscher (2000, 199ff.) und Ebert (1998).
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Andreas Lötscher
4. Die Variation der Elementabfolge im Verbkomplex im weiteren Kontext Die Verhältnisse bei der Elementabfolge im Verbkomplex im Frühneuhochdeutschen sollten nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen in einem weiteren Kontext gesehen werden. Stichwortartig sei auf weitere Aspekte hingewiesen, welche für eine Interpretation der Situation bedeutsam sind. Allerdings fehlen dazu in den meisten Fällen bislang die nötigen detaillierten Untersuchungen, sodass es hier bei Andeutungen und impressionistischen Bemerkungen bleiben muss. 4.1. Verfahren der Distanzsprachlichkeit Die V2-V1-Abfolge ist nicht das einzige Mittel, mit dem Distanzsprachlichkeit signalisiert wird. Sie ist Teil umfassenderer Stilstrategien. Eng mit der Verbstellung verknüpft ist namentlich das Problem der Ausklammerung. Im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen können bekanntlich nominale und adverbiale Satzglieder in weit größerem Maße ausgeklammert werden als im Neuhochdeutschen. Es handelt sich auch hier m.E. um ein Phänomen, das als Zusammenspiel zwischen dem grammatischen Prinzip der Verbendstellung und pragmatischen Prinzipien der Nachstellung von rhematischen Elementen oder ergänzenden pragmatischen Modifikationen zu beschreiben ist. Dieser Verzicht auf Ausklammerung ist ebenfalls ein Aspekt der Systematisierung und der Erschwerung des Sprachgebrauchs. Wesentlich ist, dass auch die Ausklammerung von stilistischen Faktoren beeinflusst ist, die vergleichbar sind mit jenen, die für die Verbstellung namhaft gemacht werden können.16 Zudem lässt sich in vielen Fällen beobachten, dass die konsequente Befolgung der V2V1-Folge parallel einher geht mit dem Verzicht auf Ausklammerung und umgekehrt. Eine eingehendere Untersuchung, ob diese Beobachtung generelle Gültigkeit hat, steht allerdings aus. 17
_____________ 16 17
Vgl. Ebert (1980). Einen weiteren verwandten Problembereich bildet die Verwendung von eingeklammerten Nebensätzen; dies ist ja lediglich eine noch extensivere Ausprägung von Einklammerungen von Satzgliedern vor dem Verb in Endstellung. Auch hier wäre zu untersuchen, ob ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Verwendung von V2-V1-Strukturen und der Häufigkeit von Einklammerungen besteht.
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Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
4.2. Diachrone Aspekte Die Verwendung von distanzsprachlichen Formen nimmt im 16. Jahrhundert allmählich zu und führt zu einem Sprachwandel, wonach markierte Mittel der Distanzsprachlichkeit allmählich zu unmarkierten Normen der Schriftlichkeit werden. Ein Beispiel liefern hier die Schwankerzählungen des Elsässers Jakob Frey. In seiner Sammlung Gartengesellschaft von 1557 finden sich V1-V2-Abfolgen nur noch relativ selten, obwohl sich der ganze Sprachduktus gegenüber der Sammlung Schimpf und Ernst von Johannes Pauli von 1522 nicht wesentlich unterscheidet. Auch Ebert stellt in Nürnberger Texten eine zunehmende Bevorzugung der Abfolge V2-V1 fest.18 In privaten Aufzeichnungen wird dort im späteren 16. Jahrhundert ebenfalls die Stellung V2-V1 fast ausschließlich verwendet: Hilfsverbkonstruktionen Frey, Gartengesellschaft (1557) Köler, Autobiographie (15361541) (nach Ebert 1981, 217) Welser, Tagebuch (1577) (ebd.)
Modalverbkonstruktionen u.ä.
V1-V2
V2-V1
%-Anteil V2-V1
V1-V2
V2-V1
%-Anteil V2-V1
2
35
95 %
11
52
83 %
4
47
92 %
1
20
95 %
10
51
84 %
1
19
95 %
Tabelle 11: Verbstellung in Texten 1530 bis 1580
Der Wandel vom freieren Stellungsgebrauch im älteren Deutsch zur neuhochdeutschen generellen Geltung der V2-V1-Abfolge erfolgt offenbar im Laufe des 16. Jahrhunderts. 4.3. Diatopische Aspekte Die Ausdifferenzierung der V2-V1-Stellung als Merkmal einer autonomen Schriftlichkeit ist ein historisch kontingentes Ereignis; entsprechend sind _____________ 18
Vgl. Ebert (1998, 161ff.).
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soziale und regionale Unterschiede möglich. Ich habe dazu nur Stichproben, die mir allerdings aufschlussreich erscheinen. Manche schweizerischen Texte im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts in alemannischer Schreibsprache zeigen vielfach beträchtliche höhere Anteile von V1-V2Strukturen als die in Abschnitt 4 angegebenen Textbeispiele oder die von Robert Ebert untersuchten Nürnberger Texte: 19
Ludwig von Diesbach, Aufzeichnungen (1488-1518) (nach Lötscher 2000) Diebold Schilling, Bilderchronik (1513) (nach Lötscher 2000) Ziely, Olivier und Artus (1521) (nach Lötscher 2000)
Hilfsverbkonstruktionen V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1
Modalverbkonstruktionen u.ä. V1-V2 V2-V1 %-Anteil
11
51
82 %
24
12
33 %
10
45
82 %
21
9
30 %
39
42
52 %
35
8
19 %
V2-V1
Tabelle 12: Verbstellung in Texten in alemannischer Schreibsprache aus dem frühen 16. Jh.
Es handelt sich bei den angegebenen Beispielen um Texte, die in pragmatischer Hinsicht nicht besonders markiert sind und bei denen beispielsweise keine besondere Nähesprachlichkeit zu erwarten wäre. Die Autoren gehören der typischen schreibkundigen gehobenen Bevölkerungsschicht einer damaligen Stadt an. Ludwig von Diesbach ist ein Berner Aristokrat, der einen Text von eher kanzleisprachlichem Zuschnitt schreibt. Erst recht gilt dies für die Bilderchronik des Luzerners Diebold Schilling. Der Roman Olivier und Artus gehört der Gattung der Volksbücher an, die im Allgemeinen in Bezug auf die Verbstellung keine Besonderheiten aufweist. Das Bild setzt sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts fort. Wie oben erwähnt, wird nach Ebert in Nürnberger Texten die V2-V1-Abfolge im Verlauf des 16. Jahrhunderts die praktisch allein gültige Stellung. Für Auf_____________ 19
Vgl. ebd.; vgl. Lötscher (2000, 213).
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Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
zeichnungen von Schweizern, die den privaten Aufzeichnungen von Nürnberger Bürgern einigermaßen entsprechen, finden sich demgegenüber markant andere Verteilungen:
Thomas Platter, Lebensbeschreibung (1572) (nach Lötscher 2000) Jakob v. Staal, Reisenotizen (n. 1595) (nach Lötscher 2000)
Hilfsverbkonstruktionen V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1
Modalverbkonstruktionen u.ä. V1-V2 V2-V1 %-Anteil
10
51
84 %
25
8
24 %
20
62
75 %
21
2
9%
V2-V1
Tabelle 13: Verbstellung in persönlichen Aufzeichnungen in alemannischer Schreibsprache aus dem späten 16. Jh.
Bei den beiden angeführten Autoren Thomas Plattner und Jakob vom Staal handelt es sich um durchaus gebildete Stadtbürger (aus Basel bzw. Solothurn), die Texte stammen also nicht von nur halb gebildeten Autoren, die allenfalls aus Ungeübtheit mündlichem Sprachgebrauch folgen. Die beiden wenden aber gleichwohl Stellungen an, die von den Regeln des späteren 16. Jahrhunderts stark abweichen. Sie folgen augenscheinlich Stellungsregeln, wie sie heute noch in den Schweizer Dialekten gelten. In der Schweiz ist offenbar innerhalb der traditionellen alemannischen Schreibsprache noch die historisch gewachsene Variabilität erhalten geblieben. Zu erwähnen ist allerdings auch, dass etwa Sachtexte und literarische Texte aus der Schweiz in vielen Fällen durchaus den in nördlichen Gegenden üblichen Normen folgen:
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Tschudi, Chronicon helveticum (ca. 1570) (nach Lötscher 2000) A. Henricpetri, Generalhistorien (1577) (nach Lötscher 2000) Wetzel, Söhne Giaffers (1583) (nach Lötscher 2000)
Hilfsverbkonstruktionen V1-V2 V2-V1 %-Anteil V2-V1
Modalverbkonstruktionen u.ä. V1-V2 V2-V1 %-Anteil
1
42
98 %
18
43
70 %
2
44
96 %
9
33
79 %
1
67
99 %
1
48
98 %
V2-V1
Tabelle 14: Verbstellung in literarischen und historischen Texten aus der Schweiz aus dem späten 16. Jh.
Neben der Tradition der alemannischen Schreibsprache richten sich viele Autoren in der Schweiz seit dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts je nach Publikum in Drucken auch nach Sprachnormen der ostmitteldeutschen und schwäbischen Druckzentren.20 Ob dies in anderen Gegenden ähnlich der Fall war, müsste noch untersucht werden.
5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die Stellung der verbalen Elemente im Verbalkomplex, wie wir sie im Frühneuhochdeutschen beobachten, ist von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst: einerseits von grammatischen Grundbedingungen, andererseits von pragmatischen Faktoren, und hier einerseits von rein innersprachlichen wie rhythmischen oder satzfunktionalen Faktoren, andererseits von kommunikativen Faktoren, genauer von der Nähe-Distanzsprachlichkeit eines Textes. Die Variabilität der Stellungen ist aus der jeweiligen situativen Gewichtung der einzelnen Faktoren gegeneinander zu erklären, konkret aus der unterschiedlichen Gewichtung pragmatischer Faktoren gegenüber der grammatischen Grundstellung V2-V1. _____________ 20
Vgl. Sonderegger (1993, 11ff.).
Verbstellung im zweiteiligen Verbalkomplex
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Die potenzielle Distanzsprachlichkeit der relativen Bevorzugung der grammatisch fundierten zentripetalen Stellung V2-V1 ist dabei am besten dadurch zu erklären, dass diese Stellung die Performanzanforderungen im Vergleich zur V1-V2-Stellung erhöht; höhere Ansprüche an die Rezeptionsleistungen sind im Allgemeinen Signale der Distanzsprachlichkeit. Die spätere Entwicklung im 16. Jahrhundert kann als Zurückdrängen pragmatischer Einflussfaktoren zugunsten einer stärkeren Geltung des rein grammatischen Prinzips der V2-V1-Stellung interpretiert werden; dies steht im Einklang mit dem sonstigen Vordringen integrativer Strukturen wie Einklammerung. Indirekt bestätigt dies die These, dass die Stellung V2-V1 die eigentliche für das System vorauszusetzende grammatische Grundstellung ist, die im früheren Deutsch jedoch durch pragmatische und performanzbedingte Zusatzfaktoren in ihrer Geltung eingeschränkt und relativiert wurde. Über die Interpretation als Distanzsignal gewann sie im Laufe des 16. Jahrhunderts Geltung als Normalstellung, der gegenüber die pragmatischen und performanzbedingten Bedürfnisse stärker zurückzutreten hatten.
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Andreas Lötscher
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wir muessen etwas teutsch reden… Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit Hans Ulrich Schmid (Leipzig)
1. Zur Forschungslage Die Frage nach Merkmalen und Strukturen der historischen Mündlichkeit ist nicht neu. Der Forschungsstand wird zusammengefasst in dem Beitrag „Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen“ von Anne Betten1 im Handbuch HSK Sprachgeschichte. Dort heißt es: Idealiter wäre eine möglichst repräsentative Auswahl aller frnhd. Textsorten nach diesen Parametern zu analysieren, um durch synchrone und diachrone Vergleiche herauszufinden, welche ‚Mischungsverhältnisse‘ in dieser Phase zustande kommen und wie sie sich verändern.2
Mit „diesen Parametern“ sind die Parameter, die Peter Koch und Wulf Oesterreicher3 für moderne romanische Sprachen entwickelt haben, gemeint. Demgegenüber darf jedoch bezweifelt werden, dass eine „möglichst repräsentative Auswahl aller frnhd. Textsorten“ uns einer Antwort auf die Frage nach etwaigen strukturellen Unterschieden zwischen gesprochenem und geschriebenem Frühneuhochdeutsch substantiell näher bringen könnte. Auch die Frage, inwieweit bestimmte Textsortenstile der gesprochenen Sprache näher stehen als andere, wird sich solange nicht schlüssig beantworten lassen, wie wir nicht wissen, wie die gesprochene Sprache früherer Epochen strukturiert war. Hier sind wir auf Mutmaßungen oder die Übertragung rezenter Gegebenheiten auf Sprachzeugnisse der Vergangenheit angewiesen, ob man diese Mutmaßungen nun als Parameter oder sonst wie bezeichnet. Was Robert Peter Ebert4 schon 1986 formuliert hat, liest sich wie eine Binsenweisheit, trifft aber bis heute zu: _____________ 1 2 3 4
Vgl. Betten (2000, 1646ff.). Ebd., 1649. Vgl. Koch / Oesterreicher (2007, 356ff.). Vgl. Ebert (1986, 22).
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Hans Ulrich Schmid
„Der Grad des Einflusses der gesprochenen Sprache auf unsere geschriebenen Quellen läßt sich wegen mangelnder Zeugnisse für die gesprochene Sprache nur schwer ausmachen“. Im Vorgänger-Artikel5 in der Erstauflage des HSK Sprachgeschichte moniert der Verfasser Ernst Bremer das Fehlen „einer umfassenden Theorie des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit“.6 Hier werden wohl die Möglichkeiten einer „Theorie“ überschätzt, denn wie soll eine solche aussehen, wenn die Datenbasis fehlt? Sicherlich ist davon auszugehen, dass im Frühneuhochdeutschen einerseits die geschriebene Sprache auf die gesprochene einwirkt, vor allem auf deren Prestigevarietäten, und dass andererseits in dieser Phase der „Prozeß zunehmender Distanz zu gesprochener Sprache“7 eingeleitet wurde. Doch das ist eine nicht weiter verwertbare, höchst allgemeine Einsicht. Man könnte auch sagen, ein Allgemeinplatz. Datenmaterial ergibt sich – was von Bremer auch gesehen und mit Recht problematisiert wird – vor allem für den phonetischen und morphophonetischen Bereich, weniger für die Syntax, wie auch die entsprechenden HSK-Artikel zum Mittelhochdeutschen8 und Althochdeutschen9 belegen. Das Gesagte führt uns somit letztlich zu einem heuristischen Dilemma, und dieses ergibt sich aus der Datenlage. Man kann noch so viele Tausend Seiten frühneuhochdeutscher Texte digitalisieren, annotieren und analysieren und versuchen, strukturelle Unterschiede z.B. zwischen theologischem Traktat, Rechtsprosa, Schwankerzählung oder Fachliteratur zu den artes mechanicae herausfinden, aber man weiß trotzdem immer noch nicht, was typisch für die mündliche Kommunikation ist. Damit soll nicht der Sinn von Digitalisierung, Annotation und Analyse angezweifelt werden, sondern nur die Ergiebigkeit solcher Verfahrensweisen für die Ermittlung sprechsprachspezifischer Strukturen. Dass manche Textsorten (handwerksbezogene Fachliteratur, Predigt, Schwankliteratur usw.) der historischen Mündlichkeit näher stehen können als andere, soll ebenfalls nicht angezweifelt werden. Es liegt ja auf der Hand.
_____________ 5 6 7 8 9
Vgl. Bremer (1985, 1379ff.). Ebd., 1379. Ebd., 1384. Vgl. Grosse (2000, 1391ff.). Vgl. Sonderegger (2000, 1231ff.).
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2. Die Aufzeichnungen des Jörg Kazmair Die folgenden Überlegungen basieren auf der Analyse einer einzigen Quelle, anhand derer versucht werden soll, signifikante Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Syntax um 1400 zu ermitteln. Es handelt sich um die Aufzeichnungen des Jörg Kazmair über turbulente Vorgänge in München in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts.10 Zu diesen Vorgängen nur einige Anmerkungen, soweit es für das Verständnis des Nachfolgenden von Belang ist. Der Autor entstammte einem Münchner Patriziergeschlecht und wird erstmals 1391 als BFrger zu MFnchen urkundlich erwähnt. Ab 1396 gehörte er dem Inneren Rat an, 1397 ist er Bürgermeister. Im selben Jahr kam es zu einem Aufbegehren der Zünfte und oppositioneller Patrizier infolge von Steuererhöhungen. Diese standen im Zusammenhang mit der Konkurrenz dreier Wittelsbacher Linien um die Stadtherrschaft. Die Münchner Bürgerschaft versuchte, in wechselnden taktischen Koalitionen das Beste für die Stadt herauszuholen, was letztlich ein riskantes Unterfangen war. Einige der Wortführer bezahlten dafür mit dem Leben. Jörg Kazmair musste im Laufe dieser Wirren 1398 die Stadt verlassen, kehrte aber 1403 nach München und in die alten Ämter zurück.11 Seine Aufzeichnungen berichten von den Vorgängen der Jahre 1397 bis 1403. Von Vorteil für die sprachhistorische Analyse ist, dass diese Aufzeichnungen literarisch unambitioniert sind. Rhetorische Stilisierungen oder gelehrte Attitüden sind Kazmair sichtlich fremd. Ganz deutlich geht es ihm um eine „Chronik der laufenden Ereignisse“,12 und zwar aus seiner subjektiven Sicht. Das findet seinen Ausdruck in einer Fülle wörtlicher Zitate von Äußerungen beteiligter Personen, die Kazmair aus dem Gedächtnis wiedergibt. Dass wir hier vergleichsweise nahe an O-Tönen von ca. 1400 sind, geht aus einigen Indizien hervor: 1. Der Partikelgebrauch: In einer Fülle wörtlicher Zitate erscheinen Partikeln, die im sonstigen Text völlig fehlen, die aber typisch sind für tatsächlich gesprochene Äußerungen: (1)
gelt du fürchst dich.
(2)
tuet es der herr, nun so gevelts mir auch wol.
(3)
Nun kennst du in doch wol.
_____________ 10 11 12
Vgl. die Erstausgabe bei Schmeller (1847). Im Folgenden wird zitiert nach von Muffat (1878). Vgl. Grubmüller (1983, Sp. 1085ff.). Gleba (2000, 215ff.), analysiert die Aufzeichnungen von einem stadthistorischen Standpunkt aus und rechnet sie der mittelalterlichen „Gegenwartschronistik“ zu.
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2. Fehlendes Personalpronomen du: (4)
was klafst dann?
(5)
dez hast heut jm rat wol gesechen
Man beachte hier auch die Pronominalform dez für 'das', die so in den Berichtpassagen nicht vorkommt. 3. Verwendung des Dativus ethicus:13 (6)
und dankht mir dem volkh vleissig
4. Wortstellung: (7)
la dein red, leih her gelt!
Auffallend ist hier der Parallelismus der beiden parataktisch gereihten Aufforderungssätze, aber auch die Kontaktstellung leih her = die Ausklammerung des Akkusativobjekts. 5. Anreden mit Familiennamen (die um 1400 erstaunlich früh sind): (8)
Tichtl, du wirst des innen
(9)
Kazmair, ich han dich gern bey mir
6. Phraseologismen und ironische Redeweisen: (10)
wir tuen dem ding ze vil und nemen den schrot ze weit.
Vermutlich steht dahinter ein Bild aus der Münzprägung (wie auch in der Redensart von rechtem Schrot und Korn). Den Schrot zu weit nehmen bedeutet wohl 'mehr Metall vom Barren schneiden als für die Münzprägung nötig ist'. Gemeint ist anscheinend 'sich übernehmen, sich zu viel vornehmen'. (11) wir muessen etwas teutsch reden. Mit teutsch reden ist hier nicht die Sprache gemeint, sondern – wie auch noch heute üblich – deutliches, unmissverständliches Reden (auf Deutsch gesagt). Der Gegensatz ist welsch oder rotwelsch reden. Beides bedeutet 'sich verklausuliert ausdrücken': (12) er redt rotwelsch mit uns. Das sind einige äußere Indizien für (relative) Authentizität der wörtlichen Reden in Kazmairs Bericht, die dazu berechtigen, diese Äußerungen als mündliche Äußerungen ernst zu nehmen. Natürlich kann bei der nach_____________ 13
Zu diesem Dativtyp als Merkmal der „mehr volkstümlichen Rede“ vgl. Ebert (1986, 46).
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träglichen Niederschrift manches abgeändert worden sein. Kazmair hat gewiss nicht alles mitstenographiert, was ihm zu Ohren kam. Wir haben es aber immerhin wohl mit konzeptioneller Mündlichkeit zu tun. Wenn sich nun – so die Überlegung – nachweisen ließe, dass es auch innere, also syntaktisch-strukturelle Divergenzen zwischen Redesequenzen (im Folgenden als R-Sequenzen bezeichnet) und Berichtssequenzen (nachfolgend B-Sequenzen) gibt, so wären diese Divergenzen am plausibelsten damit zu begründen, dass gesprochene Syntax anderen Regularitäten folgt als geschriebene.
3. Nebensatzarten Insgesamt umfasst der Text von Kazmair 969 Gesamtsätze im Bereich der B-Sequenzen und 329 Gesamtsätze im Bereich der R-Sequenzen. Es kann sich dabei um ganz kurze Einfachsätze handeln, aber auch um relativ umfangreiche Hypotaxen. Für syntaktisch selbständige Kurzsätze wurden mit den Sätzen (1) bis (12) bereits einige Beispiele zitiert. Das komplexeste Gefüge im ganzen Text ist folgendes: (13) Da die herrn aller wildest warn und unß auß paten zu ziechen und do herzog Ernst, die weil herein schrib, er begeret nun fur ain landtschafft geen Munchen zu komen und da sölih antburt zu geben, da er der herrschaft und der landschafft genueg an thät und da wir zu rat wolten werden, alz wir auch teten, die weil der herr solchen weeg begerte. so wär unß nit auz zeziechen. Das Gefüge enthält neun abhängige Sätze mit unterschiedlichem syntaktischem Status, die sämtlich dem Matrixsatz (so wär unß nit auz zeziechen) vorausgehen. Bei den genannten 969 syntaktischen Einheiten der B-Sequenzen sind 113 Einleitungssätze wie Da sprach mein herr oder ain schwertfeger sprach und Ähnliches, die das Bindeglied zwischen B- und R-Sequenzen bilden, nicht mitgerechnet. Die Gesamtzahl der Sätze der B-Sequenzen steht, wie gesagt, zu denen der R-Sequenzen in einem Verhältnis von 969:329, also etwa 3:1. Das dürfte ein vergleichsweise hoher Anteil wörtlicher Reden in einem Prosatext um 1400 sein. Betrachten wir zunächst die Anteile der Einfachsätze, der Gefüge mit nur einer abhängigen satzwertigen Struktur, der Gefüge mit zwei Nebensätzen am Gesamtbestand usw.:
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Zahl der Teilsätze 1 (= Einfachsatz) 2 3 4 5 6 7 8 9 10
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B-Sequenzen gesamt proportional (ca.)
R-Sequenzen gesamt proportional (ca.)
630 221 67 35 10 2 2 1 1 969
195 92 26 10 4 2 329
65 % 23 % 7% 4% 1% 0,2 % 0,2 % 0,1 % 0,1 %
59 % 28 % 8% 2,5 % 1% 0,6 % -
Tabelle 1: Satzkomplexität der B- und R-Sequenzen im Vergleich
Was ergibt sich daraus? Die proportionalen / prozentualen Anteile der Einfachsätze und der Satzgefüge mit einer, zwei oder mehr eingebetteten Strukturen liegen sehr nahe beieinander. In beiden Bereichen machen die einfachen Sätze ohne weitere prädikathaltige Einbettung deutlich über die Hälfte aus. Bei den B-Sequenzen ist der Wert sogar noch höher als bei den R-Sequenzen. Erstaunlicherweise liegen die Werte bei ein- und zweifacher Unterordnung bei den R-Sequenzen sogar etwas höher als in den B-Sequenzen. Erst ab den Gefügen mit einem Hauptsatz und drei abhängigen Sätzen (insgesamt also vier Elementarsätzen in einem abgeschlossenen Gefüge) verschieben sich die Relationen zugunsten der B-Sequenzen. Allerdings sind hier die Belegzahlen so niedrig, dass weiterreichende Schlussfolgerungen nicht gezogen werden können. Gefüge mit mehr als sechs Elementarsätzen kommen in den R-Sequenzen überhaupt nicht mehr vor. Eine etwaige Dominanz der Einfachsätze in den R-Sequenzen einerseits und der Hypotaxen in den B-Sequenzen andererseits lässt sich also nicht erkennen. Geringere Komplexität an sich scheint kein distinktives Merkmal wörtlicher Reden – auch nicht der konzeptionellen Mündlichkeit – zu sein. Signifikante Unterschiede ergeben sich allerdings dann, wenn man die einzelnen Nebensatztypen näher unter die Lupe nimmt. Vergleichen wir also zunächst das Vorkommen einzelner Nebensatztypen an sich. Bei proportional entsprechender Verteilung wäre wohl anzunehmen, dass ein bestimmter Nebensatztyp – z.B. Kausalsätze, Modalsätze usw. – in B-Sequenzen dreimal so oft vorkommt wie in R-Sequenzen. Deutliche Abweichungen nach oben oder unten wären ein Indiz dafür, dass der
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jeweilige Nebensatztyp tendentiell B-Sequenz-typisch oder eben R-Sequenz-typisch ist. Des Weiteren sollen die einleitenden Subjunktionen auf ihre B- oder R-Spezifik hin untersucht werden. 3.1. Kausalsätze Der Text enthält 33 Nebensätze, die als Kausalsätze anzusprechen sind. Davon entfallen 26 auf die B-Sequenzen und sieben auf die R-Sequenzen. Das ergibt einen Quotienten von 3,7. Der Typus Kausalsatz ist insgesamt im B-Bereich also etwas besser vertreten als im R-Bereich. Allerdings ist das noch keine signifikante Abweichung, wenn man von einem Koeffizienten von ca. 3 ausgeht. Ein signifikanter Unterschied besteht somit nicht in der Frequenz von Kausalätzen an sich. Unterschiede ergeben sich jedoch bei den Subjunktionen: Neun Kausalsätze in B-Sequenzen sind mit daz eingeleitet. Dafür ein exemplarischer Beleg: (14) Da fur mein muetter heraus 8 tag vor Michaely im 99. jar, daz sy nit zu leben het. 'da zog meine Mutter acht Tage vor Michaeli im Jahr 1399 aus, weil sie nichts mehr hatte, wovon sie leben konnte' Von den sieben Kausalsätzen im R-Bereich ist dagegen kein einziger mit daz eingeleitet. Hier finden sich zwei Belege für Einleitung mit seit. Einer davon lautet: (15) werlich, seit jr mich fragt, so mag ich euch sein nit geraten. 'wahrhaftig, da ihr mich fragt, kann ich euch das nicht verschweigen' Der einzige Kausalsatz mit die weil steht ebenfalls in einer R-Sequenz: (16) und mueß von meiner notturfft wegen reden, die weil jr mir nichts wider gebt oder recht von uns nembt. 'und muss von meiner Notlage reden, weil ihr mir nichts zurückgebt und uns Unrecht tut' Vorsichtige Schlussfolgerung: Kausalsätze an sich haben keine Domäne, was (konzeptuelle) Mündlichkeit oder Schriftlichkeit angeht. Es gibt sie in etwa gleicher Häufigkeit in beiden Bereichen. Im untersuchten Text sind kausale daz-Sätze auf die B-Sequenzen beschränkt. Auffallend ist ihre relative Häufigkeit angesichts der in Handbüchern14 konstatierten Selten_____________ 14
Vgl. z.B. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 475).
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heit von kausalem daz. Nur wörtliche Reden kennen die weil und seit. Hier scheint sich in der Mündlichkeit eine Entwicklung anzubahnen, die in der Schriftlichkeit erst später greift. Dafür sprechen auch die Beobachtungen von Susanne Rieck,15 in deren Corpus (sieben Handschriften mit Ottos von Passau 24 Alten) die wile / die weile durchwegs nur temporal erscheint. Die in der frühneuhochdeutschen Grammatik von Robert Peter Ebert u.a.16 geäußerte Vermutung, kausales die weil oder weil habe seinen sprachgeographischen Ausgang „wohl zuerst […] im Mitteldeutschen und Alemannischen“, lässt sich aufgrund der Gegebenheiten des Kazmair-Textes aus München nicht stützen. 3.2. Konditionalsätze Bei den Konditionalsätzen ist zunächst zu differenzieren zwischen uneingeleitet und eingeleitet. Hier ergibt sich ein erstaunlich deutliches Bild. Für uneingeleitete Konditionalsätze finden sich in den R-Sequenzen 27 Belege, in den – dreimal umfangreicheren! – B-Sequenzen nur 23. Das ist ein sehr auffälliger Befund, denn die Dominanz im R-Bereich ist nicht nur relativ, sondern drückt sich sogar in absoluten Zahlen aus. Bei relativ gerechnet gleichmäßiger Verteilung müssten 27 uneingeleiteten Konditionalsätzen im R-Bereich ja ca. 80 entsprechende Strukturen im B-Bereich gegenüberstehen. Diese Verteilung liegt sicherlich in der Natur des Textes bzw. der darin zur Sprache kommenden Sachverhalte. Es wird viel verhandelt, es werden Bedingungen gestellt, Drohungen ausgesprochen usw. Kazmair kam es ganz offensichtlich darauf an, genau das zu dokumentieren. Den 27 uneingeleiteten Konditionalsätzen stehen in den R-Sequenzen nur sechs subjunktional eingeleitete Konditionalsätze gegenüber. Deutlicher könnte die Dominanz des erstgenannten Typs kaum ausfallen. Anders liegen die Dinge in den B-Sequenzen. Auch hier dominiert zwar der uneingeleitete Typus, doch stehen den erwähnten 23 Belegen sieben eingeleitete Konditionalsätze gegenüber, was doch eine etwas andere Relation ergibt. Signifikant sind jedoch vor allem die Unterschiede bei den verwendeten Subjunktionen. In den Konditionalsätzen der R-Sequenzen ist wo die häufigste Subjunktion: wo steht in vier der sieben Fälle. Ein Beispiel: (17) herr also, wo es sich mit recht erfind. 'Herr, genau so, wenn es mit dem Recht in Einklang steht' _____________ 15 16
Vgl. Rieck (1977, 124ff., 217ff.). Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 474).
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Man beachte hier auch die elliptische Ausdrucksweise Herr also 'Herr, genau so'. Zu ergänzen ist 'wollen wir es machen' o.ä. Die restlichen Belege zeigen die Subjunktion ob. Einleitung mit wo ist in den B-Sequenzen nur einmal belegt: (18) und sprachen, sy begerten nichts denn ains gemainen fromen und ains rechten wo’s mit der guete nit möcht gesein. 'und sagten, sie wollten nichts als allgemeinen Nutzen, auch wenn es sich im Guten nicht bewerkstelligen lasse' Bezeichnenderweise handelt es sich hier um eine indirekte Rede. Man könnte den Beleg guten Gewissens unter die R-Sequenzen einreihen. Die eingeleiteten Konditionalsätze des B-Bereichs zeigen dreimal ob und je einmal wenn und wann. Konditionales wo kommt nicht vor. Vorsichtige Schlussfolgerung: Konditionalsätze sind sowohl im R- als auch im B-Bereich ein hochfrequenter Adverbialsatztyp. Häufigster Formtypus sind die uneingeleiteten Konditionalsätze, die aber in R-Sequenzen proportional häufiger vorkommen als in B-Sequenzen. Bei den Subjunktionen dominiert in den R-Sequenzen wo, in den B-Sequenzen ob. Konditionales wo scheint gerade in konzeptioneller Mündlichkeit also nicht das Randphänomen zu sein, als das es in den Handbüchern17 dargestellt wird. 3.3. Finalsätze und finale Infinitive Bei satzwertigen Finalkonstruktionen liegt die Relation sozusagen wieder im „Normalbereich“. In B-Sequenzen finden sich 27 Belege, in R-Sequenzen zehn, was einen Quotienten von 2,7 ergibt. Anders bei den finalen Infinitiven. In B-Sequenzen finden sich sechs Belege dieses Konstruktionstyps. Hierfür ein Beispiel: (19) mein herr herzog Steffan sandt uns aber all vier: den Turlin, Albrecht von Danhaim, Jörg Kazmair und Petter Chriml zu unserm herrn herzog Ernst mit im zu reden. Dem steht nur folgender Einzelbeleg im R-Bereich gegenüber: (20) Lieber Kazmair, freilichen, deß haben wir all und die groß gemain aufgehebt nun am sontag, wider recht niembant ze thuen noch ze thuen lassen. Das redekommentierende, außerhalb der Konstruktion stehende Adverb freilichen lässt den Satz zwar durchaus als konzeptionell mündlich erscheinen. Dennoch ist die Doppelung wider recht niembant ze thuen noch ze thuen _____________ 17
Vgl. z.B. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 461f.); Rieck (1977, 204).
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lassen in ihrer formelhaften Explizitheit aber wohl eher rechts- und damit schreibsprachlich. Zumindest finden sich Vergleichsfälle solch expliziter Doppelformen ansonsten mehrmals in B-Sequenzen, z.B.: (21) so verfiengen sy sich sein auch mit kainem schreiben noch worten nie. Abgesehen vom Einzelfall (20) finden sich im R-Bereich ansonsten nur finale dass-Sätze mit finitem Verb wie z.B. (22) wir muessen etwas mit dem Kazmair teutsch reden, daz er anders red. Als finale Subjunktion fungiert ausnahmslos daz (bzw. das). Nur in einer wörtlichen Rede findet sich vereinzelt auch erweitertes also daz: (23) wir wöllen den hindergankh tuen, also daz man uns pesser, darnach ainer verschuldt hat. 'wir wollen uns ergeben, damit man uns verurteile, je nachdem, was der einzelne verschuldet hat'
Vorsichtige Schlussfolgerung: finale Infinitivkonstruktionen sind eher ein Konstruktionstyp der konzeptionellen Schriftlichkeit. Finale daz-Sätze stellen dagegen ein syntaktisches Muster dar, das unterschiedslos in geschriebener und gesprochener Sprache auftritt. 3.4. Temporalsätze Hinsichtlich der Frequenz in den B- und R-Sequenzen besteht bei den Temporalsätzen kein erkennbarer Unterschied. Die Relation ist 33:12 und entspricht damit dem erwartbaren Quotienten von ca. 3. Das heißt: Temporalsätze an sich sind also weder eine B- noch R-typische Struktur. Deutliche Unterschiede bestehen aber auch hier bei den einleitenden Elementen, denn nur im Bereich der B-Sequenzen erscheint do bzw. da als temporale Subjunktion zum Ausdruck der Vor- und Gleichzeitigkeit. Vorzeitigkeit wird ausgedrückt in: (24) Da sy wol 14 tag ob allen chamer- und steurpuechern gesassen, und hin und her raiteten, da fand sich daz einnemen und ausgeben geleich, ains als ander. 'Als sie wohl vierzehn Tage lange über allen Kammer- und Rechnungsbüchern gesessen hatten und hin und her rechneten, da erwiesen sich die Einnahmen und Ausgaben als ausgeglichen, eins wie das andere.'
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Gleichzeitigkeit wird ausgedrückt in: (25) Da der herzog Ernst kam, da waz er unmuetig umb den Ruedolf. 'Als Herzog Rudolf kam, da war er ungehalten über Rudolf.'
In R-Sequenzen kommt do / da überhaupt nicht vor. Zum Ausdruck der Gleichzeitigkeit werden verwendet: •
die weil:
(26) und stand still, die weil du alz sanfft sizest 'und halte die ruhig, solange du in Ruhe gelassen wirst' •
wann (mit konditionaler Lesart):
(27) und kann hinaus wol farn, wann mich sein lust 'ich kann fortgehen, sobald ich will' •
als lang als:
(28) wir wöllen euch’s selb behalten zum rechten alz lang alz unser statt recht ist 'wir wollen es euch selbst überlassen, solange es das Recht unserer Stadt ist'
Temporalsätze, in denen die weil und wann bzw. wenn Gleichzeitigkeit ausdrücken, kommen auch in B-Sequenzen vor. Vorsichtige Schlussfolgerung: Der bereits im Alt- und Mittelhochdeutschen vorherrschende Temporalsatztyp mit do ist im Kazmair-Text nur in B-Sequenzen vorhanden, dort aber mit relativer Häufigkeit. Es könnte sich um einen Strukturtyp der konzeptionellen Schriftlichkeit handeln, der in mündlicher Rede nicht (mehr) verwendet wurde. Die temporalen Subjunktionen, die in Hypotaxen in R-Sequenzen verwendet werden, kommen ihrerseits zwar in B-Sequenzen ebenfalls vor, konkurrieren aber dort mit dem älteren do-Typus, den sie noch nicht verdrängt haben. Auch in dem von Rieck18 untersuchten Corpus des 15. Jahrhunderts ist die Domäne von do der Temporalsatz.
_____________ 18
Vgl. Rieck (1977, 124ff., 217ff.).
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4. Tempusgebrauch Die umfangreiche Literatur über den oberdeutschen Präteritumsschwund19 kann hier nicht referiert werden. Ob sich das analytische Perfekt zunächst in gesprochener oder in geschriebener Sprache etablierte, wird kontrovers diskutiert. Der Kazmair-Text spricht dafür, dass es sich um ein Phänomen zunächst der gesprochenen Sprache handelt, denn die R-Sequenzen kennen fast nur das Perfekt, während in den B-Sequenzen das Präteritum herrscht. An einem kurzen Textpassus soll das belegt werden: (29) Da gieng mein gesell Peter Chriml und ich in die vest und funden den hofmaister den Türlin und sprachen: „lieber herr hofmaister, mein herr herzog Steffan hat uns gesandt zu unserm herrn herzog, daz wir ob dez genaden erfragen solten, ob der Waldekher und ander meins herrn rät sicher sein, alz ez der vizdomb und die purger zbischen meiner herrn rät herbracht habnt.“ Der hofmaister sprach: „sagt ez meinem herrn, der ist in der capel“ Wir paten den hofmaister mit uns zu geen zu dem herrn. Der tet daz etc. Da hueb ich an und sprach: „genediger herr, wir sein von unser purger wegen bey meinem herrn herzog Steffan gewesen.
B
Präteritum
R
Perfekt
B B B
Präteritum (Präsens) Präteritum
B B R
Präteritum Präteritum Perfekt
Diese Korrelation von Präteritum und B-Sequenz auf der einen Seite sowie Perfekt und R-Sequenz auf der anderen ist im ganzen Text mit großer Konsequenz durchgehalten. Solche Verhältnisse können kein Zufall sein. Die Schlussfolgerung, dass die Domäne des Perfekts zunächst die gesprochene Sprache war, ist zwingend.
5. Zusammenfassung und Konsequenzen Aus der Untersuchung der einzelnen Nebensatztypen wurden ausdrücklich immer nur „vorsichtige Schlussfolgerungen“ gezogen, weil natürlich ein Einzeltext keine weitreichenden Folgerungen trägt. Das liegt nicht nur daran, dass 1. das Textquantum sehr schmal ist, sondern auch daran, dass _____________ 19
Vgl. zusammenfassend und mit Literatur: Hartweg / Wegera (2005, 177ff.)
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2. gewiss Individualstilistisches durchschlägt und 3. in den wörtlichen Reden des Kazmair-Textes ebenfalls Strukturen anzutreffen sind, die eher für eine schrift- und rechtssprachliche Ausdrucksweise typisch sind (also konzeptuelle Schriftlichkeit). Das dürfte aber nicht der Grundidee widersprechen, dass man sich der historischen Oralität am besten in der Weise annähert, dass man in geeigneten Texten solche Textsequenzen aufsucht, von denen anzunehmen ist, dass sie konzeptuell der Mündlichkeit am nächsten kommen. Natürlich dürfen wörtliche Reden – in welchen Texten auch immer – nicht naiv mit gesprochener Sprache gleichgesetzt werden (auch in der gesprochenen Gegenwartssprache kann man ja bekanntlich – je nach Registerwahl – Strukturen antreffen, deren Verwendungsdomäne die Schriftlichkeit ist). Auch ist wörtliche Rede nicht gleich wörtliche Rede. Sogar in Texten wie dem von Jörg Kazmair besteht ganz deutlich das „Nähe-Distanz-Kontinuum“:20 Mit seinesgleichen spricht Kazmair anders als mit den Herzögen. Die Satzkomplexität scheint zuzunehmen, je höher die angesprochene (oder sprechende) Person gestellt ist. Doch gerade das macht die Quelle zusätzlich glaubwürdig. Natürlich gibt es analog zu den schriftlichen Textsorten auch Redesorten, deren charakteristische Sprachstrukturen von der jeweiligen Redesituation gesteuert sind. Eine solche Binnendifferenzierung bei den wörtlichen Reden müsste noch gesondert untersucht werden. Die Haupterkenntnis ist aber, dass sich bei einzelnen Nebensatztypen doch sehr deutliche strukturelle Differenzen im Bereich von B- und R-Sequenzen feststellen ließen. Entsprechendes lässt sich auch bei den Vergangenheitstempora beobachten. Man könnte das Spektrum der Untersuchungsaspekte auch noch erweitern um weitere syntaktische Phänomene wie Satzrahmen oder Modusgebrauch. Eine der ersten Aufgaben eines künftigen Forschungsprojekts zur Satzkomplexität im älteren Deutschen – oder zur historischen Syntax generell – wird es sein, ein Korpus zu konzipieren, das es erlaubt, satzstrukturelle Unterschiede in konzeptueller Schriftlichkeit und Mündlichkeit empirisch nachzuweisen. Texte wie der von Jörg Kazmair wären für ein Korpus der älteren Phase des Frühneuhochdeutschen jedenfalls erste Wahl. Die vorangegangenen Überlegungen können auch als Bekenntnis zum Primat der Empirie in der germanistischen Sprachgeschichte verstanden werden.
_____________ 20
Vgl. dazu Koch / Oesterreicher (2007, 363ff.).
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Literatur Besch, Werner / Betten, Anne / Reichmann, Oskar / Sonderegger, Stefan (Hrsg.) (2000), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl., Teilbd 2, Berlin, New York. Betten, Anne (2000), „Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen“, in: Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl., Teilbd. 2, Berlin, New York, 1646-1664. Bremer, Ernst (1985), „Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen“, in: Werner Besch / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Berlin, New York, 1379-1388. Ebert, Robert Peter (1986), Deutsche Syntax II: 1300-1750, Bern, Frankfurt a. M., New York. Ebert, Robert Peter / Reichmann, Oskar / Solms, Hans-Joachim / Wegera, KlausPeter (Hrsg.) (1993), Frühneuhochdeutsche Grammatik, Tübingen. Gleba, Gudrun (2000), „Die Aufzeichnungen des Münchner Bürgers Jörg Kazmair zu den Jahren 1397-1403. Eine Schrift zur mittelalterlichen Meinungsbildung“, in: Peter Johanek (Hrsg.), Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien, 215-231. Grosse, Siegfried (2000), „Reflexe gesprochener Sprache im Mittelhochdeutschen“, in: Werner Besch / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl., Teilbd. 2, Berlin, New York, 1391-1399. Grubmüller, Klaus (1983), „Kazmair, Jörg“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4, Berlin, New York, Sp. 1085ff. Hartweg, Fréderic / Wegera, Klaus-Peter (2005), Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, 2. Aufl., Tübingen. Koch, Peter / Oesterreicher, Wulf (2007), „Schriftlichkeit und kommunikative Distanz“, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik, 35 / 2007, 5, 356-375. Koch, Peter / Oesterreicher, Wulf (1990), Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen. Lötscher, Andreas (1995), „Syntaktische Prestigesignale in der literarischen Prosa des 16. Jahrhunderts“, in: Daphnis, 24 / 1995, 17-53. Rieck, Susanne (1977), Untersuchungen zu Bestand und Varianz der Konjunktionen im Frühneuhochdeutschen unter Berücksichtigung der Systementwicklung zur heutigen Norm, Heidelberg.
Empirische Wege zur historischen Mündlichkeit
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Verschriftete Geometrie – Grammatische Mittel der Raumerfassung in Albrecht Dürers Vnderweyſung der meſſung (1525) Ingo H. Warnke (Bern)
1. Der Text Im Jahr 1525 publiziert Albrecht Dürer (1471-1528) bei Hieronymus Andreae in Nürnberg ein Lehrbuch zur Euklidischen Konstruktionsgeometrie, das als zentraler Text des deutschsprachigen geometrischen Schrifttums der Frühen Neuzeit gilt; das Incipet lautet: VNderweyſung der meſſung / mit dem `irckel vn[d] / richtſcheyt / in Linien ebnen vnnd gant`en corporen / durch Albrecht Du[e]rer zůſamen get`oge[n] / und `ů nut` alle[n] kunſtlieb habenden mit `ů geho[e]rigen figuren / in truck gebracht / im jar. M.D.XXv.
Die 174 Seiten umfassende Vnderweyſung (UDM1) gliedert sich in vier Bücher zu Linien, Ebenen, Körpern und zu den fünf Platonischen und sieben Archimedischen Körpern sowie zum Delischen Problem. Im letzten Teil findet sich eine Darstellung der Zentralperspektive, die Dürer mit Bezug auf Filippo Brunelleschi (1377-1446) erläutert (vgl. Schröder 1980, 11). Eine zweite Auflage der Vnderweyſung erscheint posthum 1538 (UDM2) und berücksichtigt Dürers Beschäftigung mit Geometrie nach 1525. Das Buch von 1525, das als anspruchsvolle frühneuzeitliche ArtesLiteratur des 16. Jahrhunderts gilt (vgl. Schulz-Grobert 1998, 324), weist ein hohes Maß an Bezügen zum geometrischen Schrifttum vor allem mit Verweis auf die Elementargeometrie des Euklid von Alexandria (~365 bis ~300 v. Chr.) und unter anderem auf Dombaubücher und Baukonstruktionen der Zeit auf. Es steht damit in der Folge einer Reihe deutschsprachiger Lehrbücher zur Geometrie und Konstruktion des frühen 16. Jahrhunderts, die nach der Geometria Culmensis (um 1400) und Geometria deutsch (Ende 15. Jh.) unter anderem in Nürnberg erscheinen:
648
Ingo H. Warnke •
Matthaeus Roriczer, Puechlen der fialen gerechtikait, Regensburg 1486
•
Hanns Schmuttermayer, Fialenbüchlein, Nürnberg 1489
•
Jacob Koebel, Ain new geordnet Rechenbiechlin, Augspurg 1514
•
Jacob Koebel, Eyn New geordent Vysirbůch, Oppenheym 1515
•
Jacob Köbel, VOn vrsprung der Teilung, Maß, vnd Messung deß Ertrichs, der Ecker, Wyngarten, Oppenheym 1522
Eine lateinische Übersetzung von Euklids Στοιχεíα (Die Elemente) war im Besitz von Dürer (vgl. Schröder 1980, 10). Besondere Bedeutung gewann seit Mitte des 15. Jahrhunderts auch das Brunelleschi gewidmete Traktat De pictura (1435) von Leon Battista Alberti (1404-1472). Dürers Interesse richtet sich unter mehr oder weniger deutlichem Verweis auf die verschiedenen vorausgehenden Abhandlungen jedoch nicht auf eine elaborierte Darstellung zur Geometrie oder gar Reflexion geometrischer Probleme seit Euklid, sondern auf eine rationale Begründung künstlerischer Praxis; Dürer schreibt nicht als Mathematiker, sondern als bildender Künstler der Renaissance, dessen Anwendungsperspektive auf präzise bildnerische und räumliche Darstellungszwecke gerichtet ist. Darin stimmt er mit Albertis De pictura und auch De statua (1464) überein, denn auch für Alberti ist die Geometrie eine notwendige Grundlage guter künstlerischer Praxis. Albertis Körpervermessung geht übrigens auch in Dürers Schrift Vier Bücher von menschlicher Proportion von 1528 ein, deren Bearbeitung Dürer zugunsten der Vnderweyſung 1525 zunächst zurückstellt. Mit Bredekamp (2006, 1) kann man für die Geometrisierung der Renaissancekunst von einer „Verwissenschaftlichung im Sinne visueller Überprüfbarkeit“ sprechen, bei der die zeichnerische Darstellung nicht Illustration ist, „sondern die Produktion von Ideen“. Die anwendungsbezogene Aufbereitung solcher Ideen bzw. Wissensbestände wird bei Dürer unter anderem mit instruktiven Illustrationen geleistet. Der Instruktionscharakter jenseits wissenschaftlichen Ehrgeizes wird zudem an Dürers Unterscheidung zwischen exakten Konstruktionen („demonstrative“) und angenäherten Konstruktionen („mechanice“) ablesbar und ist bereits im Titel mit dem Funktionshinweis `ů nut` alle[n] kunſtlieb habenden deutlich. Auch in der Widmungsvorrede der Vnderweyſung an Willibald Pirckheimer (1470-1530) nennt Dürer die praktische Geometrie eine Grundlage der Malerei.
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2. Sprachwissenschaftliches Interesse Dürers Texte, darunter auch seine Vnderweyſung, haben in der sprachhistorischen Regionalforschung zum Nürnberger Frühneuhochdeutschen bereits eine breite Aufmerksamkeit erfahren. Zu nennen ist vor allem die Untersuchung zur verbalen Wortbildung um 1500 von Habermann (1994). Diese und andere Arbeiten des Erlanger DFG-Projektes Wortbildung des Nürnberger Frühneuhochdeutsch (1985-2001) nutzen das EDV-Korpus zu Dürer von Koller (1985). Mein Interesse dupliziert nicht die dort geleisteten und ausführlich dokumentierten Forschungsergebnisse, sondern richtet sich ergänzend auf Fragestellungen, die in der kognitiven Raumsemantik aufgeworfen werden. Gegenstand der Raumsemantik sind mit Zlatev (2007, 321) „spatial expressions“, also „conventional specifications of the location or change of location [...] of a given entity“. In Anlehnung an Zlatevs Definition beschränkt sich mein analytischer Fokus auf Raumperspektivierung und Raumreferenz in Dürers Vnderweyſung. Dazu erläutere ich unter besonderem Verweis auf das Linearisierungsproblem des Raums, welche grammatischen Mittel Dürer zur konzeptuellen Erfassung des Raums in der Sprache nutzt. Textkonstitutiv sind Besonderheiten in der Verbmorphologie (2.1.), in der Verwendung von Konnektoren (2.2. und 2.4.) und im Gebrauch unterschiedlicher Klassen raumreferentieller Ausdrücke (2.3.). Ergänzt werden die Analysen durch eine Bemerkung zur Versprachlichung von Konzepten der Zentralperspektive, die unter anderem mit einem im übrigen Text nicht zu belegenden Gebrauch von Modalverben einhergeht (2.4.). Dass es im Rahmen eines Aufsatzes nur um exemplarische Beobachtungen gehen kann, sollte verständlich sein. Diachrone Dimensionen grammatischer Mittel der Raumerfassung lassen sich zudem erst bestimmen, wenn Dürers raumlinguistische Verfahren kontrastiv eingeordnet werden; dies bleibt als Desiderat bestehen. 2.1. Imagination und Zeichnung: Verbmorphologie Zu Beginn der Vnderweyſung − in seiner Widmungsvorrede an Willibald Pirckheimer − verwendet Dürer zur Erläuterung seiner Erklärungsabsichten eine visuelle Metapher: Das Lehrbuch solle Laien wider die Blindheit der Unwissenheit die Kunst, mit Zirkel und Richtscheit zu arbeiten, vor Augen führen. Bereits der auf den ersten Blick erkennbare Illustrationsreichtum des Buches zeigt, dass die Visualisierung keineswegs nur metaphorisch gemeint ist, sondern faktisch; der Text ist durchgängig mit zahlreichen Abbildungen verschränkt. So verwundert es nicht, dass Überlegungen zum Verhältnis von räumlicher Vorstellung, Zeichnung und Text
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den Ausgangspunkt des gesamten Buches bilden. Was visualisiert und beschrieben wird, ist einerseits die Vorstellung vom Raum und andererseits die konkrete Raumgestalt bzw. Zeichnung, so dass Dürer die Aufgabe seines Textes darin sieht, den „innerlich verſtand im euſſern werck“ (UDM1, 2r) anzuzeigen. Er erkennt dabei, dass Raumbegriffe, bei aller vermeintlich ontologischen Fixiertheit, lediglich Konstrukte darstellen. Ob Raum als Positionsqualität von Körpern oder als Container materialer Objekte verstanden wird, Raumbegriffe „are free creations of the human imagination, means devised for easier comprehension of our sense experience“ (Einstein 1954, XV). Der Annahme von der imaginativen Existenz des Raums entspricht Dürers Unterscheidung von drei Ebenen der Raumerfassung: Imagination (innerlich verſtand), Abbildung (euſſeres werck) und Benennung (bedewten). In diesem Zusammenhang wird auch das Problem fachsprachlicher Präzision aufgeworfen: „Aber dieſe krume Lini / weyß ich nit baß aů nennen / dan[n] eyn Schlangen Lini“ (UDM1, 2r). Was Dürer unter den drei Raumebenen versteht, mag an seiner eigenen Exemplifizierung zu Punkt und Linie verständlich werden. Hier wird deutlich, dass Dürer geometrische Konzepte beschreibt, keine geometrischen Abbildungen: Punkt
Linie
Imagination
punckt erfu[e]llt keyn ſtat
getaogener punckt
Abbildung
●
───────
Benennung
punckt
Lini
Tabelle 1: Dürers Unterscheidung geometrischer Ebenen
Die Vnderweyſung als Lehrbuch der darstellenden Geometrie ist also Darstellung von Konzepten im Medium der Zeichnung und Sprache. Folglich beziehen sich Abbildung und Text auf räumliche Imaginationen. Das Problem, wie wir über das sprechen können, was wir sehen, wird heute vor allem in der Kognitiven Semantik erörtert. Nach Jackendoff (1983) stellen sich dabei zwei Fragen: Welche Informationen übermittelt Sprache? Worauf beziehen sich Informationen? Vorwissenschaftlich könnte geantwortet werden, dass sprachliche Informationen Ideen übermitteln und sich auf Gegenstände und Sachverhalte beziehen. Wir halten fest, dass Dürer ein solches Realitätsmodell ablehnt. Realer Ausgangspunkt der Geometrie ist für ihn die Vorstellung. An seiner Behandlung der Ebene kann dies deutlich gemacht werden. Erfasst wird die abstrakte, nur durch Imagination realisierte Vorstellung von der Ebene (1a), beschrieben wird die Konstruktion derselben (1b):
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(1a) Die erſt ebne iſt ganta gleich / alſo das ſie weder hoch noch nyder oder krum iſt (UDM1, 2v) (1b) dem thů ich alſo / ich reyß eyn zwerch lini .a.b damit far ich eben underſich / als ſerr ſo lang ſie iſt / ſo wirdet darauß eeyn gefirte ebne (UDM1, 3r) Der Bezug auf vorgestellte Geometrie trifft sich mit der kognitionslinguistischen Modellierung von Vorstellungen als Projektionswelten für sprachliche Referenz: We have conscious access only to the projected world – the world as unconsciously organized by the mind; and we can talk about things only insofar as they have achieved mental representation through these processes of organization. Hence the information conveyed by language must be about the projected world. (Jackendoff 1983, 29)
Dabei geht es mir nicht um eine Parallelisierung von vorkopernikanischen Vorstellungen zur Raumimagination und generativ motivierten Semantiktheorien des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Von Interesse für die Analyse des Textes ist vielmehr die Frage nach dem Status der Raumimagination in der Vnderweyſung oder, mit Jackendoff, nach der Referenz von Raumbeschreibungen. Es ist offensichtlich, dass die Imagination als Bezugsgröße der Instruktion eine durchgängig zentrale Bedeutung im Text besitzt. Zu unterscheiden sind hier die Imaginationen des Autors und die Aktionen des Lesers. Dürer bezieht sich als Autor auf eigene Vorstellungen von geometrischen Konstruktionen, die er sprachlich zu fassen versucht. Er referiert aber auch auf Handlungen des Lesers, die er unmittelbar anregt und lenkt. Dürers Text hat damit zwei unterschiedliche Bezugsfelder: die Vorstellung vom Raum und die konkrete Raumkonstruktion, das heißt die Zeichnung. Die Vorstellung vom Raum ist nichts anderes als ein imaging system, wie es Talmy (2008) in der Kognitiven Grammatik beschreibt. Bei der Lektüre der Vnderweyſung bemerkt der Leser bald, dass die Raumbeschreibungen in manchen Passagen auf mentale Imaginationen des Raums verweisen (der Leser kann sich vorstellen, was Dürer beschreibt), in anderen Passagen aber den Charakter von Anweisungen zur konkreten Konstruktion auf dem Papier haben (der Leser soll nachzeichnen, was beschrieben wird). Aus dieser Doppelperspektive folgt eine auffallende Varianz in der Verbmorphologie. Die Referenz auf geometrische Imaginationen erfolgt durch den Gebrauch der 1. Person Singular im Indikativ (1b und 2a), die Aufforderung zu konkreten Handlungen des Lesers durch den Gebrauch der 2. Person Singular im Imperativ (2b). Sachbeschreibungen in der 3. Person (1a) sind die Ausnahme. Während die Variante im Indikativ (1b und 2a) den Leser zum Zuschauer von imaginären Konstruktionsbe-
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schreibungen macht und nur funktioniert, wenn sich infolge der Lektüre mentale Bilder einstellen, dient die Imperativvariante (2b) der unmittelbaren Nachahmungsmöglichkeit des Beschriebenen. Beide Perspektiven bedienen die Textfunktion der Unterweisung bzw. Instruktion: (2a) Diſe ſchneckenlini reiß ich alſo / ich mach ein auffrechte lini die ſey oben .a unden .b. (UDM1, 3v) (2b) Nym ein airckel / ſetz in mit dem ein fuß in den Punckten .12. Und den Andern in den Punckten .i. und reyß vondan[n] rund uberſich / Darnach ſetz des airckels fus in den Punckten .i. [...]. (UDM1, 5v) Die alternierenden Verbperspektiven prägen die gesamte Vnderweyſung. Der Wechsel zwischen Beschreibung einer fiktiven Handlung des Autors, das heißt Deskription des geometrischen Konstruierens, und Sprechakten der Aufforderung, das heißt Appellen an den Leser zum Nachzeichnen des Beschriebenen, ist regelhaft. Beide Formen aktualisieren den Text bei jeder Lektüre neu, denn der Leser ist nicht Beobachter, sondern Konstrukteur mentaler Bilder und realer Zeichnungen. Die Lektüre der Vnderweyſung ermöglicht einen Konstruktionsprozess von mental images und Zeichnungen auf dem Papier. Gerade die Imperativformen modalisieren die Propositionen dahingehend, „dass der jeweils thematisierte Sachverhalt nicht schon als gegeben dargestellt wird, sondern als noch zu realisieren“ (Köller 2004, 450). So entwirft die charakteristische Formmischung der Verbmorphologie ein handlungsorientiertes Unterrichtsszenario durch Sequenzierung von vorgeführtem Lehren und nachahmendem Lernen. Dabei ist der interaktive Charakter des Textes auch durch den Gebrauch von abstrakt tätigkeitsbeschreibenden Handlungsverben wie thun und machen und dem auf das Linienziehen bezogenen hochfrequenten Handlungsverb reißen markiert. Deutlich tritt die Verbindung der Ich-DuPerspektive etwa in der Beschreibung der Spiralkonstruktion hervor: (3)
So du die airckellini geteilt haſt / ich ſetz hie in / 12 / teyl / ſo du dann dein ſchnecken lini /awyfach / tryfach / oder vierfach wilt laſſen herum laufen / (UDM1, 7r)
Der Ich-Du-Perspektivenwechsel ist auch ein mesostrukturelles Gliederungsmerkmal, also Mittel der Strukturierung von Textabschnitten. Als Beispiel verweise ich auch hier auf Dürers Ausführungen zur Spiralkonstruktion. Zunächst wird die Konstruktion in der Du-Perspektive beschrieben. Es ist die Situation des Unterrichts, in der ein Schüler tun soll, was ein Lehrer ihm sagt. Die Aufforderung zur Nachahmung erfolgt imperativisch. Dann greift der Lehrer, das heißt im Text der Autor, markiert durch folgenden Satz ein:
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Ich will aber hie die felt uberſich in einer ordnung erlengen / wie voren angetaeigt (UDM1, 7r)
Mit dem Ziel der Komplexitätsreduktion wird die folgende Demonstration durch Indikativformen in der 1. Person realisiert. Die textuelle Inszenierung einer Unterrichtssituation durch Leseransprache hat die Funktion der Vereinfachung des komplexen geometrischen Konstruktionsprozesses. Dürers Ziel ist die nachvollziehbare Beschreibung und Vermeidung von Verwirrung: „ſo kanſtu nit irre werden“ (UDM1, 7r). Er organisiert seinen Text so, dass sich Vorstellungen beim Leser qua Deklaration und Anweisung bilden, also durch Imagination und Zeichnung. 2.2. Linearisierung des Raums: Temporale Konnektoren Unter Berücksichtigung der Unterscheidung von Imagination, Abbildung und Benennung folgt aus der Didaktisierung ein anderes textgrammatisches Merkmal: die Linearisierung von Koexistenz. Ausgehend vom Koexistenzbegriff ist Raum sowohl in der Imagination als auch in der Visualisierung keine zeitlich gegliederte Struktur, wohingegen Sprache durch ihre lineare Struktur temporal organisiert ist. Bei der sprachlichen Erfassung des Raums überschneiden sich daher Koexistenz und Linearität. In den Worten von Leibniz: Tempus est ordo existendi eorum quae non sunt simul (Zeit ist die Ordnung der nicht simultanen Existenz) vs. Spatium est ordo coexistendi (Raum ist die Ordnung des Koexistierenden) (LRM, 18). In allen raumerfassenden Textsorten wird diesem Problem mit textgrammatischen Mitteln begegnet. Bei Instruktionstexten ist aufgrund des Nachahmungsgebotes die zeitliche Organisation sogar eine Notwendigkeit, denn komplexe Konstruktionen müssen in einem Prozess des Nacheinanders erst gebildet werden. Die Linearisierung des koexistierenden Raums erfolgt bei Dürer vor allem in den hochfreqenten Verwendungen von Temporal- und Präpositionaladverbien. Am häufigsten wird das Präpositionaladverb bzw. der Adverbkonnektor darnach verwendet: (5)
Darnach teyl ich .d.e mit eyne[m] punckten .f. in awey gleiche felt / darnach ſetz ich auff die recht ſeytten der lini ein .g. auff die linck ein .h. darnach nym ich ein zirckel / (UDM1, 3v)
Das Adverb darnach situiert als temporaler Konnektor das Geschehen der geometrischen Konstruktion nach Zeitpunkten. Die bereits erreichte Konstruktion in der Vorstellung oder auf dem Papier ist Ausgangspunkt weiterer Handlungen. Die Propositionen antworten in ihrer textgrammatischen Strukturierung daher auf eine Wann-Frage, die sich eigentlich für die Koexistenz von Raumstrukturen nicht stellt, aber unumgänglich ist, wenn
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Raum sprachlich erfasst wird. Schneuwly / Rossat (1986) haben für die Erfassung von Erzählstrukturen dafür die griffige Frage Comment lineariser l'espace? gestellt. Die fiktive Wann-Frage, auf die Dürer formelhaft mit darnach antwortet, prägt den Text narrativ. Textgrammatisch markiert darnach eine veränderte Situation durch ein neues Ereignis, die Wiederholung von Temporaladverbien bildet einen „Erzählfluss“ (Weinrich 2005, 239) durch Signale der „Erzählfolge“ (ebd., 806). Dabei vermeidet Dürer keineswegs die daraus resultierende Monotonie und Formelhaftigkeit. Gegen das Gebot stilistischer Varianz steht bei Dürer die an konzeptioneller Mündlichkeit orientierte Maxime der Nachahmbarkeit des Beschriebenen. In der englischen Übersetzung der Vnderweyſung (DPM) wird hingegen variiert zugunsten der an konzeptioneller Schriftlichkeit orientierten Maxime stilistischer Varianz. Die sprachliche Einförmigkeit des Textes ist funktional, wenn offenbar auch nicht für jeden überzeugend. Mit Verweis auf Dürers Befestigungslehre und Proportionslehre heißt es im Ausstellungskatalog Mit Zirkel und Richtscheit (1986): „Von allen diesen Werken ist die Unterweisung das sprödeste.“ Die monotone Formelhaftigkeit von temporalen Konnektoren, die der Vnderweyſung tatsächlich eine stilistische Simplizität verleiht, ist textsortentypisch für Instruktionstexte der Zeit. Sie findet sich bereits in Hans Schmuttermayers Fialenbüchlein (1485 / 90) (6a) und auch in Jacob Köbels New geordnet Rechenbiechlin (1514) (6b): (6a) Darnach heb an zu machen [...] Darnach heb an au teyle[n] [...] Darnach ſeca den airckel (SFB, 4r und 4v) (6b) [...] ſo werdem XXXVI. darauß / nach dem thů die o[e]berſt taal des bruchs das iſt I dar zů [...] nach dem ſo mach [...] (KNR, xix) In (6a) wird die Formelhaftigkeit noch durch die Infinitivkonstruktion mit zu unterstrichen. Der Gebrauch von Nachzeitigkeit anzeigenden Adverbkonnektoren ist bei Dürer aber nicht nur konzeptionell mündlich und erzählerisch. Dies gilt vor allem für das Temporaladverb nun. Dieser temporale Konnektor wird bei Dürer weniger zur Linearisierung von Raumkonzepten genutzt als vielmehr zur Markierung von Textabschnitten, also zur Textstrukturierung. Als Beispiel kann die Konstruktion des Hexagons (7a), des Dreiecks im Zirkel (7b), des Heptagons (7c), des Quadrats im Zirkel (7d), des Oktagons (7e), des Pentagons (7f) usw. genannt werden. Die aufeinander folgenden Absätze werden jeweils initial mit nun markiert (UDM1, 27r). Dass es sich dabei um ein Textgliederungssignal handelt, zeigt auch die konsequente Doppelmajuskel: (7a) NUn will ich anaeyge[n] (7b) NUn ſchickt es ſich am negſte[n]
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(7c) NUn will ich durch den vorigen dryangel (7d) NUn will ich ein vierecket figur (7e) NUn ſchickt es ſich am negſte[n] (7f) NUn iſt von no[e]tten Gerade die Konstruktion NUn will ich zeigt, dass im Gegensatz zur fokalen Steuerung mit darnach mit nun die mesostrukturelle Gliederung von geometrischen Wissenseinheiten oder Referenzobjekten geleistet wird. Mit wollen ist schließlich die volitive Funktion aus der Perspektive des Lehrenden unterstrichen. Grammatischer Modus und Konnektoren sind Mittel der Verschriftung von Raumkonzepten und Anweisungsintentionen in Dürers Vnderweyſung. Der fiktive Sehsinn wird alternierend durch personale Deixis auf das Ich des Lehrenden bzw. das Du des Lernenden fokal gerichtet, was sich in der Verbmorphologie deutlich zeigt. Die Koexistenz der Raumimagination wird durch formelhaften Gebrauch von temporalen Konnektoren linearisiert. Diese grammatische Verzeitlichung des Raums ist auch ein Mittel der Meso- und Makrostrukturierung des Textes. 2.3. Raumreferenz und binäre Codierung Während Verbmorphologie und Konnektoren Mittel zum Zweck der perspektivischen Linearisierung von koexistierenden Raumkonzepten sind, versteht man unter Raum- bzw. Ortsreferenz den Bezug sprachlicher Ausdrücke auf räumliche Verhältnisse. Nach Vater (1991, 39f. und 2005, 113f.) sind drei Typen der Raumreferenz zu unterscheiden: (a) Positionierung (statische Position eines Objektes), (b) Direktionalisierung (dynamische Verlagerung eines Objektes) und (c) Dimensionierung (Objekteigenschaften). In der Vnderweyſung finden sich selbstverständlich zahlreiche Wörter zur Dimensionierung von Körpern, teilweise auch von Körpereigenschaften. Weniger offensichtlich, jedoch raumlinguistisch ebenso wichtig, sind die Mittel zur Positionierung und Direktionalisierung. Die Komplexität von Perspektivierung und positionaler / direktionaler / dimensionaler Raumreferenz und damit auch die Schwierigkeiten, vor die sich Dürer bei der Verschriftung von geometrischen Konzepten gestellt sehen musste, möchte ich an folgendem Abschnitt deutlich machen. Es handelt sich um die dritte Methodenbeschreibung zur Spiralkonstruktion: (8)
Ich reiß einn auffrechte lini / als lang das richtſcheydt iſt damit ich die ſchneckenlini mach / die ſey oben .b. unden .a. Darnach reiß ich ein zwerch lini .c.d. alſo das die auffrecht mit dem
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punckte[n] .a. gerad zů gleichen wincklen darauff ſtehe / Darnach reiß ich ein gerade ortlini .d.b. un[d] nym ein airckel und ſetz in mit dem ein fuß in den punckten .d. und mit dem andern fuß in den punckten .a. und reiß von dann rund ubersich byß in den ort ſtrich .d.b. und wo ſie die an ru[e]rt da ſeta ich punckten .e / Darnach theyl ich diſe krume lini .a.e. mit .23. punckte[n] in .24. gleiche felt / und reis auß dem punckten.d. gerad lini durch all punckten in .a.e. byß in die geſtrackt lini .a.b. Und wo diſe linien die lini .a.b. durch ſchneiden / die ſelben punckt betaeichen ich mit ayffern / unnd heb oben under dem .b. an aů aelen /1/2/3/4 /etc. / byß herab aum .a. aus dem erſcheindt wie ſich die fellt zwiſchen den punckten uberſich erweytern / unnd unden herab enger werden. (UDM, 4v) Die Analyse zeigt, dass Dürer allein in diesem kurzen Abschnitt das gesamte Inventar der Basisklassen zur Raumreferenz nutzt, das auch in der deutschen Gegenwartssprache ausgeprägt ist. Legt man die Typen der Raumreferenz zugrunde, die Vater (1991, 43) für das Deutsche aufführt, so zeigt sich für (8) eine Nutzung von Mitteln der Positionierung nach Art und Ort, der Direktionalisierung nach Art und Ort sowie der Dimensionierung von Körpern und ihren Eigenschaften. Dabei finden sich bei Positionierung und Direktionalisierung sowohl deiktische als auch nichtdeiktische Formen: Raumreferenz Lokalisierung
Dimensionierung
Positionierung
Direktionalisierung
Art
Ort
Art
Ort
deiktisch
nichtdeiktisch
nichtdeiktisch
durchschneiden
in byß aus
setzen anrueren
positional darauf dann da
dimensional oben unden under zwischen
deiktisch positional ubersich
dimensional herab
Eigenschaft
Körper
lang auffrecht gerade rund krum eng
lini punckt ſchneckenlini zwerchlini wincklen ortlini ort fel(l)t
Tabelle 2: Raumreferenz in Dürers Beschreibung der Spiralkonstruktion (UDM, 4v)
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Verbunden ist die komplexe Referenz auch in diesem Abschnitt mit der Verwendung des temporalen Konnektors darnach. Die Kombination ist textkonstitutiv: Räumliche Positionen, Richtungen und Dimensionen werden referentiell etwa durch Lokalpräpositionen (z.B. durch) und Lokaladverbien (z.B. da) erfasst. Die fokale Steuerung von Imagination oder Handlungen des Lesers erfolgt linear vor allem durch das Temporaladverb darnach und situiert die geometrische Konstruktion nach Zeitpunkten. Beide Achsen verschränken sich in der Beschreibung der vorgestellten bzw. vorzustellenden geometrischen Konstruktionen. Dies führt zu einer binären Codierung des Raums in der Sprache: temporale Struktur als fokale Steuerung
Raumreferenz Abbildung 1: Binäre Raumcodierung in Dürers Vnderweyſung
In der Terminologie der Kognitiven Semantik wird durch diese binäre Codierung Raum nicht nur statisch erfasst, sondern unter Berücksichtigung des Blickpunkts bei der mentalen Perspektivierung. Talmy (2008) spricht vom sogenannten perspective point. Er weist darauf hin, dass die geometrische Vorstellung nicht unabhängig vom schematischen System dieser perspective points ist. Während eine reine Objektbeschreibung eine so genannte perspectival distance aufweist, organisiert das mental eye (Talmy 2000, 217) bei Dürers fokaler Steuerung ein motive state, also eine begleitende Perspektive mit bewegtem Blickpunkt entlang eines Pfades. Die Abszissenachse in Abbildung 1 kann gelesen werden als ein mitlaufender Blickpunkt des geistigen Auges, der jeweilige fokale Richtpunkte durch raumreferentielle Ausdrücke auf der Ordinatenachse erfährt. Dieses Verfahren kennzeichnet den gesamten Text Dürers. Die Ergebnisse der grammatischen Analyse korrelieren mit der Textfunktion der Vnderweyſung. Denn Dürer legt keine Beschreibung von geometrischen Formen und Körpern vor, sondern einen Instruktionstext, der wesentlich und auch für den heutigen Leser durch Lenkung des mental eye funktioniert: (8)
WIltu aber auſſen zwiſchen der ſchnecken lini die felt noch mehr erweytern / und hynein enger machen / ſo leyn die auffrecht lini .a.b oben mit dem .b. gegen dem punckten .c. Undd reis darnach
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die ortlini .d.b. wider aůſamen / ſo wirdt der airckelris .a.e. ku[e]rtaer / Darnach theyl allding von newen wider ein [...]. (UDM, 4v) In (8) ist außerdem erkennbar, dass die Raumsituierung immer wieder in Kombination von Orts- und Richtungsbezug erfolgt, also durch Verwendung von statischen Lokaladverbien (aussen, oben) und direktionalen Lokaladverbien (hynein, gegen). Statik und Dynamik entsprechen den Prinzipien der punktuellen Raumerfassung und fokalen Steuerung im Beschreibungskontinuum. Dass der Blickpunkt für Dürer eine zentrale Beschreibungskategorie ist, zeigt besonders deutlich die terminologische Abgrenzung zwischen eck und winckell. Dürer macht metakommunikativ deutlich, dass weder Abbildung noch Benennung die Konzeptualisierung – also Vorstellung – ersetzen kann. Denn der Unterschied zwischen eck und winckell ist in der Abbildung nicht erkennbar und bleibt sprachlich abstrakt. Er kann daher nur durch Blickpunktverschiebung vor dem mental eye erklärt werden:
winckell eck Abbildung 2: Terminologische Unterscheidung von Winkel und Ecke durch Blickpunktimagination in Dürers Vnderweyſung
Sprachlich fasst Dürer diesen Sachverhalt wie folgt: (9)
Erſtlich ſoll man mercken / das ein winckel und ein eck glech linien haben / Aber die underſchid des winckels und eckes / im werck iſt diſer / Wenn du auſſen auf die ſcherpf ſichſt / ſo heiſt es eyn eck / ſichſtu aber innen in die tyfe / ſo heiſt es ein winckel (UDM, 25v)
Während das Wie der Raumerfassung in der Vnderweyſung die Mittel von Verbmorphologie und Konnektoren regelhaft nutzt, ist das Was der Raumerfassung durch ein vollständiges Set an raumreferentiellen Ausdrücken versprachlicht. Verbunden sind beide Dimensionen in dem, was ich hier binäre Raumcodierung nenne.
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2.4. Zentralperspektive: argumentative Konnektoren und Modalverben Dürer schließt die Vnderweyſung mit einer Darstellung der Zentralperspektive, die für die Entwicklung der Malerei in der Renaissance von großer Bedeutung ist. Seine Abhandlung ist die erste deutschsprachige Erklärung der Verfahren zur Konstruktion zentralperspektivischer Bilder. In diesem Abschnitt erscheint der Text nicht mehr so systematisch gegliedert wie bei der Beschreibung von Linien, Ebenen und Körpern. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass Dürer gerade die Beschreibung von Zentralprojektionen besonders wichtig war. Bei Schröder (1980, 29) heißt es: „Am Ende des vierten Buches, von Dürer wohl als Krönung seines Werks gedacht, werden auf zehn Seiten theoretische und praktische Erläuterungen zur Herstellung zentralperspektivischer Bilder gegeben.“ Die beschriebenen grammatischen Mittel − von Person und Modus bis zu Konnektoren und raumreferentiellen Ausdrücken − finden sich auch hier, wenngleich man immer wieder darauf verwiesen hat, dass Dürer weder eine klare Fachterminologie zur Zentralperspektive entwickelt, noch dass ihm eine in allen Punkten stichhaltige Darstellung gelingt. Dürer begibt sich mit diesem Abschnitt auf ein offensichtlich komplexes Feld der Versprachlichung von Raumerfassung. Dies führt zu einigen Besonderheiten der Sprache. Dürer behandelt im Kern das Problem der Projektion, die abhängig von visuellen Parametern ist. Paraphrasiert heißt das: Etwas wird unter bestimmten Bedingungen zu etwas anderem. Den Bedingungen der perspektivischen Projektion und ihrer Abhängigkeit vom „punct des augs“ (UDM1, 85vf.) widmet Dürer eine längere Abhandlung. Statt temporaler Konnektoren findet sich häufig der konsekutive Konnektor darumb. Weinrich (2005, 601f.), der darum als Nexus-Adverb bezeichnet, zeigt, dass der Konnektor textgrammatisch im Zusammenhang von Begründungen und Folgerungen auftritt und nennt als Funktion die Einbindung von Feststellungen in Argumentationsgänge. In der Tat wird Dürers Text hier argumentativ. Die Bedingungsverhältnisse einer angemessenen Projektion von Dreidimensionalität in zentralperspektivische Zweidimensionalität werden durch Konsekutivität (vgl. Konerding 2002) vertextet: (10) darumb wen awey gleyche undurchſichtige ding hinder einander ſtend / und das aug gerad dargegen / ſo kann allein das forder und das hinder nit gesehen werden. Darumb wen vill geſchen ſoll werde ſo müſen die ſelben ding von einander geteylt werden / auf das ſolichs die ſtreym linien des geſichts begreiffen mo[e]gen. [...] Darumb ſoll man das ding das da geſehen wirt [...]. (UDM1, 85v)
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Die erkennbar argumentative Struktur wird auch durch den Gebrauch des konditionalen Subjunktors wen in Verbindung mit den temporalen Konnektoren dann / so realisiert. Hinzu kommt die auffallende Häufung von Modalverben: mögen, müſen und vor allem sollen sind formelhaft häufig. Nun werden Modalverben immer dann verwendet, wenn „Sachverhaltsentwürfe auf der Folie von Redehintergründen“ (Zifonun u.a. 1997, 1253) eingeordnet werden. Dürer versucht also, seinen Lesern Gesetzmäßigkeiten der Optik zu vermitteln und versprachlicht diese als Zusammenhang von Voraussetzungen (konditional) und Folgen (konsekutiv). Die daraus resultierende Argumentationsdichte des Textes zeigt sich in (11). Hier werden der konsekutive Konnektor darumb, der konditionale Subjunktor wen, der temporale Konnektor so und die Modalverben sollen und müſen in einem Satz enggeführt: (11) Darumb wen vill geſchen ſoll werde ſo müſen die ſelben ding von einander geteylt werden [...]. (UDM1, 85v) Die Formulierung von Bedingungen der richtigen Projektion fällt auch aus dem Rahmen der Ich-Du-Perspektivierung, die für die übrige Unterweisung in die geometrische Konstruktion charakteristisch ist. Da es Dürer hier nicht um die Versprachlichung der Lehrer- und Schülerposition geht, sondern um die Aufzeichnung von notwendigen Voraussetzungen einer rationalen künstlerischen Praxis, verschwindet die Position des Schülers und teilweise auch des Lehrers. An die Stelle des persönlichen Ich und Du tritt die 3. Person Singular als sachlicher Bezugspunkt: „Das aug ſicht“ (UDM1, 85v). Besonders deutlich ist das im Gebrauch des Indefinitums man. Während der letzte Abschnitt zu den Proportionen noch mit der IchDu-Perspektive endet (12a), findet sich gleich im ersten Satz zur Theorie der Perspektive das Du entpersonalisiert (12b): (12a) Wie ich das hernach hab aufgeriſſen / das magſt du piß auf hundert pfunt fu[e]ren. (UDM, 83v) (12b)SO ich daforen manicherley corpora wie man die mach anzeigt hab / will ich auch leren ſo man ſoliche gemecht anſicht wie man die in ein gemel můg pringe[n] (UDM, 84r) Nach Köller (2004, 482) werden Indefinitpronomen „in der Regel auch nur in solchen Redesituationen gebraucht, in denen es nicht darauf ankommt, konkrete abgrenzbare Inhalte zu objektivieren, sondern darauf, Funktionselemente in bestimmten Relationen zu benennen“. Außerhalb der Lektüresituation der Unterweisung im Ich-Du-Wechsel wird die Zentralperspektive durch Abstrahierung vom Adressaten erläutert. Dürer führt aus, was man tun und lassen soll, um zu einer angemessenen Projektion zu gelangen. Die Besonderheit seines Vorhabens, eine Theorie der
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Perspektive für Künstler zu schreiben, manifestiert sich also grammatisch in argumentativen Strukturen bei indefinitem Adressaten. Der Autor selbst markiert seine Absicht dabei immer wieder modal mit dem Verb wollen. Das Ich will etwas tun, das Man soll etwas tun. Dürers mangelnde inhaltliche Durchsichtigkeit und fehlende Begriffsklarheit bei der Erläuterung der Zentralperspektive, auf die etwa Schröder (1980, 31) hinweist, und die im Gegensatz zur übrigen Vnderweyſung steht, kann seitens der grammatischen Struktur nicht bestätigt werden. Hier zeigt sich Dürer als reflektierter Autor, der bei der Schilderung von Perspektivitätsgesetzen vollkommen andere sprachliche Mittel wählt als im Zusammenhang der Instruktion zur Zeichnung von geometrischen Körpern; diese Anweisungen unterscheiden sich im Übrigen in keiner Weise von der Schilderung des Baus von Projektionsapparaten (vgl. Camerota 2004). Wie ich eingangs ausgeführt habe, richtet sich Dürers Interesse in weiten Teilen der Vnderweyſung nicht auf eine elaborierte Darstellung zur Geometrie oder gar Reflexion geometrischer Probleme. Es handelt sich um einen Instruktionstext und nicht um eine Theorie. Doch die Ausführungen zur Perspektive sind in ihren grundlegenden Teilen genau davon eine Ausnahme.
3. Fazit Die Analyse grammatischer Merkmale der Raumerfassung in Dürers Vnderweyſung zeigt, dass die instruktive Aufbereitung von geometrischen Wissensbeständen auch eine Aufgabe der Sprache ist. Insoweit ist die Vnderweyſung eine verschriftete Geometrie und das jenseits fachterminologischer Problemstellungen. Im Spannungsfeld von Imagination und Abbildung werden Raumkonstrukte mit einem regelhaften Set sprachlicher Ausdrücke linearisiert und referentiell erfasst. Das Ich des Autors befördert mentale Bilder beim Leser, der Leser wird als Du zur Nachahmung auf dem Papier angeregt. Die höhere Schule der perspektivischen Zeichnung entwickelt Dürer als rationale Theorie von Voraussetzungen und Folgen. Seine Sprache greift in diesem abschließenden Teil auf gänzlich andere Formbestände zurück, als dies in den übrigen Textteilen über Geometrie der Fall ist. Damit ist Dürers Vnderweyſung nicht nur ein zentraler Text der Kunsttheorie in der Renaissance, sondern auch ein bedeutendes Zeugnis der frühneuhochdeutschen Erfassung des Raums im Medium der Schrift.
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Ingo H. Warnke
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Grammatische Mittel der Raumerfassung
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Gibt es eine Zeitungssyntax? Überlegungen und Befunde zum Verhältnis von syntaktischer Gestaltung und Textkonstitution in historischen Pressetexten
Britt-Marie Schuster (Paderborn)
1. Korpusaufbau und Zielstellung des Beitrags Im folgenden Beitrag werden Zeitungstexte aus den Jahren von 1871 bis 1931 hinsichtlich des Aufbaus und des Gebrauchs von Nominalphrasen untersucht. Die Untersuchung ist Teil eines größeren Forschungsvorhabens zur Zeitungssprache zwischen 1871 und 1933, in dem die entstehende Ressortgliederung, die Textsortenentwicklung und die Herausbildung pressespezifischer Textmuster, die syntaktische Gestaltung, jedoch auch das lexikalische Profil ermittelt werden sollen. Die Längsschnittuntersuchung zur Realisierung von Nominalphrasen soll Entwicklungstendenzen aufzeigen. Dieser Bereich ist deshalb gewählt worden, weil die bisherigen Befunde ein relativ uneinheitliches Bild bieten: Zwar kann mit Blick auf historische Untersuchungen der Pressesprache angenommen werden, dass der mit komplexen Nominalphrasen identifizierte komprimierte Satzbau eine Konstante – insbesondere bei den Berichtstextsorten – darstellt.1 Jedoch lassen sich sowohl Indizien dafür finden, dass kondensierte Strukturen zunehmend abgebaut, als auch Indizien dafür, dass sie sogar verstärkt werden.2 Auch im Zeitraum von 1871 bis 1931 zeigen sich sowohl komplexe Nominalphrasen mit mehrfach erweiterten Vor- und Nachfeldbesetzungen als auch Nominalphrasen mit einem verhältnismäßig einfachen Aufbau. Püschel führt dies anhand von Beispielen aus dem 19. Jahrhundert auf unterschiedliche Stiltraditionen zurück, die in Zeitungen nebeneinander existierten und einfache Gleichungen wie „Der komp_____________ 1 2
Vgl. Fritz (1993, 34ff.); Demske-Neumann (1996, 70ff.; Lühr (1991, 145ff.); Schuster (2008a); Michel (2001, 223ff.). So bspw. in den Aufsätzen von Nail (1983, 30ff.); Nail (1988, 122ff.).
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rimierte Satzbau nimmt zu“ nicht ermöglichten.3 Püschels Annahme ist allein schon deshalb nicht unplausibel, da Zeitungen ein inhomogenes Textsortenkonglomerat darstellen, in dem schon bewährte Textmuster unverbunden neben textlichen Innovationen stehen können. Die Betrachtung einzelner syntaktischer Mittel kann, jedenfalls in der Sicht der Sprachgebrauchsgeschichte und der historischen Textpragmatik, nicht unabhängig von der Textsorte und vom Grad ihrer Konventionalisierung betrachtet werden. Es ist somit nicht unerheblich, ob die Textproduzenten schon einem etablierten Textmuster (z.B. bei einfachen Meldungen) folgen oder ob Texttraditionen adaptiert werden, die anderen Kommunikationsbereichen entstammen und ggf. zu Textsortenallianzen führen. Zeitungen sind denn auch immer beides: Multiplikatoren von Sprachformen, die aus anderen Bereichen stammen, aber auch Generatoren von Sprachformen, die sich aus den Funktionen der Pressekommunikation erklären lassen. Im Bereich der Nominalphrasen kann dies bedeuten, dass sich relativ zur Textsorte schon präferierte sprachliche Selektionen ergeben haben oder erst ergeben. Es muss nicht nur die Entwicklung innerhalb einzelner Textsorten berücksichtigt werden, weshalb die Längsschnittuntersuchung getrennt nach informierenden und räsonierenden Textsorten vorgenommen worden ist, sondern es muss auch die Heterogenität der in den Textsorten manifesten Stiltraditionen und Nähe oder Distanz zu benachbarten Textsorten berücksichtigt werden (s. 3. und 4.). Die Ausgangsfrage dieses Beitrags ist demnach nicht so zu verstehen, dass es eine die Textsorten übergreifende Zeitungssyntax gibt oder überhaupt geben könnte. Vielmehr ist danach zu fragen, ob sich anhand eines größeren Korpus von Zeitungstexten prototypische Erscheinungsformen und Präferenzen ausloten lassen, die u.a. auf eine zunehmende Emanzipation der Pressetextsorten von benachbarten Texttraditionen hinweisen.4 Das Korpus setzt sich aus den Zeitungen Gießener Anzeiger und Frankfurter Zeitung zusammen. Während es sich beim Gießener Anzeiger (im Folgenden: GA) um eine regionale, jedoch traditionsreiche und eher konservative Zeitung handelt, ist die Frankfurter Zeitung (im Folgenden: FZ) eine überregionale Zeitung, die politisch dem Liberalismus verpflichtet ist. Beide Zeitungen sind ihrem Selbstverständnis nach keine Boulevardmedien. Die Ereignisse, zu denen Zeitungsausgaben untersucht wurden, sind von nationaler Tragweite. Herangezogen wurden Zeitungen: zur Reichsgründung (18.-26. Januar 1871), zur Entlassung Bismarcks (20.-27. März 1890), zu den Reichstagswahlen vom 12. Januar 1912, aus der die SPD als stärkste Partei hervorging (12.-19. Januar 1912), zum Inkrafttreten des _____________ 3 4
Püschel (1998, 361ff.). So verstehe ich auch die Anregungen von Cherubim (1990, 269ff.).
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Versailler Vertrags (10.-17. Januar 1920), zu den Reichstagswahlen am 20. Mai 1928 (20.-25. Mai 1928) sowie zum Bankkrach (13.-17. Juli 1931).5 Die Ereignisse wurden aus zwei Gründen ausgewählt: Zum einen sollte eine Ergänzung des Korpus durch andere Zeitungen leicht möglich sein, zum anderen bedingen die Ereignisse ein breites Textsortenspektrum von thematisch zumindest verwandten Texten. Zu jedem Ereignis wurden immer zwei Leitartikel, zwei längere Berichte und – je nach Länge – ein oder zwei Meldungsblöcke untersucht. Im Zeitraum von 1871 bis 1931 verändert sich nicht nur die Presselandschaft im deutschen Reich, wozu unterschiedliche Faktoren wie das Reichspressegesetz (1874), die zunehmende Kommerzialisierung (z.B. durch die Generalanzeiger), sondern auch die zunehmende politische Profilierung einzelner Zeitungen und technische Neuerungen beitragen.6 Wie an den beiden Zeitungen ersichtlich ist, fallen in diesen Zeitraum auch Neuerungen, die dem Rezipienten zunehmend eine leichtere Orientierung in der Zeitung ermöglichen. Dies geschieht vornehmlich durch das Layout und eine durch Überschriften signalisierte Ressortgliederung, durch Schlagzeilen und ab Mitte der 20er-Jahre auch durch die Verwendung des Vorspanns. In diese Zeit fällt zudem die langsame Loslösung vom einkanaligen Textmedium hin zu einem dreikanaligen Medium aus Text, Bild und Grafik. Auch das Textsortenspektrum unterliegt einem Wandel: Dies wird nicht nur aufgrund der Integration neuer Themenfelder ab der Jahrhundertwende deutlich (so bspw. die Sportberichterstattung), sondern auch an der Umgestaltung zentraler Textsorten. Während vor der Jahrhundertwende eine erhebliche Bandbreite von berichtenden Texten mit z.T. kleineren und größeren kommentierenden Anteilen (z.B. durch Entrefilets) vorhanden ist,7 finden sich im Laufe der 20er-Jahre schon nachrichtenähnliche Texte. Auch die räsonierenden Texte verändern sich: Im gewählten Korpus ist im 19. und punktuell auch im 20. Jh. noch, wie Püschel herausgearbeitet hat,8 das Nachwirken der Schulrhetorik und sogar der zeremoniellen Festrede nachweisbar. Andere Texte zeugen jedoch auch von den Traditionen des Essays und der Glosse (z.B. durch viele ironische Formulierungen). Wiederum andere Texte – diese fallen jedoch in das 20. _____________ 5
6 7 8
Das gesamte Korpus bilden zusätzlich: die Koloniegründungen (27. Februar bis 2. März 1885), die Gründung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (27. Mai bis 2. Juni 1875), das Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 (2.-8. Januar 1900), der Ausbruch des Ersten Weltkrieges (29. Juli bis 5. August 1914) und diverse Friedensforderungen (6.-13. Juli 1917). Vgl. auch Jakob (2000, 104f.). Vgl. Püschel (1997, 176ff.). Vgl. Püschel (1994, 163ff.); Püschel (1997, 176ff.).
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Jahrhundert – weisen große Ähnlichkeiten zum heutigen Standpunktkommentar auf und orientieren sich nicht mehr an antiken Redeschemata. Dies zeigt sich nicht nur auf der Ebene der Textorganisation durch die Abfolge – Thema-Setzen, Reflektieren über das Thema, abschließende Bewertung des Themas –, sondern auch an weiteren sprachlichen Merkmalen (z.B. an eingestreuten Argumentationssequenzen). Insgesamt ist also zu berücksichtigen, dass sich neuartige journalistische Routinen einspielen, die – wie im Falle der ausführlichen, bisweilen narrativen Ereignisdarstellung – bis dato eingespielte Routinen ablösen. Die Entwicklung ist auf der einen Seite als eine Textsortendifferenzierung aufzufassen, bei der gerade informierende Texte sich schärfer als zuvor vom Räsonnement abgrenzen, auf der anderen Seite zeigt sich jedoch auch eine Homogenisierungstendenz, da sich die Texte der einzelnen Textgruppen tendenziell bei noch immer vorhandenen Variationsmöglichkeiten ähnlicher werden. In diesem Beitrag wird nun gezeigt, dass die Textsorte, die ihr inhärenten Stiltraditionen sowie die Profilbildung einer Zeitung einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Gestaltung von Nominalphrasen besitzen. Trotz dieser Einflussfaktoren schält sich eine dominante Entwicklungstendenz heraus: Sowohl in informierenden als auch räsonierenden Texten werden Attribuierungen höherer Abhängigkeitsgrade (s. bspw. Belege 1 bis 3) abgebaut. Die anfängliche Variantenvielfalt – unterschiedlichste Kombination von Erweiterungstypen – wird zudem stark begrenzt, so dass übergreifend von einer Komplexitätsreduktion gesprochen werden kann. Daneben ist eine weitere interessante Entwicklung dokumentierbar: Der Anteil von stark bewertenden Adjektivattributen wird geringer. 1931 stellen Adjektivattribute in beiden Textgruppen fast ausschließlich eine Hilfe zur Identifikation des jeweils thematisierten Gegenstandes oder Sachverhaltes dar. Die Dynamik des Entwicklungsprozesses lässt sich m.E. darauf zurückführen, dass sich ein pressespezifischer Stil mit neuen kommunikativen Leitbildern herausschält.
2. Vorgehen Die Untersuchung basiert auf der Transkription der ausgewählten Pressetexte sowie auf der tabellarischen Erfassung und Klassifikation des gesamten Bestandes der realisierten Nominalphrasen. Die Erfassung der Nominalphrasen der Attributstrukturen orientiert sich am Vorschlag von Schmidt,9 für Einzelfragen wurden Engel,10 Heringer11 und Weinrich12 _____________ 9 10
Schmidt (1993). Engel (2004, 269ff.).
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herangezogen. Es wurden für die informierenden Texte 1671 Nominalphrasen und für die räsonierenden Texte 1604 Nominalphrasen ausgewertet. Auf der Basis der erstellten Tabellen wurde jeweils ermittelt: 1. der Anteil von attribuierten und nicht-attribuierten Nominalphrasen, 2. der Anteil von Nominalphrasen, die nur Attribute im Vorfeld oder im Nachfeld gegenüber dem Anteil von Nominalphrasen, die sowohl Attribute im Vorfeld als auch im Nachfeld aufweisen, 3. der Anteil bestimmter Attribute im Vor- und Nachfeld und die daraus ablesbaren Präferenzen, 4. der Anteil von einfach aufgebauten Nominalphrasen gegenüber dem Anteil von Nominalphrasen, die mindestens Attribute der zweiten Abhängigkeitsstufe aufweisen, auch verbunden mit der Ermittlung des Anteils koordinierter und subordinierter Attribute, 5. die kotextuelle Einbettung und kohäsive Vernetzung einfacher sowie komplexer Strukturen, 6. die Entwicklungstendenzen, die sich zwischen 1871 und 1931 ergeben. Da sich herausgestellt hat, dass Adjektivattribute über den gesamten Zeitraum hinweg die höchsten Werte besitzen, wurde zusätzlich ermittelt, ob sich hier aus semantischer Hinsicht Verschiebungen ergeben. Im Folgenden werden nun zunächst auf der Basis der Erhebungen die Entwicklungstendenzen im Bereich der informierenden Texte, dann im Bereich der räsonierenden Texte dargestellt. Es wird, wie oben kurz angedeutet, jeweils dafür argumentiert, dass Veränderungen sich v.a. durch die Emanzipation von bestimmten Stil- und Texttraditionen ergeben.
3. Entwicklungstendenzen im Bereich der informierenden Texte Im Zeitraum von 1871 bis 1931 bleibt das Verhältnis von nichtattribuierten und attribuierten Nominalphrasen nahezu konstant. Bei 1671 ausgewerteten Nominalphrasen liegt der Anteil von nicht-attribuierten Nominalphrasen (Nominalphrasen mit Nullartikel oder einem Determi_____________ 11 12
Heringer (1988). Weinrich (1993, S.317ff.).
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nierer) bei durchschnittlich 42,4 %. Allerdings zeigt sich auch, dass dieser Anteil gerade 1931 auch Spitzenwerte von 81,4 % in den Meldungen der Frankfurter Zeitung erreichen kann. Im gesamten Zeitraum sind attributive Nachfeldbesetzungen – vom Genitivattribut bis hin zu mehrfach gestuften Attributtreppen – mit einem durchschnittlichen Anteil von rund 54 % am häufigsten vertreten, gefolgt von Vorfeldbesetzungen, die in einfacher Form, v.a. durch ein Adjektivattribut, selten durch ein Adverbialattribut und in komplexer Form durch Attributionen bis zum vierten Abhängigkeitsgrad vorliegen können. Die Kombination von attributiver Vor- und Nachfeldbesetzung ist mit einem durchschnittlichen Anteil von 14,2 % am niedrigsten vertreten. Im Bereich der Vorfeldbesetzungen weisen die Texte von 1871 und 1890 die komplexesten Muster auf, wobei die Besetzungen – wie im folgenden Beispiel – bis zur vierten Abhängigkeitsstufe reichen können: „das zur Beschleunigung der Feldpostsendungen an die und von den badischen Truppen in Frankreich eingerichtete FeldEisenbahn-Postbureau“ (FZ, 26.01.1871). Während durch ein Attribut (vorwiegende Präpositionalattribute) erweiterte Partizipialattribute wie (1)
„die durch das Bombardement entstandene Verwüstung“ (GA, 25.01.1871), „einen durch lebhaftes Artilleriefeuer unterstützten Ausfall“ (FZ, 26.01.1871), „eine der Gewerbefreiheit zuwiderlaufende Protektion“ (FZ, 20.03.1890) „die vom Kabinett beschlossene Regierungserklärung“ (FZ, 15.03.1912)
im gesamten Zeitraum nachzuweisen sind, sind durch mehrfach gestufte und koordinierte Attribute bzw. deren Mischformen erweiterte Partizipialattribute ausschließlich (!) im Zeitraum von 1871 bis 1912 nachzuweisen. Hier ergibt sich, wie anhand der folgenden Beispiele ersichtlich wird, ein großes Spektrum an Realisierungen: (2)
„die größten bis dahin vor Paris erreichten Schußweiten“ (GA, 25.01.1871), „ein gerechter, dem wie dem Besiegten genugthuender Frieden“ (GA, 24.01.1871), „nach ihren sechstägigen, in rastlosem Vorwärtsgehen durchgeführten Kämpfen“(GA, 25.01.1871), „sehr dringliche, im wirtschaftlichen Interesse liegende Bedürfnisse“ (FZ, 20.03.1890), „eine den Reisenden bequeme und zuverlässige Verbindung“ (FZ, 20.03.1890), „die gestern von der Arbeiterschutz-Conferentz gewählten Commissionen“ (GA, 20.03.1890), „der mit einer hydrografischen Mission an der Küste von Madagaskar betraute Schiffsfähnrich“ (FZ, 13. 01. 1912)
Während erweiterte Partizipialattribute im Vorfeld noch 1931 mit einem hohen Anteil von 20 % vorhanden sind, werden komplexere Strukturen
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gemieden. Der folgende Beleg ist die komplexeste Realisierung 1931: „über diese Plätze nach Deutschland zurückgerufene Gelder“ (GA, 13. Juli 1931), in den ausgewählten Texten von 1920 lässt sich sogar kein Beleg finden. Auch bei der Rechtserweiterung zeigt sich Ähnliches: Die höchsten Anteile hat hier das einfache, nicht erweiterte Genitivattribut, dessen Anteil von 20 % (1890, GA) bis auf den Spitzenwert von 50 % (1931, FZ) steigt, was allein schon auf eine erhebliche Verengung der Gestaltungsmöglichkeiten hinweist. Obgleich 1931 in GA und FZ vornehmlich Genitivattribute, Präpositionalattribute und auch Akkusativattribute, ggfs. mit adjektivischer Erweiterung, sowie Relativsätze gewählt werden, zeigen sich auch noch in den 20er-Jahren relativ komplexe Nachfeldbesetzungen: „die Schließung der Geschäfte um 4 nachmittags mangels jeglicher Beleuchtung“ (GA, 17.01. 1920). Der Hauptunterschied ergibt sich dadurch, dass Häufungen von Genitiv- und Präpositionalattributen sinken (von 15 = 1871, 7 = 1890, 11 = 1912, jeweils 2 = 1920 / 1928 und kein Beleg 1931) und sehr komplexe Realisierungen wie die folgenden auch vor den 20er-Jahren liegen, vgl.: (3)
„die Angaben über die Tragweite der preußischen Projectile in dem Umkreis des Pantheon“ (GA, 25.01.1871), „die Besprechungen über die durch den Rücktritt des Kabinetts geschaffene politische Lage“ (GA, 13.01.1912), „die Angaben der englischen Blätter über die mehr hervortretenden Wirkungen des Bombardements auf die Bevölkerung der französischen Hauptstadt“ (GA, 24.01.1871), „die Drohung des Fabrikanten mit Schließung der Betriebe bei andauerndem Ausstande“ (FZ, 20.03. 1890)
Sehr komplexe Nominalphrasen können sich durch die Kombination von Vor- und Nachfeldbesetzung ergeben, die sich oft über mehrere Zeilen erstrecken und ab den 20er-Jahren kaum mehr vorhanden sind. Sofern das Nachfeld nur durch ein Genitiv- oder durch ein präpositionales Attribut besetzt ist, zeigt sich die oben schon skizzierte Variantenvielfalt: (4)
„die ursprünglich auf vielleicht 150,000 Mann zu bemessende Armee Chanzy’s“ (GA, 25.01. 1871), „den verschiedentlich angekündigten und wohl auch gehegten Vermittlungswünschen der Neutralen“ (GA, 24.01.1871), „seine in den letzten Tagen unterbrochen gewesenen regelmäßigen Fahrten bis und von Blainville“ (FZ, 26.01. 1871), „die kurze, nur 4 Monate betragende Dauer des Sommerfahrplanes“ (FZ, 20.01. 1890)
Gleichzeitig kann das Nachfeld jedoch ebenso komplex wie das Vorfeld besetzt sein und zu extremer „Blockbildung“ führen:
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(5)
„die aus Versailles durch den König von Preußen erfolgte Notifizierung der Aufnahme der deutschen Kaiserwürde“ (GA, 24.01.1871), „der am 1. Jan. eingeführte Ausnahmetarif für Waffengüter landwirtschaftlicher Rohstoffe“ (FZ, 20.03.1890), „der von den vereinigten Riemendrehereibesitzern gefaßte Beschluß, bei fortdauerndem Ausstand der Gesellen am 21. D. Mts. die Betriebe zu schließen“ (FZ, 20.03.1890), „die kaiserliche Genehmigung des gestrigen Entlassungsgesuches des Fürsten Bismarck als Reichskanzler und Ministerpräsident“ (GA, 20.03.1890)
Bei der Gestaltung der Nominalphrase zeigt sich sowohl Wandel als auch Konstanz. Zu den Wandelerscheinungen gehören: der Abbau von Attributen im Vorfeld, der Abbau von Nominalphrasen, bei denen Vor- und Nachfeld durch komplexe Unterordnungen realisiert werden, und die Beschränkung auf einige, besonders häufig verwendete Gestaltungen. Konstanz lässt sich am ehesten für die Nachfeldbesetzungen zeigen, wenngleich sich auch hier die Komplexität verringert und Attributtreppen im Nachfeld eher vereinzelt erscheinen. Konstanz und Wandel korrespondieren mit textsortengeschichtlichen Entwicklungen. Denn es zeigt sich, dass auch 1871 komplexe Nominalphrasen nicht in jedem Text mit gleichermaßen hohen Werten realisiert werden. Während sie sich nur vereinzelt in Meldungsblöcken, also in Rudimentärformen des Berichtens finden, zeigen sich Spitzenwerte in Texten, die einen beschreibenden, bisweilen narrativen Charakter besitzen. Es handelt sich dabei um Augenzeugenberichte vom Kriegsschauplatz, die Elemente von Vor-Ort-Reportagen aufweisen und die für die Zeitungsberichterstattung des 19. Jahrhunderts alles andere als ungewöhnlich sind.13 Zum anderen sind besonders komplexe Realisierungen bei der Wiedergabe institutionell gebundener Vorgänge vorhanden: Das können die Diskussion von Gesetzesvorlagen im Parlament, (parlamentarische) Beschlussfassungen oder Wahlen sowie die Wiedergabe juristischer Auseinandersetzungen sein. In der Regel lehnen sich Presseberichte hier an den amts- oder rechtssprachlichen Duktus von Originaldokumenten an, indem diese reformuliert, selten aber direkt zitiert werden. Bei der Kriegsberichterstattung von 1871 ist auffällig, dass zu Handlungsträgern, zu temporaler und lokaler Situierung präzise Angaben gemacht werden. Diese präzisen Angaben können zumeist zu einer extremen Belastung des Vorfeldes oder Nachfeldes führen. (6)
„etwa 2000 Ellen vom Fort entfernte Stellung“ (GA, 25.01. 1871), „die bei der Schlacht am 19. d. Mts. betheiligten deut-
_____________ 13
Püschel (1991, Bd. 3, 34f.).
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schen Truppen“ (GA, 25.01.1871), „die bei St. Quentin in den Kampf geführten Truppen des Feindes“ (GA, 25.01.1871), „der Chef des Stabes der im Nordwesten unter General v. Gochen operirenden I. Armee, General-Major v. Sperling“ (FZ, 26.01. 1871), „in Folge der neueren Kriegsereignisse in der Gegend von Paris“ (FZ, 26.01.1871) Allerdings können sie auch mit weniger komplexen Realisierungen konkurrieren: „20 Minuten nachher“, „eine Entfernung von 8500 Meter“ oder „300 hadischen Fuß“ (GA, 24.01.1871). Charakteristisch für den Augenzeugenbericht ist, dass satzförmige Attribute oder Parenthesen, die prinzipiell eine Alternative darstellen könnten, nur in einem Fall zur Situierung des Geschehens gebraucht werden: „Glatigny, nördlich und nahe dem Thor von Versailles“ (25.01.1871). Neben präzisen Angaben werden im Augenzeugenbericht auch Einschätzungen des Schreibenden sichtbar, die häufig einen parteiischen Standpunkt verraten. Dies hat u.a. die Verwendung stark konnotierter Adjektive als Attribute zur Folge. (7)
„ein trauriges Beispiel, das Europa gegeben werde“ (GA, 24.01.1871), „diese gewaltige taktische Niederlage“ (GA, 24.01. 1871), „ein trauriges Bild von der Unordnung, welche bei den in Cambrai angekommenen Franzosen herrschte“ (GA, 25.01. 1871), „eine furchtbare Niederlage, von welcher sie sich schwerlich erholen wird“ (GA, 25.01.1871), „eine sehr gedrückte Stimmung“ (GA, 25.01.1871), „die ungerechtfertigsten Anschuldigungen gegen Trochu“ (GA, 25.01.1871), „die ungestüme Tapferkeit, mit welcher sich die Jäger in erster Linie gegen das wiederzunehmende Montreout stürzten“ (FZ, 26. 01. 1871)
Wie aus den Belegen hervorgeht, werden die satzförmigen Attribute vornehmlich zum Prädizieren gebraucht. Daneben weisen die Texte phraseologisch zu verstehende Adjektiv-Substantiv-Verbindungen wie „schneidende Kälte“ (GA, 25.01.1871) oder „große Panik“ (GA, 24. 01.1871) auf. Zu einem hohen Anteil von attribuierten Nominalgruppen trägt auch die Schreibstrategie bei, zentrale Referenzträger oder Sachverhalte nicht durch Proformen wieder aufzugreifen, sondern mit totaler / partieller Lexemrekurrenz zu arbeiten, z.B. „das Bombardement auf die Forts und Stadttheile“ – „die durch das Bombardement entstandene Verwüstung“ (GA, 25.01. 1871). Dies führt zu erheblicher Redundanz und auch – aus heutiger Perspektive – zu einer gewissen Langatmigkeit der Texte. Charakteristisch sind auch antonymische Verknüpfungen: „von unserer herrlichen Armee – in erbärmlicher Ausrüstung“ (GA, 24. Januar 1871). Diese Form
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der Kriegsberichterstattung steht, wenn man auf die Zeitungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts blickt, in einer langen Tradition.14 Die zweite Traditionslinie, mit deren Gestaltung komplexe Nominalphrasen verbunden sind, ist die Kontextualisierung eines amtssprachlichen Duktus, die sich z.T. an den Stil der offiziellen Direktive anlehnt, der für den Zeitungsjahrgang 1890 ebenso wie für den Zeitungsjahrgang 1912 charakteristisch ist: (8)
„der am 1. Jan. eingeführte Ausnahmetarif für Waffengüter landwirtschaftlicher Rohstoffe“ (FZ, 20.03.1890), „zu der heute Morgen 11 Uhr im Stadthaussaale stattgefundenen Wahl von Stadtverordneten zum Kreistage“ (FZ, 20.03.1890), „in der von der Regierung dem Landtag gemachten Vorlage auf Errichtung eines Floßhafens in Würzburg“ (FZ, 20.03.1890), „Ausschreiben vom 28. Februar vom 28. Februar, betreffend die Revision des Gerichtskostenwesens in den Jahren 1888 und 1890“ (GA, 20.03.1890)
(9)
„eine sichere Einnahme von rund einer halben Million Mark aus dem Betriebe der Staatslotterie“ (GA, 15.01.1912), „einen erneuten Waffenstillstand in der Weiterbehandlung der Frage Fabrik und Handwerk und der verwandten Fragen“ (GA, 15.01.1912), „einen Schrittmacher zur Behandlung des Antrags der ständigen Kommission auf Uebertragung der Arbeiten für den Hauseintunnel an die Firma Berger in Berlin“ (GA, 13.01.1912), „die Ernennung des slowenisch-klerikalen Abgeordneten Schustersitz zum Landeshauptmann in Krain“ (FZ, 12.01.1912), „die Reichtagsstichwahl im 3. Pfälzischen Wahlkreis Germersheim zwischen dem Kandidaten des Zentrums und dem Nationalliberalen“ (FZ, 15.01.1912)
Der folgende Text stellt ein Beispiel für die Gestaltung informierender Texte dar. Er weist neben komplexen Nominalphrasen charakteristische Merkmale des amtssprachlichen Stils auf, so: Koreferenzketten, die vorwiegend durch Lexemrekurrenz und kaum durch Pronominalisierung erzeugt werden, die Verwendung von Funktionsverbgefügen, die Bevorzugung des Relativpronomens welche, die Dislozierung von Attributstrukturen („die augenblickliche Regung keine vorübergehende sei“) sowie insgesamt eher hypotaktische denn parataktische Verknüpfungen. Es darf vermutet werden, dass sich Teile dieses Textes eng an die Vorlagen anlehnen und diese reformulieren. Das führt jedoch nicht notwendig zu einer stilistisch homogenen Textur, sondern greift auch andere, schibboletharti_____________ 14
Vgl. Schuster (2008a, 15f.).
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ge Formulierungen der Ausgangstexte auf. Diese erscheinen im Textzusammenhang eher unpassend: z.B. „den Kindern und Kindeskinder der Arbeiter“. (10) „Barmen, 19. März. Die Kommission der vereinigten Riemendrehereibesitzer sagt in einer öffentlichen Erklärung: Der von den vereinigten Riemendrehereibesitzern gefaßte Beschluß, bei fortdauerndem Ausstand der Gesellen am 21. d. Mts. die Betriebe zu schließen, werde am nächsten Freitag zur Ausführung kommen, sofern sich die Arbeiter noch länger der Einsicht verschließen, daß ihre Forderungen ungerechtfertigt und für die Arbeitgeber unannehmbar sind. Die Betriebssperre werde zwar auch eine Reihe Arbeiter treffen, welche dem Ausstande fern stehen und in ruhiger Arbeit das gute Verhältniß zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufrecht erhalten haben; allein jene Maßregel sei eben ein Akt der Notwehr, das gegen Vergewaltigung schützen soll. Die schwere Verantwortlichkeit, 1800 ruhige Arbeiter brodlos gemacht zu haben, falle daher ganz auf diejenigen, welche das letzte Wort der Arbeitgeber zum Frieden nicht hören wollte […]. Demgegenüber betonten gestern die streikenden Gesellen in einer großen Versammlung, daß man an den gestellten Forderungen festhalten müße, weil die augenblickliche Regung keine vorübergehende sei, sondern den Kindern und Kindeskindern der Arbeiter zugute kommen werde. Durch die Drohung der Fabrikanten der Fabrikanten mit der Schließung der Betriebe bei andauerndem Ausstande dürfe man sich nicht beirren lassen […]“ (FZ, 26.03.1890)15 Institutionelle Vorgänge identifizierende Nominalphrasen mit Attributtreppen im Nachfeld führen nicht nur in dem Zeitraum bis 1912 zu komplexen Nominalphrasen, sondern bilden bis 1931 gewissermaßen eine Konstante, vgl.: (11) „die nähere Prüfung der Wiederanerkennung der schweizerischen Neutralität“ (FZ, 10.01.1920), „eine längere Sitzung unter Vorsitz des Reichsbankpräsidenten Lutter“ (GA, 13.07.1931), „der Vorschlag der Ausgabe größerer Mengen von Rentenbank_____________ 15
Der GA macht daraus zwei kleinere Meldungen, die sich von dem zitierten Text unterscheiden: „Barmen, 18. März. Die heute angekündigte Versammlung der Riemendrehergesellen wurde auf Grund des §9 des Socialistengesetzes verboten. Barmen, 18. März. Die Commission der Riemendrehereibesitzer veröffentlich in der ‚Westdeutschen Ztg.‘ eine Erklärung, wonach bei der Fortdauer des Ausstandes am 21. März die allgemeine Betriebssperre verhängt werden würde. Die Streikenden werden aufgefordert, die Arbeit aufzunehmen, da sonst 1800 ruhige Arbeiter brodlos würden.“ (GA, 20.03.1890).
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scheinen“ (FZ, 15.07.1931), „das Zusammenfallen der psychologisch unerfreulichen Gerüchte über die Danatbank mit den Vorgängen dieser Zeit“ (GA, 14. 07.1931) Darf man nun von einer weit gehenden Konstanz ausgehen? Die Antwort muss zwiespältig ausfallen. Einerseits muss konstatiert werden, dass diese komplexen Gestaltungen prinzipiell möglich bleiben, andererseits zeigt sich auch, dass sie den Duktus der informierenden Texte nur bedingt prägen. Dies hat folgende Gründe: Zum einen vereinfacht sich die Gestaltung der Koreferenzketten, die Texte werden dadurch weniger redundant. Zum anderen wird zwar auf die präzise Situierung Wert gelegt, jedoch wiederholen und synthetisieren die entsprechenden Texte nicht mehr den Wortlaut der Vorlage. Die Darstellung von Ereignissen emanzipiert sich von der Chronologie des Berichteten zugunsten einer Reorganisation der Gegenstände nach ihrer thematischen Relevanz. Ergänzend sollte auch betont werden, dass satzförmige Attribute zur Detaillierung und Qualifizierung der Information stark an Bedeutung gewinnen: „um Briefsendungen für Argentinien, Paraguay, Bolivien und Chile (handeln), die in Deutschland zwischen den Postabgängen am 3. und 8. Dezember 1911 – an beiden Tagen ab Köln 10.45 Abends – aufgekommen sind“ (FZ, 13.01.1912). Gleichzeitig wird ein Bemühen um neutrale Darstellung erkennbar, so dass kaum wertende Adjektive, gelegentlich jedoch Modaladverbien vorhanden sind: „ein leider nur schrittweiser Abbau der Bankfeiertage“ (FZ, 15.07.1931). Insgesamt ist die Aussage Peter von Polenz‘ also zu bestätigen: „Der Nominalisierungsstil emanzipierte sich von der Übernahme institutioneller Formen zur funktional kreativen zeitungsspezifischen Ausnutzung der Komprimierungsmittel in Attribuierung und Wortbildungen.“16 Eine weitere Traditionslinie stellen ausführliche Quellenangaben dar. Auch hier zeigt sich – zurückzuführen auf die weitere Professionalisierung des Journalismus (u.a. auch durch Nachrichtenagenturen) – eine Tendenz: Während in den Texten von 1871 und 1890 Quellenangaben noch die Regel sind (vgl. Belege in 9), werden andere Zeitungen schon 1912 nur noch im Einzelfall genannt. Informationen zur Nachrichtenlage treten nur noch dann auf, wenn selbstreflexiv auf die Nachrichtenlage Bezug genommen wird (vgl. Belege in 13): (12) „ein im sächsischen Hauptquartier befindlicher Berichterstatter der ‚Daily News‘“ (FZ, 26.01.1871), „die Angaben englischer Blätter über die mehr hervortretenden Wirkungen des Bombardements auf die Bevölkerung der französischen Hauptstadt“ _____________ 16
Von Polenz (1999, 505).
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(GA, 24.01.1871), „die von der deutschen Post bezogene ‚Independance belge‘“ (FZ, 26.01.1871), „eine Depesche der französischen Regierung aus Bourdeaux vom 23. 3 Uhr Abends“ (FZ, 26.01.1871). (13) „mit dem Ersuchen um authentische Information darüber, ob diese Pressenachrichten auf Tatsachen beruhen (GA, 15.01. 1912), „Angaben (verbreitet), die in wesentlichen Punkten falsch sind“ (GA, 15. 01.1912), „die Blättermeldung, daß zwei hiesige Seminaristen auf einer Harztour verschollen seien“ (FZ, 13.01. 1912), „bei dem durch die Blätter ja hinlänglich bekannten Renkountre“ (FZ, 15.01.1912). In der Entwicklung stellt es eine Konstante dar, dass mit dem Bemühen um präzise Darstellung auch eine ausgewogene Berichterstattung einhergeht. Sieht man einmal davon ab, dass Schibboleths von Formulierungsvorlagen übernommen werden, zeigen sich wertende Adjektive nur bei direkten und indirekten Zitaten, z.B.: „stolze Freude“ oder „unauflöschliche Ehre“ beim Amtsantritt (FZ, 15.01.1912), „starkes Befremden“ und „tiefe Enttäuschung“ bei den Handlungsträgern angesichts gescheiterter Verhandlungen (FZ, 10.01.1920). Es zeigen sich also folgende Entwicklungen: 1. Komplexe Vorfeldbesetzungen (Beleggruppe 1-3) werden in allen Texten abgebaut, das mehrfach erweiterte Partizipialattribut verliert an Bedeutung. Ebenso verringert sich die Anzahl von Nominalphrasen mit komplex strukturiertem Vor- und Nachfeld (Beleggruppe 6 / 7). 2. Adjektivattribute im Vorfeld, die z.T. einen stark wertenden Charakter haben, finden sich v.a. in reportageähnlichen Texten, die in dieser Hinsicht scharf von anderen Textformen des Berichtens zu unterscheiden sind. Gleichzeitig kann dies als ein Beleg für eine zunehmende Textsortendifferenzierung und Homogenität des textlichen Zugriffs gelesen werden. 3. Komplexe Nachfeldbesetzungen bleiben, sofern sie Gegenstände aus der institutionellen Bezugswelt kennzeichnen, erhalten. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Vielfalt von Realisierungsmustern begrenzt wird.
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4. Entwicklungstendenzen im Bereich der räsonierenden Texte Im Bereich der räsonierenden Texte müssen die beiden Zeitungen getrennt voneinander betrachtet werden. Während nämlich der Anteil der nicht-attribuierten Nominalphrasen im gesamten Zeitraum im GA bei gut einem Drittel (32,2 %) liegt, stellen die nicht-attribuierten Nominalphrasen in der FZ gut die Hälfte dar (49,6 %). Im GA von 1890 liegt der Anteil von nicht-attribuierten Realisierungen sogar nur bei 25 %, während er zeitgleich in der FZ einen Anteil von 49 % besitzt. Bevor hier die Realisierung der einzelnen Texte betrachtet wird, sollte auch betont werden, dass der Anteil von Vorfeld- und Nachfeldbesetzungen stärkeren Schwankungen unterliegt. Während sowohl im GA als auch in der FZ bisweilen auch die Vorfeld- die Nachfeldbesetzung deutlich dominieren kann (so mit einem Anteil von 69,8 % der Nachfeldbesetzung in FZ von 1871), pendelt sich das Verhältnis von Vorfeld- und Nachfeldbesetzung ab 1912 deutlich ein – ab diesem Zeitpunkt halten sich Vor- und Nachfeldbesetzung konstant mit einem Anteil von je 40 % im GA und in der FZ die Waage, eine Kombination von beiden Besetzungsarten liegt in beiden Zeitungen bei einem durchschnittlichen Anteil von 20 %. Hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten der Vorfeldbesetzung zeigt sich zwischen beiden Zeitungen die Gemeinsamkeit, dass das einfache Adjektivattribut am häufigsten realisiert wird und dass sein Anteil bis zum Zeitungsjahrgang wiederum bis zu sehr hohen Werten (90 % in der FZ 1931) steigt. Auch hier zeigen sich wiederum Homogenisierungsprozesse, da komplexe Formen im betrachteten Zeitraum wie die folgenden aus dem Zeitungsjahrgang 1871 zunehmend ausgesondert werden. (14) „das naturgemäße, berechtigte Ergebnis einer langjährigen, ohne Hast und Übereilung, aber stetig und unwiderstehlich vorwärts strebenden geschichtlichen Entwicklung“ (GA, 25.01.1871), „der endgiltige, feierliche Abschluß des 1866 zur Entscheidung gebrachten Kampfes zwischen dem deutschen Nationalstaat Preußen und der aus Deutschland hinausgewachsenen österreichischen Nationalitäten-Monarchie“ (GA, 25.01.1871), „die zwischen uns und dem gebildetsten Theile der österreichischen Staatsangehörigen bestehende Stammesverwandtschaft“ (GA, 25.01.1871), „die kaum mehr zu bezweifelnde Kunde von der definitiven Amtsniederlegung des größten Staatsmannes und Politikers unseres Jahrhunderts“ (GA, 20.03.1890).
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Anders als in den Zeitungsausgaben des 20. Jhs. wird das Nachfeld der Nominalphrase auch durch (koordinierte) Attributsätze besetzt, die z.T. selbst wieder komplexe Nominalphrasen aufweisen, vgl.: (15) „die deutsche Sache, die von Kaiser und Reich teils aus Schwäche und Unfähigkeit, teils aus Eifersucht gegen den mächtig emporstrebenden Brandenburger im Stich gelassen wurde“ (GA, 25. 01.1871), „kaum ein Tag verging seitdem, der nicht von einschneidenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kaiser und seinem obersten Rathgeber zu berichten und im Anschlusse von dem bevorstehenden Rücktritte des Fürsten von Bismarck gerüchtweise zu melden gewußt hätte […]“ (GA, 20.03.1890). Die Belege stammen aus dem Anzeiger. Dieser unterscheidet sich also nicht nur hinsichtlich des Verhältnisses von attribuierten und nichtattribuierten Nominalphrasen, sondern auch hinsichtlich der Komplexität der Nominalphrasen von der Frankfurter Zeitung. Dieser Unterschied zeigt sich am deutlichsten in den Kommentaren zur Reichsgründung. Während im GA das Kaisertum als konsequente historische Entwicklung gepriesen wird, äußert sich die FZ erstaunlich skeptisch über diese politische Entwicklung. Der Stil der jeweils realisierten Texte könnte nicht unterschiedlicher sein: Der GA wählt einen zeremoniellen Stil (vgl. die Belege 11 / 12), bei dem sich Wiederholungs- und Amplifikationsfiguren zeigen und sich entsprechend komplexe Nominalphrasen ergeben. Am 20. Januar 1871 äußert sich die FZ hingegen zunächst nur kurz zur Proklamierung des Kaiserreichs, indem sie auf die verhaltene Reaktion der Bevölkerung verweist: „den Mangel eines allgemeineren Hervortretens von Freude, dem Widerstand gegen jegliche Entwicklung im freiheitlichen Sinne“ (FZ, 20.01.1871). Die Zugriffsweise der FZ bleibt in den Folgetagen ironisch, spöttelnd und bissig und fügt sich in Traditionen der politischen Essayistik und Satire ein, weshalb die Bezugnahme auf Börne am Beginn des folgenden Textes alles andere als zufällig sein dürfte: (16) „Börne sagte einmal, Minister fallen wie die Butterbrode fallen, immer auf die geschmierte Seite. Dieses Wort ist gewiß ebenso wahr, wie jener andere Erfahrungssatz, daß Völker immer auf die ungeschmierte Seite fallen […] sie fallen dann gewöhnlich auf einen schmutzigen Sandboden und sehen dann in Folge dessen so unappetitlich aus, daß gewisse Leute dann auszurufen pflegen, ‚seh’t nur das schmutzige Volk an, wir müssen es erst ein wenig cultiviren und menschlich zustutzen.‘ Auf diese Weise entstehen Volksbarbiere und Volkstribune der verschiedesten Sorten und Grade […] Nun erst hat das Volk seine eigentliche Bedeutung,
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seine ethische Weihe erhalten da es das Haupt des Gesalbten schmückt. […]“ (FZ, 21.01.1871). Die Tatsache, dass in beiden Zeitungen der Anteil von Adjektivattributen hoch ist, sagt noch nichts über die Art ihres Gebrauchs und die geradezu gegensätzlichen Motive, die ihrem Gebrauch zugrunde liegen. Während viele Adjektivattribute im GA entweder wertend oder ornamentativ zu verstehen sind, wird mit der Verwendung von Adjektiven in der FZ ein anderer stilistischer Wert – die Ironie – erzeugt. In den kommentierenden Texten des GA dienen Adjektivattribute, darunter auch Adjektivkomposita, der fast rituellen Beschwörung der Tatkraft von Kaiser und deutschem Volk, vgl.: (17) „der gewaltige Fürst“, „der große Kurfürst“, „die altehrwürdige Kaiserkrone“, „im gewaltigen Ringen“, „[ …], deren, so Gott will, naher Fall uns einen baldigen ruhmvollen Frieden in Aussicht stellt; auf dem Boden der Thatsachen, die das Werk einer gewaltigen, wunderbaren geschichtlichen Entwicklung sind; „an der Spitze seines jugendkräftigen, eben erst dem Chaos abgerungenen Staates“, „mit dem festen Bande warmer Theilnahme und Sympathie; eines jener überraschenden, tumultuarischen Ereignisse, wie sie in Zeiten lebhafter Bewegung und stürmischer Aufregung zuweilen welterschütternd den regelmäßigen Verlauf der Dinge unterbrechen“ (Pronominalphrase) (alle Belege: GA, 25. 01. 1871). Die Verwendung ornamentativer Adjektive steht mit der Reihung von nominalen Kernen in einem Zusammenhang. Die darin zum Ausdruck kommende rhetorische Schulung lässt sich auch darin erkennen, dass die Bezeichnung einzelner Redegegenstände stark variiert, z.B.: (18) „einen strengen Erzieher“ – „Lehrmeister, der mit einem Organisationstalent ohne Gleichen die Staatseinheit auf eherner Grundlage befestigte“; „das siegreiche, sturmerprobte Preußen“ – „der Kern“ – „der Hort Deutschlands“ – „der deutsche Staat der Zukunft“; „der Gegensatz zwischen ihm und Oesterreich“ – „die beiden Nebenbuhler“ (alle Belege vom GA, 25.01.1871). Die komplexen Nominalphrasen korrespondieren mit einem hypotaktischen Satzbau. Interessanterweise wird der salbungsvolle Stil vom Text der FZ parodiert. Die verwendeten Adjektivattribute sind Ironiesignale, die starke Distanz zur Regierungsform ausdrücken, vgl.: (19) „große prachtvolle Zöpfe“, „fürstliche Häupter“, „prächtige Zierrathen“, „seine ethische Weihe“, „die schöne Facade“, „solch störend Beiwerk bei einer Kaiserfacade“, „in blendendem Glanze“, „sein
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kaiserliches Weihnachtsgeschenk“, „das kleine Geschenkchen“, „welche edlen Beweggründe, in dem Herzen jenes zartsinnigen Kaiserimprovisario“, „in strahlendem Golde, wie die des seligen großen Karl“, „unter den kundigen Händen des vielgewandten Meisters“ (alle Belege aus FZ, 21.01.1871). Dass dieser, dem Genus subtile zuzurechnende Text raffiniert gestaltet ist, zeigt sich auch daran, dass bspw. bei „solch störend Beiwerk“ eine Kurzform des Attributs gewählt wird, die eher für den Stil öffentlicher Sprache im 18. Jh. charakteristisch ist und eine archaisierende Komponente besitzt. Wie schon aus dem oben zitierten Textstück hervorgehen sollte, ist der gesamte Satzbau wesentlich einfacher als der repräsentativ-zeremonielle Stil des Anzeigers. Unterschiede zeigen sich auch in den Texten zu Bismarcks Entlassungsgesuch von 1890: Auch hier steht eine unkritische Lobpreisung der Leistungen Bismarcks in dem GA („ein Mann von der weltgeschichtlichen Größe und Bedeutung eines Otto von Bismarck“ – GA, 20.03.1890) einer eher kritischen Stellungnahme zu Bismarck in der FZ gegenüber. Auch hier lassen sich wieder komplexe Realisierungen der Nominalphrasen vornehmlich im GA nachweisen. Ein besonderes Datum stellt das Inkrafttreten des Versailler Vertrags dar: Hier nähern sich die Werte für den GA und die FZ an und die Nominalphrasen zeigen eine für die FZ ungewöhnliche Variantenvielfalt und Komplexität, so bspw.: „unsere durch die natürlichen Folgen der Kriegsermattung sowie durch die Rachsucht unserer Gegner geschaffene Gesamtlage“ (FZ, 10.01.1920). Die FZ wählt hier einen für sie – gemessen an den vorherigen Ereignissen – eher ungewöhnlichen, nationalistischen Ton mit bestimmten gängigen Lexemen wie Stamm, Volkskörper oder Kampf, so „dem uns herzlich befreundeten österreichischen Stamm“, „unter furchtbaren Kämpfen und unter Zuckungen des Volkskörpers, die […]“ (FZ, 10.01.1920). Der Versailler Vertrag wird als Gewaltakt gegen das deutsche Volk interpretiert (alle folgenden Belege aus FZ, 10.01.1920), vgl.: (20) „Das Stückwerk fast uneingeschränkter Gewalt, das […]“, „die militärische Diktatur des Waffenstillstandes“, „die völkerrechtliche Ordnung des Gewaltfriedens“, „die Peitschenhiebe des siegreichen Militarismus“, „die Racheparagraphen, die […]“, „die billige Theorie der Erniedrigung und Knebelung“, „durch die Gewalt der Sieger“. Dies führt im Gegensatz zu den zuvor thematisierten Ereignissen dazu, dass im Vor- und Nachfeld sakral anmutende Adjektivattribute erscheinen: „Die heiligsten Kraftströme des Lebens: die der Moral und der unverfälschten Menschlichkeit“; „ein Unrecht gegen ewige Gesetze“. Gleichzeitig
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wird keine Möglichkeit ausgelassen, auf die negativen Folgewirkungen des Versailler Vertrags hinzuweisen, vgl.: (21) „Dem schlimmsten der möglichen Übel“, „das psychisch und moralisch Verheerendste“, „ungeheuren Schaden“, „unermeßlichen Schaden“, „eine Revision der schlimmsten Bedingungen“, „diesem ungeheuerlichen, unmöglichen Vertrag“. Im GA wird der Vertrag ähnlich interpretiert, nämlich als „die Knebelung des Volkes“, was jedoch mit „das blitzende Schwert unserer Zuversicht“ und „unser heiliges Recht“ (GA, 17.01.1920) kontrastiert wird. Mit der harschen Verurteilung des Versailler Vertrags dürften die Zeitungen bekanntlich nicht alleine gestanden haben. Im gesamten Korpus weisen die konsensdeklarativen Texte die komplexesten Nominalphrasen auf, während der politischen Essayistik verpflichtete Texte höchstens Attribute der zweiten Abhängigkeitsstufe zeigen. Anders als vielleicht zu erwarten, führt der Bankkrach nach dem Zusammenbruch der Österreichischen CreditAnstalt mit Auswirkungen auf eine der vier deutschen Großbanken, die Darmstädter und Nationalbank, nicht zu einer vergleichbaren Bearbeitung. Beide Zeitungen nutzen ihre Leitartikel vornehmlich zur Orientierung der Rezipienten, womit der Journalist in die Rolle des Lehrmeisters tritt. Gerade die FZ versucht, die finanzpolitischen Implikationen der Bankkrise auszuloten – so tritt die FZ für einen rationalen Umgang mit der Krise ein. Der Anteil an nicht-attribuierten Nominalphrasen liegt sehr hoch (61 Prozent, FZ). Von den 61 attribuierten Nominalphrasen im Leitartikel der FZ werden 31 nur durch ein Adjektiv erweitert. Weitere acht Nominalphrasen entfallen auf das Muster „Adjektivattribut im Vorfeld und Genitiv- oder präpositionales Attribut im Nachfeld“. Es fehlen Attributtreppen im Nachfeld, sei es auch nur die einfache Abfolge von Genitiv- und präpositionalem Attribut, ebenso wie komplexe Stufungen im Vorfeld. Die komplexesten Realisierungen sind stilistisch markiert: (22) „Flucht aus den kompliziertesten, undurchdringlich erscheinenden Sachproblemen“, „Das Gegenteil der aufs Etikett geklebten Konzentration“, „So kindliche Phantasmen wie ein Gespann Hitler-Severing“, „für sachliche Verknüpfung politischer Probleme, außenpolitischer oder innenpolitischer“, „weit ausrollende, vielleicht recht gefährliche politische Wellen“ (alle Belege aus FZ, 14.07.1931). Die Anzahl bewertender Adjektive ist mit einer Anzahl von 15 eher gering. Zudem fallen einige, idiomatisch zu verstehende AdjektivSubstantiv-Verbindungen darunter, so: „das stärkste Eisen im Feuer“, „erste Bürgerpflicht“, „in ernster Stunde“ (FZ, 14.07.1931). Der Text
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besitzt ferner ein interessantes stilistisches Profil: Er ist stellenweise ironisch („die Herren Telephoninterpellanten“), macht von Wortspielen Gebrauch („Das Kombinieren und Intrigieren“, „von diesem Gerede und Gefrage“) oder weist ad-hoc-Komposita auf („Vernebelungsparolen“) (FZ, 14.07.1931) – der Text spielt auf der Klaviatur unterschiedlicher Interaktionsmodalitäten. Gerade die zuletzt genannten Stilzüge weisen die räsonierenden Texte aus dem GA nicht auf. Es dominieren stark konnotierte Lexeme, die eine kollektive Identität beschwören, wie „die Schrecken der Inflation“, „unserem nationalen Selbstmord“, „Kräfteverbrauch an der falschen Stelle“, „die rücksichtslose Finanzpolitik“, „durch das Fegefeuer finanzieller Schwierigkeiten“, „den gefahrdrohenden Fremdkörpern“, „den ersten Jahren des Elendsfriedens“ (GA, 14.07.1931). Zwar zeigt sich gegenüber den konsensdeklarativen Texten der Jahre 1871 und 1890 eine Beschränkung der Variantenvielfalt im Aufbau der Nominalphrase, doch ist der Anteil von nur durch ein Adjektivattribut besetzten Vorfeldern wesentlich geringer (37,5 % gegenüber 50,8 %). Obgleich sich in drei Fällen Attributtreppen im Nachfeld (z.B. „das immer lauter werdende Geraune um Zahlungsschwierigkeiten in der Bankwelt“) und in zwei Fällen gestufte Vorfeldbesetzungen zeigen („die aus Sorge vor etwa mangelnder Vertrauenswürdigkeit einkassierten Beiträge“), dominieren einfache Realisierungen. Die räsonierenden Texte zu den Wahlen von 1912 und 1928 zeigen in beiden Zeitungen größere Gemeinsamkeiten. Diese liegen m.E. darin begründet, dass das Kommentieren von Wahlen schon 1912 zu den wiederkehrenden und routinisierten Aufgaben der Journalisten gehört. Zu ihrer Bewältigung ist es möglich, auf Lexeme und feste Wortverbindungen der politischen Kommunikation zurückzugreifen. Auffällig ist 1912 und 1928 die hohe Anzahl von Determinativkomposita wie Mandatsverlust, Oppositionspartei, Regierungskoalition, (große) Wähler- / Arbeitermassen, Stimmenzuwachs, Wahlkompromiß, Stichwahlhilfe, Parteiprogramm, Zentrumssitze oder Linksparteien, die z.T. in Konkurrenz zu freien Formulierungen stehen. Die Anzahl steigt von 1912 bis 1928 von einem Anteil von 9,6 % auf 13,5 %.17 Daneben finden sich charakteristische, z.T. von Phraseologismen abgeleitete Lexeme wie Schiffbruch, Splitterpartei oder Bergrutsch. Zudem ist der hohe Anteil von Kollokationen / Phraseologismen auffällig: „eine schwere Niederlage der bisherigen Regierung der Rechten“, “politische Konsequen_____________ 17
Andere, für die heutige politische Kommunikation charakteristische Lexeme hingegen erscheinen noch nicht: „bei der starken Bindung zwischen den Parteien und ihren Wählern“ statt Parteienbindung, „die von den Deutschnationalen abströmenden Wählermassen“ statt Wählerströme, „die Verteilung der Gewichte“ statt Gewichtsverteilung oder „die beiden radikalen Extreme rechts und links“ statt Links-/Rechtsextreme (alle Belege aus: FZ, 21.05. 1928).
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zen“, „die politische Konsequenz aus den gestrigen Wahlen“, “das praktisch Mögliche“, ,,unter dem Motto ‚Poincare‘“, „einen Sieg des dogmatischen Sozialismus“, „in geschlossener Phalanx“, „ausschlaggebender Faktor“ (alle Belege aus FZ, 21.05.1928). Bei der Kommentierung der Wahl von 1928 in der FZ und im GZ ist jeweils gerade mal ein Beleg vorhanden, der relativ komplex ist: „Insbesondere die nicht interessenpolitisch, sondern geistig-politisch eingestellten Massen der jungen Wähler und Wählerinnen“ (FZ, 21.05.1928) und „Die Zeit der überlaufenen Volksversammlungen, die leider allzu oft auf das persönliche zugespitzten Dialoge von Parteigrößen jeglichen Formats“ (GA, 22.05. 1928). Wenn man von vereinzelten Beispielen 1912 absieht, so zeigt sich insgesamt eine große Konstanz. Die Hauptunterschiede zwischen der Wahlberichterstattung von 1912 und 1928 sind die, dass im Nachfeld mehrere Attributsätze miteinander koordiniert werden, was 1928 nur einmal der Fall ist, und dass mittels eines satzförmigen Attributes an ein Genitivattribut angeschlossen wird, vgl. (23) „auf das Konto der zahlreichen ‚Mitläufer‘, die ihr als der radikalsten Partei wegen der allgemeinen Verärgerung, ja, Empörung des deutschen Volkes aus allen Parteien zuströmten“, „angesichts der großen sozialdemokratischen Wahlerfolge, die ihn zur Magd der Sozialdemokratie erniedrigen und die Lösung der nationalen Aufgaben im kommenden Reichstag erschweren“, „die, statt den Damm, den der Liberalismus gegen die ‚rote Flut‘ bildete, zu schirmen, verkündeten, Nationalliberale und Fortschrittler seien bei den Wahlen der Sozialdemokratie gänzlich gleich zu achten und daher ebenfalls auf schärfste zu bekämpfen“ (alle Belege aus GA, 22.05.1912). Ansonsten zeigt sich auch das, was sich schon bei den informierenden Texten als allgemeine Tendenz ausmachen ließ: das durch mehr als ein Attribut erweiterte Partizipialattribut, das gelegentlich auch im Nachfeld auftritt, vgl.: (24) „den vielfach fast mehr gegen links als gegen rechts gerichteten Kampf“, „ohne restlose Unterstützung der ihnen politisch am nächsten stehenden Partei“, „einen einigermaßen klaren Überblick über die durch den ersten Gang der Reichstagswahlen geschaffene Situation“ (alle Belege aus FZ, 21.05.1912), „ein Teil der Schuld an dem für ihn ungünstigen Ausgang der Hauptwahlen“, „sein in nationalen Dingen ebenso unzuverlässiger Anhang“ (alle Belege aus GA. 22.05.1912).
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Außerdem wird deutlich, dass in beiden Jahrgängen kaum wertende Adjektivattribute eingesetzt werden. Wertungen erfolgen zumeist durch Nominalkomposita wie Desperadopolitik oder Wahlkartell. Es zeigen sich folgende Entwicklungstendenzen: 1. Die Gestaltung räsonierender Texte variiert stark. Konsensdeklarative, dem integrativen Sprachspiel angehörende Texte zeigen komplexe Nominalphrasen. Essayistische oder der Glosse nahestehende Texte weisen einen wesentlich geringeren Grad an Komplexität auf. 2. Deutet man den Bankkrach als einschneidendes Ereignis, das im Prinzip auch zur Beschwörung nationaler Identität dienen könnte, könnte man die Tatsache, dass entsprechende Texte nicht erscheinen, vorsichtig als eine Nivellierung von Stiltraditionen deuten. Hier müssten weitere Untersuchungen erfolgen. Deutlich ist hier allerdings, dass die Struktur der Nominalphrasen eher einfach ist. 3. Die Kommentierung der Wahlen unterscheidet sich in beiden Zeitungen wenig. Die Komplexität der Nominalphrasen unterscheidet sich 1912 und 1928 kaum, wenngleich die komplexesten Muster 1912 realisiert werden. Auffällig ist hier wie auch in den Texten von 1931 die Abwendung von wertenden Adjektivattributen.
5. Fazit und Perspektiven Grundsätzlich zeigt sich die Entwicklung, dass sowohl in informierenden als auch räsonierenden Texten Komplexität abgebaut wird. Dabei werden sich die Nominalphrasen auch strukturell ähnlicher. Diese Komplexitätsreduktion betrifft v.a. das Vorfeld, wobei sich allerdings auch im Nachfeld Präferenzen ausbilden. Zu den Mustern, die spätestens in den 20er- Jahren nicht mehr realisiert werden, gehören bspw. komplexe, mehrfach gestufte Vorfeldbesetzungen oder längere subordinierte Attributtreppen im Nachfeld. Im Vorfeld entfällt v.a. die asyndetische, syndetische oder sogar polysyndetische Reihung von Adjektivattributen. Zurückgedrängt werden erweiterte Partizipialattribute, besonders im Vorfeld, jedoch auch im Nachfeld. Die Kombination von Vor- und Nachfeldbesetzung, sofern überhaupt noch vorhanden, reduziert sich auf das Muster ‚vorangestelltes, stellenweise erweitertes Adjektivattribut und nachgestelltes Genitiv- oder Präpositionalattribut‘. Attributsätze tauchen fast ausschließlich im Anschluss an ein Kernsubstantiv auf. Dass der Anteil komplexer Nominalphrasen rückläufig ist, ist sowohl in informierenden als auch in räsonie-
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renden Texten der Tatsache, dass Redundanz abgebaut wird, zu verdanken. Wenngleich aus jeweils anderen Gründen ist eine weitere Entwicklungstendenz der Abbau wertender oder ornamentativer Adjektivattribute zugunsten von Adjektivattributen, die eine Identifikationshilfe bilden. Es liegt m.E. nahe, die Entwicklungstendenzen auch als eine Entwicklung hin zum modernen Journalismus zu sehen. Viele der Entwicklungstendenzen zeigen sich besonders ausgeprägt in den Jahren 1928 und 1931, woraus zu folgern ist, dass die Zeitspanne von 1918 bis 1933 noch einmal gesondert zu untersuchen wäre – was schon vielfach gefordert, jedoch von sprachmediengeschichtlicher Seite noch eingelöst werden müsste. Für den modernen Journalismus ist bedeutend: die allmähliche Etablierung des Textmusters Nachricht zuungunsten der Textsortenhybride, für die hier prototypisch der Augenzeugenbericht vom Kriegsschauplatz angeführt werden kann; die Verabschiedung von Textmustern, die der Schulrhetorik verpflichtet sind und die Wahl eines Stils mittlerer Formalität. Der Stil mittlerer Formalität zeigt sich schon früh in der Adaption der politischen Essayistik, wofür prototypisch die Kommentierung der FZ zur Reichsgründung steht, er zeigt sich aber auch wohl, wo sich besondere Berichtsroutinen einspielen (z.B. bei der Wahlberichterstattung). Wenngleich immer wieder komplexe Nominalphrasen zu finden sind, zeigt sich hier eine Abwendung von komplexen Nominalphrasen zugunsten von Determinativkomposita, ad-hoc-Komposita, jedoch auch Formen sprachlicher Kreativität – sei es in der Imitation eines saloppen Tonfalls oder in ironischen Formulierungen. Ein sicherlich lohnenswertes Unterfangen wäre es, den Einfluss kultureller Strömungen, z.B. der Neuen Sachlichkeit auf den Journalismus auch aus sprachlicher Perspektive zu untersuchen. Für den Journalismus – grosso modo – scheint mir, beziehe ich auch heutige Entwicklungstendenzen ein,18 eher die sich schon in den 20er-Jahren ergebende Verschiebung von einem komprimierten zu einem stark segmentierten Stil auffällig zu sein. Zugleich dürfte die Untersuchung auch gezeigt haben, dass – neben übergreifenden Tendenzen – auch die (gesellschafts)politische Orientierung eines Blattes nicht unerheblich ist.
_____________ 18
Schuster (2008b, 161f.).
Gibt es eine Zeitungssyntax?
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Quellen Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Ausgaben vom 20., 21., 24, 26. Januar 1871, vom 20., 21. März 1890, vom 13., 15. Januar 1912, vom 10., 11. Januar 1920, vom 21., 22., 23. Mai 1928 und 14., 15., 16. Juli 1931. Gießener Anzeiger. General-Anzeiger für Oberhessen. Ausgaben vom 24., 25., 26. Januar 1871, 20., 21. März 1890, 13., 15. Januar 1912, vom 16., 17. Januar 1920, vom 21., 22. Mai 1928 und 13., 14. Juli 1931.
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Britt-Marie Schuster
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Umfang und Ausbildung der Ganzsätze in den Hermannstädter Ratsprotokollen der Zeit 1556-1562 Dana Janetta Dogaru (Sibiu) ∗
1. Forschungsgegenstand Dass die Sätze in den kanzleisprachlichen Texten aus der frühen Neuzeit einen beträchtlichen Umfang und eine tiefgestaffelte Struktur haben, ist ein allgemein bekannter Topos in der syntaktischen Beschreibung frühneuhochdeutscher Texte aus dem binnendeutschen Sprachraum. Erinnert sei hier nur an das „Ungetüm“ mit 44 hypo- und parataktisch verknüpften Sätzen und einer Abhängigkeit der Gliedsätze bis zum 15. Grad aus dem Schreiben des Erzbischofs Werner von Trier und des Kurfürsten Ludwig III. von der Pfalz an den Bürgermeister und Rat von Frankfurt aus dem Jahre 1411.1 Die Frage, die sich einem Sprachwissenschaftler aus Siebenbürgen stellt, ist, ob sich dieses prägende syntaktische Kennzeichen frühneuhochdeutscher Urkunden auch in zeitgleichen Amtstexten aus der geografisch zwar entfernten, politisch und wirtschaftlich aber in engem Kontakt zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet stehenden Sprachinsel findet. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es darzulegen, welchen Aufbau grammatisch und inhaltlich fertige Sätze in den siebenbürgischen Urkunden des 16. Jahrhunderts haben. Im Einzelnen sind mithin 1. der Umfang der Elementarsätze, d.h. die Anzahl der Satzglieder und die Anzahl sie konstituierender Wörter, 2. die Anzahl der Elementarsätze in einem grammatisch und inhaltlich geschlossenen Ganzsatz und 3. die Verknüpfungsstrategien der Elementarsätze zu einem Ganzsatz, d.h. die hierarchischen Verhältnisse in den Ganzsätzen zu beleuchten. _____________ ∗ 1
Die Recherchen zu meinen Archivstudien wurden dankenswerterweise von der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gefördert. Vgl. Admoni (1980, 44ff.); Admoni (1972, 245) gibt 45 Sätze an.
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Dana Janetta Dogaru
Terminologisch wird als Elementarsatz in Anlehnung an W. Admoni die Satzeinheit bezeichnet, die strukturell die Merkmale eines selbständigen Satzes aufweist, ohne dass aber ihre strukturelle Abgeschlossenheit oder ihre Rolle im Textfluss berücksichtigt wird. Dem Elementarsatz steht der Ganzsatz gegenüber, der „gerade durch die strukturelle Abgeschlossenheit gekennzeichnet wird“.2 Ein Elementarsatz ist also der inhaltlich und grammatisch selbständige Aussagesatz (der zugleich in diesem Fall auch Ganzsatz ist), der Hauptsatz, dem ein oder mehrere Elementarsätze untergeordnet sind, aber keiner übergeordnet ist, und der Gliedsatz, der die Kennzeichen grammatischer Abhängigkeit aufweist. Als Ganzsatz fungieren außer dem Aussagesatz die Satzverbindung (= die Reihung von Aussagesätzen), das Satzgefüge (= Hypotaxe von Hauptsatz und einem oder mehreren Gliedsätzen) und die Gefügereihe (= Kombination von Satzgefügen).3
2. Vorgehensweise Für die Analyse wurde das Corpus fortlaufend elektronisch erfasst, auf der Satzebene analysiert und mit grammatisch kodifizierten Kürzeln versehen.4 Mithilfe eines Computerprogramms wurden im nächsten Schritt Sortierungen nach den Parametern der Fragestellung vorgenommen: die Auslese der Elementarsätze, der Ganzsätze, letztere als Aussagesätze, Satzverbindungen, Satzgefüge und Gefügereihen unterschieden, und der Parataxen auf der Hauptsatz- und Gliedsatzebene. Die Gliedsätze wurden hinsichtlich ihrer Funktion, des Abhängigkeitsgrades und ihrer Stellung gegenüber dem übergeordneten Elementarsatz ausgewertet. Die rasche Bündelung der Ergebnisse ist nicht nur arbeitsökonomisch von Vorteil – denn nach der syntaktischen Kodierung sind beliebig unterschiedliche Sortierungen möglich –, sondern auch die quantitative Erfassung des Materials ist rechnerisch als zuverlässig zu bewerten, wenn auch Fehler beim Zählen nicht gänzlich ausgeschlossen werden können.5
_____________ 2 3 4 5
Admoni (1982, 255). Vgl. Dogaru (2006, 97f.). Die Vorgehensweise geht auf Rössing-Hager (1972, 276ff.) zurück. Zum rechnerunterstützten Analyseverfahren vgl. Dogaru (2006, 29ff.).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
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3. Das Corpus Das Corpus der vorliegenden Untersuchung bilden 31 vom königlichen Notar in der Zeit von 1556 bis 1562 verfasste Sitzungsprotokolle des Hermannstädter Magistrats in einem Umfang von 44 eng beschriebenen Seiten, die im Manuskript die Seiten 359 bis 414 umfassen.6 Der in gepresstes braunes, mit Verzierungen gestanztes Leder gebundene Band Prothocollon Prouinciae Saxon[um] Necnon Ciuitatis Cibinie[nsis] Sub Anno Dommini 1522 feliciter ceptum et congestum (im Folgenden als MagProt bezeichnet) umfasst 446 beschriebene (und 61 unbeschriebene) Seiten. Die Wahl der genannten Zeitspanne ergibt sich aus zwei Gründen: Zum einen erfolgen erst ab dem Jahr 1556 Eintragungen vermehrt in deutscher Sprache,7 zum anderen stammen alle Protokolle dieser Zeit von einem und demselben Notar, Joannes Rhyssus, was somit eine einheitliche Sprachverwendung gewährleistet. Aufgrund der vorzufindenden Korrekturen durch Hinzufügen oder Durchstreichen von Wörtern8 ist davon auszugehen, dass Rhyssus die Protokolle im Nachhinein anhand von während der Sitzungen angefertigten Vorlagen im Protokollbuch niedergeschrieben hat; es handelt sich mithin um reflektierte Schriftlichkeit.9 Dokumentiert werden Übertragungen von Immobilien und Kaufgeschäfte über solche, die nur mit Wissen und Einwilligung des Hermannstädter Magistrats erfolgen durften – vermutlich aus der Gefahr einer Übergabe an Fremde, d.h. an solche, die nicht Siebenbürger Sachsen waren, heraus und als Gewähr dafür, dass die Minderjährigen nicht um ihr Erbe betrogen werden oder die Eltern nicht in eine sie benachteiligende Lage geraten.10 Akten des Hermannstädter Stadt- und Stuhl-Magistrats sind erst aus dem Jahr 1701 erhalten, können also nicht Untersuchungsgegenstand für die frühneuhochdeutsche Sprachepoche sein.11
_____________ 6
7 8 9 10 11
Es handelt sich um erste Untersuchungen zur syntaktischen Gestaltung siebenbürgischer Amtstexte. Außer den Produktionen der Hermannstädter Magistratskanzlei müssten (zumindest) die Dokumente aus der zweiten großen siebenbürgischen Kanzlei Kronstadt (rum. Braşov) gesichtet werden. Zum Corpus der Hermannstädter Ratsprotokolle liegen zwei Syntax-Studien vor: eine Untersuchung zum Verbalkomplex (vgl. Dogaru 2006-2007) und eine zum Repertoire der Gliedsätze (vgl. Dogaru 2009). Ab 1521, dem Jahr, aus dem die ersten Protokolle stammen, bis 1556 werden die Sitzungsprotokolle auf Latein niedergeschrieben. An einer Stelle (MagProt, 413) wird sogar ein ganzer Teilsatz am Seitenrand ergänzt. Hierzu Dogaru (2009, 72). Zum Inhalt der einzelnen Protokolle vgl. Duzinchevici / Buta / Gündisch (1958). Vgl. hierzu ebd., 5; Zimmermann (1901, 73ff.).
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4. Umfang der Elementarsätze Die Länge eines Elementarsatzes geht in den untersuchten Hermannstädter Ratsprotokollen mit seinem textfunktionalen Status und inhaltlichen Gehalt einher. Zudem scheinen die stereotypen Formulierungen gewisse zeitgebundene Merkmale aufzuweisen. So benennt der formelhafte Einleitesatz in den Protokollen der ersten beiden Jahre und gegen Ende der Untersuchungszeit in durchschnittlich elf Wörtern die Amtspersonen und die Sprechhandlung und enthält den Verweis auf das vorliegende Schriftstück. Das Subjekt ist eine pronominale Wortgruppe mit dem Personalpronomen der 1. Person Plural als Kern, dem appositiv eine Substantivkoordination, die Aufzählung der richtenden Personen mit Angabe ihres Amtssitzes enthaltend, zugeordnet ist. Als Prädikat fungiert das dreiteilige Funktionsverbgefüge mit performativer Funktion thun zu kundt, der Verweis erfolgt mit dem amtssprachlichen deiktischen Adverb hie mit / hirmit: (1)
Mir BurgerMeyster, Richter vnd Ratth in der Stadt hermanstatt thun zu kundt hiemitt (MagProt, 376).
In den restlichen Protokollen erscheint der erste Elementarsatz kürzer, indem das Subjekt auf das Personalpronomen allein beschränkt wird. Das prädikative Funktionsverbgefüge bleibt erhalten, nur gelegentlich wird der nominale Teil um ein synonymes Substantiv erweitert:12 (2)
Mir thuen hiemit zu wissen vnd zu kundt (MagProt, 394).
Die Angabe der Streitparteien erfolgt je nach Ausführlichkeit der Personalangaben – neben dem Eigennamen stehen Familienstand und Verwandtschaftsbeziehungen – in bis zu 60 Wörtern, die Angabe der Anklage meist nur durch das entsprechende Sprechaktverb, auch dieses wie die performativen Funktionsverbgefüge oft als Paarformel realisiert: (3)
vnd haben vns fürgebracht vnd angeczeigt (MagProt, 378).
Der vorgetragene Sachverhalt wird in Elementarsätzen mit einer Durchschnittslänge von zwölf Wörtern, in der Regel verteilt auf drei Satzglieder, wiedergegeben: (4)
wie das sein gemelter Styepf vatter Jacab Kerner, das zweteill […]13 gancz vnd garr volkömlich außgegeben vnd ausgerichtet hett (MagProt, 373).
_____________ 12 13
Er wird in einem solchen Fall also zu einer Paarformel ausgebaut. S. dazu auch weiter unten. Häufig werden die Elementarsätze durch Attributsätze erweitert, s. hierzu Absatz 5.3.4.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
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Der formelhafte Abschlusssatz mit der amtlichen Beglaubigung des Schriftstücks enthält im Durchschnitt 15 Wörter: (5)
des zu vrkundt, hierin in das Stattbuch haben wollen lassen einschreiben. Jm Jar vnd tag, wie oben (MagProt, 370).
Der Umfang eines Elementarsatzes wird sehr häufig durch Parataxe vergrößert: Auf der Wortebene werden Simplizia aller Wortarten nach kanzleisprachlichem Usus zu Paarformeln und Mehrgliedrigkeiten erweitert.14 Die Glieder stehen in gedanklich-logischer Beziehung zueinander, so dass die formale Erweiterung mit inhaltlicher einhergeht: habenn vns […] fürgetragen vnd angezeigt (414), haben vns gebetten vnd angelanget (MagProt, 373), oder aber sie sollen durch die „künstliche“ Erweiterung den Inhalt nachhaltiger zum Ausdruck bringen:15 bestendig vnd bey krepften bleiben (MagProt, 360), [der teill Pryepf … durch die Brunst] verbrent vnd vmbkomen ist (MagProt, 360), zu einem ewigen vnd stetten kauff (MagProt, 370), in beywesen vnd kegenwert (MagProt, 390). Die rhetorische Kraft der Zweigliedrigkeit wird zuweilen durch Alliteration verstärkt: mitt willen vnd wissen (MagProt, 359), verhörtt vnd vernomen [hatten] (MagProt, 369), [auff seine fleissige] bitte vnd begehr (MagProt, 376). Auf der Satzebene erfolgt die Umfangserweiterung eines Elementarsatzes durch die sprachökonomisch begründete Anfügung neuer Satzglieder an einen bestehenden Satzteil (Teilsatzbildung).16 Bei den 162 Aussage- und Hauptsätzen hat die Teilsatzbildung einen Anteil von gut einem Viertel (27,7 %), bei den Gliedsätzen ist diese Art der Satzerweiterung weniger ausgebaut – vermutlich um die parataktische Inbezugsetzung bei gleichzeitiger Hypotaxe nicht zu gefährden. Von den insgesamt 534 Gliedsätzen weisen 94 (17,6 %) Teilsatzbildung auf. Die Tiefenstaffelung hat einen „negativen“ Einfluss auf die Teilsatzbildung, denn schon in Gliedsätzen dritten Abhängigkeitsgrades werden nur noch in Einzelfällen Satzgliedgruppen über in der Oberflächenstruktur einmal gesetzte gemeinsame Elemente verbunden. Tabelle 1 veranschaulicht die quantitativen Verhältnisse der Gliedsatzausbildung mit Teilsätzen und ohne solche nach Abhängigkeitsgrad:
_____________ 14 15
16
Zur Struktur und Funktion der Paarformeln vgl. z.B. Schmidt-Wiegand (1984, Sp. 13871393) u. Schmidt-Wiegand (1991, 283-299). Haage (1974, 29) stellt für die offizielle, gehobene Sprachebene von der Mitte des 14. bis Mitte des 17. Jahrhunderts fest: „Nicht die inhaltliche Seite der synonymen Wiederholung, sondern ihre formal-rhetorische steht im Vordergrund: das ‚Schmücken‘ der Rede mit dem mehrgliedrigen Ausdruck“. Zum Wesen der Teilsätze vgl. z.B. Dogaru (2006, 377f.).
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Abhängigkeitsgrad
Gliedsätze mit Teilsatzbildung
„einfache“ Gliedsätze
g117 g2 g3 g4 g5 g6 Gesamt: 534
195 136 78 28 2 1 440
66 21 5 1 1 94
Tabelle 1: Anzahl der „einfachen“ Gliedsätze und jener mit Teilsätzen nach Abhängigkeitsgrad
Die Anzahl der zusammengehörenden Teilsätze beläuft sich sowohl in den Aussage- / Hauptsätzen als auch in den Gliedsätzen in der Regel auf zwei. Es findet sich allerdings auch ein nennenswerter Anteil dreigliedriger Mehrfachsetzungen, vier und mehr Teilsätze sind dann Ausnahmen, wie der Tabelle 2 für die Aussage- / Hauptsätze und der Tabelle 3 für die Gliedsätze zu entnehmen ist: t1+t2 t1+t2+t3 t1+t2+t3+t4 t1+t2+t3+t4+t5+t6
33 10 1 1
Tabelle 2: Anzahl der zusammengehörenden Teilsätze in Aussage- / Hauptsätzen
g1
g2 g3 g4 g5
t1+t2 t1+t2+t3 t1+t2+t3+t4 t1+t2+t3+t4+t5+t6 t1+t2 t1+t2+t3 t1+t2+t3+t4 t1+t2 t1+t2+t3 t1+t2+t3 t1+t2
Tabelle 3: Anzahl der zusammengehörenden Teilsätze in Gliedsätzen
_____________ 17
Zur Auflösung der Kodierungen s. Abkürzungsverzeichnis.
48 12 4 2 13 6 2 4 1 1 1
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5. Umfang der Ganzsätze 5.1. Ausbildung der Ganzsätze Die Ausbildung der Ganzsätze erfolgt in den Sitzungsprotokollen in 135 Fällen in Form von Satzgefügen bzw. Satzgefüge-Reihen und nur in 27 Fällen als einfache Aussagesätze, womit die Hypotaxe deutlich als prägendes Mittel der Satzverknüpfung bewertet werden kann.18 Hierbei ist anzumerken, dass zu den Aussagesätzen auch die formelhaften Abschlusssätze mit der Infinitivgruppe des zu vrkundt gezählt werden, die, genau genommen, ebenfalls in einem hypotaktischen Verhältnis mit dem Restsatz stehen: (6)
Dieses zu vrkundet Krapft vnd Macht, haben Mirs hierein Jns Stadbuch lassen Einschreiben. Am 17. tag Julij Jns Jar Nach Christi geburtt 1556. (MagProt, 360).
Anzahl der Gliedsätze pro Satzgefüge h+ 1g h+ 2g h+ 3g h+ 4g h+ 5g h+ 6g h+ 7g h+ 8g h+ 9g h + 10 g h + 11 g h + 12 g h + 14 g h + 16 g 3g
Anzahl der Satzgefüge 34 20 21 14 13 9 6 4 5 1 2 2 2 1 1
Tabelle 4: Häufigkeitsvorkommen der Satzgefüge nach der Anzahl der Gliedsätze
Die 135 Satzgefüge und Gefügereihen haben insgesamt 534 Gliedsätze, die sich unmittelbar bzw. mittelbar auf die Hauptsätze wie in Tabelle 4 dargestellt verteilen. _____________ 18
Zum überdurchschnittlichen Anteil der Hypotaxe in Kanzleitexten vgl. neben den erwähnten Untersuchungen von Admoni (1980) auch Brooks (2006, 22ff.).
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Nicht nur die Anzahl der Satzgefüge gegenüber der Zahl einfacher Aussagesätze ist also hoch, auch die Anzahl von Satzgefügen mit mehreren Gliedsätzen pro Hauptsatz ist signifikant, wenn auch die Hauptsätze mit nur einem einzigen Gliedsatz quantitativ führend sind. Die Hypotaxe als Bauprinzip der Ganzsätze in den Hermannstädter Sitzungsprotokollen spiegelt sich zudem auch qualitativ in der hierarchischen Verknüpfung der Elementarsätze, wie nachfolgend zu sehen sein wird. 5.2. Tiefenstaffelung der Satzgefüge Die relativ große Anzahl der Gliedsätze pro Satzgefüge geht einerseits mit einer tief reichenden Staffelung und andererseits mit der zwei- und mehrgliedrigen parataktischen Anordnung der Gliedsätze und der Unterordnung zweier funktional unterschiedlicher Gliedsätze unter einen einzigen Regenzsatz einher. Obgleich einer der Gliedsätze im letzten Fall in der Regel ein Attributsatz ist, zeigt sich eben in dieser Fähigkeit eines Satzes, zwei Unterordnungen zugleich zu tragen, die Festigkeit der Hypotaxe als Strukturmittel des Satzbaus.19 Die Gliedsätze ersten Grades überwiegen zwar (s. Tabelle 5), diejenigen zweiten, dritten Grades und gar vierten Grades haben aber ebenfalls einen bemerkenswerten Anteil an der hypotaktischen Satzbildung: Abhängigkeitsgrad Anzahl der Gliedsätze
g1 261
g2 157
g3 83
g4 29
g5 3
g6 1
Tabelle 5: Tiefenstaffelung der Satzgefüge
Die große Anzahl der tiefer gestaffelten Gliedsätze, gemeint sind solche dritten und höheren Grades, geht vor allem auf die Verwendung von Attributsätzen, häufig sprachökonomisch als Partizipialkonstruktion realisiert,20 zurück (s. Tabelle 6).
_____________ 19 20
Es bleibt zu prüfen, ob die Hypotaxe auch beim Wortgruppenbau mit gleicher Wirksamkeit zum Tragen kommt. Die Partizipialkonstruktionen kommen in einem Prozentsatz von 20,1 der Attributsätze vor (vgl. die absoluten Zahlen bei Dogaru 2009, Tabelle 1).
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Abhängigkeitsgrad g3 g4 g5 g6
Gliedsatzfunktion Attributsätze Restliche Gliedsätze Attributsätze Restliche Gliedsätze Attributsatz Kausalsatz Attributsatz
Anzahl 49 34 9 20 2 1 1
Tabelle 6: Frequenz der tiefer gestaffelten Gliedsätze nach Funktion
Die Attributsätze werden meist an das Bezugswort unmittelbar angeschlossen; dies deutet auf eine Konstruktionsweise hin, bei der semantisch Zusammengehörendem der Vorzug gegenüber syntaktischer Kohäsion gegeben wird.21 Noch sichtbarer wird die Relevanz der Tiefenstaffelung als Bauprinzip der Ganzsätze in den Sitzungsprotokollen des Hermannstädter Magistrats, wenn man sie mit der der Satzgefüge in zeitgleichen Predigten22 vergleicht: Abhängigkeitsgrad Anzahl der Gliedsätze
g1 1130
g2 405
g3 95
g4 14
g5 10
g6 2
Tabelle 7: Tiefenstaffelung der Satzgefüge in zeitgleichen siebenbürgischen Predigten
Die Gliedsatzreihen sind in der Regel zweigliedrig, so dass die Anreihung der Informationen das zeitgleiche Unterordnen auf mehreren Stufen nicht außerordentlich zusätzlich belastet. Die koordinierten Gliedsätze werden aber nicht selten durch Teilsatzbildung weiter ausgebaut, was dann doch zu sehr umfangreichen Satzgebilden führen kann (s. die nachfolgenden Belege). 5.3. Struktur der Satzgefüge Zunächst einige Begriffsbestimmungen zu den Strukturausprägungen der Satzgefüge: Steht der Hauptsatz am Anfang und folgen ihm alle Gliedsätze, nach dem Abhängigkeitsgrad geordnet, wird das Satzgefüge als fallend bezeichnet. Gehen alle Gliedsätze dem Hauptsatz voran, wird es steigend _____________ 21 22
Hierzu Absatz 5.3.4. Es handelt sich um die Predigten in deutscher Sprache des siebenbürgisch-sächsischen Pfarrers Damasus Dürr; vgl. Dogaru (2006, 301).
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genannt. Die Kombination der beiden Typen ergibt das steigend-fallende Satzgefüge. Neben dieser kontinuierlichen abhängigkeitskonformen Anordnung kann ein Gliedsatz in den übergeordneten Elementarsatz eingebettet bzw. ihm vorausgestellt werden. Es entsteht eine sog. Neststruktur bzw. eine abhängigkeitswidrige Diskontinuität.23 Die Komposition der Satzgefüge schließt sich in den Sitzungsprotokollen weitgehend dem Inhalt an (wie auch der Umfang der Elementarsätze), so dass sich die kompositionellen Typen in allen Protokollen in – mehr oder weniger – gleicher Abfolge finden. Sie erscheinen selbstverständlich nur selten in dem dargestellten reinen Zustand, vielmehr zeichnen sich die Satzgefüge durch eine inhaltsbedingte Vermengung der Kompositionstypen aus, wobei eine allgemeine Erscheinung die Bildung von Neststrukturen ist. 5.3.1. Fallende Satzgefüge Fallende Satzgefüge machen in den Ratsprotokollen den größten Teil der Kompositionstypen aus. Eine rein kontinuierliche Anordnung der Elementarsätze gemäß ihrem Abhängigkeitsgrad, so dass eine gedankliche Einheit sich sukzessive entfaltet, findet sich allerdings nur selten, die Gliedsätze werden sehr häufig von präzisierenden Unterordnungen durchbrochen.24 Die fallenden Satzgefüge stehen oft zu Beginn der Sitzungsprotokolle. An den Hauptsatz mit dem performativen Funktionsverbgefüge knüpft ein Objektsatz mit einem weiteren verbum dicendi, einem der Mitteilung bzw. des Anklagens, an, an das sich wieder ein Objektsatz anschließt, dem verschiedenartige Gliedsätze folgen können und der in der Regel als Neststruktur für einen Attributsatz fungiert: (7)
h>
Myr BurgerMeyster, Richter vnd Radtgeshuorne Burger in der Hermanstadt thuen hie mit zu kundt, g1.k.o4.t1.a+> wie das die Erbare Menner vnd pfrommen, als nemlich, herr Caspar Gusth, Sigmvndt Valdörpfer, Thomas Waldöpfer […], Item Anna des peter gusth seine tochter, g2.mr.xt welchs sein Tutor ist thomas Waldörpfer, g1.k.o4.1.e Alle vnsere mitburger, des Erbarn frantz Waldörpfer seliger, seine brüder gefreundt, Schuäger, vnd
_____________ 23 24
Zur Terminologie vgl. Dogaru (2006, 302f. und 322f.). Zu den Neststrukturen vgl. Kap. 5.3.4.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
699
Schuestern, für vns in vnserm Sitzenden Radt persönlich ershienen sind, Haben vns fürgetragen vnd angezeigt, wie Jr verstorben Bruder gemelter frantz Waldörpfer, von aller seiner hab vnd gutt, ßo im Gott aupf diesem Erdbodem verlyhen, Ein testament hett gethan, Darbey ir keiner nit geuesen, Noch darzu gerupfen wer worden, wer auch eins theils wider gemeine ordnung der Testament gestipft, welchs halben sie eine zeitlang wider einander geuesen vnd getheydiget hetten (MagProt, 401).
g1.k.o4.t2> g2.k.o4.a> g3.cr.xt.el g2.k.o4.e> g3.cmr.xt.t1+ g3.cmr.xt.t2 g3.cmr.xt.t3> g4.dr.w/as
5.3.2. Steigende Satzgefüge Die Stellung aller Gliedsätze vor den Hauptsatz spielt in den Sitzungsprotokollen keine große Rolle in der Verknüpfung der Elementarsätze; steigende Satzgefüge machen den kleinsten Anteil der Satzgefüge aus. Das Vorfeld des Hauptsatzes wird mit maximal drei verschiedenen Gliedsätzen besetzt, die aber durch Reihung – sowohl mit gemeinsamen Elementen als auch ohne solche – gut ausgebaut sein können. Der Satzgefüge eröffnende Gliedsatz, der als Protasis einen Spannungsbogen zum Hauptsatz, der Apodosis, baut, ist in fast allen Fällen ein Temporalsatz, d.h. ein Gliedsatz mit allgemeiner Tendenz zur Voranstellung:25 (8)
g1,1.k.at g1,2.k0.at.a g2.k.o4.el> g3.cr.am.el g1,2.k0.at.e g1,3.k0.at
Nach dem Myr obgemelten Erasmi Schneiders sein anbringen vnd erynnerung, verhörtt vnd vernomen hatten, vnd vns dasselbig, das es also, wie es hie erczellt vnd gesagt, Noch im gutten Synn vnd gedechtnüs hetten, vnd auch vormals durch ein recht in der massen bescheyden sindt worden,
_____________ 25
Zur Voranstellung der Temporalsätze vgl. z.B. Behaghel (1932, 260-264). Zu Protasis und Apodosis vgl. Lausberg (1984, 146f.); in Bezug auf Luther bei Rössing-Hager (1972, 253f.) und Rössing-Hager (1984, 82f.).
700
Dana Janetta Dogaru
h<<<
So haben mirs durch genanten Erasmi Bitt vnd begehr, in seiner Schuester son gemelter lang Jörgen kegenwertt, zu stetten gedechtnüs in das Stattbuch lassen einschreiben, Jm Jar vnd tag, wie oben (MagProt, 369).
5.3.3. Steigend-fallende Satzgefüge Die Weiterführung des steigenden Satzgefüges durch den Anschluss von Gliedsätzen an den Hauptsatz im Nachfeld geht in den Protokollen meist auf die Valenz des Hauptsatzverbs zurück, seltener auf dessen strukturellsemantische Freiheit, eine beliebig große Anzahl fakultativer Gliedsätze anzuschließen. Der Protasis-Satz ist meist ein Kausalsatz. Der Spannungsbogen wird dann durch den – aufgrund der Valenz des Hauptsatzverbs – syntaktisch obligatorischen Gliedsatz im Nachfeld des Hauptsatzes geschlossen, der damit die Funktion der Apodosis übernimmt, während der Hauptsatz aufgrund seiner syntaktischen und inhaltlichen Unvollkommenheit „nur“ als Stützpfeiler zwischen den beiden Spannung schaffenden Elementen fungiert: (9)
g1.k.ac.t1.a> g2.cr.am.el g1.k.ac.t1.e+ g1.k.ac.t2> g2.k.o4>>> g3,1.cr.am.el g3,2.k.am>> g4,1.k.o4 g4,2.k.o4 g3,3.k0.am g1.k.ac.t3 h.t1+< h.t2< h.t3< >>
Nach dem mir solchs wie gemelt, vernommen hetten, vnd, auch die obgenanten fursichtige weyße herrn h: Christopf Lyst vnd h: Thomam Bomelium bekentnüs verstanden, Das es sich nemlich in der massen ßo zugetragen hett, wie gemelt, das der Albert Schneyder dreymall befraget wer worden, ob er irchein Einredt darumb het, vnd ob er dem vrbano goldshmidt gemeltes hauß zur besitzung aupf sein theill lassen wolt, vnd er allueg Ja gesprochen vnd vber dis bekentnus vnd Ja sprechen, Die vorbestympte herren, darnach den Baw besichtiget vnd verrechnet, Darumb ßo haben Mir auch zu recht erkant, vnd vrteils weyß darzu geredt, vndt darüber ein vrteill gefellet,
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
g1,1.k.xt> g2.cr.am.t1 g2.cr.am.t2+ g1,2.k.xt> g2.cmr.w.t1+ g2.cmr.w.t2.el>> g3,1.cmr.w.el g3,2.cmr0.w
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Das es der Albert Schneider auch hinfort darbey soll lassen, wie er dasselbs geredt vnd darbey gelassen hat, vnd das der vrbanus goldschmid das obgemeltes hauß für sein eigen Erbtheill vnbekömert besiczen vnd gebrauchen soll, darbey es der Albertt Schmid auch hat gelassen, vnd Mir hiemit den obgenanten vrbanus quitt vnd frey gesprochen, daruber er die schöndt erlegt, vnd mir aupf sein bittlich anlangen solchs ins Stadbuch haben einlassen shreiben. (MagProt, 394f.).
Der Gebrauch von Zuordnungsmarkern wie im obigen Beleg ist selten: Gleich im zweiten Teilsatz des Kausalsatzes g1.k.ac.t2 verweist nach der koordinierenden Konjunktion und das Adverb auch wiederholt auf seine Zugehörigkeit zum vorausgehenden Elementarsatz zurück. Im nachfolgenden Objektsatz, selbst metasprachlich durch bekentnüs angekündigt, deutet das kataphorische Korrelat in der massen ßo auf zu erwartende (hier gereihte) Modalsätze, also auf das deiktische wie gemelt und auf die (eigentliche) Vorgehensweise, hin. Das verbum dicendi dort ermöglicht den Anschluss der folgenden Objektsatzreihe nahtlos – die Reihung der (obgleich unmittelbar nebeneinander stehenden) Objektsätze g4,1.ko4 und g4,2.k.o4 ist wiederum nicht allein mittels der koordinierenden Konjunktion vnd, sondern auch mittels Wiederaufnahme des Initialwortes signalisiert. Der dritte gereihte Modalsatz g3,3.k0.am ist zwar durch das koordinierende vnd als Koordination markiert, aber erst das maskuline Personalpronomen er und die logische Abfolge von Frage und Antwort machen seine Zuordnung klar, zumal das ausgesparte Finitum zum Anakoluth führt. Die Zuordnung als g3,3.k0.am stützt auch die koordinierte Wiederaufnahme durch Repetition dis bekentnus vnd Ja im dritten Teilsatz des Kausalsatzes. Nach der Viererstufung und der mehrfachen Reihung bzw. der Teilsatzbildung der vorangestellten Gliedsätze stellt das doppelte Korrelat darumb ßo im Hauptsatz h nun den Bezug zum weit zurückliegenden ersten Teilsatz des Kausalsatzes g1.k.ac.t1 her. Die Vorgehensweise der syndetischen Koordination und Wiederholung des Initialwortes findet sich dann wieder bei der Reihung der (durch den Modalsatz g2.cr.am getrennt stehenden)
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Attributsätze.26 Die abhängigkeitskonforme Abfolge der Gliedsätze und das Beisammenstehen der Teilsätze machen bei den nun folgenden Gliedsätzen keine weiteren Signalisierungen nötig. Im zweiten Fall hingegen – also beim Beschließen des Satzgefüges mit grammatisch fakultativen Gliedsätzen – behält der Hauptsatz die strukturelle Stützfunktion des hypotaktischen Gebildes (wie in steigenden Satzgefügen), das Satzgefüge büßt aber dabei seine strukturelle und semantische Geschlossenheit ein: (10) g1.k.ac.t1.a+> g2.cr.xt.el g1.k.ac.t1.e g1.k0.ac.t2 h< >> g1.k.ac g1.mr.xt
Nach dem sie aber nu etliche Jarr her Jres gelts, so aupf dem Haus gestanden, entperen, vnd das Haus dem Jungsten Kindt, der Anna nemlich, als die zur besitzung des nehst, nachgehalten hetten. Nu aber zu letzten, hetten sie das Haus, aus befehl eines Ersamen weysen Radt, widervmb aupf ein neues schetzen lassen (Nach dem eins theils Jnnen das Haus zu wolfeill, eins theils, aber zu theur zu sein gedeucht hat) welchs vmb R 250 geschetzt wer wordenn (MagProt, 411).
5.3.4. Neststrukturen Wie bereits erwähnt, ist in den Sitzungsprotokollen des Hermannstädter Magistrats die Durchbrechung eines Elementarsatzes infolge der Einbettung eines ihm untergeordneten Satzes ein wichtiges Satzbauprinzip, mit anderen Worten die Bildung von Neststrukturen. Sowohl Hauptsätze als auch Gliedsätze können als Neststrukturen fungieren; Attributsätze stellen erwartungsgemäß den größten Anteil, aber auch Objekt- und Adverbialsätze finden sich in die Satzstruktur des übergeordneten Elementarsatzes eingefügt. Die Einbettung erfolgt zum einen nach dem ersten Satzglied des Hauptsatzes, also dort, wo das Satzfeld zwischen dem satzeröffnenden Satzglied und dem durch den Spannungsbogen des verbal-prädikativen Rahmens zusammengehaltenen Restsatz gespalten wird, so dass eine nur geringe zusätzliche Spannung im Satz verursacht wird: _____________ 26
Es handelt sich selbstverständlich lediglich formal um Attributsätze, semantisch sind es Inhaltssätze zum metakommunikativen Funktionsverbgefüge ein vrteill gefellet; vgl. auch Dogaru (2009, 83f.).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
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(11) h.a> Aber die schulden seines Sons, g1.mr.xt die er selbs einbekent Nach laut vnd inhalt des shuld pryepf, h.e soll er zalen (MagProt, 385). Zum anderen kann die Einbettung im Satzrahmen erfolgen, womit ein großer Spannungsbogen entsteht: Nachstehendes Beispiel zeigt außergewöhnliche Ausmaße einer Neststruktur, belegt aber dadurch die mögliche strukturelle Fähigkeit der Sätze. Zwischen den beiden Teilen des Objektsatzes zweiten Grades, g2.k.o4.a und g2.k.o4.e, stehen zwei funktional unterschiedliche untergeordnete Sätze, ein Attribut- (xt) und ein Temporalsatz (at), wobei der Temporalsatz seinerseits zweimal (!) durchbrochen ist. Die Herstellung von Zuordnungsbeziehungen auf zwei hierarchischen Ebenen in der doppelten Neststruktur wird zudem durch die parataktische Beziehung der unterschiedlich ausgebildeten Glieder der Attributsatzreihe g4,1.vp.xt und g4,2.cr.xt belastet. Die Fortführung der Neststruktur g2.k.o4.e erfolgt „grammatisch unkorrekt“ mit Hauptsatzstruktur und stellt an den Leser nicht geringe Anforderungen zur Kopplung der beiden Gliedsatzteile, zumal das Korrelat so täuscht und ein tatsächlich nicht bestehendes Folgerungsverhältnis markiert. (12) h> Mir thuen hiemit zu wissen vnd zu kundt, g1.k.o4.t1+ das fur vns komen ist, der Erbar Man Albertus Schneider, g1.k.o4.t2 vnd fur vns mit sich gebracht die Erbarn Menner, vrbanum vnd Baltyzarum goldschmid, beyde seine schuöger, alle vnsere mitburger, g1.k.o4.t3> vnd hat angezeigt, g2.k.o4.a>> wie das in der theylung g3.cr.xt ßo sie nach irer mutter hans goldschmidin selige, absterben zwischen sich gehalten hetten, g3.k.at.a>> vnd als des Lörincz gulden Münczer sein hauß, g4,1.vp.xt aupf dem Kleinen ring gelegen, g4,2.cr.xt ßo gemelter Vrbanus vermeinet zu halten vnd zu besitzen g3.k.at.f> geschetzt wer worden, in der gestalt, g4.cr.xt wie es nu erbauet stehet, g3.k.at.e Nemlich vmb pf 650,50. g2.k.o4.e> So begehrt der vrbanus Goldschmidt über diese bestympte summa, auch das gelt, Nemlich pf 71 d’57 g3.mr.xt welchs er an dem hauß aus willen der mutter, czu nott verbauet hett (MagProt, 394).
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5.3.5.
Abhängigkeitswidrige Diskontinuitäten
Abhängigkeitswidrige Diskontinuitäten stellen einen grammatischen Bruch dar – denn der Gliedsatz höheren Abhängigkeitsgrades geht dem übergeordneten Gliedsatz voraus (h – g2 – g1) –, sie bilden aber durch die Angabe der Voraussetzung eines Sachverhalts zuerst die logische Entfaltung eines Gedankengangs zeitlich geradlinig ab.27 Allerdings ist die tatsächliche Zugehörigkeit der Elementarsätze in den Sitzungsprotokollen infolge zweideutiger Formalien nicht immer einfach: (13) g1.k.ak>
wie woll der Endres Maler als ein bruder der frauen der hannes Lypartin auch begehrt g2.zi.o4 das kindt vnnd gelt zu sich zu nemen. h,1.t1+t2< > So hat man vom Radt dar geschickt vnnd das haus besichtigenn lassenn, g1.k.af.t1 ob es auch dem kyndt nachzuhaltenn g1.k.af.t2+ oder Bawfellig wehr, h,2>> So ists erkanth wordenn wordenn28 vnd befohlenn, g2.k.ac.t1 Sintemal das haus nit Bawfellig g2.k.ac.t2+ Sonder Jm nachzuhaltenn were, g1.k.o4< > aupf das es Jm nachhaltenn soll, g2.k.at bis es sein bedurpfens wirdt, g3.k.at.a> als denn soll ers Jm widervmb g4.mr.o4 vnd was Jm sonst zustehend, g3.k.at.e in die hende geben, g1.mr.w> Welchs aupf anlangenn vnnd begehr des veltenn Junglyngs Jns Stadtbuch ein geschrieben ist, g2.k.af Aupf das Jm hernachmals dadurch kein nachtheill nicht ensteht. (MagProt, 414).
Dem zweiten Hauptsatz der Gefügereihe h,2 folgt entgegen dem – wegen des verbi dicendi – zu erwartenden Objektsatz ohne jegliche Signalisierung zunächst ein Kausalsatz (als Erklärung der Forderung), dann erst jener, der allerdings durch eine für Finalsätze typische Konjunktion auff das29 eingeleitet wird. Der linear folgende zweite Gliedsatz ersten Abhängigkeitsgrades, der weiterführende Nebensatz g1.mr.w, steht weit entfernt _____________ 27 28 29
Eine systematische Abhandlung möglicher Konstruktionsvarianten im Frühneuhochdeutschen findet sich bei Rössing-Hager (1984). Die Repetition ist sicherlich eine Verschreibung. Die Konjunktion auff das ist lediglich dieses eine Mal zur Einleitung eines Objektsatzes nachgewiesen worden (vgl. Dogaru 2009, Tabelle 2); auch in Finalsätzen ist sie in den Sitzungsprotokollen selten (ebd., Absatz 4.2.3.).
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
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sowohl vom zuerst stehenden Gliedsatz ersten Grades, als auch vom übergeordneten Hauptsatz. Es handelt sich aber um die formelhafte Beschließung der Sitzungsprotokolle, so dass seine gedankliche Zuordnung dennoch herzustellen ist. Dabei ist anzumerken, dass die abhängigkeitswidrige Diskontinuität nicht die alleinige „Schuld“ an den Zuordnungsschwierigkeiten hat: Im ersten Satzgefüge der Gefügereihe folgt dem Hauptsatz h,1 ein inhaltlich geforderter Finalsatz g1.k.af.t1+t2 (bestehend aus zwei Teilsätzen), der aber formal mit der Konjunktion für Objektsätze ob (die zur indirekten Formulierung von Fragen gebraucht wird) eingeleitet ist – der grammatisch notwendige „Brücken“satz mit einem verbum dicendi zwischen dem Hauptsatz und dem ob-Satz ist vermutlich aus sprachökonomischen Überlegungen ausgespart worden. Etwas einfacher auf den ersten Blick scheint die Herstellung grammatischer Bezüge im folgenden Fall zu sein, bei dem die sich an den Hauptsatz mit verbum dicendi anschließende subordinierende Konjunktion das erwartungsgemäß einen Objektsatz indiziert. Dieser wird nicht fortgeführt, sondern es folgt die ausführlich formulierte Voraussetzung für den angekündigten Sachverhalt: (14) h>
Alda hatt der vorbestympt Thomas Waldörpfer in person vnd Namen seines Bruders frantz Waldörffers, vns fürgebracht vnd angeczeigt, g1.k.o4.t1.a>> Das g2,1.k.ac/at> Nach dem der vorsichtige herr Thomas goldschmidt ein Styepfvatter h: Emanuelis. das Recht verloren hett, g3.cr.xt> So er mit vnd wider den frantz Waldörffer hett geübett vnd gehabt, von wegen der Erbschapft seiner Stiepftochter, fides, die francz Waldörffern, g4.cr.xt So on Leibs Erben abgangen vnd gestorben ist, g2,2.k.ac/at Als er aber nichts hatt kennen mit rechten an im erlangen, g1.k.o4.t1.f+> So hett nu der h: Emanuel, g2.mr.xt welcher ein rechter pruder der verstorbenen francz Waldörfferin geuesen, g1.k.o4.t1.e Den vorbestympten francz Waldörffer seynen Schuoger fur das Recht genomen,
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g1.k.o4.t2.a> g2.mr.xt g1.k.o4.t2.e
vnd das teyll was seiner Schuester fides, von irem herren francz Waldörffer von rechtswegen zu stehendt, mit rechten herausser zugeben gepfodertt. (MagProt, 377).
Die Zuordnung des angekündigten Objektsatzes ist infolge der Weiterführung mit Hauptsatzstruktur (mit dem Finitum an zweiter Satzstelle) erschwert. Stützend ist das Korrelat so, denn es verweist auf die gedanklichlogische Beziehung zum mit nach dem eingeleiteten Kausal- / Temporalsatz.
6. Fazit Die Durchschnittslänge der Elementarsätze variiert in den Sitzungsprotokollen des Hermannstädter Magistrats in der Anfangszeit des Verfassens auf Deutsch (Anfang der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts) mit ihrer Funktion im Text zwischen 60 Wörtern, wenn Angaben zu den beteiligten Personen gemacht werden, und zehn Wörtern bei der Schilderung von Geschehenseinzelheiten. Die Ganzsätze werden hauptsächlich als Satzgefüge realisiert, wobei gelegentlich zwei Satzgefüge gereiht stehen können. Ein Satzgefüge kann in einem Einzelfall aus bis zu 17 Elementarsätzen bestehen, 111 Satzgefüge von 135 haben bis zu sieben Elementarsätze. Die Tiefenstaffelung geht zwar nur bis zum sechsten Abhängigkeitsgrad, die Vorkommenshäufigkeit der Gliedsätze vierten Grades kann aber (verglichen z.B. mit ihrer Frequenz in zeitgleichen Predigten) als überdurchschnittlich hoch bewertet werden. Neben der hypotaktischen Verknüpfung stellt eine wichtige Verknüpfungstechnik die Anknüpfung von grammatisch und funktional gleichen Gliedsätzen, mit und ohne Aussparung gemeinsamer Elemente, dar. Mit Bezug auf die Kompositionstypen der Satzgefüge lassen sich neben der geradlinigen abhängigkeitskonformen Abfolge der Gliedsätze – die fallenden und steigend-fallenden Satzgefüge überwiegen – besonders häufig die Neststrukturen nachweisen, die bei syntaktischem Bruch inhaltlich Zusammengehörendes auch zeitlich nebeneinander darbringen. Bei Neststrukturen zuweilen, häufiger aber bei den abhängigkeitswidrigen Diskontinuitäten verursachen mangelnde Merkmale der Unterordnung oder der Zu(sammen)gehörigkeit Unklarheiten. Die Gestaltung der Satzgefüge in den Hermannstädter Ratsprotokollen entspricht mithin hinsichtlich der Strukturkomplexität, nicht aber der Realisierung von nachvoll-
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
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ziehbaren und eindeutigen Zuordnungsbeziehungen der Gestaltung der Satzgefüge in kanzleisprachlichen Texten aus dem binnendeutschen Sprachraum. Die quantitative und qualitative Ausweitung der Untersuchungen auf Ratsprotokolle aus anderen Verwaltungszentren Siebenbürgens unter Berücksichtigung der an dieser Stelle behandelten, aber auch anderer Parameter könnte das angerissene Bild der Ausgestaltung deutscher Amtssprache in Siebenbürgen ergänzen und vor allem verfeinern.
Quelle Prothocollon Prouinciae Saxon[um] Necnon Ciuitatis Cibinie[nsis] Sub Anno Dommini 1522 feliciter ceptum et congestum.30
Literatur Admoni, Wladimir G. (1972), „Die Entwicklung des Ganzsatzes und seines Wortbestandes in der deutschen Literatursprache bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts“, in: Studien zur Geschichte der deutschen Sprache, (Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 49), Berlin, 243-279. Admoni, Wladimir G. (1980), Zur Ausbildung der Norm in der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges (1470-1730). Ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssystems der deutschen Sprache, (Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 56 / IV), Berlin. Admoni, Wladimir G. (1982), Der deutsche Sprachbau, 4. Aufl., München. Behaghel, Otto (1932), Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung, Bd. 4: Wortstellung, Periodenbau, (Germanische Bibliothek, Abt. 1, Sammlung germanischer Elementar- und Handbücher, Reihe 1: Grammatiken 10), Heidelberg. Brooks, Thomas (2006), Untersuchungen zur Syntax in oberdeutschen Drucken des 16.-18. Jahrhunderts, (Schriften zur deutschen Sprache in Österreich 36), Frankfurt a. M. u.a. Dogaru, Dana Janetta (2006), Rezipientenbezug und -wirksamkeit in der Syntax der Predigten des siebenbürgisch-sächsischen Pfarrers Damasus Dürr (ca. 1535-1585), (Documenta Linguistica, Studienreihe 7), Hildesheim, Zürich, New York.
_____________ 30
Das Manuskript befindet sich bei der Kreisdirektion der Nationalen Archive Hermannstadt / Sibiu; Signatur: Magistratul Oraşului şi Scaunului Sibiu. Protocoale de ŞedinŃă nr. 1.
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Dana Janetta Dogaru
Dogaru, Dana Janetta (2006-2007), „Zur syntaktischen Ausprägung der deutschen Amtssprache in Hermannstadt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: Der Verbalkomplex“, in: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, 15-16 / 2006-2007, 509520. Online im Internet: http://www.e-scoala.ro/germana/janetta_dogaru.html (Stand 01.02.2009). Dogaru, Dana Janetta (2009), „Deutsche Amtssprache in Siebenbürgen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: Die Gliedsätze“, in: Peter Ernst (Hrsg.), Kanzleistil: Entwicklung, Form, Funktion. Beiträge der 4. Tagung des Arbeitskreises Historische Kanzleisprachenforschung, Wien 24. und 25. November 2006, (Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 5), Wien, 71-88. Duzinchevici, Gheorghe / Buta, Evdochia / Gündisch, Herta (1958), Inventarul protocoalelor Primăriei Sibiu 1521-1700, DirecŃia Generală a Arhivelor Statului, Bucureşti.31 Haage, Bernhard D. (1974), „Die Manie des mehrgliedrigen Ausdrucks in frühneuhochdeutscher Prosa“, in: Hans Pörnbacher (Hrsg.), Festgabe des Deutschen Instituts der Universität Nijmegen. Paul B. Wessels zum 65. Geburtstag, Nijmegen, 22-40. Lausberg, Heinrich (1984), Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, 8. Aufl., München. Rössing-Hager Monika (1972), Syntax und Textkomposition in Luthers Briefprosa, 2 Bde., Köln, Wien. Rössing-Hager, Monika (1984), „Zur kommunikativen Wirkung von Varianten in der Satzstruktur bei Luther und seinen Zeitgenossen“, in: Joachim Schildt (Hrsg.), Luthers Sprachschaffen. Gesellschaftliche Grundlagen. Geschichtliche Wirkungen. Referate der internationalen sprachwissenschaftlichen Konferenz Eisenach 21.-25. März 1983, (Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte 119 / III), Berlin, 81-102. Rössing-Hager, Monika (1991), „EDV-gestützte Untersuchungen zum Gebrauch von Verbalsubstantiven in frühneuhochdeutschen Texten“, in: Kurt Gärtner / Paul Sappler / Michael Trauth (Hrsg.), Maschinelle Verarbeitung altdeutscher Texte IV. Beiträge zum Vierten Internationalen Symposium, Trier 28. Februar bis 2. März 1998, Tübingen, 276-319. Schmidt-Wiegand, Ruth (1984), „Paarformeln“, in: Adalbert Erler / Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), unter philologischer Mitarbeit v. Ruth Schmidt-Wiegand, mitbegründet v. Wolfgang Stammler, Bd. 3, Berlin, Sp. 1387-1393. Schmidt-Wiegand, Ruth (1991), „Mit Hand und Mund. Sprachgebärden aus dem mittelalterlichen Rechtsleben“, in: Hagen Keller / Joachim Wollasch (Hrsg.), Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, in Zusammenarbeit mit Hans Belting / Hugo Borger / Dietrich Hofmann u.a. unter Mitwirkung v. Karl Hauck, Bd. 25, Berlin, New York, 283-299.
_____________ 31
Bestandsaufnahme der Sitzungsprotokolle des Hermannstädter Magistrats 1521-1700, Allgemeine Direktion der Staatsarchive, Bukarest 1958.
Umfang und Ausbildung der Ganzsätze
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Zimmermann, Friedrich (1901), Das Archiv der Stadt Hermannstadt und der sächsischen Nation. Ein Führer durch dasselbe, 2. Aufl., Hermannstadt.
Abkürzungsverzeichnis 1. Sätze: h g g1(-n) g1,1(-n) g1.k g1.mr g1.dr g1.cr g1.cmr g1.k0 g1.zi g1.vp g1.k.o4 g1.k.w t1(-tn) t1+
Aussage- / Hauptsatz Gliedsatz Abhängigkeitsgrad des g von h Koordination mehrerer g mit gleicher Abhängigkeit von h durch eine Konjunktion eingeleiteter g durch ein substantivisches Relativpronomen eingeleiteter g durch ein attributivisches Relativpronomen eingeleiteter g durch ein Relativadverb eingeleiteter g durch ein Pronominaladverb eingeleiteter g das Initialelement wird nicht wiederholt satzwertige Infinitivkonstruktion mit „zu“ satzwertige Partizipialkonstruktion (Perfektpartizip) Satzgliedfunktion des g (hier: Akkusativobjekt) weiterführender Nebensatz ohne Satzgliedfunktion Teilsatz der Teilsatz enthält ein bzw. mehrere gemeinsame Elemente
2. Satzfunktionen: o4 ac af ak am as at xt
Akkusativobjekt Grund Zweck Einräumung Art und Weise Folge Zeit Attribut
3. Sonstiges: .el .a
elliptisches Element Anfang einer unterbrochenen Struktur
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.f .e
Fortführung einer mehrfach unterbrochenen Struktur Ende einer unterbrochenen Struktur
4. Sonderzeichen: / Pfeile
trennt alternative Notationen. signalisieren neben der Kodierung eines Elementarsatzes, dass ein von ihm abhängiger Gliedsatz diesem folgt oder vorausgeht: > der untergeordnete Elementarsatz folgt dem übergeordneten; < der untergeordnete Elementarsatz geht dem übergeordneten voraus; <> dem übergeordneten Elementarsatz geht ein Gliedsatz voraus, einer folgt ihm; <<< >>> Anzahl untergeordneter, koordinierter oder aber nicht koordinierter Gliedsätze gleicher oder unterschiedlicher syntaktischer Funktion, die dem übergeordneten Elementarsatz vorausgehen bzw. folgen.
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge in frühreformatorischen Schriften Martin Luthers Beobachtungen zu ihrer textkonstitutiven und kommunikativen Funktion
Monika Rössing-Hager (Marburg)
1. Fragestellung, Textkorpus und methodische Vorbemerkungen Die Relation Voraussetzung – Folge wird im Folgenden im Hinblick auf satzförmige Konditionalfügungen behandelt. Die zugehörigen Teilsätze sind in der Grammatik-Tradition geläufig unter den Bezeichnungen Protasis für die meist vorangestellte Bedingung und Apodosis für die Konsequenz, bzw. unter deren lateinischen und deutschen Entsprechungen Antezedens – Konsequens/z und Vordersatz – Nachsatz. In der Grammatikographie wurde und wird gelegentlich darauf verwiesen, dass die Termini gleichzeitig stellungs- und funktionsspezifische Geltung haben, so z.B. in der älteren Grammatik explizit von Carl Friedrich Aichinger für protasis und apodosis, 1 in der Gegenwart von Peter Eisenberg für Antezendens und Konsequenz, mit Hinweis auf die Überlappung von syntaktischem und semantischem Aspekt. 2 Ich benutze im Folgenden die ebenfalls geläufigen Termini Konditional- bzw. Bedingungssatz für den die Voraussetzung betreffenden Teilsatz, Konsequenz- bzw. Folgesatz für den die Bedingtheit / die Folge betreffenden. Syntaktisch-funktionale und logisch-semantische Aspekte überlagern sich auch bei ihnen. Die Darstellung ist konzipiert als eine durch thematische Vorgaben erweiterte Fallstudie, die auf jede Art von numerischen bzw. statistischen Angaben verzichtet. Vielmehr besteht die Absicht, zwei syntaxspezifische _____________ 1 2
Vgl. Aichinger (1972, 518). Vgl. Eisenberg (1994, 362).
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Monika Rössing-Hager
Textbausteine, auf die der Autor mehrfach zurückgreift und die er beim Verwenden zweckgebunden formt und bei Bedarf erweitert, im Hinblick auf ihre textkonstitutive und kommunikative Funktion näher zu betrachten. Das Textkorpus umfasst vier Schriften Martin Luthers aus den ersten Jahren der Reformation. Unter dem Gesichtspunkt der Verbreitung gehören sie alle zu den ‚Flugschriften‘. Thematisch und im Hinblick auf Textsorte und -funktion haben sie trotz großer Unterschiede Gemeinsamkeiten, durch die bestimmte Spezifika besonders deutlich hervortreten. 3 Es handelt sich um folgende Textexemplare:
Martin Luther, Von den guten Werken (1520). WA VI, 202-276. - Thematik und Textsorte: Religiöse Lehrschrift, - Textfunktion: Allgemeinverständliche Lehre, verbunden mit Appellfunktion.
Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). WA VII, 20-38. - Thematik und Textsorte: Religiöser Traktat, - Textfunktion: Erörternde Unterweisung, eloquent, verbunden mit Appellfunktion.
Martin Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen Standes Besserung (1520). WA VI, 404-467. - Thematik und Textsorte: Religiöse Programm- und Kampfschrift, - Textfunktion: Aufdecken religiöser und sozialer Missstände im kirchlichen und weltlichen Bereich; Aufforderung an Angehörige aller Stände, das ihnen Mögliche zur Beseitigung beizutragen. Dominante Appellfunktion, im Einzelnen stark ausdifferenziert.
Martin Luther, Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament (1525). WA XVIII, 62-125 (1. Buch); WA XVIII, 134-214 (2. Buch). - Thematik und Textsorte: Religiöse Streitschrift, - Textfunktion: Offensive Erörterung mit den Zielen, strittige Glaubensfragen zu klären, den Gegner (Karlstadt und seine Anhänger) bloßzustellen und unschädlich zu machen, den Rezipienten für den eigenen Standpunkt zu gewinnen; verbunden mit Appellfunktion.
Auf Grund ihrer logischen Grundkonzeption sind die Texte von Bedingungsgefügen durchsetzt. Aus der Vielzahl der Vorkommen werden im _____________ 3
Im Einzelnen ist dies dargestellt in Rössing-Hager (2009).
Konkurrierende Strukturen für die Relation Voraussetzung – Folge
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Folgenden zwei Verwendungszusammenhänge herausgegriffen: Textteile mit Appell-Charakter und solche mit argumentativem Duktus, der durch Folgerungen aus dem Gegenteil bestimmt ist. Im Zusammenhang mit der Fragestellung sind die primär relevanten Kontextfaktoren Textsorte, Textfunktion, Thema sowie die Intention, aus der heraus eine Äußerung geschieht. Doch ist keiner dieser Faktoren im jeweiligen Textkontinuum im Hinblick auf seine Eigenschaften gleichbleibend, vielmehr kann er in einzelnen Textteilen starken Modifikationen unterliegen, bedingt z.B. durch Wechsel des subthematischen Zusammenhangs. Als weitere Kontext-Merkmale begegnen, in Differenzierung der jeweiligen Textfunktion, Typen unterschiedlicher Mitteilungs-Funktion und – mit dieser verbunden – kommunikativer Haltung:
Belehren – auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen: Sachverhalte verständnisstützend erklären; Sachverhalte dozierend äußern, u.U. mit situativem Dominanzanspruch des Dozierenden gegenüber Rezipienten oder Dritten.
Erörtern – sachlich; mit Affekt; mit Pathos.
Meinung bilden – Sachverhalte emotionalisierend darstellen; die eigene Meinung verdeutlichen und auf den Rezipienten zu übertragen versuchen; die eigene Meinung zurückhalten und den Rezipienten zur Kritikfähigkeit heranbilden.
Streiten – als hartes Sich-Auseinandersetzen bei der Suche nach der Wahrheit; mit nachdrücklicher Erhärtung des eigenen Standpunkts; mit Nachweis des gegnerischen Unrechts und des eigenen Rechts; Parteilichkeit schaffend.
Appellieren – als Handlungs- oder Verhaltensanweisung in unterschiedlichen Intensitäts- und Direktheitsgraden: Raten / Empfehlen; Aufrufen; Anfeuern; Fordern; Ermutigen u.ä.
Die Faktoren können sich, je nach der vorherrschenden Intention, überlagern. An verschiedenen Stellen der Textbelege treten einzelne dominant hervor. Sie werden im Folgenden besonders beachtet. Ein gesonderter Faktor ist die Position einer Äußerung innerhalb des jeweiligen subthematischen Text-Kontinuums oder ihr Vorkommen in einem spezifischen Textexemplar überhaupt. Das schließt nicht aus, dass einzelne Makrostrukturen nahezu unauffällig das Textexemplar wechseln könnten. Als expliziter Anhaltspunkt für die primär relevante Funktion einer Konditionalfügung im Text bietet sich häufig ein vorgeschalteter Satz mit Hinweis auf den Sicherheitsgrad der nachfolgenden Äußerung (Verba sentiendi, dicendi u.ä.), auf ihren Appellcharakter (meist rat) oder darauf,
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dass es sich um die Folgerung aus einer vorausgehenden Ausführung handelt. Als Signal für die mit einer Äußerung intendierte logische Beweisführung dienen u.a. Adverbien, die entsprechende Aussagenkomplexe eröffnen (also, darumb u.ä.), Verben (beweisen u.ä.) oder ganze Sätze (Darauß dann weiter folget; Auß dissem allen ists nu offenbar; Wilchs alles kumpt auß; Auß dem allen lernen wir, das; Und das ichs noch klerer sag; ursach sagen u.ä.), aber auch Hinweise auf die Verwendung eines argumentativen locus ( z.B: a minore: Wie viel mehr ist, o.ä.). Aufschluss über die Intention, aus der heraus der Autor den Textteil abfasst, gibt es des Öfteren im vorausgehenden oder nachfolgenden Text, z.T. sogar in einem anderen Textexemplar, sei es durch explizite Hinweise oder zumindest durch implizite Anhaltspunkte. Ein solcher Anhaltspunkt soll im Folgenden exemplarisch eingekreist werden. Vergleichsgrundlage bieten zwei Teilbereiche der Textfunktion, die in allen untersuchten Textexemplaren signifikant vertreten sind: die Hinwendung des Autors zum Rezipienten in einem Appell (3.1.) und die argumentative Erhärtung eines dargelegten Sachverhalts in der Form der Folgerung aus dem Gegenteil (3.2.). In einem ersten Schritt werden Konditionalstrukturen aus verschiedenen Textteilen mit Appellfunktion im Hinblick auf ihre formale und inhaltliche Ähnlichkeit betrachtet. In einem zweiten Schritt werden die in den Appelltextteilen verwendeten Konditionalstrukturen in Beziehung zu einem Textteil aus dem Funktionsbereich Folgern aus dem Gegenteil gesetzt, dessen thematische Entfaltung vorsichtige Schlüsse auf die Intention nahelegt, die zur spezifischen Ausgestaltung der betrachteten Appelle im Hinblick auf deren gedankliche und formale Struktur führt. Zugleich dient dieser Textteil als Basis für den in einem dritten Schritt vorgenommenen Vergleich bestimmter Strukturmuster der Folgerung aus dem Gegenteil im Hinblick darauf, inwieweit erkennbare Verwendungszusammenhänge eine mit diesen korrelierende unterschiedliche Ausgestaltung der entsprechenden Strukturmuster aufweisen.
2. Strukturvarianten der im Korpus verwendeten Konditionalfügungen Die in den untersuchten Textteilen vorkommenden Konditionalfügungen repräsentieren nahezu das gesamte Spektrum der bei Luther und im
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16. Jh. realisierten Strukturvarianten. 4 Im Folgenden ist jeder Realisationstyp mit einem Beleg erfasst, unabhängig von der Häufigkeit seines Vorkommens. 1. Form, Einleitung und Satzmodus der Teilsätze syntaktisch selbstständiger Konditionalfügungen: a) Bedingung (B): Gliedsatz - eingeleitet durch eine Subjunktion (wenn, so, wo u.a.): wo du nicht Gottes wort hrest, (...) da yrre und kere dich nicht an, 1,05f. 5 Wenn man dyr n furhelt, (...) so sprich frisch drauff: (...) 1,10f. so sie dyr nicht seyn wort drauff anzeygen, so sprich: (...) 1,14f. - eingeleitet durch ein Relativpronomen oder -adverb (der, wo o.ä.): der mit got nit einß ist odder tzweiffelt dran, der hebt an, sucht und sorget, 6,32f. wo aber ein tzweifel da ist, da sucht sichs (...) 6,19f. - mit Erststellung des finiten Verbs: Sagen sie: Omnis Christi actio est nostra instructio, so las sie sagen, 1,17f. Hauptsatz als Aufforderungssatz: gleub nur fest, das du seyst absolvirt, so hat es nit nodt. 2,08 b) Konsequenz (K): Hauptsatz, (meist) eröffnet mit Korrelat (so, da; zum Relativum: der) - als Aussagesatz: Wenn nu der mensch (...) empfunden hatt, (...), So ist er recht gedemtiget 5,27-30 wo aber ein tzweifel da ist, da sucht sichs (...) 6,19f. - als Aufforderungssatz: Wenn man dyr n furhelt, (...) so sprich frisch drauff: (...) 1,10f. - als Fragesatz: _____________ 4
5
Hierzu Franke (1922, § 198,4.c); Erben (1954, bes. 149ff.); Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, §§ S 290ff.). Die Stellenangaben kennzeichnen mit der Ziffer vor dem Komma die Nummer eines der in Kapitel 3.1. oder 3.2. zitierten Textbelege, hinter dem Komma die an dessen Rand markierte Zeilennummerierung, z.B.: 1,05 entspricht dem Textbeleg T 1, Z. 5.
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wie der mensch an den gebotten (...) gnug hat, (...) warumb sucht er dan andere (...)? WA VI, 276.05-10. 6 2. Abfolge der Teilsätze: a) B – K (vgl. Bsp. unter (1a) und (1b)) b) K – B (seltener): so ist hlffe und rad da (...), wo des glaubens lere fest und reyn bleybt. 9,04f. c) K.anf. – B – K.end.: einn Christen mensch, der in dieser zuvorsicht gegen got lebt, weiß alle dingk, 6,26-28. 3. Markierung der Abhängigkeit einer Konditionalfügung von einem vorgeschalteten Satz mit Verbum dicendi, sentiendi o.ä.: a) kein formales Abhängigkeitssignal, d.h. einem Doppelpunkt ähnlicher Übergang. Die Konditionalfügung bleibt in struktureller ‚Selbstständigkeit‘: Szo radt ich den selbenn kindeln, (...), wollen die ubirsten nit laub geben zu beichten die heymlichen sund, (...), ßo nym sie selber, und klage sie deinem bruder (...), 2,01-04. b) Abhängigkeitsmerkmal: Der Matrixsatz der Konditionalfügung wird zum Gliedsatz, der mit der Subjunktion dass eingeleitet ist und durch den Bedingungssatz unterbrochen wird: Auß dissem allen ists nu offenbar, das alle ander werck, die nit gebotten sein, ferlich sein und leicht zu erkennen, WA VI, 276.01 f. 7 c) Als Abhängigkeitssignal steht die Konjunktion dass, der Matrixsatz behält jedoch die Form eines Hauptsatzes bei (Anakoluth), d.h. die Konditionalfügung bleibt in ihrer Struktur unverändert; sie erscheint ‚selbstständig‘ wie unter (3a): 8 Den ich hab (...) yn den glauben gestellet alle ding, das, wer yhn hat, sol alle ding haben 5,43-46. _____________ 6 7 8
Hierbei handelt es sich um eine nicht als Textbeleg verwendete Stelle aus der Schrift Von den guten Werken. Wie Anm. 6. Hierzu Franke (1922, § 202,3); im Einzelnen zu den von Luther verwendeten Konstruktionsvarianten: Rössing-Hager 1984, 81ff.).
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4. Mehrfachsetzung einzelner Glieder, z.B.: a) B, B – K: Alßo nym fur dich deyne feynnd, (…), thu yhn wol – so wirstu finden, 4,01-03 b) B – K, K (...): wollen die ubirsten nit laub geben zubeichten die heymlichen sund (...) – ßo nym sie selber, und klage sie deinem bruder (...), laß dich absolvirnn (...), 2,02-07 c) K – B – K: hut dich – wo du nicht Gottes wort hrest (...) – da yrre und kere dich nicht an, 1,04-06. 5. Mehrfachsetzung von Konditional-Fügungen als textkonstitutives Strukturmuster: a) Appell (vgl. Textbelege T 1 bis T 4 unter 3.1.), b) Folgern aus dem Gegenteil (vgl. Textbelege T 5 bis T 10 unter 3.2.).
3. Spezifische Verwendungszusammenhänge für einzelne Strukturtypen der Konditionalfügungen und für deren Kombination zu textkonstitutiven Strukturmustern 3.1. Appelle In allen untersuchten Textexemplaren haben die Ausführungen, unabhängig von ihrer primären Textfunktion, über weite Strecken Appellcharakter, wenn auch in unterschiedlichen Graden der Direktheit und dementsprechend in sprachlich sehr differenzierter Ausprägung. 9 Im Folgenden sind spezifische Fälle aus dem Teilbereich explizit persönlicher Bezug zum Rezipienten herausgegriffen. Es handelt sich jeweils um sehr konkrete Verhaltensempfehlungen. T1 Am markantesten ist eine Textstelle in der Streitschrift von 1525 Wider die himmlischen Propheten, in der sich Luther scharf mit seinem Gegner Karl_____________ 9
Vgl. Rössing-Hager (2009, I.2.4, II.2.3, III.2.2, IV.2.3.).
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stadt über zentrale Fragen des christlichen Glaubens auseinandersetzt. Die Erörterungen in dieser Schrift erfolgen offensiv, teils in erklärendem, teils aggressivem bis diffamierendem Ton dem Gegner gegenüber, oft zugleich die zustimmende Nähe des Rezipienten suchend. An der ausgewählten Stelle wird die Intention des Autors deutlich, dem Rezipienten eine grundlegende Verhaltensorientierung zu vermitteln. Er will sein Selbstvertrauen wecken und stärken und ihn auf der Grundlage einer prinzipiellen Einsicht zu einem jeweils situationsspezifisch angemessenen Handeln bzw. Verhalten veranlassen. Er gibt ihm die Zuversicht, hierzu tatsächlich fähig zu sein, und zeigt ihm den Weg auf, unbegründete Schuldgefühle und mit ihnen verbundene Unruhen zu überwinden, indem er sein Selbstwertgefühl stärkt und den potentiellen Gegner auf das ihm zukommende Maß an Geltung zurückstuft. Den subthematischen Zusammenhang bildet eine Warnung vor der trügerischen Verführungsabsicht des Gegners, verbunden mit einer genauen Anleitung, dieser nicht zu verfallen. Der Appell wird eröffnet durch einen Hinweis auf den diabolisch abschreckenden Gegner – gemeint ist Karlstadt –, 01-03: 01
Sihestu hie den teuffel? der uns vorhyn durch heyligen verfuret hat, der will uns hie durch Christum selbs verfuren,
Es folgen detaillierte Verhaltensempfehlungen zur Reaktion auf die von gegnerischer Seite zu erwartenden Verführungsversuche: 1. Generell: durch eine Äußerung des Sprechakts Warnung in einem Aufforderungssatz, 04, mit anschließender Angabe des grundsätzlich zu meidenden Falls in einer Konditionalfügung, 05f., mit IrrelevanzNachtrag, 07, der die ausnahmslose Gültigkeit der Anweisung betont, und mit kommentierender Bekräftigung durch zwei auffordernde Fragen als rahmendem Hinweis auf ein Bibelzitat und dessen nachdrückliche erklärende Wiederholung, 08f. Die Bekräftigung enthält den thematischen Kerngedanken, der die Relevanz des Appells unterstreicht: Ausschlaggebend ist einzig das wort Gottes. Die erste Aufforderung, 04, kann aufgefasst werden als allein stehend, d.h. als Eröffnungs-Appell für die gesamte Textstelle, sie kann aber auch in engerer Bindung zur Konditionalfügung gesehen werden. Dann hätte diese die Abfolge K-B-K. Die Beziehung ist ambivalent, auch mit Blick auf die intendierte Sprachhandlung:
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hut dich, wo du nicht Gottes wort hrest, das dich heyst odder verpeut, da yrre und kere dich nicht an, wenns gleich Christus selbst thet, Ists nicht gnug gesagt? Es heyst ‚Deyn wort ist meyn leuchte‘ Psal.118. Das wort, Das wort solls thun, Hrestu nicht?
2. Spezifizierend: In einer Sequenz von vier Konditionalfügungen, 10-18, werden denkbare Detailausprägungen der Verführung genannt und für jeden Fall eine schlagkräftige Zurückweisung empfohlen, durch Handlungsanweisungen, die die entsprechenden verbalen oder – im letzten Fall – nonverbalen Handlungen vorgeben. Dem Rezipienten werden Erwiderungen in den Mund gelegt, die ihn unerschrocken, scharf und sachkundig erscheinen lassen und die simulieren, dass ihm eine solche Haltung zuzutrauen ist, 10 11, 13, 15f. Die Konditionalfügungen haben alle die Abfolge B – K. Der vierfache Wechsel der Eröffnung des Konditionalsatzes – drei verschiedene Konjunktionen, 10, 12, 14, und einmal Erststellung des finiten Verbs, 17, – unterstützt die Vorstellung von einem wechselnden Ansatz der Versuchung; die viermal mit so beginnenden und zusätzlich partiell wortgleichen Konsequenzsätze reflektieren das für alle Fälle empfohlene, im Prinzip gleich bleibende Reaktionsverhalten: 10
15
Wenn man dyr n furhelt, wie Christus gethan habe, so sprich frisch drauff: Wolan er hats gethan, Hat ers auch geleret und heyssen thun? Item, wo man dyr furhellt, das hat Christus nicht gethan, so sprich frisch drauff: Hat ers auch verpoten? Und so sie dyr nicht seyn wort drauff anzeygen, so sprich: Thu hyn, lasse her, das gehet mich nicht an, es sind auch nicht exempel, es sind wercke fur seyne eygene person gethan, Sagen sie: Omnis Christi actio est nostra instructio, so las sie sagen,
_____________ 10
Das Warnen durch Hinweis auf Indizien für gefährliche und daher zu meidende Personen und deren Auftreten ist eine Sprachhandlung, die zeitübergreifend in Texten mit edukativer, aber auch manipulativer Komponente geläufig ist. In ähnlicher Ausprägung wie in T 1 findet sie sich z.B. in Eberlin von Günzburgs Flugschriftensammlung Bundesgenossen (1521), am deutlichsten an einer Stelle im Sechsten Bdg., der weitgehend Stellen aus Erasmus’ Laus Stultitae in freier Übersetzung dem eigenen Text einpasst. Vor dem Hintergrund solcher vergleichbarer Stellen wird besonders deutlich, wie unmittelbar eindringlich und persönlich die Verhaltensanleitung Luthers ist.
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Der Appell endet mit einer expliziten Entschärfung der für den Rezipienten bedrohlichen Situation. Der Rezipient wird aufgefordert, die Aussage des potentiellen Gegners auf das tatsächlich Gemeinte zu überprüfen, mit dem Hinweis, der Gegner gelte nicht mehr als er selbst. Der Abschluss erfolgt in dezidiert einfacher Diktion durch die Reihung von einem Aufforderungssatz und zwei Aussagesätzen ohne formale Bindeelemente oder einen sonstigen Hinweis auf logische Beziehungen, 19-21. Es ist der Ton, der auf Glaubwürdigkeit deutet und das Vertrauensverhältnis zwischen Autor und Rezipient unterstreicht: 20
Aber sihe drauff, was er meynet mit der instructio, Eyn mensch hats gesagt, der gillt so viel als du selbst. WA XVIII, 116.27-117.12.
In ähnlicher Form wie hier begegnet ein erläuternder Nachtrag des Öfteren in vergleichbarer Situation. Er vermittelt dem Angesprochenen die Überzeugung, dass die vorausgehende Verhaltensanweisung tatsächlich realisierbar ist und auch in seinen Kräften liegt, beruhigt ihn, nimmt ihm ein eventuelles Angstgefühl und ermuntert ihn zu mutigem Vorgehen in eigener Sache. 11 T2 Ähnlich wie der erste Textbeleg umfasst auch der zweite eine in sich abgeschlossene Episode. Er gehört in Luthers Programm- und Kampfschrift von 1520 An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen Standes Besserung in den Teil, der sich kritisch, zum Teil schonungslos, mit religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensformen in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Ständen befasst, ein Bewusstsein für die Ursachen herrschender Missstände schafft und zu deren Beseitigung aufruft. Subthematischer Zusammenhang des Textbelegs ist die Bestärkung von Ordensleuten in ihrer persönlichen Position gegenüber den Oberen. Luther richtet hier an Kloster-Insassen, die sich in einer unerträglichen Konfliktsituation befinden, eine Verhaltensempfehlung, wie sie sich, bei bestehendem Beichtzwang, von heymlichen sunden selbst befreien könnten. Die psychologisch relevanten Handlungsschritte hierzu sind im Detail empfehlend ausgeführt. Einem vorgeschalteten Satz mit dem Verbum dicendi radt folgt, ohne Abhängigkeitsmerkmal, eine Konditionalfügung: der Bedingungssatz mit Erststellung des finiten Verbs, 02, die Konsequenz als Reihe von Aufforderungssätzen für die empfohlenen Handlun_____________ 11
Vgl. Beleg T 2.
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gen, 04-07. In den zugehörigen Attributsätzen, 03, 05, 07, erfolgt begleitend und nahezu einhämmernd eine explizite Willensstärkung der Angesprochenen. Der letzte Aufforderungssatz der Reihe, 08, der nur scheinbar zu den vorausgehenden mit Konsequenzfunktion gehört, hat Bedingungsfunktion und bildet zusammen mit dem folgenden Aussagesatz eine zweite Konditionalfügung, 08f. In ihr wird die Zusicherung gegeben, dass das angeratene Vorgehen gelingen werde: 01
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Szo radt ich den selbenn kindeln, brudern unnd schwestern, wollen die ubirsten nit laub (‚Erlaubnis‘) geben zubeichten die heymlichen sund, wilchem du wilt, ßo nym sie selber, und klage sie deinem bruder odder schwester, dem odder do du wilt, laß dich absolvirnn und trosten, ganck unnd thu drauff was du wilt unnd solt, gleub nur 12 fest, das du seyst absolvirt, so hat es nit nodt.
Es folgt eine abschließende Ermutigung und Beruhigung, die die thematisierte Situation entschärft durch Klärung des interaktiv relevanten Sachverhalts, dass der Rezipient nicht gefährdet ist, weil die angedrohten Strafen gar nicht auf seinen speziellen Fall zutreffen. Auch hier besteht, wie im ersten Textbeleg, der bestärkende Nachtrag aus einer lockeren Reihung von Aufforderungs- und Aussagesätzen in dezidiert einfacher Diktion, ohne dass Konnektoren die vorhandenen logischen Beziehungen zwischen den Aussagen signalisieren, 13 10-14: 10
Und den ban, irregularitet odder was sie mehr drewen, laß dich nit betruben noch yrre machennn, sie gelten nit weytter, den auff die offentlichen oder bekanten sunden, ßo die ymant nit wolt bekennenn, es trifft dich nichts. WA VI, 444.08-15.
_____________ 12
13
Dieses beruhigend ermutigende nur, 08, begegnet in vergleichbaren Appellen häufiger und kennzeichnet die vertrauenerweckende persönliche Hinwendung des Appellierenden zu seinem Gesprächspartner, so z.B. im Trostbrief an seine schwerkranke Mutter: Seid nur getrost (...), wodurch das vorher mehrfach zitierte Bibelwort zu einem persönlichen Trostwort in der konkreten kommunikativen Situation wird, WA Br. VI 1820, Z. 90. Der mit ßo eingeleitete Teilsatz, 13, ist ein attributiver Relativsatz, bezogen auf die offentlichen (...) sunden, der abschließende Aussagesatz, 14, bezieht sich auf die vorausgehende Gesamtaussage, 10-13.
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Der gesamte Aussagenkomplex 02-09 bildet einen gleitenden Übergang von Bedingung-Folge-Handlungen, die selbst wieder in eine Bedingung übergehen, die ihrerseits eine Folge hat. Die Form der Aufforderungssätze, die sowohl als Konsequenz wie als Bedingung fungieren können, ermöglicht diesen nahezu unmerklichen Prozess des Übergangs. Es handelt sich hier um ein Phänomen, das bevorzugt in Einsicht vermittelnden Appellprozeduren auftritt. Es gehört einem kolloquial vereindringlichenden Gestus an und begegnet entsprechend auch in der Alltagskommunikation. Am Ende, 10-14, wird hier auf einen Fall hingewiesen, der im Gegensatz zu dem im ersten Abschnitt behandelten steht (offentliche vs. heymliche sunden). Die beiden folgenden Belege dienen zum Vergleich. T3 Der nachfolgende Textbeleg gehört in Luthers Traktat von 1520 Von der Freiheit eines Christenmenschen. Subthematischer Zusammenhang ist die Aufforderung, ein gutes Werk in der richtigen Gesinnung, nur aus Nächstenliebe, zu tun. Die Konstruktion ist der vorausgehenden bemerkenswert ähnlich. Auch hier bleibt der eröffnende Satz mit dem Verbum dicendi raten vorgeschaltet, ohne formale Abhängigkeit zu erzeugen. Und auch hier greifen zwei Konditionalfügungen ineinander, aber nach einem etwas anderen Prinzip: Die erste Voraussetzung-Folge-Relation besteht aus einem Konditionalsatz mit Spitzenstellung des Finitums, 02, der mit einem Aufforderungssatz, 03, korrespondiert, dem zwei weitere folgen, die formal mit dem ersten Aufforderungssatz koordiniert sind, 04f. Inhaltlich stehen sie jedoch zu diesem in correctio-Beziehung. Sie haben nicht nur die Funktion einer Konsequenz aus dem vorausgehenden Konditionalsatz, sondern bilden zugleich selbst in einer zweiten Konditionalfügung die Voraussetzung zu der Konsequenz im nachfolgenden mit so eingeleiteten Aussagesatz, 06. Auch inhaltlich greifen die beiden Konditionalfügungen eng ineinander: Der Folgesatz der zweiten, 06, enthält einen Bestätigungshinweis für das gute Ergebnis, das mit der empfohlenen Handlungsweise verbunden ist. Diese abschließende Konsequenz kennzeichnet die Gesamtaussage des Appells als Orientierungshilfe für eine richtig verstandene christliche Lebensführung:
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Ich rate dir aber, wiltu etwas stifften, betten, fasten, so thu es nit der meynung, das du wollist dir etwas guts thun, sondern gibs dahyn frey, das andere leuth desselben genießen mgen, und thu es yhn zu gut, so bistu ein rechter Christen (...) WA VII, 37.27-30
T4 Auch in Luthers Lehrschrift von 1520 Von den guten Werken begegnet unter einer Vielzahl verschieden geformter Appelle ein Textbeleg, der besonders stark die persönliche Nähe des Autors zum Rezipienten verdeutlicht. Subthematischer Zusammenhang ist die Aufforderung, sich bezüglich guter Werke auf die zu beschränken, die sich aus den Zehn Geboten ergeben. Der Appell besteht aus einer Konditionalfügung, die die Abfolge B, B – K zeigt. Sie wird ohne vorausgehendes Appell-Signal unmittelbar eröffnet durch zwei asyndetisch gereihte Aufforderungssätze als Voraussetzung, 01f.; die Konsequenz besteht aus einem mit so eingeleiteten Aussagesatz, der durch zwei koordinierte Objektsätze erweitert ist, 03-05. Die Konditionalfügung hat also dieselbe Grundstruktur wie der jeweils zweite Teil der beiden vorausgehenden Belege 2,08f. und 3,05f. Die Konsequenz verweist auf eine Einsicht, die aus der empfohlenen Handlungsweise zu erwarten ist und als Orientierungshilfe für die zu ändernde Grundeinstellung des Rezipienten – Überwindung der Werkfrömmigkeit – dienen soll: 01
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Alßo nym fur dich deyne feynnd, die undanckbarn, thu yhn wol, so wirstu finden, wie nah odder ferne du vonn dissem gebot seyest, unnd wie du dein lebenlang wirst ymmer zuschaffen haben mit ubunge disses werckis, WA VI, 272.38-273.03
Der Appell steht in einem Kontext, der besonders stark vom Aufzeigen logisch bedingter Sachverhaltszusammenhänge bestimmt ist, WA VI, 270.27-273.13. Der unmittelbare Einsatz mit der Aufforderung im Imperativ, ohne vorausgehendes Signal des Ratens o.ä., statt dessen eröffnet mit einem konkludierenden Alßo, wirkt, im Anschluss an die unmittelbar vorausgehenden Ausführungen, als entlastender Einschnitt und zugleich als Auftakt zum Abschluss des subthematischen Textteils.
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Der Appell bezweckt, beim Rezipienten den vom Autor intendierten Erkenntnisgewinn zu erreichen, indem der Rezipient auf dem Weg über die eigene Erfahrung die Ausführungsschwierigkeit bestimmter Handlungen kennen lernen soll – hier bezogen auf die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe. Es handelt sich bei der Konditionalfügung, die durch einen Aufforderungssatz eröffnet wird und als Konsequenz einen Aussagesatz hat, um eine von Luther gern benutzte Form, wenn der Inhalt des Konditionalsatzes in einem vereindringlichenden, persönlich geprägten und unkompliziert und direkt wirken sollenden Ton das eigentliche Ziel des Sprechers ist, während die in Aussicht gestellte Konsequenz für den Rezipienten als bedeutsame und sicher zu erwartende Zugabe erscheint, etwa in dem Sinn 'Tu erst mal das, dann geschieht außerdem und für dich erstrebenswert (auch noch) das'. Die Handlungsanweisungen der betrachteten Appelle sind flankiert von expliziten, z.T. aber auch impliziten, Signalen des Bestärkens, Mutmachens, Zuversicht- und Selbstvertrauenweckens. Zweifellos beruhen sie im Hinblick auf ihren Inhalt zum großen Teil auf einer reflektierten Verarbeitung Luthers von seinen eigenen Erfahrungen aus den Zeiten seines Ringens um ein richtiges Verständnis des christlichen Glaubens. Im folgenden Kapitel erscheinen die ersten Textbelege, insbesondere T 5, wie eine Hintergrundinformation zu dieser Annahme bezüglich der Intention, die der Ausgestaltung der betont persönlich gehaltenen Appelle zu Grunde liegt. 3.2. Folgern aus dem Gegenteil: Doppelte Konditionalfügungen Entsprechend ihrem persuasiven Duktus sind die Texte durchzogen von einem Signalsystem des fortgesetzten Folgerns und von häufigen Hinweisen auf die Schlüssigkeit des Ausgeführten. Unter den zahlreichen Konditionalfügungen begegnen an herausragenden Stellen der Erörterungen verschiedene Formen ihres sequentiellen Gebrauchs, speziell der Doppelsetzung in der Funktion der Folgerung aus dem Gegenteil. 14 Sie lassen sich bestimmten Verwendungszusammenhängen zuordnen. _____________ 14
Zu ihrer Behandlung in der zeitgenössischen Logik vgl. Fuchsperger (1533, 56): Noch ist ain form argumentierens genant doppelrede / wenn zwey ding mit sonderm außtrag / anhang oder zweyffel fürgelegt / vnnd der yedes durch annemung des andern mag angenuen oder verworffen werden / Als weñ das oder daß geschehen sey / so soll das / oder anders auch volgen / dem sey aber nicht also / darumb mß es auch der volge emberen. Oder also zreden / Es ist aintweder diß oder jhens / diß aber ists nit / darumb mß jhens sein (es folgen weitere Beispiel-Varianten) und Melanchthon (1846, 417ff.), speziell zur forma per
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T5 Im Freiheitstraktat führt Luther unter der subthematischen Leitfrage Wie gaht es aber zu, das der glaub allein mag frum machen, 02, schrittweise die Suche des Menschen nach einem Lösungsweg für die Bewältigung einer Aufgabe vor, der er sich nicht gewachsen sieht, und zeigt als ausweglos erscheinendes Endstadium der wachsenden Unruhe und Hilflosigkeit die Verzweiflung, die zugleich die Voraussetzung für eine Kehrtwende ist: Suche nach Hilfe von außen, und in dieser Situation Hinweis auf das Angebot Gottes: den Glauben, als einzigen Rettungsanker. Es folgt, ebenso schrittweise, der Aufbau von Zuversicht, Hoffnung, Vertrauen. Die Ausführungen zu diesem Thema bieten eine Anzahl von Bemerkungen Luthers über psychische Befindlichkeiten des Menschen bei seinem Bestreben, die göttlichen Gebote zu halten. Es handelt sich um eine rational untermauerte psychologisierende Argumentation, die weitgehend auf dem Nachweis von greifbaren Ursachen und deren konkreten Wirkungen beruht. Luther bietet hier metadiskursiv Äußerungen, die als aufschlussreiche Hintergrundinformationen im Hinblick auf die Intentionen, aus denen heraus er einen Teil seiner Appelle formuliert, gelesen werden können. Insbesondere die Verbindungen zu T 1 und T 2 erscheinen nicht zufällig. Subthematischer Zusammenhang: erörternd wertende Gegenüberstellung von Gebot und Verheißung, Werk und Glauben. Der streng gegliederte Textteil beginnt mit der Leitfrage nach der Ursache, warum allein der Glaube ohne alle Werke fromm mache, trotz der vorgeschriebenen Gebote, 02-04: 01
[Czum achten] Wie gaht es aber zu, das der glaub allein mag frum machen, und on alle werck ßo berschwencklich reychtumb geben, ßo doch sovill gesetz, gebot, werck (...) uns furgeschrieben seyn ynnn der schrifft?
Die Ausgangsthese, 05f., betrifft die Bedeutung des Glaubens, die anschließende Divisio, 07-09, eine Gegenüberstellung von Gottes Geboten (I) und Gottes Verheißung (II):
_____________ contrapositionem bzw. consequentia ex contrapositione: Erotemata dialectices. CR XIII, 701f. Unabhängig von diesem bei Luther zweifellos vorhandenen engen Bezug der Figur zur ars dialectica ist sie natürlich auch über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart fester Bestandteil der kommunikativen Verhaltensmuster bestimmter Situationen im Alltagsgespräch und war auch als solche Luther vertraut.
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Hie ist fleyßig zu mercken (...), das allein der glaub on alle werck frum, frey und selig machet (...) Und ist zu wissen, das die gantze heylige schrifft wirt yn zweyerley wort geteyllet, wilche seyn Gebot oder gesetz gottis (I) und vorheyschung oder zusagunge (II).
Ad I: Die Gebote: In einer Sequenz von Aussagesätzen mit zahlreichen Signalen des Begründens und Folgerns und gelegentlich erweitert durch einen Objekt-, Konsekutiv- oder Attributsatz, erfolgt eine Funktionsbestimmung der Gebote durch eine allgemeine und eine spezifizierende Kontrastierung ihres Forderns mit dem Fehlen von Erfüllungshilfen, 10-15, und durch eine Darstellung der Auswirkungen: Die Gebote zeigen dem Menschen seine Unfähigkeit, aus eigener Kraft das Gute zu tun und führen ihn zum Verlust seines Selbstvertrauens und zur Verzweiflung über sich selbst, 16-19. Es folgt: eine Exemplifizierung am 9. und 10. Gebot: 15 Das Erlebnis des eigenen Unvermögens bewirkt die vollkommene Mutlosigkeit des Menschen und sein Verlangen nach Hilfe von außen, 20-24. Der Befund wird generalisierend auf alle Gebote übertragen, 25: 10
15
Die gebott leren und schreyben uns fur mancherley gutte werck, aber damit seyn sie noch nit geschehen. Sie weyßen wol, sie helffen aber nit, leren was man thun soll, geben aber keyn sterck dartzu. Darumb seyn sie nur datzu geordnet, das der mensch drynnen sehe sein unvormgen zu dem gutten und lerne an yhm selbs vortzweyffeln. Und darumb heyssen sie auch das alte testament und gehren alle ynß alte testament,
_____________ 15
Luther fasst in seiner Schrift Von den guten Werken mit Verweis auf Paulus, Ro. vij, beide Gebote als Einheit, WA VI 276.10-20.
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Als, das gebott ‚Du solt nit bß begird haben‘ beweysset, das wir allesampt sunder seyn, und kein mensch vermag, zu sein on bße begirde, er thue was er will, Darauß er lernet an yhm selbs vortzagen und anderßwo suchen hulff, das er on bße begird sey, und alßo das gebott erfulle durch eynen andern, das er auß yhm selb nit vormag: alßo sein auch alle andere gebott uns unmuglich.
Überleitung von I zu II: Die weiterführende Folgerung aus dem Vorausgehenden geschieht in einer Konditionalfügung, 27-31, mit komplexem Vorfeld, 27-29, in dem schrittweise eine starke Spannung aufgebaut wird: Im eröffnenden Konditionalsatz mit nachfolgendem Konsekutivsatz erfolgt eine nachdrücklich differenzierende Wiederholung des bisherigen Argumentationsergebnisses: Der Mensch hat sein Unvermögen kognitiv und emotional wahrgenommen (gelernet und empfunden), 27, und hat daher Angst davor, wie er die Gebote erfüllen könne. Eine Parenthese verschärft begründend (Syntemal) die Angst durch eine komprimiert geäußerte Zusatzbedingung, 29, die indirekt die innere Überzeugung des Menschen wiedergibt, dass er die Gebote halten muss, weil er verdammt würde, wenn er sie nicht erfüllt. Der wachsende psychische Druck hat an dieser Stelle seinen Höhepunkt erreicht. Die Konsequenz zeigt – als Lösung der Spannung – ein psychologisch deprimierendes Ergebnis: Der Rezipient registriert seine Niederlage (gedemütigt und zu nicht worden in seynen augen), 30. Argumentativ ist die Basis für das Wirken der göttlichen Verheißung (II) gelegt, 30f.:
30
[Czum neunden,] Wen nu der mensch auß den gebotten sein unvormgen gelernet und empfunden hatt, das yhm nu angst wirt, wie er dem gebott gnug thue, Syntemal das gebot muß erfullet seyn, oder er muß vordampt seyn, So ist er recht gedemtigt und zu nicht worden ynn seynen augen, findet nichts yn yhm, damit er mag frum werden.
Ad II: Die göttliche Verheißung beginnt mit der Zuversicht weckenden Ankündigung, dass Voraussetzung für die Erfüllung der Gebote der Glaube an Christus sei. Die Aussage erfolgt, eingeführt durch ein Verbum dicendi, in einer formal ‚selbstständigen‘ Konditionalfügung in der Abfolge B – K, mit Verb-Erststellung im Koditionalsatz und einem Aufforderungssatz als Konsequenz, beide durch einen weiterführenden Relativsatz ergänzt, 33-36.
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Als Höhepunkt seiner Beweisführung gibt Luther anschließend zweimal in kurzem Abstand hintereinander je in einer doppelten Konditionalfügung als Umkehrschluss den Kerngedanken des Neuen Testaments wieder, dass allein der Glaube selig mache: das erste Mal in knapper kompromissloser Alternativ-Formulierung, deren Zugespitztheit er, selbst in vergleichbar scharfen Äußerungen, an keiner Stelle seiner Werke überbietet, 37-40. 16 Die eröffnenden Konditionalsätze haben Spitzenstellung des finiten Verbs, die antithetischen kurzen Gliederpaare anaphorisch-parallelen Gleichlauf. Der abrupte Ton – selbst die Verbvalenzen von glauben und haben sind nicht gefüllt – erscheint zunächst als Fremdkörper in dem rhetorisch durchformten, wortreichen Text, ist jedoch in seiner Wirkung zweifellos beabsichtigt, da er dem Wort Gottes besondere Schlagkraft verleiht und seine kompromisslose, unabdingbare Gültigkeit verdeutlicht. Im Anschluss an zwei Aussagesätze, die den Inhalt der Verheißung begründen, der erste im Hinblick auf seine entlastende Bedeutung für den Menschen, der zweite im Hinblick auf den göttlichen Beschluss, auf dem die Verheißung basiert, 41-43, folgt in konsekutiver Abhängigkeit von diesem die zweite doppelte Konditionalfügung, 43-48. Inhaltlich eine Bekräftigung der ersten, ist auch sie sehr direkt formuliert, jedoch weniger forciert. Indem sich die Konstruktion durch Anakoluth aus der Abhängigkeit von dem konsekutiven dassSatzbeginn befreit, kommen die formalen Indikatoren gesetzhafter Verkündung – mit generalisierendem Relativpronomen als Eröffnung der Konditionalsätze – in anaphorisch-antithetischem Parallelismus voll zur Wirkung, wobei sich hier der Ton wieder stärker dem oratorischen Duktus des Freiheitstraktats einpasst: durch die erweiterte Prädikatgruppe im ersten Teil und die verbalen Klammerformen aus Finitum und Infinitiv, die als Futurperiphrase den Verheißungscharakter der Aussage verstärken (sol – seyn, 46, sol – haben, 48):
_____________ 16
Vgl. z.B. die Belege T 7 bis T 10, besonders den Umkehrschluss T 10, mit dem Luther auf seiner Flucht von der Wartburg nach Wittenberg in einem unerschrockenen Brief seinem Landesherrn, Friedrich dem Weisen, seine Verzagtheit vorhält und ihn vereindringlichend zu einer dezidierten Haltung gegenüber dem Kaiser auffordert, 10,01-05.
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Dan ßo kumpt das ander wort, Die gottlich vorheyschung und zusagung und spricht ‚wiltu alle gepott erfullen, deyner bßen begirde und sund loß werden wie die gebott zwyngen und foddern, Sihe da, glaub in Christum, in wilchem ich dir zusag alle gnad, gerechtigkeit, frid und freyheyt, glaubstu, so hastu, glaubstu nit, so hastu nit. Den das dir unmuglich ist mit allen wercken der gebott (...), das wirt dir leycht und kurtz durch den glauben. Den ich hab kurtzlich yn den glauben gestellet alle ding,
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das, wer yhn hat, sol alle ding haben und selig seyn, wer yhn nit hatt soll nichts haben‘.
Conclusio: Es erfolgt eine Synthese der Ausführungen von I und II, in einem Aussagesatz mit zwei Prädikatgruppen, die durch anaphorischparallele Objektsätze erweitert sind, mit einem anschließenden Finalsatz im Verheißungston, 49-51: 50
Alßo geben die zusagung gottis, was die gepott erfoddern, und volnbringen, was die gepott heyssen, auff das es alles gottis eygen sey, Gepott und erfullung (...). WA VII, 23.24-24.25
T6 Im nachfolgenden Textbeleg, der in Luthers Lehrschrift Von den guten Werken gehört, wird der argumentative Duktus verstärkt durch die Verwendung von drei doppelten Konditionalfügungen, eine zur Eröffnung der Ausführungen, 05-10, die beiden anderen, unmittelbar aufeinander folgend, als deren Abschluss, 13-25; 27-39. Bedingt durch ihre rahmende Position und die damit verbundenen unterschiedlichen Funktionen differieren sie erheblich in der gedanklichen und formalen Struktur sowie in ihrem Umfang und der sprachlichen Ausgestaltung.
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Subthematischer Zusammenhang ist die Anleitung zu kritischer Selbsteinschätzung als Voraussetzung für richtiges Verhalten. Die Eröffnung ist thesenartig. Der Rezipient wird in einem indirekten Appell durch einen erweiterten Aussagesatz darauf hingewiesen, wie er sich selbst ein Urteil darüber zu bilden vermöge, inwieweit seine Handlungen gute Werke sind, 02f. Die erste, begründend angeschlossene, doppelte Konditionalfügung formuliert im Umkehrschluss die Unterscheidungskriterien knapp und dezidiert. Die einleitenden Konditionalsätze haben Erststellung des finiten Verbs und benennen im positiven wie negativen Fall den Leitbegriff zuvorsicht, 05; 08. Die Konsequenz hat anaphorisch-parallele Glieder mit vollkommen gleichem Wortlaut, einschließlich dem einleitenden ßo und unterschieden nur durch die Negation im zweiten Fall. Beide Konditionalfügungen schließen je mit einem Irrelevanzbedingungssatz, der durch eine extrem irreale Fallsetzung die Gültigkeit der Gesamtaussage verstärkt, 07; 10: 01 [Czum vierden,] Hie kann nu ein iglicher selb mercken und fulen, wen er guttes und nit guttes thut: 05
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dan findet er sein hertz in der zuvorsicht, das es gote gefalle, ßo ist das werck gut, wan es auch ßo gering were als ein strohalmen auffheben, ist die zuvorsicht nit da odder tzweifelt dran, ßo ist das werck nit gut, ob es schon alle todten auffweckt unnd sich der mensch verbrennen ließ. (...) WA IV, 206.08-11
Der umfangreiche eingerahmte Textteil, WA IV, 206.13-207.15, stellt eingehend die Bedeutung des Glaubens dar, als Grundlage für eine Gesinnung, aus der heraus jedes Werk, auch das geringste, ein gutes Werk sein kann. Die Ausführungen haben als Argumentationsstützen mehrere Verweise auf die Bibel und münden in einer anwendungsorientierten Exemplifizierung: Das Kriterium zur Unterscheidung, ob ein Werk gut ist oder nicht, wird anhand einer allgemein vertrauten Gegebenheit der Partnerbeziehung in einer zweiten doppelten Konditionalfügung verdeutlicht, 11-25. Diese hat einen eher kolloquialen Duktus und ist erheblich expandiert. Merkmale einer formalen Korrespondenz zwischen antithetischen Gliederpaaren fehlen weitgehend. Auf die Exempelfunktion verweist ein vorausgeschickter Aussagesatz, 11f., aber ohne nachfolgendes Abhängigkeitssignal. Die Konditionalsätze sind verschieden eingeleitet (wenn, wo), 13; 20. Der erste benennt sehr genau den Fall positiver Voraussetzungen in der Interaktion der Partner bei gegenseitiger Neigung. Die Konsequenz erstreckt sich auf
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mehrere Einzelaussagen: In einer Kombination von Frage- und Antwortsatz 17 wird generell die zuvorsicht zur sicheren Richtschnur für das Verhalten erklärt, 15f. In den anschließenden Aussagesätzen, 17-19, wird das gemeinte Verhalten durch geraffte Aufzählungen konkretisiert und implizit als erstrebenswert dargestellt. In der zweiten Konditionalfügung wird als Folgerung aus dem Gegenteil eine abschreckende Vorstellung für den Fall des tzweifels der Partner aneinander, 20, entworfen. Die anschauliche, extensive Unterbreitung der psychischen Pein, als Folge der Verunsicherung durch den Vertrauensverlust mit dem Ende in der Ausweglosigkeit, 21-25, ähnelt der Darstellung der Verzweiflungs-Situation des Menschen, dem der Glaube fehlt, in Textbeleg 5,17f.; 22; 30f.: [Czum sechsten,] Das mugen wir bey einem groben fleischlichenn exempel sehen.
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Wen ein man odder weib sich zum andern vorsicht lieb und wolgefallens, und das selb fest glewbt, wer lernet den selben, wie er sich stellen sol, was er thun, lassen, sagen (...) sol? die eynige zuvorsicht leret yhn das alles und mehr dan not ist. Da ist yhm kein unterscheidt in wercken. Thut das groß, lang vile ßo gerne als das klein, kurtz, wenige, und widerumb, dartzu, mit frolichem, fridlichem, sicherem hertzen, und ist gantz ein frey geselle. Wo aber ein tzweifel da ist, da sucht sichs, welchs am bestenn sey, da hebet sich unterscheidt der werck austzumalen, wamit er mag huld erwerben, und gaht dennoch zu mit schwerem hertzen und grosem unlust, unnd ist gleich gefangen, mehr dan halb vortzweiffelt, und wirt offt zum narren drob.
Analoge Übertragung des Exempels auf das Verhältnis des Menschen zu Gott erfolgt unmittelbar anschließend in einer dritten doppelten Konditionalfügung, 26-39, bei der die Bedingungen durch allgemeine Relativsätze ausgedrückt sind, wobei im ersten Fall das Subjekt des Konsequenzsatzes, 27f., die Konstruktion eröffnet, so dass der eingeschobene Relativsatz zum Attributsatz wird. Die beiden strukturell etwas gelockerten Fügungen kontrastieren inhaltlich den Christen, der in zuvorsicht gegen got lebt, 27f., mit dem, der mit _____________ 17
Das ist in Minimalausprägung das Kommunikationsmuster des Lehrgesprächs.
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got nit einß ist odder tzweiffelt dran, 33. Die konträren, psychisch tiefgreifenden Folgen sind jeweils auf einer stark expandierten Hauptsatzebene zunächst generalisierend benannt – 29; 34 – und anschließend in einer Häufung von Prädikatgruppen, 29-31, bzw. weiteren Aussagesätzen, 34-39, konkretisiert. Im zweiten Fall münden sie in dem Fazit, dass alle Handlungen der Werkfrömmigkeit als Ergebnis die Verzweiflung haben, 37: 26
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Alßo einn Christen mensch, der in dieser zuvorsicht gegen got lebt, weiß alle dingk, vormag alle dingk, vormisset sich aller ding, was zu thun ist, und thuts alles frolich und frey, nit umb vil guter vordinst und werck zusamlen, ßondern das yhm (...) daran benuget, das es got gefellet. Widderumb der mit got nit einß ist odder tzweiffelt dran, der hebt an, sucht und sorget, wie er doch wolle gnugthun und mit vil wercken got bewegen. Er leufft zu sanct Jacob, Rom, Hierusalem (...) und findet doch nit ruge, und thut das alles mit grosser beschwerung, vortzweyfflung und unlust seines hertzen (...). Dartzu seinß nit gute werck und alle verloren. Er sein vil drober doll worden und vor angst in alle jamer kummen. (...) WA VI 206.08-208.05.
Ein formales Indiz für das eindeutige Ende des zweiten Teils der doppelten Konditionalfügung fehlt. Der Inhalt der zweiten Konsequenz findet seine Fortsetzung in den Folgesätzen, 36ff. Das gleitende Auslaufen nimmt der Figur ihre Konturen und entsprechend der Aussage eine gewisse Schlagkraft. Stattdessen dominiert das Besonnen-Abwägende mit Blick auf das im realen Alltagsleben relevante konkrete Detail. Es ist daher im Hinblick auf den dargelegten Sachverhalt durchaus die angemessene Darstellungsform. Als Vergleichsgrundlage für die extreme Ausgestaltung der ersten doppelten Konditionalfügung in T 5, 37-40, sind im Folgenden ergänzend einige besonders scharf formulierte Belege angeführt: aus Luthers Schrift Wider die himmlischen Propheten T 7 bis T 9, sowie einer der zahlreichen 18 aus seinen Briefen, T 10. _____________ 18
Eine kleine Zusammenstellung findet sich in Rössing-Hager (1972, 243, Anm. 1).
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T7 Subthematischer Zusammenhang: Zu Beginn des 2. Buches Wider die himmlischen Propheten verkündet Luther die siegessichere Zuversicht, das begonnene Werk der Reformation trotz gegnerischer Behinderungsversuche zu vollenden. Als Grundlage bekennt er sein rückhaltloses Gottvertrauen. Intention: Einschüchterung der Gegner, primär Karlstadts und seiner Anhänger, durch eine unerschrockene Drohgebärde. Nach vorgeschaltetem Satz mit Gültigkeitserklärung für die folgende Äußerung, 01, folgt eine doppelte Konditionalfügung, 02-05, als Alternativ-Indikator. Die zweite Konsequenz, 05, bietet eine Ergebenheitserklärung für den Fall des Irrtums – der jedoch implizit als ausgeschlossen suggeriert wird. Die knapp geäußerte Alternative signalisiert vielmehr, dass der Verkünder alles auf eine Karte setzt. Die beiden Folgesätze enthalten eine erläuternde Bekräftigung, 06f.: 01
Ich habs offt und lengst gesagt:
05
Ists aus Gott, was ich hab angefangen, so solls niemant dempffen, Ists nicht aus Gott, so hallts eyn ander, ich wills freylich nicht erhalten. Ich kann nichts dran verlieren, denn ich habe nichts drauff gewand. Das weys ich aber wol, das myrs soll niemand nemen on Gott alleyne. WA XVIII 134.01-12
T8 Intention: Entlarvung des Gegners, um ihn unschädlich zu machen. Nach vorgeschaltetem Satz mit Gültigkeitserklärung der folgenden Äußerung, 01, folgt eine an mehreren Stellen durch parenthetische Argumente erweiterte doppelte Konditionalfügung. Der Umkehrschluss dient als Kriterium zur Beurteilung des Gegners. Der logische Duktus in bündiger Formulierung schließt suggestiv jeden Widerspruch aus. Die zweite Konsequenz ist polemisches Signal für das unanfechtbar Zutreffende der Aussage. Es zeigt sich eine Muster-Ähnlichkeit mit T 7:
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01
So stehet nu diese sache also:
05
Ist D. Carlstad der man, der macht hat, artickel des glaubens zu stellen (...), so Ist seyn schreyben recht (...), Ist er aber nicht der man, so sihest, wie yhn der teuffel reyt (...)WA XVIII 146.30-147.05
T9 Subthematischer Zusammenhang: sachlich erörternde Ausführung über richtiges und falsches Lehren. Eröffnende Behauptung: Vorrang hat die Lehre des Glaubens gegenüber der Lehre von den guten Werken, 01. Der Umkehrschluss bietet die Beweisgrundlage für die vorausgehende (begründende) Behauptung. Die doppelte Konditionalfügung, 02-08, ist chiastisch angeordnet: Zwei Irrelevanzbedingungssätze bilden den Rahmen der Konstruktion, 03; 08. Sie unterstreichen die absolute Nutzlosigkeit der Werke. Die negative erste Konsequenz steht vor der zugehörigen Bedingung: 04, 05, und die positive zweite Konsequenz hinter ihrer Bedingung: 07, 06. Hierdurch entsteht eine verstärkte Spannung zwischen den Alternativ-Aussagen. Es besteht Muster-Ähnlichkeit mit dem eröffnenden Umkehrschluss in T 6, 05-10. In beiden Fällen hat die logische Figur Beweisfunktion in einem erörternden Textteil. 01
05
Denn es ligt mehr an der lere des glaubens (...) denn an der lere gutter werck. Syntemal ob gleych die werck feylen, so ist hlffe und rad da, das man sie kann anrichten, wo des glaubens lere fest und reyn bleybt. Aber wo des glaubens lere enhyndern gesetzt und die werck erfur zogen werden, da kann nichts guts, widder rad noch hulffe seyn, On das die werck eyttel ehre mit sich bringen (...). WA XVIII, 63.21-30
T 10 Thematik und Textsorte: freimütiger Rechtfertigungsbrief Luthers wegen seiner Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg trotz kurfüstlichen Verbots.
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Intention: Versuch, den Kurfürsten zu furchtlosem Auftreten gegenüber dem Kaiser im Vertrauen auf Gott anzufeuern. Die Aussage kommt in ihrer knappen, unabdingbaren Formulierung nahe an den Ton von T 5, 37-40 heran: 01
05
Gläubt E.K.F.G. dies, so wird sie sicher sein und Friede haben, gläubt sie nicht, so gläube doch ich und muß E.K.F.G. Unglauben lassen seine Qual in Sorgen haben, wie sich’s gebührt allen Ungläubigen zu leiden. WA Br. II, Nr. 455, Z. 91-94
4. Schlussbemerkung Es zeigt sich, dass das Strukturmuster der doppelten Konditionalfügung für die Folgerung aus dem Gegenteil eine außerordentliche Flexibilität hat, je nach der im Einzelfall intendierten kommunikativen und textkonstitutiven Funktion. Entsprechend dem Vorhandensein von Merkmalen der formalen Ausgestaltung tritt es im Textkontinuum deutlich als eigenständige Einheit hervor oder bleibt unauffällig. Zwischen beiden Extremen sind vielfache Übergangsmöglichkeiten, von denen hier nur einige berücksichtigt werden konnten. Je schärfer zugespitzt die Aussage ist, desto eher hebt sich die doppelte Konditionalfügung auch formal aus dem Textkontinuum ab. Häufig bewirkt der Einsatz mit dem finiten Verb in den Konditionalsätzen einen weitgehenden Gleichlauf der paarweise korrespondierenden, oft sehr kurzen Glieder, die sich im Extremfall nur durch die vorhandene bzw. fehlende Negation unterscheiden. Je gemäßigter der Ton, desto eher erfolgt der Einsatz mit einer Konjunktion, wobei die Kontrastierung der beiden Teilaussagen durch Verwendung derselben Konjunktion und weitere anaphorische Elemente gestützt werden kann oder durch das Fehlen dieser Markierungen die Äußerung den Anschein des eher beiläufig Mitgeteilten hat und hierdurch in der Vermittlung eines besonders relevanten inhaltlichen Details umso wirksamer sein kann. Die Beobachtungen verweisen auf Tendenzen. Für jede der genannten Erscheinungen bieten sich auch Gegenbeispiele. Im Einzelfall spielen Kontextfaktoren zusammen, die die Bevorzugung bestimmter Formen begünstigen. Die im Hinblick auf die jeweils speziell intendierte kommunikative Wirkung getroffene (intuitive) Entscheidung bei der Wahl bestimmter Formelemente und
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ihrer Kombination kann bei vergleichender Betrachtung nur versuchsweise erschlossen werden. Genauso differenziert wie die formale Ausgestaltung der Struktur ist der in ihr transportierte Gedanke und die beabsichtigte kommunikative Wirkung von diesem: Überzeugung vermittelnde Schlagkraft mit dem Anspruch der unabdingbaren Gültigkeit und des Ausschließens von jedem denkbaren Widerspruch und daher gleichermaßen geeignet für Verheißen / Versprechen aber auch Drohen (z.B. T 5, 37-40; T 5, 45-48), das Verkünden eines zugespitzten (T 8) oder unerwarteten (T 10) Trumpfes, die schlüssige Darlegung eines Sachverhalts mit Beweiskraft in einer Erörterung (T 6, 02-10; T 9); die gegenstandsnahe Veranschaulichung eines abstrakten Sachverhalts durch eine vertraute Alltagssituation (T 6, 13-25; bedingt auch T 6, 26-39). Die nicht seltene Erweiterung der kontrastierenden Konditionalfügungen durch entsprechend antithetische Irrelevanzsätze mit extrem irrealen Fallsetzungen unterstreicht in der Übertreibung die ausnahmslose Gültigkeit der Aussagen (z.B. T 6, 02-10 und T 9). Fast in allen Bedingungssätzen der Belege steht ein Verb des Handelns, Sich-Verhaltens oder So-Seins. Und in vielen dieser Fälle steht das Verhalten bzw. Handeln von Personen(gruppen) zur Diskussion, das sich in einem spezifischen Kontext als sinnvoll oder notwendig ergibt oder aber als schädlich erweist. Immer ist die Konsequenz im Blick, oft als Ziel, auf das die Bedingung gerichtet ist; gelegentlich ist aber auch die Bedingung – in Form einer Aufforderung – das Primäre und die Konsequenz eher ein (erwünschtes oder erwartetes) Begleitergebnis. In jedem Fall bringt die Durchdringung der Texte mit Konditionalfügungen sehr viel Dynamik und Spannung in die Ausführungen. Sie führt zu einer mentalen Aktivierung des Rezipienten, insofern er bei der Behandlung fast jedes Subthemas Kriterien für die richtige Einschätzung von Sachverhalten vermittelt bekommt und kontinuierlich explizit, und sehr viel öfter implizit, aufgerufen ist, durch sorgfältig erwogene Entscheidungen – und deren Umsetzung in Handlungen – in eigener Verantwortung sein Schicksal maßgeblich selbst zu bestimmen, nicht im Sinn einer absoluten Autonomie, sondern durch ein Handeln aus aktivem Gottvertrauen. Es scheint nicht zufällig, dass gerade die explizit persönlichen Appelle (T 1 bis T 4), deren Kernaussagen in Konditionalfügungen erfolgen, deren eines Element ein Aufforderungssatz ist, zwar hohe (im weitesten Sinn) ethische Anforderungen an den Rezipienten stellen, einschließlich der Empfehlung zur Emanzipation von der (kirchlichen) Obrigkeit, dass aber zugleich diese Appelle flankiert werden durch ermutigende Anleitungen zur Überwindung von Angst und inneren Unruhen, die ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Verständnis des Autors signalisieren.
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Die mehrfachen Äußerungen in einigen der Textbelege unter 3.2. über Ursachen und Entwicklungen von Zuständen seelischer Unruhe und Angst bis hin zur Verzweiflung des Menschen, der seine eigenen Fähigkeiten überfordert und gleichzeitig auf keine helfende Kraft vertrauen kann, besonders T 5, erscheinen wie ein Aufschluss gebender Hinweis auf eigene Erfahrungen des Autors, die dessen Ermutigungen gegenüber dem Rezipienten zu Grunde liegen. Die vorsichtige Annahme dieses Zusammenhangs drängt sich bei eingehender Lektüre der vier für diese Untersuchung benutzten Texte auf. Er ist sehr wahrscheinlich eine der Ursachen, warum Luther bereits mit seinen Schriften aus den frühen Jahren der Reformation die Leser / Hörer trotz der hohen Erwartungen an sie so unmittelbar und erfolgreich angesprochen hat.
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Textgrammatik und historische Textsorten am Beispiel sakralsprachlicher Texte Albrecht Greule (Regensburg)
1. Kirchenlieder als sakralsprachliche Texte Jüdischer und christlicher Gottesdienst sind ohne Gesang nur schwer vorstellbar. Für die Gemeinden stehen Musik und Gesang im Zusammenhang mit dem grundsätzlichen Problem der angemessenen Gottesverehrung. Christlicher Gottesdienst soll und kann nur gesungener Lobpreis Gottes in Form von Psalmen- und Hymnengesang sein (nach Becker u.a. 2001, 13). Solange der Gesang im Gottesdienst einem Vorsänger und einem Chor vorbehalten war und solange die Texte nur in einer der heiligen Sprachen verfasst waren, sind sie für den Germanisten nur am Rand von Interesse. Anders wird dies, sobald die Gemeinde am gottesdienstlichen Gesang beteiligt wird und die Gesänge in der Sprache des Volkes verfasst und bis auf den heutigen Tag überliefert sind. In der „Sprache des Volkes“ heißt für die folgenden Überlegungen: in einer historischen und geographischen Varietät dessen, was wir summarisch „historische Einzelsprache Deutsch“ nennen. Die anfänglich dürftige Überlieferung, sowohl was die Textmenge als auch was den Umfang der Texte anbelangt, spiegelt die Tatsache wider, dass es nur wenige volkssprachliche Lieder gab, die während gottesdienstlicher Feiern gesungen werden durften1 und der schriftlichen Überlieferung für wert gehalten wurden. Erst mit der Reformation, dem Vordringen der Volkssprache in den evangelischen Gottesdienst und mit Martin Luther als Textdichter beginnt die Flut von Kirchenliedern. Das vorreformatorische Gebenbacher Pfarrbuch, das der dortige Pfarrer in den Jahren 1419 bis 1437 verfasste, teilt uns die Liedanfänge der fünf Lieder _____________ 1
Payer (2000, 18): „[…] volkssprachliche Lieder [kamen] als Einschübe im Verlaufe liturgischer Handlungen oder am Ende solcher zum Einsatz und dienten dann als erläuternde Ausschmückung zum liturgischen lateinischen Gesang.“
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mit, die diese Oberpfälzer Gemeinde singen durfte: von Lichtmess bis Palmsonntag „Nun bitten wir den heiligen Geist“ und „Sancta Maria, Mutter reine“, von Ostern bis Pfingsten „Christ ist erstanden“ und „Also hehr ist dieser Tag“, in der Weihnachtszeit: „Uns ist geboren ein Kind“ (vgl. Greule 1998, 386).
2. Beispiele 2.1. Petruslied (1)
Unsar trohtin hat farsalt sancte Petre giuualt, Daz er mac ginerian ze imo dingenten man Kyrie eleyson, Christe eleyson
(2)
Er hapet ouh mit uuortun himilriches portun. Dar in mach er skerian den er uuili nerian Kyrie eleyson, Christe eleyson
(3)
Pittemes den gotes trut alla samant uparlut Daz er uns firtanen giuuerdo ginaden Kyrie eleyson, Christe eleyson. 2
Da der Text neumiert ist, war er zum Gesang, vielleicht im Verlauf einer Prozession oder einer Wallfahrt, bestimmt. Inhaltlich steht das Lied dem lateinischen Prozessionshymnus „Aurea luce“ nahe, der für das Fest Peter und Paul (29. Juni) vorgeschrieben ist (vgl. Groseclose / Murdoch 1976, 77ff.). 2.2. Nun bitten wir den Heiligen Geist Nû bitten wir den heiligen geist umb den rehten glouben aller meist daz er uns behüete an unserm ende sô wir heim suln varn ûz diesem ellende kyrieleis. In dieser Gestalt findet sich der Text zitiert in der dritten der Berthold von Regensburg zugeschriebenen Predigten. Als Entstehungszeit wird die _____________ 2
Textwiedergabe nach H. D. Schlosser, Althochdeutsche Literatur, 2. Auflage 2004,150. Überliefert in einer aus der Freisinger Dombibliothek stammenden Handschrift (clm 6260), geschrieben um 900 oder im frühen 10. Jh.
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1. Hälfte des 13. Jh. vermutet. In Anbetracht der schwierigen Überlieferung der Berthold von Regensburg zugeschriebenen Predigten gebe ich den Liedtext zusätzlich nach einem Faksimile aus einer Trierer Handschrift (neumiert) aus der Zeit um 1350 wieder: Nu bidde we de(n) heylighen gheyst vm den rechte(n) louen alter meyst dat he vns be hode vor der helle wan we hene varen vthe dessem elente kryoleyson3 2.3. Christ ist erstanden Christ der ist erstanden Von der marter alle Des svll wir alle fro sein Christ sol vnser trost sein Kyriel(eis)4 2.4. Es kommt ein Schiff geladen (1)
es kůmpt ein schiff geladen bis an sin hǒgste bort Es draget den sǒn des vaters das eweliche wort.
(2)
Das schiff das geit so stille Es draget so duren last der segel ist die myn(n)e der heilge geist der mast
(3)
Der ancker ist vß geworffen dz schiff dz geit an lant Got ist mensche worden der sůn ist vns gesant.5[Fußnote folgende Seite]
_____________ 3 4
Faksimile abgedruckt in: Becker u.a. (2001, 43). Text nach Faksimile aus einer Klosterneuburger Handschrift (neumiert) des 14. Jh. Faksimile abgedruckt in: Becker u.a. (2001, 29). Die Handschrift bezeugt ausdrücklich den Gesang des Liedes durch das Volk: „…populus succinat Christ…“.
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2.5. Martin Luther, Mitten wir im Leben 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Mytten wir ym leben synd mit dem todt umbfangen. Wen suchen wir der hulffe thu, das wir gnad erlangen? das byst du herr alleyne. Uns reuet unser missethat, die dich herr erzurnet hat. Heyliger herre Got Heyliger starcker gott Heyliger barmhertziger heyland du ewyger gott las unns nicht versyncken yn des pittern todes nott Kyrieleyson Mitten yn dem tod anfycht uns der hellen rachen. Wer will uns aus solcher not frey und ledig machen? das thustu herr alleyne Es yamert deyn barmhetzigkeyt unser klag und grosses leyd. Heyliger herre Got Heyliger starcker gott Heyliger barmhertziger heyland du ewyger gott, laß uns nicht vertzagen fur der tieffen hellen glutt. Kyrieleyson Mitten in der hellen angst unser sund uns treiben. Wo soln wir den flihen hyn, da wir mugen bleiben? Zu dir, herr Christ, alleyne. Vergossen ist dein teures blut, das gnug fur die sunden thut. Heyliger herre Got Heyliger starcker gott Heyliger barmhertziger heyland du ewyger gott, laß uns nicht entfallen von des rechten glaubens trost Kyrieleyson6
_____________ 5 6
Wiedergabe der vermuteten drei Kernstrophen nach Cod. germ. berol. oct. 53, Mitte 15. Jh., Provenienz: Dominikanerinnenkloster St. Nicolaus in undis, Straßburg. Als Dichter wird der Mystiker Tauler vermutet (Greule 1992, 65-77). Luthers Bearbeitung erscheint zuerst in den „Erfurter Enchiridien“, Erfurt 1524, hier ohne Melodie, und im „Geistlichen Gesangbüchlein von Johann Walter“, Wittenberg 1524. Wiedergabe des Textes in einer Fassung, die dem Abdruck in Becker u.a. (2001, 87) folgt, die Zeilen aber nach Minimalen Texteinheiten anordnet.
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2.6. Paul Gerhardt, O Haupt voll Blut und Wunden7
_____________ 7
Textwiedergabe nach Bachmann (1886,15).
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3. Überlieferung Betrachtet man die Überlieferung von deutschen Kirchenliedern im Überblick, dann sind folgende Fakten erkennbar. 1. Die aus althochdeutscher Zeit überlieferten Texte (neben dem Petruslied ist noch das Georgslied zu erwähnen) bleiben ohne lebendige Tradition im liturgischen Leben. Diese setzt offenbar erst im 15. Jahrhundert mit dem Lied „Christ ist erstanden“ (siehe 2.3.) ein. 8 2. Die Textmenge bleibt aber auch in dieser Traditionslinie dürftig. Dies ändert sich erst in reformatorischer Zeit und zwar zuerst durch Einflüsse aus Böhmen, wo die Hussiten seit 1465 den volkssprachlichen Kirchengesang pflegten (vgl. Greule 2004, 229f.). 3. Die ältesten Texte, auch des althochdeutschen Petrusliedes, sind so genannte Leisen, weil sie mit der Akklamation „Kyrie-leis“ enden, was vage Rückschlüsse auf den Anlass für den Volksgesang in einer ansonsten von Klerikern und Mönchen getragenen lateinischen Liturgie zulässt. 4. Die mediale Überlieferung der Texte erfolgte auf unterschiedliche Arten: Die frühesten sind handschriftlich überliefert; später liegen die Texte gedruckt vor. Handschriftliche und gedruckte Liedtexte werden auch einzeln überliefert. So sind die frühesten von Luther verfassten Lieder als Flugschriften gedruckt und einzeln überliefert. Meist sind sie aber entweder mit anderen Liedtexten (Liederheften, Liederbüchern, Gesangbüchern) oder mit Texten anderer Gattungen zusammen überliefert. 5. Im Verlauf der Gebrauchsgeschichte werden die einstrophigen Lieder um weitere Strophen erweitert. Teilweise werden mehrstrophige Lieder um Strophen gekürzt. Die Eingriffe in die Liedtexte und ihre Strophenstruktur verfolgen meist theologisch bedingte Ziele, teilweise geht es dabei aber auch einfach um stilistische Eingriffe. 9
_____________ 8 9
Kaum für den gottesdienstlichen Gebrauch waren die geistlichen Lieder Walthers von der Vogelweide und die des Mönchs von Salzburg (2. Hälfte 14. Jh.) bestimmt. Vgl. Greule (1992), wo die Entwicklung der Liedzeile „(Christe) qui noctis tenebrae detegis“ des lateinischen Hymnus „Christe qui lux es“ in 17 Übersetzungen durch die Zeit verfolgt wird.
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4. Kirchenlieder in der sprachwissenschaftlichen Forschung Bevor wir zu den Analysen übergehen, möchte ich einige Punkte zu den Zielen der sprachwissenschaftlichen Erforschung von Kirchenliedern festhalten: 1. Die Sprachwissenschaft kann heute dazu beitragen, den Text eines „alten“ Liedes verständlich zu machen, so dass es in einer volkssprachlichen Liturgie, deren Texte von der gesamten Gemeinde verstanden werden sollen, verwendet werden kann. 2. Die Sprachwissenschaft kann durch ihren historischen Zugriff sprachgeschichtliche Entwicklungen im Verlauf der Tradition eines Liedes nachzeichnen und so einen Beitrag insbesondere zur historischen Morphologie, zur Lexik und zur historischen Semantik leisten. 3. Die Sprachwissenschaft kann dazu beitragen, auf den verschiedenen Ebenen der Sprachstruktur Liedtexte als sprachliche Kunstwerke zu erweisen, als welche sie wegen ihrer Verwendung im Gottesdienst erwartet werden dürfen (pragmatisches Argument). Ich werde das an einem Luther-Lied und einer Dichtung Paul Gerhardts im Folgenden zeigen. 4. Die Sprachwissenschaft kann einen Liedtext der Sprachkritik unterziehen. Dies wird weniger bei Texten, wie ich sie im Folgenden in den Vordergrund stellen will, notwendig sein, als vielmehr, wie die Erfahrung lehrt, beim so genannten Neuen geistlichen Lied der Fall sein und wird auch von den Liturgiepraktikern von der Sprachwissenschaft eingefordert. Wir stehen seit einiger Zeit vor dem Problem, in der Tradition von Otto Behaghel eine neue diachrone Syntax der deutschen Sprache zu verfassen, die aber der verbesserten Quellenerschließung, dem durch lange Diskussionen geschärften Theorie- und Methodenbewusstsein und nicht zuletzt der Digitalisierung Rechnung tragen soll. Diese Aufgabe ist nicht mehr durch eine/n Forscher/in allein zu bewältigen. Deshalb hat sich im Juni 2005 eine Forschergruppe zusammengetan, die sich den durchaus nicht falsch zu verstehenden Namen DiSynDe (Diachrone Syntax Deutsch) gegeben hat und die sich dieser Aufgabe stellen will (vgl. Schmid 2007, 51ff.). Die Vorgehensweise der Gruppe zeichnet sich durch folgende Kernpunkte aus: Das Korpus umfasst nur Texte der Gebrauchsprosa. Ein pro-
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visorisches Textkorpus, das brauchbare Texte des 11. bis 17. Jahrhunderts enthält, liegt digitalisiert vor; die Probleme der Annotierung stehen im Rahmen einer Pilotphase vor der Lösung. Das Gesamtprojekt ist – den Ebenen der Sprachstruktur entsprechend – nach vier Projektbereichen gegliedert. Die Textgrammatik, um die es mir in den folgenden Überlegungen geht, nimmt in den Planungen der Forschergruppe ebenfalls einen festen Platz ein. Vor dem Hintergrund, dass in der Diachronen Syntax Deutsch vorerst nur Texte der Gebrauchsprosa als Datenbasis dienen und poetische Texte (was auch immer das genau heißt) ausgeschlossen bleiben, möchte ich meine Ausführungen als eine Art Korreferat verstanden wissen. Es soll ausgelotet werden, wie künftig auf der Folie der Analyse von Gebrauchsprosa mit dem Texttyp Kirchenlied in einer historischen Grammatik des Deutschen umgegangen werden kann. Bietet es sich an, sie in eine ergänzende diachrone Syntax poetischer Texte aufzunehmen oder soll man besser eine textsortenspezifische Syntax anpeilen, zumal Kirchenlieder eher dem Performanzbereich des Gebrauchs als dem der Poetik zugeordnet werden könnten? Exemplarische Analysen sollen zeigen, wo die Probleme liegen. Zuvor bleibt noch zu klären: Was sind sakrale bzw. sakralsprachliche Texte? Es sind Texte, die für den Gebrauch im Gottesdienst als Rede und Gesang vorgesehen sind und im konkreten Gottesdienst auch gesprochen oder gesungen werden oder wurden. Der sakrale, liturgische Bereich ist im Hinblick auf die Klassifikation von Texten ein Zwischenbereich: Er unterscheidet sich deutlich vom profanen Bereich, aus dem er durch den Ort des Gottesdienstes, die Kleidung, die Musik und die Sprache hervorgehoben ist. Dennoch handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes um Gebrauchssprache. Kirchenliedtexte sind demnach sakrale Texte, die im Gottesdienst durch die Jahrhunderte gesungen wurden und deren Gebrauch höchstens durch Änderungen der Liturgie selbst intensiviert oder minimiert wurde.
5. Strukturen der Textgrammatik Das Ziel der Textgrammatik und von ihr ausgehender Analysen ist die Feststellung der Kohärenz eines Textes. Es stellt sich die Frage, dank welcher sprachlichen Mittel ein Text kohärent ist. Diese Frage stellt sich aber nicht nur analytisch-rezeptionell, sondern auch synthetisch-produktional und die Antworten auf die Fragen sind nicht ohne Bezug auf die Textsorte eines gegebenen oder zu formulierenden Textes zu geben. Es ist sowohl für den Rezipienten, d.h. den Sänger des Liedes im Gottesdienst,
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wichtig, ob ihm durch spezifische Mittel das Textverständnis erleichtert wird (oder nicht), als es sicherlich auch für den Textproduzenten wichtig ist, die Mittel zu kennen, die den Text einer bestimmten Textsorte kohärent und gut rezipierbar machen. Die Methode, nach der man zur Erkenntnis der Textkohärenz kommt, operiert traditionell oberhalb der Satzebene. Der Satz könnte somit als kleinste Einheit der Textgrammatik gelten. Verstehen wir aber unter „Satz“ im engen Sinn eine Konstruktion um ein Prädikat, dann machen es die jüngsten Erkenntnisse der Textgrammatik nötig, den Satz nur als eine besondere Form der „Minimalen Texteinheit“ (MTE) zu sehen und auch andere syntaktische Strukturen wie zum Beispiel die Setzung als MTE zu berücksichtigen. Wie wir noch sehen werden, gilt dies nicht nur für Texte der Gegenwart, sondern auch für das hier angesprochene geistliche Lied. Die textgrammatische Analyse muss auch im Auge haben, dass der Text nicht nur durch eine lineare Verkettung von Minimalen Texteinheiten entsteht, sondern dass es zwischen dem Gesamttext eine Zwischenebene, den Teiltext, der seinerseits aus einer oder mehreren MTE besteht, geben kann. Die Teiltexte können subordiniert (Subtexte) oder koordiniert in den Gesamttext integriert sein. Die Parameter der textgrammatischen Analyse habe ich an anderen Stellen expliziert und möchte auf sie auch aus Zeitgründen nicht eingehen. Ferner geht die textgrammatische Analyse zunächst zwar von formalen Kohärenzmitteln aus, sie beschränkt sich aber keineswegs auf sie, sondern zielt letztlich auf die durch die formalen Mittel geordneten Inhalte des Textes. Um die Kohärenz eines Textes herzustellen, stehen verschiedene textgrammatische Mittel bzw. Strategien zur Verfügung. Die wichtigste scheint mir die transphrastische Rekurrenz, das heißt: Wiederholung einer und derselben sprachlichen Einheit jenseits der Grenze einer MTE. Es gibt noch weitere, eher sekundäre textgrammatische Strategien, zum Beispiel die Konnexion. Ich werde mich bei der folgenden Analyse aber auf das Rekurrenzprinzip konzentrieren, weil seine Anwendung auf die Analyse eines Liedtextes viel versprechend ist.
6. Textgrammatik und sakralsprachliche Texte Sieht man sich in der Forschungslandschaft nach textgrammatischen Analysen von historischen deutschen Texten um, so ist noch nicht viel zu sehen. Britt-Marie Schuster widmet in der vor kurzem erschienenen „Einführung in die historische Textanalyse“ (Riecke u.a. 2004, 140ff.) dem dort nach allen Regeln der Kunst analysierten Text des Quirinius Kuhlmann von 1680 eine ausführliche textgrammatische Analyse.
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Auf sakrale Texte, in dem eben definierten Sinn, fanden die Erkenntnisse der Textgrammatik bislang kaum Anwendung; das gilt für sakralsprachliche Texte der Gegenwart (vgl. Greule 1995, 2000, im Zusammenhang mit der Revision des deutschen Messbuchs) genauso wie für historische Texte. Auf einen Bibeltext habe ich die Methode in der Festschrift für Rolf Bergmann diachron angewandt (vgl. Greule 1997). Deshalb stelle ich hier die textgrammatische Analyse zweier geistlicher Lieder als Fallbeispiele vor, ohne sie gleich in das Korsett einer Textgrammatik zu pressen, sondern vielmehr um die Tauglichkeit für das Textverständnis insgesamt zu überprüfen. 6.1. Martin Luther, Mitten wir im Leben10 6.1.1. Kohärenz innerhalb der Strophen Wenden wir uns zuerst der Analyse der ersten von Luther neu formulierten, traditionell einzigen Strophe von „Mitten wir im Leben sind“ zu. Die Minimalen Texteinheiten sind einfache Sätze (MTE 3, 8), Satzreihen (MTE 1, 2, 4) und Setzungen (MTE 5, 6, 7). Das schließende Kyrieleyson ist hinsichtlich seiner syntaktischen Beurteilung ein Grenzfall: Übersetzt handelt es sich um einen einfachen Satz (Herr erbarme dich!); es soll hier aber auch im Hinblick auf seine Funktion als Marker des Liedschlusses wie bei den Leisen (vgl. Praßl 2000, 58ff.) als Setzung gelten. Die MTE 5-7 dürfen nicht nur wegen ihres Zitatcharakters (Übersetzung des aus der Karfreitagsliturgie stammenden Trishagions) als Subtext gelten, sondern sie fallen auch wegen der fehlenden DU-Deiktika aus dem kommunikativen Rahmen der Strophe. Nachdem die Minimalen Texteinheiten fest liegen, wird eruiert, durch welche textgrammatischen Mittel die einzelnen MTE aufeinander bezogen bzw. beziehbar sind. 1. Die MTE 1 und 2 sind durch Endreim verbunden (umbfangen – erlangen), ebenso die MTE 5, 6 und 8 (Got – gott – nott). 2. Die Repetition der Deiktika wir (MTE 1 und 2) und du (MTE 3 und 8) ist von größerer Wichtigkeit auf der Ebene der simulierten Kommunikation. 3. Synsemantische Pro-Formen werden auffällig wenige eingesetzt, was man als Indiz für eine unepische Textverdichtung werten kann. Und wenn sie in der Strophe verwendet werden, handelt es sich um eine außergewöhnliche Verwendung. Als „Pro-Satz“ fungiert das _____________ 10
Vgl. Text 2.5.
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(MTE 3), das die Satzstrecke der hulffe thu, das wir gnad erlangen (MTE 2) wiederaufnimmt. Kataphorisch (nicht nach links im Text zurück, sondern nach rechts voraus) verweist das Fragepronomen Wen (MTE 2), das den Ausdruck du herr alleyne (MTE 3) vorwegnimmt. Eine Koferenzkette (besser: ein Koreferenzstrang) entsteht aber nicht auf diese Weise, sondern durch die mehrfache transphrastische Referenz auf die Sendergruppe WIR mit den Deiktika wir, Uns, unser, unns (MTE 1, 2, 4, 8) einerseits und den Adressaten GOTT mit den attribuierten Deiktika du herr alleyne, dich herr, du ewiger gott (MTE 3, 4, 8) andererseits. Existentiell begründete Kontiguität sehe ich in der Kette todt – hulffe / gnad – pittern todes nott (MTE 1, 2, 8). 4. Eine Isotopie-Ebene, die durch die Gottesprädikation konstituiert und durch attributive Adjektive, Prädikate und Substantive ausgedrückt wird, bilden: hulffe thu, gnad, herr, erzurnet, Heylig, strack, barmhertzig, ewig (MTE 2-8). Die von Gerhard Hahn festgestellte „bildhaft emotionale Eindringlichkeit“ (Hahn 2004, 69) kann auch an der durch die meisten Prädikate gebildeten Isotopie-Ebene textgrammatisch nachgewiesen werden: synd…umbfangen (MTE 1) und versynncken (MTE 8) bilden eine Klammer; reuet (MTE 4), erzurnet hat (MTE 4) stehen paarig in der selben MTE. Die Analyse erlaubt es, die Dramaturgie der Strophe zu verdeutlichen. Rein quantitativ stehen die durch den Koreferenzstrang WIR – DU GOTT ausgedrückte simulierte Kommunikationssituation und die Isotopie ‚Eigenschaften Gottes‘ im Vordergrund; sie sind die wichtigsten Träger der Kohärenz. Dass ein Sprecher oder eine Sprechergruppe zu Gott spricht, ist die Grundkonstellation der Textsorte Gebet. Der Gebets- und Liedtext setzt damit ein, dass eine Sprechergruppe WIR (die Gottesdiensteilnehmer, die das Lied singen) die „Erfahrung der bedrohlichen Situation“ (Hahn 2004, 72) zum Ausdruck bringt (MTE 1 und 8) und damit im zweiten Schritt GOTT fragend und bittend um Hilfe angeht (MTE 2, 3 und 8), nachdem sie sich die eigene Schuld eingestanden hat (MTE 4). Dieser Ablauf wird durch die eingeschobenen prädizierenden Gottesanrufungen des Subtextes aus der Karfreitagsliturgie (MTE 5-8) geradezu dramatisch intensiviert. Durch das gewohnte Kyrieleyson kommt das Gebet ausklingend zur Ruhe.
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6.1.2. Strophe-Strophe-Kohärenz Es wäre interessant, auch die von Luther selbst verfassten Strophen 2 und 3 ebenso detailliert zu analysieren wie die Eingangsstrophe. Wesentlich neue Erkenntnisse zur Textgrammatik wären nicht zu gewinnen. Das hängt mit der „perfekten Parallelität, in der die beiden ‚neuen‘ Strophen zu der alten ‚ersten‘ gesetzt sind“ (Franz 2001, 87) zusammen. Die Kohärenz der Strophen untereinander wird wesentlich durch Strukturrekurrenz geschaffen. Abgesehen von der durch Rhythmus und Reimschema vorgegebenen Identität der Strophen wird die Rekurrenz syntaktischer Strukturen noch gestützt und geschärft durch Repetitionen. Die MTE 1 in jeder Strophe wird jeweils durch die Präposition Mitten yn eingeleitet. Die MTE 2 ist jeweils ein Fragesatz, der mit einem w-Fragewort beginnt. Die MTE 3 ist jeweils die Antwort auf die Frage der MTE 2, mit nahezu identischer lexikalischer Repetition das / das, du / -tu / dir herr alleyne; die Inhalte der Prädikate der MTE 3 werden aber über das Pro-Verb thun (Str. 2, MTE 3) bis zum Schwund des Prädikats immer schwächer; Str. 3, MTE 3 ist eine Ellipse. Die MTE 5-7 (das DreimalHeilig) sind in allen Strophen identisch. Ausgerechnet der Subtext erweist sich damit durch seine refrainartige Wiederholung als hoher Kohärenzträger. Die MTE 8 ist ein nach dem Muster las / laß unns / uns nicht + Infinitiv + vom Infinitiv abhängige Präpositionalgruppe gebildeter Satz. Auf eine außergewöhnliche, die Strophen verbindende, mehrfache und theologisch begründete Kontiguität hat Gerhard Hahn (2004, 72) durchaus im Sinne der Textgrammatik schon aufmerksam gemacht. Er spricht von der „sinntragenden Kette“ leben (Str. 1, MTE1) – tod (Str. 1, MTE 1; Str. 1 MTE 8; Str. 2, MTE 1) – helle (Str. 2, MTE 1; Str. 2, MTE 8; Str. 3, MTE 1) – sunde (Str. 3, MTE 1, 4) – glaube (Str. 3, 8). Nur in Strophe 2 wird auch die Isotopie ‚Emotion‘, die wir aus der Analyse von Strophe 1 kennen, mit den Verben yamert (Str. 2, MTE 4) und vertzagen (Str. 2, MTE 8) fortgesetzt und eine Teilkohärenz bewirkt. 6.1.3. Exkurs: Luthers Sprachgewalt Die viel gerühmte Sprachgewalt Luthers lässt sich auch mit den Mitteln der Textgrammatik zeigen. Abgesehen von einer sprachlichen Glättung des überkommenen Textes (s.o.) nimmt Luther die Struktur des Liedes auf und ergänzt sie behutsam nur um das Kyrieleyson. Die Grundstruktur eines Gebetes, in das die dreimalige Preisung Gottes eingeschoben wird, bleibt erhalten, oder textgrammatisch ausgedrückt, die simulierte Kommunikationssituation wird das sprachliche und inhaltliche Gerüst, nach
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dem die beiden anderen Strophen streng geformt werden. Es gelingt Luther einerseits durch die Parallelismen in den drei Strophen sowie mittels der Wiederholung des Dreimalheilig und des Kyrieleyson, die gleichsam Ruhezonen in der emotionalen Dramaturgie des Liedes bilden, die Rezeption des ganzen Liedtextes durch die Singenden zu erleichtern. Andererseits intensiviert er durch ein Geflecht von rasch wechselnden und weit über den Text der Strophe gespannten Kontiguitäten sowie durch Isotopien die bedrohliche Ausgangssituation von Strophe zu Strophe, entschärft aber durch die in allen Strophen gleich bleibende Isotopie der Gottesprädikation die bedrohliche Situation wieder. Fassen wir den dominanten Koreferenzstrang WIR – DU GOTT und die dominante Isotopieebene der Gottesprädikation zusammen, dann können wir die kommunikative Funktion des Liedes als Gebet und das Thema als Preis Gottes bestimmen. Und genau dies fasst Luther in dem Wort Lobsanck, das er als Überschrift über das Lied setzen lässt, zusammen. 6.2. Paul Gerhardt, O Haupt voll Blut und Wunden11 Der gesamte Text ist, rein äußerlich betrachtet, ein aus zehn gleich gebauten, parataktisch aufeinander bezogenen Teiltexten (= Strophen) bestehendes Gebilde. Der textgrammatischen Analyse stellt sich nun die Aufgabe, die grammatische und vor allem die semantische und pragmatische Kohärenz jeder einzelnen Strophe zu ergründen, um danach festzustellen, ob und wie die Strophen im Rahmen des Gesamttextes zusammenstimmen. Letztendlich suchen wir nach dem „psychodramatischen“ Programm, das Gerhardt diesem Lied gegeben hat. Wir werden, wenn uns die Suche gelingt, dann nicht nur das sprachkulturelle Niveau herausstellen können, sondern auch erklären können, warum dieses Lied schon allein auf Grund des Textes den Beter und Sänger im Innersten ergreift und bewegt. Der Gesamttext wird durch die lyrische, monologische Kommunikationssituation, die der Dichter durch die Sprache evoziert, zusammengehalten: Ein ICH spricht zu einem DU. Diese beiden kommunikativen Grundgrößen werden im Verlauf des Textes durch Prädikationen präzisiert: (z.B.) „hie steh ich Armer“ oder „Du edles Angesichte“. Die anderen Grundgrößen der Kommunikation, Ort und Zeit, werden nicht thematisiert. Der Text ist lokal und temporal offen, was ihn auch offen hält für verschiedenste Kommunikationssituationen an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Die Prädikationen über das DU sind zahlreich und syn_____________ 11
Vgl. Text 2.6.
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taktisch integriert und sie gipfeln in Strophe 8, in der dem DU ein Name gegeben wird: „O Jesu, liebster Freund“. Durch die Reduktion einzelner Strophen auf eine dominante Sprachhandlung des ICH ergeben sich nach meiner Auffassung drei Strophengruppen, und zwar werden die Strophen 1, 2 und 3 durch den Ausdruck des Entsetzens zusammengehalten. In den Strophen 4 bis 7 besinnt sich das ICH auf sich selbst und auf seine Schuld; in den Strophen 8, 9 und 10 dominiert der Ausdruck der Hoffnung, in der eigenen Todesnot gerettet zu werden. Die einfache, schlichte ICH-DU-Konstellation, die jedem lyrischen Ausdruck zugrunde liegt und durch die auch die Strophen textgrammatisch zusammengehalten werden, wird durch mehrere Isotopiestränge gleichsam umrankt. Während die Textgrammatik die Kohärenz eines Textes auf seiner „Oberfläche“ mit Hilfe von Koreferenzketten erfasst (in unserem Fall ist es die Kette der Deiktika als Ausdruck der ICH-DUKonstellation), operiert sie im semantischen Bereich mit so genannten Isotopien, d.h. Wörtern, die ein und dasselbe semantische Merkmal enthalten und sich wie ein Teppich durch einen Text ziehen. Als Beispiel kann die Prädikation des lyrischen DU, die sich auf die Strophen 2, 4, 5, 7 und 8 beschränkt, dienen. Auf solche Isotopie-Ebenen oder Isotopiestränge konzentriert sich die literarische Interpretation von „O Haupt voll Blut und Wunden“ (vgl. Lehnertz 1983, 761ff.). So durchzieht die ersten drei Strophen die Isotopie „menschliches körperliches und seelisches Leiden“; sie wird konstituiert durch die Ausdrücke Blut, Wunden, Schmerz, Hohn, Spott, gebunden, Dornen Kron, schimpfiret (Str. 1), bespeit, erbleichet, schändlich zugericht (Str. 2), des blassen Todes Macht, hingerafft (Str. 3). Sie durchzieht – weniger dicht – auch die folgenden Strophen, wobei die Referenz allmählich vom leidenden DU zum leidenden ICH übergeht, z.B. erduldet, Last tragen (Str. 4), verachten, Herze bricht, erblassen, Todesstoß (Str. 6), deinem Leiden, deinem Kreuz (Str. 7), Todes Schmerzen, erkalte, mein Ende (Str. 8), Tod leiden, am allerbängsten, Ängste, Angst und Pein (Str. 9), Tod, Kreuzesnoth (Str. 10). Auf diesen wichtigsten Isotopie-Strang ist antonymisch ein anderer bezogen: gezieret, Ehr und Zier, edel, Augenlicht, der Roten Lippen Pracht, Leibes Kraft. In beide hinein verwoben ist eine Farben-Isotopie (erbleichet, Licht, Farbe, rot, blass). Ein weiterer Isotopie-Strang findet sich – sehr dicht – nur in Strophe 5: mein Hüter, mein Hirte, Quell aller Güter, viel Guts, gelabet, süße Kost, Himmelslust. Die Wortkette erinnert an einen Locus amoenus; Marlies Lehnertz (1983, 765) sieht darin Anklänge an die biblische Schilderung des verheißenen Landes. Ich breche hier in dem Bewusstsein, längst nicht alle Isotopien gefunden und expliziert zu haben, aus Platzmangel ab. Das Lied fordert gerade in diesem Bereich die Forschung noch weiter heraus. Es sollte aber deut-
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lich geworden sein, mit welcher Sprachkraft Paul Gerhardt die Isotopiestränge gestaltet (vgl. Greule 2008).
7. Schlussfolgerungen 1. Volkssprachliche Kirchenliedtexte sind pragmatisch in den Gottesdienstablauf eingebunden und durch ihren Gebrauch determiniert. 2. Volkssprachliche Kirchenliedtexte wurden im Verlauf der Gebrauchsgeschichte hinsichtlich Textqualität und Textquantität immer wieder verändert. 3. Die Menge der Texte steigt seit der Reformation überproportional an und 4. (was nicht vergessen werden darf) die Texte sind melodieabhängig. 5. Hinsichtlich ihrer Produktion befinden sich die Kirchenlieder in einer für die Sakralsprache typischen Grauzone zwischen hoher Dichtung und gottesdienstlichen Gebrauchstexten. Unsere Ausgangsfrage möchte ich daher beim gegenwärtigen Stand der Forschung kurz und bündig so beantworten: Die Erfassung des Texttyps Kirchenlied als eine Quellenart für eine diachrone Grammatik des Deutschen ist nicht angezeigt. Es bedarf weiterer Forschungen zu einzelnen Liedern, mit dem Ziel einer spezifischen diachronen Beschreibung des Texttyps von der graphematischen Ebene bis hinauf zur Textgrammatik. Die textgrammatische Analyse geistlicher Lieder allein ist freilich ein unersetzliches Hilfsmittel, um die sakralsprachliche, ja poetische Qualität dieser Texte beurteilen zu können.
Quellen Bachmann, Johann Friedrich (Hrsg.) (1886), Paul Gerhardts geistliche Lieder. Historisch kritische Ausgabe, Berlin. Becker, Hansjakob u.a. (Hrsg.) (2001), Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München. Cod. germ. berol. oct. 53, Provenienz: Dominikanerinnenkloster St. Nicolaus in undis, Straßburg.
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Albrecht Greule
Schlosser, Hort Dieter (Hrsg.) (2004), Althochdeutsche Literatur. Mit altniederdeutschen Textbeispielen. Auswahl mit Übertragungen und Kommentar, 2., überarb. u. erw. Aufl., Berlin.
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Textgrammatik und historische Textsorten
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Es sey das Fewer in der Stadt Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu vormodernen Feuerordnungen
Alexander Lasch (Kiel)
1. Feuerordnungen als Gegenstand der Sprachgeschichtsschreibung „[N]euartige städtische Kommunikationssituationen und ‚Textsorten‘“,1 die nicht aus der monastischen Schreibkultur und Textsortentradition hervorgegangen sind, weisen die Ausweitung der volkssprachlichen Schreibpraxis im 15. Jahrhundert längst vor Erfindung des Buchdrucks aus. Mit der Erfindung und Einführung des Buchdrucks treten am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert neben städtische Urkunden, Stadtchroniken und ersten rechtlichen Regelungen in Stadtbüchern eine Vielzahl neuer Ordnungen basierend auf älterem Gewohnheitsrecht auf, die z.B. Kleidungsvorschriften, polizeiliche Anordnungen, Zunftregeln, Bauvorschriften und im Zusammenhang damit auch Feuerordnungen enthalten.2 Diese neuen Textsorten sind zum einen Indiz für neue kommunikative Bedürfnisse, zum anderen zugleich auch für die Veränderungen, die sich in der städtischen Verwaltung Bahn brechen: Der städtischen Administration war es mittels der Schrift, durch die genannten Ordnungen oder Erlässe möglich, Regeln des städtischen Zusammenlebens über Raum und
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Von Polenz (2000, Bd. 1, 122). Der Begriff Textsorte wird hier verwendet nach Brinker und Adamzik (2001, 267, 273 u.ö.) für eine Klasse von Texten, die nach einer Reihe von Merkmalen spezifiziert werden können und denen eine spezielle kommunikative Routine zugrunde liegt. Sie sind also „konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben“ (Brinker 2001, 135). Vgl. von Polenz (2000, Bd. 1, 123).
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Alexander Lasch
Zeit hinaus festzuschreiben („Rechtssicherheit durch Dokumentation“) 3 und zugleich (Verwaltungs-)Vorgänge zu organisieren und zu planen. Feuerpolizeiliche Hinweise werden vor allem zunächst in die landesherrlichen und städtischen Bauordnungen integriert und sind damit Teil einer größeren Sammlung anderer Vorschriften. 4 In Dresden werden diese Regeln und Anordnungen in eine eigenständige Textsorte überführt, die neben der Prävention auch die Feuerwehr zum Gegenstand hat. Für die Beschreibung der Entwicklung dieser eigenständigen Textsorte für die Stadt Dresden sind neben überregionalen historischen Voraussetzungen lokale Bedingungen und Besonderheiten zu berücksichtigen. 5 Am Beispiel der diachronen Analyse von Feuerordnungen lässt sich für diese Stadt illustrieren, wie sich die Textsorte vom 16. zum 17. Jahrhundert von einer handlungsanleitenden, appellativen Textsorte städtischer kommunikativer Praxis im Zusammenhang mit anderen Ordnungen hin zu einer normierenden und sanktionierenden, direktiven Textsorte der Domäne des Rechts entwickelte. Im Rahmen des Fragezusammenhangs der Historischen Kanzlei- und Stadtsprachenforschung werden in diesem Beitrag also Vertreter der städtischen Textsorte Feuerordnung 6 mit dem Schwerpunkt auf ihre Textgram-
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Ebd. Zur überregionalen Entwicklung und zum Zusammenhang zwischen Bau- und Feuerordnung vgl. Binding (1980, Sp. 1670) und ders. (1993); Junk (1989, Sp. 422f.) und ders. (1983, Sp. 564). Zur historischen Forschung in Bezug auf Katastrophen in urbanen Lebensräumen vgl. vor allem Körner (1999/2000); weiter Jankrift (2003). „Die jeweils unterschiedlichen ökonomischen, soziokulturellen, politischen und schließlich auch sprachlichen Voraussetzungen führen zu unterschiedlichen kommunikativen Anforderungen und somit zu spezifischen Formen der Kommunikation, die für jede Stadt eine gesonderte Betrachtung und Untersuchung fordern und selten eine allgemeine Gültigkeit beanspruchen können“ (Ziegler 2001, 121). Vgl. Greule (2001, 16). Zum Terminus Kanzleisprache: „Der am Texterzeuger orientierte und erst seit dem 18. Jh. gebräuchliche Terminus Kanzleisprache meint die geschriebene Sprache der städtischen, fürstlichen und kaiserlichen Kanzleien im Spmhd. und Frnhd. An den Textsorten orientiert sind die Termini Urkunden- und Geschäftssprache, wobei letzterer der allgemeinere ist, da in den Kanzleien bzw. im Auftrage der Kanzleien auch Briefe […] entstanden“ (Bentzinger 2000, Sp. 1665).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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matik / Textstruktur7 analysiert unter besonderer Berücksichtigung ihrer „kommunikativen Funktion“8 im Anschluss an die Frage der Historischen Soziolinguistik „Wer sprach warum wie zu einer bestimmten Zeit?“9 Ich werde dabei drei Arbeitshypothesen folgen: (1) Feuerordnungen sind Texte, die Kommunikation und Handeln organisieren und steuern und zwar für den potenziell möglichen Fall einer Brandkatastrophe. Feuerwehrmaßnahmen (prozedurales, nicht verschriftlichtes Wissen) müssen sich deswegen (2) erst bewähren, bevor sie in den Feuerordnungen als deklaratives Wissen dokumentiert werden können – dies lässt sich in der Entwicklung der Textsorte u.a. textgrammatisch nachzeichnen. (3) Die Versprachlichung und dann Verschriftlichung der Regeln in der Feuerordnung selbst, die Überführung prozeduralen in deklaratives Wissen ist eine Herausforderung, die es zu bewältigen gilt. Mit der Etablierung von Normen und Sanktionen in einem weiteren Schritt kann die Entwicklung der Textsorte Feuerordnungen paradigmatisch für die zunehmende Institutionalisierung vormoderner urbaner Gemeinschaften gelesen werden.
2. Stadtentwicklung und Stadtbrand: Dresden im 16. und 17. Jahrhundert Nach der Leipziger Teilung im Jahre 1485 gewann die kleine Residenz Dresden als ständiger Sitz der albertinischen Wettiner beginnend mit Herzog Albecht (1443-1500) plötzlich an politischer und schnell an wirtschaftlicher Bedeutung. Die Landesherren, an die 1547 unter der Herrschaft von Herzog Moritz (1541-1553) die Kurwürde von den Ernestinern überging, ließen dabei keinen Zweifel an ihrem Interesse, die mittelalterliche Stadt Dresden in eine repräsentable Residenz mit RenaissanceGroßbauten umzugestalten. Dabei mussten sie in besonderem Maße stets _____________ 7
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Wird im Folgenden von Textgrammatik gesprochen, dann sind zuerst Phänomene gemeint, die sich nicht mehr auf der Ebene einer Satzsyntax beschreiben lassen, sondern der Einbeziehung transphrastischer Einheiten bedürfen. Dies betrifft vor allem zunächst alle sprachlichen Proformen, die auf andere sprachliche Formen über die Satzgrenze hinaus verweisen (vgl. dazu Brinker 2001). Wenn man den textgrammatischen Ansatz funktional im Sinne der Pragmatik nutzen will, sind darüber hinaus auch Deiktika einzubeziehen, die auf Außersprachliches / Außertextliches verweisen – damit rücken auch Bedingungen der Produktion und Rezeption in den Blick. Um schließlich einen Text in verschiedene Teiltexte, die ineinander übergehen, zu gliedern, (textsortenspezifische) Strukturen zu erarbeiten, ist ein inhaltlich-thematischer Zugang notwendig, der nicht mehr mit dem Begriff der Textgrammatik, sondern dem der Textstruktur zu fassen ist; vgl. generell zu diesem Problem Moskalskaja (1984). Vgl. exemplarisch Ernst (2001, 17). Im Anschluss an Michael Nerlich und Brigitte Schlieben-Lange so Linke (1999, 179 u.ö.).
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die Gefahren im Blick haben, die städtische Siedlungen seit jeher bedrohten. Einer der häufigsten Katastrophen,10 dem Stadtbrand, konnte man – im Gegensatz zu Überschwemmungen – versuchen vorzubeugen, sie möglicherweise sogar abwenden.11 Nicht nur den Landesherren, denen die Bauaufsicht oblag, waren die Faktoren bekannt, die das Feuer begünstigen:12 Holzbau, Schindeldeckung, Viehhaltung in der Stadt und übermäßige Brennstoffvorräte der Einwohner. So sind es zunächst die landesherrlichen Bauordnungen im Anschluss an ältere Rechtssammlungen, in denen sich präventive Maßnahmen zur Feuervermeidung finden lassen. Als Anreiz, um bspw. bei der Neueindeckung eines Hauses auf Schilf oder Stroh zu verzichten, suchten die Landesherren durch ‚Bauerleichterungen‘ bereits 1474 und nach der Erhebung zur Residenz 1486 die Dresdner Stadtbevölkerung zu massiveren Bauweisen anzuhalten – mit mäßigem Erfolg.13 Am 15. Juni 1491 brannte, ausgehend von einem Brandherd hinter der Kreuzkirche, die halbe Stadt nieder: 240 von 470 Häusern, die Kreuzkirche, das Pfarrhaus und die Schule waren in wenigen Stunden zerstört. Herzog Albrecht, von seinem Sohn Georg (1500-1539) vom Ausmaß der Zerstörung unterrichtet, gab strenge Auflagen für den Wiederaufbau, den er durch eigene Mittel unterstützte, vor: Gefordert wurden massive Erdgeschosse, massive Eckhäuser und Ziegeldeckung. Wer nicht in der Lage war, zu diesen Bedingungen zu bauen, musste sein Baugrundstück verkaufen.14 Diese Ordnung von 1492 ist leider ebenso verloren wie eine Ordnung von 1521. In diesen Ordnungen, wie auch in einer Ordnung von 1549, dürften allerdings nur die „allernothdürftigsten [feuerpolizeilichen] Vorkehrungen“ getroffen worden sein.15 Bis 1500 sind die durch den Stadtbrand entstandenen Schäden wieder beseitigt. 1519 wird das Viertel um die Frauenkirche durch Herzog Georg (1500-1539) unter Ratsaufsicht gestellt, Kurfürst Moritz (1541-1553) bezieht das Viertel in seine Fortifikationspläne mit ein, die am Ende des 16. Jahrhunderts abgeschlossen sind. Der Bastionärbefestigung muss sich auch der Rat des rechtselbischen Altendresdens beugen, das 1549 auf kurfürstlichen Befehl mit Dresden vereinigt wird.16 _____________ 10 11 12 13 14 15
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Vgl. Schott (2003, 6). Vgl. Oberste (2005/2006, 331). Vgl. bereits Richter (1885, 344 u.ö.) sowie Bauer (1911, 13f.). Vgl. ebd. Vgl. Richter (1900, 87f.) sowie in Anlehnung an Richter vgl. auch Oberste (2005/2006, 331f.). Richter (1891, 311). Vgl. dazu etwa die Ordnung aus dem ernestinischen Sachsen: Von Gotts gnaden Johans Friderich. Zum Zusammenhang von Bau- und Feuerordnung vgl. die Kapitel LXIIII („Bawen“) und LXXXIX („Fewer ordnunge“). Vgl. Blaschke (2005/2006b, 295).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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Mit dem Zuwachs an politischer Bedeutung geht ein wirtschaftlicher Aufschwung einher, der wiederum in Verbindung zu sehen ist mit einem stetigen Anwachsen der Bevölkerung, ohne dass sich dabei das Stadtgebiet selbst wesentlich vergrößert: Die Bevölkerung der Stadt hat sich zwischen 1500 und 1600 von 5.000 auf 15.000 Einwohner verdreifacht.17 Das rasche (und zum Teil wilde) Wachstum Dresdens veranlasst die Landesherren und den Dresdner Rat dazu, in verhältnismäßig kurzen Abständen in die Entwicklung der in die Höhe wachsenden Stadt reglementierend einzugreifen. Dies gilt auch für die Feuerordnungen, die beginnend in der Mitte des 16. Jahrhunderts rasch aufeinander folgend in revidierten Fassungen veröffentlicht werden, um den sich verändernden Gegebenheiten gerecht zu werden. Dabei richten sowohl die Landesherren als auch der Rat der Stadt Dresden ihre Aufmerksamkeit vor allem auf den linkselbischen Teil der Stadt – im rechtselbischen Altendresden wiederholt sich die Katastrophe von 1491 unter den selben Vorzeichen im Jahre 1685.18
3. Zum Korpus: Dresdner Feuerordnungen Die erste schriftliche städtische feuerpolizeiliche Notiz Dresdens ist eine kurze Handlungsanweisung auf dem hinteren Deckel eines Stadtbuches aus dem Jahr 1450: Im Brandfalle solle man mit Hilfsmitteln zum Feuer eilen und helfen, Verweigerung wird bestraft; die Strafe für den, der sich weigert, Dächer abzureißen, wird beziffert.19 Nach der Brandkatastrophe von 1491 zum einen und wegen der baulichen Neugestaltung der Residenzstadt zum anderen wäre zumindest zu erwarten, dass der Stadtrat in Ergänzung zu den landesherrlichen Ordnungen eine Bau- und Feuerordnung umsetzt. Bereits Otto Richter, der am Ende des 19. Jahrhunderts die Verwaltungsgeschichte der Stadt aufgearbeitet hat, zeigt seine Verwunderung darüber, dass ein solches Dokument oder überhaupt jede „Spur von feuerpolizeilicher Ordnung“ fehlt.20 Erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts, am 28. November 1558, gibt der Rat der Stadt Dresden auf Druck des Kurfürsten August (1553-1586) die erste Feuerordnung aus:21
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Vgl. Blaschke (2005/2006a, 361). Dieser große Stadtbrand am Ende des 17. Jahrhunderts soll hier nicht im Vordergrund stehen. Vgl. dazu Blaschke (1999/2000, 157-171). Vgl. Richter (1891, Bd. 1, 303). Ebd. Die hier beschriebenen Feuerordnungen gehören zum Bestand der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB).
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Nachdeme durch Gottes des Almechtigen gnade vnnd vorleihung / diese Stadt Dreßden / an Manschafft vnd anderm Volck / auch sonst / in ein zimlich zunehmen gerathen / das die erweitert / Vnd derhalben auch souiel mehr von n=ten / das allerley gutte Ordenungen darinnen auffgericht / fFrgenohmen / vorbessert / vnd erhalten werden / das wir demenach von wegen des Fewers n=ten vnd anderer aufflauff / welche seine Almacht aller gnedigist abwenden wollte / aus undertheinigisten gehorsam / domit wier dem Durchlauchtigisten Hochgebornen FFrsten vnnd Herrn Herrn Augusten Hertzogen zu Sachssen [...] unserm gnedigisten Herren zugethan / vnd trewer wolmeinung / so wir kegen euch alle vnsere Burgerschafft / gesinnet / folgende Fewer Ordenung stellen [...].22
Die Erweiterung der Stadt in der Mitte des Jahrhunderts wird durch die Stadtherren als Begründung dafür angegeben, dass die bisher eher dürftigen feuerpolizeilichen Regelungen in einen eigenständigen Text überführt werden, der textstrukturell analog zu anderen Ordnungen aufgebaut ist. Der Text mit einem Umfang von elf Blättern ist in der Dresdner Kanzlei entstanden, der 1558 Michael Weisse als Stadtschreiber vorsteht.23 Eine erste überarbeitete Fassung erscheint wohl 1572,24 die 1589 (Stadtschreiber Burkhardt Reich)25 und 1608 noch einmal in revidierter Fassung (durch Stadtschreiber Caspar Schober) mit je einem Umfang von 15 Blättern gedruckt wird.26 1642 wird eine Feuerordnung mit einem Umfang von 60 Seiten veröffentlicht (Stadtschreiber Georg Börner),27 die alle vorliegenden Fassungen berücksichtigt, allerdings vollständig überarbeitet und neu ordnet. Diese vollständige Neufassung wird weitestgehend bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gültig sein. Sie wird erneut 1662 (Stadtschreiber Georg Börner) und wohl 1678 gedruckt, 1716 (Stadtschreiber Hieronymus Gottfried Behrisch) gekürzt herausgegeben28 und in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch einmal erweitert.29 _____________ Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 2. Vgl. Richter (1885, 130f. und für die Liste der Stadtschreiber 380ff.). 24 Die Ordnung von 1589 unterscheidet sich nach Richter nur hinsichtlich der Neueinteilung der Stadt von der Ordnung von 1572, die die Bestimmungen für einzelne Handwerksberufe und Hausgenossen bereits verfügt hatte, mir jedoch leider nicht vorliegt; vgl. Richter (1891, Bd. 1, 314). 25 Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589. 26 Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608. Die mir vorliegende Fassung von 1608 beschreibt Richter nicht, er nennt dafür eine Fassung von 1604. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Fassungen identisch sind; vgl. Richter (1891, Bd. 1, 311). 27 FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642. 28 Extract Aus der Dreßdnischen de Anno 1662 gn(digst confirmirten Feuer-Ordnung 1716. Die Fassung von 1678 liegt mir nicht vor, Richter wiederum erwähnt die Fassung von 1716 nicht; vgl. Richter (1891, Bd. 1, 311). 29 Verbesserte Feuer-Ordnung bey der K=nigl. Residenz-Stadt Dreßden 1751. 22 23
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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Die Entwicklung der Textsorte Feuerordnung für die Stadt Dresden lässt sich in zwei Phasen beschreiben, die mit der Stadtgeschichte eng verwoben sind, wie besonders an der Feuerordnung von 1589 deutlich wird. Seit 1556 war die Stadt in fünf Viertel eingeteilt, wie es in der Ordnung von 1558 dokumentiert ist.30 Diese Einteilung erwies sich u.a. wegen der starken Neubebauung am Neumarkt und in der Kreuzgasse hinsichtlich der Häuserzahl in den einzelnen Vierteln als äußerst ungleichmäßig und bedurfte einer Neugliederung. Per Ratsbeschluss werden am 28. März 1589 die Viertel neu eingeteilt, der Kurfürst erteilt seine Genehmigung am 7. August31 – die neue Feuerordnung wird bereits am 10. August 1589 gedruckt:32 ZVm fFnfften / Demnach die Stadt sind erweitert worden / der Nawstadt halben / in fFnff Theil geteilet gewesen / vnd dahero grosse unrichtigkeit in Musterungen / Auffwarten / Wachen vnd andern / der vngleichheit halben entstanden / das ein Theil vmb viel gr=sse in anzahl der Heuser vnd Wirthe / denn das andere gewesen / Als ist vor rahtsam geachtet / die Stadt in vier / so viel mFglich / gleiche Theil zu bringen / Haben derowegen / so sich ein jedes Viertel anfahen / vnd sich enden / vnd wes sich ein jedes vorhalten sol / hiermit vormelden wollen /.33
Die schnelle Entwicklung im 16. Jahrhundert zieht also eine Reihe von überarbeiteten Textfassungen nach sich, die mit der Ausgabe von 1608 schließlich bald nach dem Abschluss der Fortifikationsarbeiten zunächst ihren Schlusspunkt erreicht haben. Mit der Ausgabe von 1642 setzt eine neue Phase ein, die mit dem ersten Text den Status vormoderner institutioneller Texte eindrucksvoll markiert. Im Folgenden möchte ich die Feuerordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts geleitet durch die eingangs formulierten Arbeitshypothesen analysieren. 3.1. Feuerordnungen steuern Kommunikation und Handlung Feuerordnungen, auch wenn sie einige wenige Regelungen zur Vermeidung von Bränden zum Inhalt haben und damit an der Schnittstelle zu den Bauordnungen stehen, haben die Bekämpfung von Feuer zum Gegenstand. Es sind zuerst appellative Handlungsanweisungen, deren Funk_____________ 30 31 32
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Vgl. Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 4v-7v. Richter (1885, 53). „Geben Dreßden / Montags den 10. Augusti / Nach Christi Jhesu vnsers Erl=sers Geburt / Thausent FFnff hundert / Neun vnd achtzig“ (Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 15v). Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 5v. Viertelseinteilung fol. 5v-8v.
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tion es ist, in Unordnung gekommenes Gemeinwesen in Zusammenarbeit wieder in Ordnung zu setzen. Feuerordnungen regeln die Kommunikation eines Gemeinwesens in einer speziellen Gefahrensituation, in der vor allem Schnelligkeit und Effektivität noch größeren Schaden vom Gemeinwesen abwenden helfen. Vom Erkennen eines Brandes über die Warnung bis hin zur Wehr des Feuers ist vor allem entscheidend, klare und kurze Kommunikationswege einzurichten. Als Grund dafür, weshalb sie erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in Druck gegeben werden, könnte aus dieser Perspektive angeführt werden, dass sich die städtischen Entscheidungsträger darüber erst bewusst werden mussten, dass sie mit ihren Erlässen auch Kommunikation gestalten können und mit ihren sprachlichen Handlungen kommunikatives Handeln im Ernstfall vorprägen. Mittels der (gedruckten) Schrift kann in die eine Richtung prozedurales in deklaratives Wissen überführt werden, in die andere Richtung deklaratives Wissen Handlungsoptionen erst aufzeigen.34 Die Feuerordnungen sind deshalb vielleicht eines der ersten sprachhistorischen Zeugnisse, in denen sich die Organisation von Kommunikation beobachten lässt. Der Rat der Stadt Dresden hat 1558 das Ziel, einem jeden eine Ordnung in die Hand zu geben, wie er sich bei „fürfallenden Fewers Nöten“ „getrewlich und fleissig zu vorhalten habe“.35 Dies betrifft die „Bürger, Einwohner und jene, die sich in der Stadt und vor der Stadt enthalten“ – und, zunächst, jeden für sich. Dass die Feuerwehr gemeinschaftlich organisiert und bewerkstelligt werden muss, wird in der ersten Ordnung nur in der Viertelseinteilung deutlich, die die Bürgerschaft für die Hilfsmaßnahmen einteilt: Das Erste Teil sahet sich an / an der Ecken an Doctor Heußlers / seligen Hause / bey der CreutzKirchen / vnd endet sich an der Scheffelgassen / bey Doctor Kommerstadts Hause. Vnd seind zu diesem Teil / vom Rathe dieser zeit vorordenet / Anthoni TFrler / vnd Bastian Wick. Von der Gemeine / Hieronymus Fogel / vnd Bartel Hoseman. Vnd do in vnsers gnedigisten Herrn Schlosse odder Gebewden / das Gott gnediglich abwende / Fewer auffgienge / sol dies teil bey jren Eides pflichten / sampt jren Gesellen vnd Gesinde zulauffen / vnd trewlich wehren. Do aber jnn
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Richter (1891, Bd. 1, 303f.) hatte noch angenommen, dass sich der mittelalterliche Mensch wohl dem göttlichen Willen gefügt habe und deshalb keine „breiteren Feuerordnungen“ aufgerichtet hat (vgl. oben Anm. 20). Diese Lesart hat historisch sicher ihre Berechtigung und interpretatorisch ihren Reiz, greift aber zu kurz. Ein weiteres aus der Stadtgeschichte hergeleitetes Argument wäre beispielsweise, dass das Aufkommen neuer Ordnungen auf engste Weise mit der Einführung des Buchdrucks verknüpft ist: In Dresden wird erst ab 1524 bei Matthes St=ckel gedruckt; vgl. Aurich (2005/2006, 557-561). Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol 2v.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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diesem teil Fewers not fFr fFr fiele / So sol das nachfolgende Andere teil / demselben mit seinem Hausgesinde vnnd Gesellen / vnseumlich zu Hilffe kommen.36
Neben der Vierteilseinteilung und der Benennung von Mitgliedern des Rates und der Gemeinde, die für jedes der Viertel verantwortlich sind, werden einzelne Anweisungen gegeben, was bei einem Brand im jeweiligen Viertel der Stadt zu tun sei – z.B. eilen dem ersten Viertel im Brandfall Bürger, Hausgesinde und Gesellen aus dem zweiten Viertel zu Hilfe. Ähnliche Regelungen werden für alle Viertel getroffen, das vierte Viertel bildet jedoch zugleich die Reserve: Do aber im selben Dritten Teil kein fewer / so sol dis Vierde Teil im Marstalh hinder der Creutz Kirchen zusammen komen / Doselbst sollen die Viertels Meister / Zehen Personen / ins Creutz Thor vorordenen / die andern sollen bis zum abeleschen / alda wartten.37
Der Feueralarm, mit dem die Hilfsmaßnahmen anlaufen, wird von der Wache auf dem Turm der Kreuzkirche ausgelöst: WAnn nun / das Gott gnediglich vorhFtte / an einem ort der Stad ein fewer auffgieng Sol der Hausman auffm Creutz Thorm / so zu teglichen vnd nechtlichen wache / dohin vor ordenet / auffs erste vnd fFrderlichste einen Glockenschlag thun / auch alsbalde / so es am tage / eine Rote fewer Fahne / do es aber bey der nacht / eine Lattern mit einem brennenden Liecht / gegen dem teil / in welchem das fewer ist / heraus stecken oder hengen / hiernach man sich zurichten habe.38
Die Hilfsmannschaften nutzen die in den Hausgemeinschaften, den Zünften und an öffentlichen Plätzen, Brunnen oder Röhrkästen vorgehaltenen Mittel zur Feuerwehr wie lederne Eimer, Schleifen, Bütten und Schutzbretter (zur Anstauung des durch die Stadt verlegten Kaitzbaches).39 Dass diese Regelungen im Katastrophenfall mehr für Verwirrung gesorgt haben dürften, als dem Feuer gemeinschaftlich Herr zu werden, deutet sich in den nachfolgenden Revisionen deutlich an. In der Ordnung von 1608 sah sich der Rat genötigt, die Zünfte z.B. explizit aufzufordern, die ledernen
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Ebd., fol. 4v-5r. Ebd., fol. 7r. Ebd., fol. 7v-8r. Anfang des 15. Jahrhunderts wird ein künstlicher Arm des Kaitzbachs durch die Stadt geleitet, um die Wasserqualität zu verbessern. Außerdem wurden Röhrwasserleitungen angelegt und 1483 ein Röhrmeister angestellt. Das System aus Röhrwasserleitungen wurde im 16. Jahrhundert erweitert und diente ebenfalls der Feuerwehr; vgl. Blaschke (2005/2006c, 184); Schleifen (auf kleinen Rädern lagernde Schlitten) werden – im Gegensatz zu Fuhrwerken – von menschlicher Muskelkraft bewegt und dienen dazu, Wasser zum Brandherd zu bringen.
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Eimer, die jede Zunft vorhalten sollte, zum Feuer zu bringen, damit sie auch gemeinschaftlich genutzt würden:40 1558: HierFber vnd jnn sonderheit / sol auch eine jtzliche Zunfft der Handtwerger / eine anzal Lid derne Eimer / als vngefehrlich Funfftzig oder Sechtzig / halten vnd haben. 1589: HierFber vnd insonderheit / sol auch eine jetzliche Zunfft der Handwerger / eine anzahl Liederne Eymer / als ungefehrlich Zwantzig oder Dressig / nach gr=sse des Handwergs halten vnd haben. 1608: HierFber vnnd in sonderheit / soll auch eine jetzliche Zunfft der Handwercker / ein anzahl Liederne Eymer / als ungefehrlich Zwantzig oder Dreissig / nach gr=sse des Handwercks halten vnd haben. Vnd do Fewer auffgieng / also bald den halben theil dahin verschaffen.41
Ein weiteres Beispiel betrifft die Anordnung für einen Teil der Löschmannschaft, die in Bereitschaft warten soll – erst 1589 wird expliziert, worauf: 1558: Do aber im selben Dritten Teil kein fewer / so sol dis Vierde Teil im Marstalh hinder der Creutz Kirchen zusammen komen / Doselbst sollen die Viertels Meister / Zehen Personen / ins Creutz Thor vorordenen / die andern sollen bis zum abeleschen / alda wartten. 1589: Do aber im selben dritten Theil kein Fewer / so sol dis vierdte Theil auffm Nawenmarck zusammen kommen / Doselbst sollen die Viertels Meister zehen Personen ins Creutz Thor / vnd zehen Personen an das Ziegel Thor vorordenen / die andern sollen bis zum ableschen vorwarten / wozu sie vorordenet werden m=chten.42
Auch in anderen Bereichen geht der Rat dazu über, den arbeitsteiligen Prozess der Feuerwehr zu organisieren und zu explizieren, Wissen zu deklarieren und mögliche Handlungsalternativen anzuzeigen. Dies setzt natürlich erst einmal voraus, dass man alle Bewohner der Stadt in die Feuerwehr einbezieht. Deshalb wird z.B. die Viertelseinteilung präzisiert. Die ungenaue Angabe von 1558 und 1589 wurde 1608 ergänzt durch die Angabe aller Gassen, die sich im jeweiligen Viertel befinden: DAs Erste Viertel fehet sich an hinter der Creutzkirchen / an Hans Tuchmans Haus am Eck / vnd endet sich in der Willischen Gaß vnten am Thor / an Peter Richters Eckhaus. In dieses Viertel geh=ren: Die halbe Gaß von Hans Tuchmans Haus / an der Prediger heuser, herfFr nach dem Marck zu: Die Schreibergaß. Die Breitegaß. Die Seegaß. Die Zahnsgaß. Die
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Veränderungen gegenüber der vorhergehenden Fassung sind kursiviert. Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 3v-4r, Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 4 und Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 4v. Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 7r, Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 8v.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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Webergaß. Die Scheffelgaß. Die halbe Willischegaß bis an Peter Richters / des Trabanten Haus. Vom Rath seind zu diesem Viertel derzeit verordnet: Ernst Harr. vnd Jacob Kupffer. Von der Gemeine. Hans Simen. Gottschalk Spracht. Heinrich Deckert. VNd do in vnsers Gnedigisten Herrn Schloß / oder Gebewden / das Gott gnediglich abwende / Fewer auffgieng / sol dis Theil bey jhren Eydspflichten / sampt jhren Gesellen vnd Gesinde zulauffen / vnd trewlich wehren. Do aber in diesem Virtel Fewersnoth fFrfiel / so sol das nachfolgende Ander Theil / demselben mit seinem Hausgesinde vnd Gesellen / vnseumlich zu hFlffe kommen.43
Damit werden die, die zur Hilfe verpflichtet sind, als Einwohner explizit angesprochen und zur Hilfe verpflichtet – dies war vorher nicht der Fall. Beginnend mit der Ordnung von 1589 werden einzelne Einwohnergruppen mit unterschiedlichen Aufgaben betraut: Hierauff sollen alsbalde alle Zimmerleute / Mewrer / Ziegel vnd Schiefferdecker / Bader / Schmiede / Schlosser / BFchssenmacher / Schwertfeger / Messer vnd Kupperschmiede / sie seyen gesessen in welchem Viertel die wollen / sich zu dem Fewer vorfFgen / vnd bey jhren Eydespflichten / den sie vnserm gnedigsten Herrn dem ChurfFrsten / vnd vns dem Rath dieser Stadt geschworen / jhren besten vnd mFglichsten fleis mit leschen fFrwenden /.44
Es wird nicht mehr nur Alarm mit der Hoffnung ausgelöst, dass das Feuer dann auch gelöscht werden möge, sondern das Zeichen des Alarms wird als Beginn eines gemeinsamen und zu steuernden Prozesses verstanden, in dem jeder Einwohner der Stadt seine Aufgabe zu erfüllen hat. Diese Arbeitsteilung, die die Mehrgliedrigkeit des Feuerlöschprozesses und das Ineinandergreifen der Hilfsmaßnahmen deutlich macht, wird in den nachfolgenden Jahren noch verfeinert. Dafür möchte ich abschließend ein Beispiel aus der Feuerordnung von 1642 geben, die spezielle Regelungen für „Witweyber, die eigene Häuser haben“, vorlegt:45 ZVm Sechßzehenden: Die Witweiber / so eygene Haeuser haben / weß Standes die auch seyn / sollen aus jhren Haeusern jhre Maegde vnd Diensbothen mit Wasserkannen vnd andern Gefaessen an den Orten / da die Katzbach aufgeschwellet / auch bey den Brunnen vnd Roehrkasten / abordnen / vnd jhnen befehlen / die Wasserbuetten zu fuellen / das Wasser in die Eymer einzuschoepffen / vnd zuzutragen / Eines theiles vin denenselben sollen geordnet
_____________ 43 44 45
Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 6v-7r. Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 9v-10r. Da die Ordnung von 1642 vollständig umgestaltet ist, wird auf die Kursivierung zur Hervorhebung von Änderungen gegenüber älteren Fassungen verzichtet.
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werden die gefuellten Eymer vnd Geschirre von einer Hand in die andere zu reichen / damit durch destoweniger Muehe vnd hin vnnd wieder lauffen das Wasser an die Brandtstat gebracht / vnnd außgegossen werden moege.46
3.2. Zur Textgrammatik und -struktur der Feuerordnungen Im Fokus des vorangehenden Kapitels stand die Frage, wie gemeinsames Handeln und die dafür notwendige Kommunikation in einem potenziellen Katastrophenfall organisiert, geplant und verbessert werden können (Wissensdeklaration und Planung von Handlungsalternativen). Als Beispiel wurde die Regelung angeführt, dass 1608 jede Zunft verpflichtet wurde, einen Teil der vorgehaltenen Löscheimer zum Feuer zu bringen, damit sie auch gemeinschaftlich genutzt würden: „Vnd do Fewer auffgieng / also bald den halben theil dahin verschaffen.“47 Textgrammatisch lässt sich ein Teil dieser Erweiterungen und Ergänzungen im Blick auf die gesamte Entwicklung von 1558 bis 1642 aus der Retrospektive als die Explikation von elliptischen Strukturen, die implizites Handlungswissen bergen, beschreiben. Damit steigert sich zum einen die Satzkomplexität – dies wäre Thema der historischen Syntax – in den Texten, die wiederum eine Komplexitätssteigerung der Verknüpfung periphrastischer zu transphrastischen Einheiten nach sich zieht: Nachdem auch zum offtern mahl befunden / das der vorrath am WasserbFtten / Schleiffen vnd anderm zum theil vorletzt / auch sonst hinweg gefFret / So verbieten wir hiermit ernstlich / das kein BFrger noch Einwohner / oder jemands anders / wer der auch sey / ohne vnser wissen vnd bewilligung / einige Wasserschleiffen / BFtten / Fewerhocken oder Leittern / so bey den B=rnern / vnd sonst also auff eine fFrsorge dahin geordnet / ausserhalben Fewersn=ten / hinweg nemen / fFren / abborgen / oder sonst vorsehren solle / bey straff Dreissig gFlden. Wie dann die Nechsten zwene Nachbarn auch andere gewisse Personen verordnet werden sollen / denen die SchlFßel zu den Leitern vnd Hacken befolen / vnd welche alsobald / wenn Fewer auskeme / auffschliessen / vnd das die Wagen an die =rter / da man sie bedarff / gefFhret / bef=rderung thun / auch do an einem oder dem andern mangel / solchs bey zeit anzeigen sollen.48
Das Augenmerk soll nicht auf dem Einschub „wer der auch sey“ liegen, sondern auf der Ergänzung einer vollständigen Regelung, die gegenüber der Ordnung von 1589 vorgenommen wurde. Diese neue Einheit wird zwar durch eine explizite Wiederaufnahme der Feuerlöschgeräte textgrammatisch angeschlossen, dennoch ist die Verknüpfung ohne Hintergrundwis_____________ 46 47 48
FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 37, Kap. 2 §16. Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 4v. Ebd., fol. 5v-6r.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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sen nicht herzustellen: Um den Missbrauch der Feuerlöschgeräte zu verhindern, hat der Rat der Stadt diese offensichtlich bei den Brunnen und anderen Orten verschließen lassen. Zu diesen abgeschlossenen Räumen haben die zwei nächstgelegenen Nachbarn (und andere Personen) die Schlüssel, um die Räume im Brandfall aufzusperren. Implizit bleibt das Hintergrundwissen, welches expliziert – auch textgrammatisch – die Brücke zwischen diesen beiden periphrastischen Einheiten bildete: ′Weil Leitern etc. entwendet werden, hat der Rat der Stadt diese in gesicherten Räumen unterbringen lassen. Die Schlüssel zu diesen Räumen usw.′ Ohne diese Explikation sind für den beschriebenen Auszug zwei ambige Lesarten denkbar: Zum einen ist denkbar, dass die öffentlich bereit gestellten Hilfsmittel zweckentfremdet und deswegen verschlossen worden sind. Andererseits ist vorstellbar, dass die Hilfsmittel schon immer verschlossen wurden und im Brandfall nicht genutzt werden konnten, weil die Verschläge geschlossen waren. Durch die vorangegangene Strafandrohung für die Zweckentfremdung der Feuerlöschgeräte, „so bey den B=rnern / vnd sonst also auff eine fFrsorge dahin geordnet“, ist die erste Lesart nahe liegend. Textgrammatisch lässt sich über die Beschreibung von Wiederaufnahmen jedoch noch eine weitere Brücke schlagen, und zwar zu einem Beleg, der in der Feuerordnung von 1608 neu aufgenommen worden ist und sich ebenfalls auf die Zweckentfremdung der Feuerlöschgeräte bezieht: Nach geleschetem Fewer sol ein jeder die Wasser Eymer / vnd anders so zum leschen gebrauchet / vnd von Rathhause / oder andern Leuten hergeliehen worden / wieder von sich stellen / vnd an geh=rige orte vberantworten. Do aber bey einem oder dem andern ein Eymer oder anders hinterhalten befunden oder erfahren wFrde / der sol neben der wiederstattung den Rath ein Gut Schock zur straffe vorfallen sein.49
Dieses Gebot und die Androhung von Strafe bei Zuwiderhandlung bilden textgrammatisch die (weite) Klammer zum vorgenannten Beleg. Dass diese zweite Regelung, die den selben Gegenstand betrifft, in einem Text, der weitestgehend ungegliedert ist, textstrukturell im Vergleich zur nachfolgenden Ordnung von 1642 der Sache nach nicht an relevanter Stelle erscheint und auch nicht mit einem expliziten Verweis (z.B. ‚siehe dazu usw.‘) in Bezug gesetzt wird, lässt sich zusammen mit der Beobachtung, dass implizites Wissen (zunächst noch) nicht expliziert wird, zu einer Einschätzung bezüglich der Textstruktur zusammenführen. Textstrukturell sind auf der einen Seite ein Fehlen textgrammatischer Verknüpfung (transphrastische Einheiten mit Ellipse, die implizites Wissen birgt) und auf der anderen Seite ein Auftreten weiter Klammern zwischen textgram_____________ 49
Ebd., fol. 14v.
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matisch mit einander verbundenen periphrastischen Einheiten (zerdehnte transphrastische Einheiten) als wesentliche Merkmale für die Entwicklung von Textsorten in Institutionalisierungsprozessen zu bestimmen.50 Ein weiterer Aspekt, der auf textgrammatischer und textstruktureller Ebene mit dieser Entwicklung verbunden ist, ist die Zunahme von textdeiktischen Elementen, die zur Gliederung des Textes eingesetzt werden. Die Feuerordnung von 1642 ist zunächst in Kapiteln geordnet, worauf die Einleitung hinweist: Vnd weil nechst dem lieben GOtt vnnd fleissigem andächtigem Gebethe durch gute Vorsorge dergleichen Fewerßbrunst zuberhueten / So haben Wir zufoerderst Erstlich die jenigen Mittel / so zu vorkommunge solcher Gefahr bey einem iedwedern StadtRegiment noethig / voran stellen / Hernach fuers Andere / was bey entstandener Fewerßbrunst zuverrichten: Denn fuers Dritte / wie es zu Altdreßden / Auch fuers Vierdte in den Vorstaedten hinfuehro zuhalten / zugleich mit einruecken / Vnd was fuers Fuenffte nach geloeschter Fewerßbrnst in acht zu nehmen / anzeigen / Vnd es also in Fuenff vnterschiedene Capitul abtheilen wollen.51
Der Text wird in Sachgebiete gegliedert, die im Wesentlichen die Entwicklung widerspiegeln, wie sie in Kap. 3.1. skizziert wurde: Die Feuerordnung war danach als ein Text aufzufassen, der konkrete Handlungsanweisungen beinhaltet, wie im Falle einer Brandkatastrophe Feuerwehr zu organisieren ist. Diese Handlungsanweisungen werden, wie bereits gesehen, weiter verfeinert und durch Explikation impliziten Wissens präzisiert. Die ausformulierte Inhaltsangabe am Beginn des Textes erleichtert die Lektüre der Feuerordnung und ist als Findehilfe konzipiert – wie in anderen gedruckten Texten hat sich auch hier eine funktionale Ordnungs- und Erschließungsmöglichkeit durchgesetzt.52 Die Feuerordnung von 1642 ist allerdings nicht nur in Kapitel eingeteilt, der Text wird weiter durch die Einführung von Paragraphen in kleinere Abschnitte untergliedert, auf die nun wiederum explizit verwiesen werden kann: ERstlich / Die in den Vorstaedten haben sich mit verwahrung der Fewerstaete / besichtigung v] anderer fleissiger vorsorge fuernemlich nach dem 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. vnnd 14. Punct des Ersten Capituls zu richten vnd in fleissige acht zu nehmen. Jnsonderheit sol iedere Gemeine in der Vorstadt Zehen Lederne Eymer / Zwo Leitern / Zweene Fewerhaken / deßgleichen vor iedem Brunnen ein Wasserbuetten in vorrath haben.53
_____________ 50
51 52 53
Hier ließe sich die Unterscheidung zwischen nähesprachlichen und distanzsprachlichen Textsorten fruchtbar machen. Allerdings wären dann für eine solch generelle Einschätzung andere Textsorten aus der Dresdner Kanzlei vergleichend hinzuziehen; vgl. dazu Koch / Oesterreicher (1985, 15-43). FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 5. Vgl. u.a. Zedelmaier (2004, 192f.). FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 47, Cap. 4 §1.
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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Mit der Gliederung und Unterteilung der Kapitel in Paragraphen steht ein effektives Mittel für die Verweisung innerhalb des Textes zur Verfügung, das die Orientierung innerhalb der Ordnung erleichtert und damit die Ordnung auch als einen institutionellen Text ausweist. Rechtsbezüglichkeit54 auf der einen und funktionale Gliederung und Ordnung auf der anderen Seite, die wohl nicht zuletzt auch durch den Buchdruck befördert wird, kennzeichnen die städtische Kanzleisprache. Die Veränderungen auf textgrammatischer und textstruktureller Ebene sind also nicht zuletzt mit der Entwicklung der Textsorte vor dem Hintergrund eines Institutionalisierungsprozesses der städtischen Verwaltung zu sehen: Feuerordnungen werden von informierenden und handlungsanleitenden, appellativen Texten zu direktiven Texten. 3.3. Versprachlichung und Verschriftlichung als institutioneller Lernprozess – von der appellativen zur direktiven Textsorte Die Feuerordnungen entstehen als volkssprachliche Texte und Exemplare einer institutionellen Textsorte in den Zentren, die als Motor für die frühneuhochdeutsche Textsortenentwicklung und -ausdifferenzierung im Zuge der zunehmenden Institutionalisierung und Bürokratisierung benannt werden.55 Es sind die aufstrebenden Städte, in denen sich das Handwerk organisiert, das Handelskapital einen Aufschwung nimmt und die städtische und territoriale Verwaltung neue Formen an informierenden und handlungsanleitenden Texten notwendig macht.56 Als ein wesentliches Kennzeichen von Texten wie den Feuerordnungen, die im Zusammenhang der Institutionalisierungsprozesse in den Städten und der landesherrlichen Verwaltung seit dem 14. Jahrhundert entstehen, wird die dominante Funktion der Regelung einzelner Ausschnitte des sozialen Lebens nach tradierten, oft genau definierten Begriffen und explizit geregelten Verfahrensnormen in den Bereichen Politik, Verwaltung, Recht und teilweise auch Wirtschaft gesehen.57 Beschleunigt wurde dieser Prozess durch die Erfindung des Buchdrucks, auf dessen Bedeutung stets hingewiesen wird _____________ 54
55
56 57
Womit allerdings auch das Kriterium der Rechtsbezüglichkeit „als einziges Differenzierungskriterium unterschiedlicher Kommunikationsbereiche [...] somit weitgehend aus[scheidet]“ (Ziegler 2001, 121). Vgl. Kästner / Schütz / Schwitalla (1985, Sp. 1357). Der Artikel erschien in überarbeiteter Form wieder in: Besch u.a. (Hrsg.), Sprachgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl., Sp. 1605ff.; vgl. weiter von Polenz (2000, Bd. 1, 114-129, besonders 121ff.). Vgl. Kästner / Schütz / Schwitalla (1985, Sp. 1362). Vgl. ebd., Sp. 1606.
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in Bezug auf die zunehmende Verbindlichkeit und Geltung städtischer Textsorten, die ihrerseits die Geltung der verschrifteten sozialen Normen steigerten.58 Die Feuerordnungen werden zunehmend um direktive Elemente erweitert, sie suchen dadurch soziales Verhalten nicht mehr nur in der unmittelbaren Situation des Brandes zu regeln, sondern sollen auch präventiv Feuer vermeiden helfen: 1558: Gebietten vnnd Befehlen hirauff allen vnsern BFrgern / Beywohnern / Handwergs Leuten vnd dienern / auch anderen die sich bey vns enthalten / das sich ein jglicher in fFrfallenden Fewers n=ten / die Gott gnediglich vorhFtten wole / nach dieser Ordenung / wie die vnderschiedlich einen jedern betreffen thut / getrewlich vnnd fleissig vorhalte. 1642: Gebieten vnnd befehlen darauff jhnen sambt vnd sonders bey vnnachlaessiger ernsten Strafe / die andern aber / so vnserer Iurisdiction nicht vnterworffen / Krafft Jhrer Churfuerstlichen Durchlauchtigkeit zu End angeheckten gnaedigster Confirmation vnd darbei bedroheten Poeen erinnernde / es wolle ein ieglicher / bey seinen Trewen / Pflichten / vnd respective Buerglerlichen Gehorsam / damit hoechst=ermeldter Jhrer Churfuerstl. Durchl. Vns vnd Gemeiner Stadt zugethan vnd verwandt ist / solchem allen / in allen Puncten vnd Articuln / trewlich vnd gehorsamst nachkommen.59
Im Vorwort der Feuerordnung von 1642 wird erstmals nicht nur „Gebot und Befehl“ expliziert, sondern gleichzeitig die Sanktion angedroht, zu der der Rat bevollmächtigt ist: Die Bürger der Stadt sind seiner Iurisdiction unterworfen – hier wird die Legitimität und Befugnis des Rates ausgestellt. Nicht nur mit der Verwendung lateinischer Terminologie (hier der Domäne des Rechts) wird der Text als Text einer Institution ausgewiesen, sondern auch mit der Heraushebung des Rates als einer städtischen Institution erstmals im Titel des Textes.60 Die „vnnachlaessige ernste Strafe“ zielt deswegen z.B. nicht allein auf den Modus ab, sondern auch auf die zeitliche Dauer der Strafe: Der Text und die darin aufgeführten Regelungen, Anordnungen und Sanktionen werden aus dem Hier-und-Jetzt herausgehoben. Diese Merkmale institutioneller Texte lassen sich nicht plötzlich und abrupt an einem Textexemplar beobachten, sondern die Übergänge zwischen den einzelnen Stadien in der Entwicklung der Textsorte sind fließend. Erst die Feuerordnung von 1642 stellt einen prototypischen Vertreter der (institutionellen) Textsorte dar, für die erste Phase der Entwicklung (bis 1608) lässt sich daher immer nur von eher mehr oder eher weniger prototypischen Textbausteinen bzw. ersten Textstrukturen sprechen. In diesem Zusammenhang wurde bereits ein Indiz für die Heraus_____________ 58 59 60
Vgl. ebd., Sp. 1609. Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, fol. 2v und FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 4. Zu diesem Problemzusammenhang vgl. Moser (1985, Sp. 1399).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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hebung aus einer konkreten historischen und sozialen Situation und damit aus der lokalen und temporalen Situationsdeixis auf Außersprachliches des Hier-und-Jetzt thematisiert: die Explikation der Viertelseinteilung ab 1608.61 Durch die Angabe der Gassen, die in einem Viertel liegen, besteht keine Veranlassung mehr, den Text immer dann erneut vollständig setzen und drucken zu lassen, wenn etwa ‚das Eckhaus bei der Kreuzkirche‘ seinen Besitzer wechselt: 1558: Das Erste Teil sahet sich an / an der Ecken an Doctor Heußlers / seligen Hause / bey der CreutzKirchen / vnd endet sich an der Scheffelgassen / bey Doctor Kommerstadts Hause. 1589: DAs Erste Viertel fehet sich an hinder der Creutzkirchen / an Hans J=stels Hauß am Eck / vnd endet sich in der Willischengaß vnden am Thor / an Christoff Jeniegens Eckhauß.62
Daneben werden 1608 und besonders ab 1642 mehrseitige Verzeichnisse eingefügt, wie z.B. ein Verzeichnis aller Brunnen und Brunnenmeister der Stadt oder ein Verzeichnis der Standorte der Schutzbretter, die für die Aufschwellung des künstlichen Baches durch die Stadt Verwendung finden. Letztere Explikation in Listenform – neben der Gliederung in Kapitel und Paragraphen ebenfalls ein textstrukturell neuer Baustein – thematisiert das implizite Wissen, welches hinter der lokalen Deixis auf Außersprachliches der tradierten Formulierung aufscheint, die von 1558 an fortlaufend unverändert weiter gegeben wird: „Gleichfals sollen auch die Schutzbrete / an den ortten / do sie vor Alters gewest / bey solcher straff erhalten werden.“63 Alle diese Merkmale, die sich an der Textoberfläche beschreiben lassen, bilden den Prozess ab, den ich als Lernprozess der Versprachlichung und Verschriftlichung kennzeichnen möchte: Die städtische Verwaltung gestaltet das städtische Leben mit Ordnungen aus. Dazu gehört auch, dass sich erst sprachliche Muster ausbilden und etablieren müssen, um prozedurales Wissen in deklaratives Wissen umzuformen. Damit wachsen die Ordnungen aus der knappen Handlungsanweisung in einer konkreten Situation heraus und regeln (auch planerisch) umfassend einen Bereich des sozialen Lebens. Exemplarisch ist auch hierfür die Ordnung von 1642 heranzuziehen, die nicht mehr nur das Verhalten bei Feuer organisiert, sondern in einem eigenständigen Kapitel die Maßnahmen aufführt, die nach gelöschtem Feuer vorzunehmen sind: _____________ 61 62 63
Vgl. Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 6v-7r. Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1558, Blatt 4v und Fewer Ordenung der Stadt Dreßden 1589, fol. 5v. Ebd., fol. 4v.
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Das Fuenffte Capitul. Wenn mit Goettlicher Huelffe die entstandene Fewerßbrunst gedempfft vnd geleschet / wie es ferner gehalten werden sol. 1. ERstlich: Bey deme / so das Fewer außkommen / sol wegen der verwarlosung vnd verursachunge / fleissige erkundigung eingezogen / welcher darauff nach befindung von Vns dem Rathe wuercklich bestraft werden sol [...].64
Nicht, dass Unterscheidungen und Differenzierungen zwischen Norm und Sanktion nicht bereits früher bisweilen Eingang in die Feuerordnung gefunden hätten,65 die systematische und funktionale Zusammenstellung hebt die Ordnung von 1642 von allen vorangehenden Texten ab. Die Ordnung von 1642 hat sich als juristischer Text mit der Unterscheidung zwischen Norm und Sanktion von den Handlungsanleitungen aus der Mitte des 16. und vom Anfang des 17. Jahrhunderts emanzipiert und wird damit zur Grundlage für die Feuerordnungen bis ins 18. und 19. Jahrhundert.
4. Fazit An den Dresdner Feuerordnungen, die vor dem Hintergrund der stadtgeschichtlichen Entwicklung im 16. Jahrhundert glücklicherweise in regelmäßigen Abständen in Druck gegeben worden sind, lässt sich die Institutionalisierung einer Textsorte beschreiben, die sich ausgehend von der bloßen Handlungsanweisung hin zu einem direktiven Text mit der Explikation von Norm und Sanktion entwickelte. Dabei bin ich auf drei Aspekte eingegangen, die sich graduell und systematisch nicht streng voneinander scheiden lassen, da sie auf kommunikativer, auf textgrammatischer und textstruktureller sowie auf der Ebene der Entwicklung einer institutionellen Textsorte aus unterschiedlichen Perspektiven ein Phänomen beleuchten. In den Feuerordnungen wird gemeinsames Handeln der Stadtbevölkerung in einem Katastrophenfall organisiert, Kommunikation gelenkt und es werden Aufgaben und Verantwortlichkeiten festgeschrieben. Zur Entwicklung der Textsorte gehört, dass sich diese geplanten Handlungen und die vorgeschlagenen Aufgabenverteilungen erst bewähren müssen, bevor sie als deklaratives Wissen in die Texte eingehen und als obligatorischer Bestandteil der Textsorte aufgefasst werden können. Auf textgrammati_____________ 64 65
FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden 1642, 50, Kap. 5 §1. Vgl. etwa: „Man sol auch nach geleschtem Fewer erkundigung einnemen / welche von obgedachten Handwergern darbei gewesen / v] rettung thun helffen. Vnd do einer oder mehr befunden / welche vorsetziglich vnd ohne sonderbare erhebliche entschFldigung dauon blieben / die sollen darumb nach gelegenheit in straff genommen werden. […]“ (Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden 1608, fol. 10).
Textpragmatische und -grammatische Überlegungen zu Feuerordnungen
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scher und textstruktureller Ebene war diese Entwicklung beschrieben worden an Beispielen, in denen bisher implizites Wissen expliziert wird. Dabei war die Unterscheidung wichtig, dass zum einen Handlungswissen verschriftlicht wird, zum anderen aber, dass mit der Schrift die Planung und Vorgabe von Handlungsmöglichkeiten, die sich nicht aus der Erfahrung speisen, möglich wird. Dabei wird der Text an verschiedenen Stellen erweitert, ohne dass dabei zugleich etwaige textgrammatische Brüche oder textstrukturelle Dopplungen vermieden würden. Der Text hat damit zunächst noch den Charakter einer Ansammlung von Regelungen, die erst mit der Wandlung von einer mehr appellativen zu einer eher direktiven Textsorte in eine funktionale Ordnung überführt wird. In dieser Entwicklung der Textsorte Feuerordnung spiegelt sich deswegen ein Institutionalisierungsprozess innerhalb städtischer Verwaltungen wider, der nicht nur die Feuerordnungen, sondern alle Ordnungen betrifft: Indikatorisch ist hierfür die juristische Relevanz, die die städtischen Texte zunehmend ausstellen und die charakteristisch für alle kanzleisprachlichen Texte ist.66 Diese an juristischer Relevanz gewinnenden Texte, die aus der Situationsdeixis des Hier-und-Jetzt herausgehoben werden, indizieren einen institutionellen Lernprozesses der Versprachlichung und Verschriftlichung, der zum einen Gegenstand der (historischen) Syntaxforschung und zugleich auch Kennzeichen der generellen (und noch nicht abgeschlossenen) Entwicklung innerhalb (nicht nur) städtischer Verwaltungen ist: Man gibt oft Regeln über Dinge, wo sie unstreitig mehr Schaden als Nutzen bringen. Was ich hier meine will ich mit einem Artikel aus einer Feuer-Ordnung erläutern. Anwendung wird sich jeder in seinen Wissenschaften zu machen wissen: Wenn ein Haus brennt, so muß man vor allen Dingen die rechte Wand des zur Linken stehenden Hauses und hingegen die linke Wand des zur Rechten stehenden Hauses zu decken suchen [...].67
Quellen Von Gotts gnaden Johans Friderich / Hertzog zu Sachsen / des heiligen R=mischen Reichs Ertzmarschahl vnd ChurfFrst […] [Anordnung]. 1541, gegeben zu Torgau. Abgedruckt in: Der durchleuchtigen / hochgebornen FFrsten vnd Herrn / Herrn Johans Friderichen / des Mittlern / Herrn Johans Wilhelm / vnd Herrn Johans Friderichen / des JFngern / gebrFdere / Hertzogen zu Sachssen […] Pollicey vnd Landtsordenung / zu wolfart vnd bestem / der selben Landen vnd Vnterthanen / bedacht vnd ausgangen, Gedruckt durch Christian R=dinger, Jena 1556.
_____________ 66 67
Vgl. wieder Ziegler (2001, 121). Lichtenberg (1983, 129).
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Fewer Ordenung der Stadt Dreßden. Gedruckt zu Dreßden durch Matthes St=ckel, Dresden 1558. Fewer Ordenung der Stadt Dreßden / vornewert vnd wieder auffgerichtet / Jm Jahr nach Christi Geburt / M.D.LXXXIX. Gedruckt zu Dreßden / durch Matthes St=ckel, Dresden 1589. Fewer Ordnung / Der Stadt Dreßden / vernewert vnd wieder auffgerichtet im Jahr nach Christi Geburt / M.DC.VIII. Gedruckt zu Dreßden / durch Hieronymum SchFtz, Dresden 1608. FewerOrdnung Des Raths zu Dreßden. Gedruckt bey Eimel Bergens Sel. Erben, Dresden 1642. Extract Aus der Dreßdnischen de Anno 1662 gn(digst confirmirten Feuer-Ordnung / und denen hernach von der hohen Landes-Obrigkeit ergangenen Befehlen, so viel allen und jeden BFrgern, auch Einwohnern sowohl in Neu- als Alt-Dreßden und in den Vor-St(dten zu wissen n=thig. Gedruckt bey Jacob Harpetern, Dresden 1716. Verbesserte Feuer-Ordnung bey der K=nigl. Residenz-Stadt Dreßden. Gedruckt bey Johann Wilhelm Harpetern, Dresden 1751. Lichtenberg, Georg Christoph (1983), Schriften und Briefe. Bd. 1: Sudelbücher, Fragmente, Fabeln, Verse, Franz H. Mautner (Hrsg.), Frankfurt a. M.
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Syntaktische Präferenzen als Kommunikationsmaximen in der Grammatikographie 1500-1700 Odile Schneider-Mizony (Strasbourg)
1. Erkenntnisziel und Korpus Es wird ein qualitativer Ansatz sprachhistorischer Analysen vorgestellt, der von der Markierungspraxis sprachlicher Variation in den Grammatiken des 16. und 17. Jahrhunderts ausgeht. Mit Grammatiken sind sowohl Lehrbücher der deutschen Sprache an Ausländer – Albertus oder Gezelius – wie auch Kanzleifibeln, Stilistiken oder Briefsteller – Meichszner, Opitz, Stieler – wie auch schließlich analytisch-normative Beschreibungen der Muttersprache gemeint: Kromayer, Ratke und Schottel. Allen diesen Werken, die hier unter die grobe Kategorie Grammatikographie eingereiht werden, ist eine Schreibpraxis zu eigen, in der variable sprachliche Erscheinungen mit Markierungen versehen werden, in denen sich das Einverständnis und die Bevorzugung, oder die Stigmatisierung und Ablehnung bestimmter Formen durch den Beschreiber ausdrückt. Von Polenz hat für das 19. Jahrhundert die große Rolle hervorgehoben, die die Sprachbewertung, die mit der Sprachreflexion einhergeht, für die Ideologisierung bzw. die Diskriminierung von bestimmten sprachlichen Erscheinungen spielt. So sehr wird in seinen Augen die Sprachentwicklung von solchen metasprachlichen Bemühungen beeinflusst, dass er das systemlinguistische Kapitel der betreffenden Epoche dem sprachbewusstseinsgeschichtlichen Kapitel nachfolgen lässt.1 Der Vergleich zwischen beiden Ebenen sollte nicht den neueren Sprachepochen vorbehalten werden, die Quellenlage macht es möglich, auch für ältere Epochen Einschätzungen und Geschmacksurteile über eigenes und fremdes Sprachverhalten zu gewinnen, die einen Einblick in die zeitgenössischen Vorstellungen von guter oder schlechter Sprache, von passendem oder _____________ 1
Vgl. von Polenz (1999, 4).
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unpassendem Sprachgebrauch erlauben. Grammatiken dokumentieren nicht nur – wenn es überhaupt der Fall ist – den Sprachgebrauch ihrer Zeit, sondern kommentieren ihn auch. In einer Arbeit zu den Satzkonnektoren konnte ich 2003 zeigen, wie der Prestigeverlust der Pronominaladverbien in den meta-sprachlichen Kommentaren von 1450 bis 1650 parallel zu einem Rückgang in der Prosa führt, oder sich daraus erklärt(!).2 Im Sinne des Titels der vorliegenden Publikation werden die qualitativen Kommentare da untersucht, wo sie sich auf die syntaktische Ebene der Sprache beziehen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, wurden die syntaktischen Domänen Verbstellung, Satzklammer, afinite Nebensätze, Gleichordnung versus Nebenordnung auf zwei Untersuchungen beschränkt: Aussagen a. zur Verbstellung und b. zur Auslassung des Hilfsverbs in den Nebensätzen. Es wird versucht zu zeigen, wie die stilistischen Bewertungen über sprachliche Ausdrucksformen bis hin zu den normativen Aussagen darüber, wie es (nicht) gemacht werden sollte, einem Wahrnehmungs- und Wertewandel im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts entsprechen. Einführend werden Forschungsrahmen und Vielfalt der Markierungen in den Sprachlehrwerken kurz erklärt. Dann wird mit Hilfe der erhobenen Daten versucht, an Hand der Markierungen Aussagen über die syntaktisch präferierten Modelle herauszuarbeiten. Schließlich wird argumentiert, dass die damit dokumentierten Voreinstellungen der Schreiber zur Syntax den Sprachwandel interpretieren helfen und sich dieser Ansatz somit als komplementär zu systemlinguistischen Arbeiten verhält.
2. Sprachlehrwerke, Variation und Markierungen 2.1. Markierungspraxis Die Markierung durch den Grammatiker wird aus einem epilinguistischen Bewusstsein heraus vorgenommen: Die Autoren der didaktisch oder wissenschaftlich orientierten Sprachlehrwerke ergänzen die Beschreibung der deutschen Sprache um Kommentare zu deren Qualität und Verwendungsmodi. Solche Kommentare befinden sich an der Schnittstelle zwischen Varietätenlinguistik3 und Attitüdenforschung: Eine Form wird neutral angeführt und gilt als normal, während eine zweite, als Abweichung von der ersten verstandene Form mit einer Markierung versehen wird, die sowohl Kritik als auch Güteprädikat sein kann. Markiertheit ist eine Begleiterscheinung sprachlicher Variation. _____________ 2 3
Vgl. Schneider-Mizony (2003, 229). Wenn die sprachliche Form tatsächlich existiert!
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Die große Vielfalt dieser Markierungen erfordert ein Klassifizierungsraster,4 denn man kann etwa acht verschiedene Arten der Markierung sprachlicher Alternativen unterscheiden: 1. Die diachronische Markierung, bei der es um alt oder neu geht, zeigt sich empfänglich für den Wandel im Sprachgebrauch. Im folgenden Beispiel erinnert der Grammatiker daran, wie die Schreibung des Deutschen (im Zitat „diese Sprache“) andere Graphemkombinationen als Griechisch und Latein entwickeln musste: (1) Die art zu schreiben ist bey den alten mehr mit griechischen als Lateinischen Buchstaben gewesen. […] Jetziger zeit aber hat sich diese sprache sehr verendert / hat nun mehr ihre eigene buchstaben.5 (Gueintz, Teutscher Sprachlehre Entwurf (1641), 3f.)6 2. Die diatopische Markierung, bei der es um Räumlichkeit geht, stempelt (oder lobt) Formen als regional / dialektal. Zur besseren Einschätzung des folgenden Beispiels wird daran erinnert, dass Meichszner aus Südwestdeutschland stammt: (2) Aber am Ryn / vnd in landen da die spraachen etwas subtiler / vnd mit geringerer arbeit ußzusprechen sind / sagt man / die weysen herrn vom rat haben den weisen etc. (Johann Meichszner, Handbüchlin (1538), 160) 3. Die nationale Markierung bezeichnet den Grad der Integriertheit in oder die Herkunft aus einer Nationalsprache, und charakterisiert eine Form als „fremd“ oder „deutsch“ (= national). Im folgenden Beleg geht es um die Verbstellung am Schluss des Satzes, mit anschließendem Sprachbeispiel des Grammatikers: (3) Es lautet wol und schleust sich ordentlich in Teutscher Sprache / wenn man die Meynungen also einfügen / und die Spruchrede (periodum) mit dem Hauptzeitwort (illo verbo, quo totus sensus recipit, seu quod primarium significandi locum obtinet) schliessen oder endigen kan / als [...]. Dieweil aber der Erbfeind Siebenbürgen mit grosser Gewalt überfallen / dahers unsere Königreiche und Erblande / welche nunmehr der Gefahr viel näher worden / unsere Zunahung und Gegenwart / und zu nötigem eilenden Widerstande / ver_____________ 4 5 6
Angelehnt an Thelen (1999, 15). Die Markierungen werden in den Zitaten kursiv gesetzt. Im Quellenverzeichnis werden die Titel mit den Jahreszahlen der modernen Drucklegung angeführt. Zum besseren Verständnis erfolgt hier jedoch die Nennung des Erscheinungsjahrs unter Angabe des Kurztitels.
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mittelst der Landtage / zeittge Fürsehung / so viel immer möglich zuthun / zum höchsten erforderen. R. Absch. (Schottel, Ausführliche Arbeit (1663), 755) 4. Die diastratische Markierung sagt etwas über die sozio-kulturelle Zugehörigkeit aus und ordnet die Form einer sozialen Schicht (Ober- oder Unterschicht) oder einem konnotierten Stilregister zu, wie z.B. „edel“ oder „bäurisch“. Im folgenden Beispiel rechtfertigt der Autor die Abwesenheit bestimmter Demonstrativa in seiner Grammatik, duda, derda, dudoch, derdoch: Diese (Formen) würden nicht mit Sorgfalt untersucht werden, denn sie würden eher von Barbaren als von den Gebildeteren verwendet: (4) Sed haec non curiose disquirantur, cum potius barbaris quam cultioribus vsitata sunt. (Albertus, De Grammatica (1573), 90) 5. Die textuell-mediale Markierung gibt an, inwieweit die sprachliche Erscheinung als geschrieben, gesprochen, text- oder stilgebunden empfunden wird. Im folgenden Beispiel empfiehlt der Autor einen vorsichtigen Gebrauch der Trennbarkeit von verbalen Präfixen, denn Trennbarkeit (Zerschneidung) sei unterschiedlich je nach Textsorte oder -stil: (5) Die zerschneidung eines zusammengesetzten worts soll zierlich angestellet, vnd nicht ohne vnterscheid bey einem Jeden zusammengesetzten gebraucht werden: Derowegen alhier der gemein gebrauch fleißig in acht zunehmen, vnd was bey den guten Teütschen zubefinden, am Sichersten zu mercken ist. (Ratke, Wortschikungslehr (1630), 257). 6. Die Frequenzmarkierung benützt die Kriterien selten bis häufig. Die zwei nächsten Belege betreffen den Gebrauch des Relativpronomens welcher, -e, -es: im Beispiel (6) geht es um seine epochentypische adsubstantivische Verwendung, im Beispiel (7) um seine Funktion als Anaphorikum eines ganzen propositionalen Gehaltes, als Einleiter eines weiterführenden Nebensatzes, der einem konjunktionalen Nebensatz näher steht als einem Relativsatz. (6) Das selbstendige vorgehende wird bißweilen neben dem wiederholenden Vornennwort widerholet; alß, Ein jeglicher hat seine bestimmte Zeit zu leben, welche Zeit er nicht vberleben khan. (Ratke, Wortschickungslehr (1630), 233) (7) Welches / das / es werden offtmals auf eine gantze Rede / oder einen gantzen Handel des Vorsatzes gerichtet in dem Nachsatze / als:
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Welches / das / es respondent praecedentibus interdum & referunt totam sententiam, vel non attento numero aut casu, ut : Solche Dinge sind vergangen / welches ich dahin stelle. Solche Händel hat er getrieben und solche Sache verübt / das mir alles bewußt. […] (Schottel, Ausführliche Arbeit (1663), 731) 7. Die evaluative Markierung offenbart die sprachlichen Ideale oder Schreckbilder des Grammatikers und benützt dafür Kriterien wie schön oder grässlich. Hier rät Opitz zur differenzierten Verwendung von der, die, das und welcher, welche, welches als Relativpronomen bei Wiederholung: (8) Wie nun bißweilen eine solche zuesammenstoßung der buchstaben recht vnd guet ist ; soll man sie doch sonsten mitt einander so wißen zue vermengen / das nicht die rede dadurch gar zue raw oder zue linde werde. Eben dieses ist es auch / wann eine syllabe oder wort zue offte wiederholet wird; als: Die die dir diese Dinge sagen. (Opitz, Buch von der deutschen Poeterey (1624), 38) 8. Die normative Markierung setzt den Standard voraus, mit den Kategorien korrekt oder falsch: Sie findet sich erst ab der Normsetzung im 17. Jahrhundert. Sie wird auch anhand von Geboten (muss) oder Verboten (darf nicht) vermittelt. Im folgenden Beispiel zeugt das Muß davon, dass die Kongruenz des Relativpronomens mit seinem Antezedens in diesem Jahrhundert erkannt und formalisiert worden ist. (9) Das Vornennwort / welcher / welche / welches / so sich auf ein vorgehendes Nennwort in der Rede zeugt muß zwar in demselben vorgehenden Nennworte übereinstimmen / so viel das Geschlecht und die Zahl betrift: aber die Zahlendung hat jhr Absehen auf das folgende Zeitwort / darnach sie regulirt wird / als: Der Mann /welcher in der Kirche ist / der Mann / welchem man die Kirche verboten / der Mann / welchen sie aus der Kirche gestossen / der Mann / welches Sache nicht gut ist. (Schottel, Ausführliche Arbeit (1663), 730-731) Markierungen lassen sich theoretisch auf allen Ebenen des Sprachsystems sammeln: Phonie, Graphie, Morphologie, Syntax, Lexik. Zur frühneuhochdeutschen Epoche sind die sprachlichen Ebenen ungleich vertreten, unter anderem, weil Lesefähigkeit und dialektal bedingte morphologische Variation als die Hauptprobleme der Zeit angesehen werden. Die syntaktische Ebene ist spärlich belegt, sie gewinnt aber an Bedeutung während der zwei nächsten Jahrhunderte. Unsere Zuordnung der Beispiele zu jeweils
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einer als dominant angesehenen Markierungsart dient der Übersichtlichkeit, wobei beachtet werden soll, dass sich manche Belege nicht eindeutig einer Markierungsart zusprechen lassen. Manche Markierung gibt z.B. Anlass zu einer weiteren: Die Feststellung eines Archaismus begründet die Auffassung des Autoren, dass die Form nicht mehr verwendet werden soll; oder die Einschätzung als niederen Stil zieht beispielsweise die Charakterisierung ‚unschön‘ nach sich. Markierungen sind Konnotierungen eines sprachlichen Ausdrucks, wobei mit sprachlichem Ausdruck nicht behauptet wird, dass die vom Grammatiker besprochenen Formen tatsächlich immer existiert haben. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass ein Teil der angegebenen Wörter, morphologischen Paradigmen und Ausdrücke eher der grammatikographischen Vorstellung als der praktischen Beobachtung entspringt. Eine Partizipfuturform nach lateinischem Muster zum Beispiel – ein ehren werdender für honoraturus, ein laufen werdender für cursurus7 – hat es im Deutschen aller Wahrscheinlichkeit nach nie gegeben. Markierungen erlauben aber nicht nur eine Einsicht in die Mentefakte der Periode, sondern sind mögliche Operatoren für Sprachwandel: Die Schreiber lassen sich von der Höherbewertung oder Stigmatisierung von Syntaxmodellen in ihrem Sprachgebrauch leiten. 2.2. Wie sich grammatikographische Präferenzen aus der Markierungspraxis herleiten In die Kodifikation gehen die Varianten ein, die als gut bzw. schön betrachtet werden und deren Gebrauch gutgeheißen wird. Die Kodifikation ist ein Prozess, der die Spuren zahlreicher Eingriffe seitens der Lexikographen und Grammatiker zeigt. Er läuft darauf hinaus, Variation zu beseitigen und eine einzige Form als die bessere zu privilegieren, denn darin sieht der Grammatiker seine eigentliche Aufgabe, wie es Schottel am Anfang seines zweiten Buches in variierender Formulierung nicht müde wird zu betonen: (10) [Es wird] […] für nötig und rühmlich geachtet / nemlich die HauptSprache der Teutschen / so voll rauher wilder Freyheit gewesen / Kunst- und regelmessig zufassen / und nicht länger so gar Sprachkunstlos zu lassen. [Zweck seines Werkes sei] Eine so reumige / reiche / weit ausgebreitete und enderlicher Freyheit eingewickelte Sprache zum KunstStande zubringen / und so viel tausend ordnungslosen _____________ 7
Vgl. Albertus (1895, 120f.).
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Vocabulis Harumq. terminationibus ihre Ankunft / Ort / Bleibung und Ordnung zuzeigen / […]. (Schottel, Ausführliche Arbeit (1663), 178) Natürlich geschieht die Variantenbeseitigung in der Sprach- und Schreibvarietät nicht aufgrund der direkten Beeinflussung durch die Bevorzugung oder die geschmackliche Ablehnung bestimmter sprachlicher Formen. Auch in früheren Jahrhunderten rennen die Grammatiken dem Usus fortwährend nach, das heißt, dass die Kodifikation der Sprache es ständig zugleich mit alten und mit neuen Formen zu tun hat. Hier spielen die Markierungen die folgenschwere Rolle, dass sie den Akzeptanzgrad mancher Variante zu Ungunsten anderer Formulierungen erhöhen oder auch nicht. Erst auf diesem Umweg wird Norm konstruiert, was erklärt, warum dieser lexikographische und grammatikographische Kommentar nie aufhört, weil er das Konstruierte stabilisieren muss. Zu einem bestimmten Zeitpunkt muss die besondere Ausformung der Standardsprache ihren Status in der Sprachgemeinschaft aufrechterhalten, um nicht von anderen Varianten wieder abgeschoben zu werden. Zur Untersuchungszeit, wie aus Schottels grundsätzlichen Aussagen ersichtlich, gestaltet sich Variation, die rauhe wilde Freyheit, zunehmend zum Problem, die frühere Gleichgültigkeit oder Toleranz gegenüber Alternativausdrücken verliert sich. Variation wird unter Rückgriff auf Argumente der Reinlichkeit verdrängt oder textuell und diastratisch funktionalisiert. Es soll jetzt dieser Prozess an zwei Beispielen untersucht werden.
3. Markierungen zu syntaktischen Präferenzen 3.1. Erste untersuchte Domäne: Verbstellung Die Kodifizierung der Verbstellung erfolgt ziemlich spät in den Sprachnormbüchern, explizit kaum vor dem Ende des 18. oder sogar am Anfang des 19. Jahrhunderts. Dazu gibt es zwei Erklärungen, die aus der grammatikographischen Tradition herrühren: •
zum einen die Tatsache, dass in den zusammengesetzten Zeiten die unpersönlichen Formen als das eigentliche Verb betrachtet wurden, da sie den Verbsinn trugen, was den Blick für die Eigenständigkeiten der Verbstellung im Rahmen einer Klammersprache trübte;
•
zum anderen das Fehlen eines Nebensatzbegriffes, der erst im 18. Jahrhundert aufkam: Die syntaktischen Gesichtspunkte mussten sich erst gegen die Vorstellung durchsetzen, dass die Wortstellungs-
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änderungen durch die Gesetze des ordo naturalis (eher Verbzweit-) und ordo elegans (eher Verbletztstellung) zu erklären seien.8 Ende des 16. Jahrhunderts ist Albertus so weit, dass er den Unterschied zwischen Haupt- und Nebensatzstellung erkennt, aber nur in Bezug auf das Hilfsverb haben. Für ihn ist die Verbendstellung eine Stilfigur – die die Griechen apaggelian nannten –, welche semantisch unvollständige Satzgliedteile – diese Teile, die die Griechen und Lateiner cola, also Nebensätze nannten – in komplexen Sätzen mit verschiedenen Modalitäten (execrationibus) und Umstandsangaben (causalibus) begleitet: (11) In execrationibus, in causalibus et racionatiuis orationum membris, in interrogationibus, aposiopesibus, comminationibus, parenthesibus, et in ijs membris, quae Graecis et Latinis cola dicuntur, duobus punctis a Latinis signata, et que suspendi ac tractum enunciari volunt, quia sententia adhuc imperfecta est, necesserio enim aliquid subsequi debet, quam figuram Greci apaggelian vocant, tum verbum hab, in finem collocatur, als Execrative, wann ichs gesagt hab si dixi: Ratiocinative: dieweil er sich dann dessen angemasset hat siquidem haec ausus fuit […]. (Albertus, De Grammatica (1573), 105f.) Obwohl der Kommentar hier die Endstellung des Verbs als notwendig erachtet (necessario), wird zwei Seiten später für Konditionalsätze die Möglichkeit gesehen, dass in einem mit so eingeführten Konditionalsatz die unpersönliche Verbform – hier als substantivum verbum bezeichnet – dem konjugierten Verb sowohl vorangehen als auch nachfolgen kann (vel / vel), was dem Zufallsprinzip zu gehorchen scheint, bzw. eine freie Variation wäre: (12) Substantivum uerbum in conditionalibus et interrogatiuis orationibus, vel praecedit vel sequitur verbum, als: so ich lesen werde / oder ich werde lesen, si legero. (Albertus, De Grammatica (1573), 107) Auch spätere Autoren wie Gezelius schreiben die Konjugationsparadigmen des Konjunktivs mit allen möglichen Stellungen für das Hilfsverb in zusammengesetzten Zeiten. Zur Beschreibung des Konjunktivs wurde nämlich mit Konditionaleinleitung so oder Optativ-„Partikel“ dass durchkonjugiert, und es lassen sich Anfangs-, Mittel- und Endstellung für das Hilfsverb haben finden. Im ersten der zwei folgenden Beispiele (13) formuliert der Grammatiker, dass der Konjunktiv die Partikeln (= heutige Konjunktionen) dem Verb vorsetzt, so dass in seinen Beispielsätzen das konjugierte Hilfsverb in die Mittelstellung rückt: _____________ 8
Vgl. Jellinek (1968, 442ff.).
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(13) Conjunctivus praeponit Verbo particulas: So / wenn / als / da / das / auffdas […]. Plusquamperfectum: S. So ich hätte gelehret / so du hättest gelehret / so er hätte gelehret. PL. So wir hätten gelehret […] (Gezelius, Grammaticae Germanicae synopsis (1667), 133) Im zweiten Beispiel (14) konjugiert er wenig später den Konjunktiv mit Verbendstellung: (14) Conjuctivus Praes: S. So ich gelehrtet werde / so du gelehret wirst / so er gelehret wird […] Imperfectum: S. So ich gelehret würde / so du gelehret würdest / so er gelehret würde […]. (Gezelius, Grammaticae Germanicae synopsis (1667), 136-137) Bei diesen wechselnden Stellungsformulierungen zeigt die Stellung des Verbums keine Logik. Auch Anfang des 17. Jahrhunderts ist es dem Autoren Kromeyer eins, ob ein Objektsatz mit oder ohne dass angeführt werde: Die Verbstellung bleibt die gleiche, eine Verbzweitstellung: (15) Es wird auch im Syntax offt die Conjunction /das / oder / auff daz / aussen gelassen. Als: Ich höre / der Vater ist kommen: an statt dessen: Ich höre / das der Vater ist kommen. (Kromeyer, Deutsche Grammatica (1618), 86) Interessanterweise findet dasselbe Beispiel samt Erklärung zwanzig Jahre später keinen Zuspruch mehr bei einem anderen Grammatiker, Gueintz, der schreibt: (16) Es wird ofte in der Rede das fügewort daß ausengelassen / als Ich höre der Vater ist kommen an stat: Ich höre / daß der Vater ist kommen. Wiewol / meines bedünckens; Die erste rede erzehlet / und sey zu unterscheiden / Ich höre / der Vater ist kommen: Die andere ist Deutscher / wenn man saget: Ich höre daß der Vater kommen sey. (Gueintz, Teutscher Sprachlehre Entwurf (1641), 118) Bei diesem Zitat muss man abstrahieren, dass Gueintz hier nicht die Verbstellung fokussiert, sondern die Äquivalenz, welche die damalige Grammatikschreibung zwischen Verbstellung und Modus zog. Indikativmodus wurde durch Verbzweit- und Konjunktivmodus durch Verbletztstellung angegeben, was den Moduswechsel für die dritte Realisation im Beispiel (16) erklärt. Wenn man sich aber auf die Wortstellung und die Markierungen zu den Beispielen konzentriert, beobachtet man Folgendes: Nach der wörtlichen Wiederaufnahme des Beispiels seines Kollegen und
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Lehrers kategorisiert der subjektivierende Ausdruck meines bedünckens zuerst vorsichtig den Beleg als eine stil- und textsortentypische Form. Nach der Markierung holt Gueintz sein Sprachgefühl deutsch heraus, um eine bessere Flüssigkeit der Verbstellung mit Konjunktiv I festzustellen. Diese zwei Metakommentare zeigen einen Fortschritt in der Fixierung der Verbstellung, die hier durch die nationale Markierung positiv eingeschätzt wird. Parallel dazu reift die Erkenntnis, dass die Verben mit trennbaren Präfixen im Indikativpräsens und Präteritum das trennbare Präfix hinter das Verb stellen, aber nicht im Konjunktiv, wie in (17), wo es vom Verb ganz nüchtern heißt: so bleibet es gantz. (17) Wan aber das wörtlein Das / oder So darzu kommet / so bleibet es gantz als: Wolte Gott daß ichs abschriebe. (Gueintz, Teutscher Sprachlehre Entwurf (1641), 60) Gueintz, der keinen Konjunktiv beschreibt, bringt die Stellung mit dem Vorhandensein von dass oder so zusammen. Allmählich wächst in der Kodifizierungsgeschichte die Frage der Verbstellung zu einer Frage der Verständlichkeit (deutligkeit) und der Ästhetik (garstig). Die Verbendstellung im autonomen Satz, die man noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei Autoren wie Valentin Schumann antraf, wird von Opitz in seiner Poetik regelrecht abgelehnt. (18a) Wie nun wegen reinligkeit der reden fremde wörter vnnd dergleichen mußen vermieden werden; so muß man auch der deutligkeit halben sich für alle dem hüten / was vnsere worte tunckel vnd vnverstendlich macht; als wann ich sagen wollte Das weib das thier ergriff. Hier were zu zweiffeln / ob das weib vom thiere / oder das thier vom weibe ergrieffen worden. (Opitz, Buch von der deutschen Poeterey (1624), 36) (18b)Die anastrophe oder verkehrung der worte stehet bey uns sehr garstig als: Den sieg die Venus kriegt; für: Die Venus kriegt den Sieg. Item: Sich selig dieser schätzen mag; für: Dieser mag sich selig schätzen. Vnnd so ofte dergleichen gefunden wird / ist es eine gewisse anzeigung / das die worte in den verß gezwungen und gedrungen sein. (Ebd., 37) Im Beispiel 18a wirkt die Künstlichkeit der semantischen Argumentation entlarvend, denn aus dem Kontext heraus dürfte die Rollenverteilung überhaupt klar sein, je nachdem, ob das Tier ein Lamm oder ein Löwe ist. Aber gerade die argumentative Gezwungenheit zeigt die beginnende Stigmatisierung der Verbendstellung im Hauptsatz. Zu diesem Zeitpunkt ist die Verbstellung schon funktionalisiert.
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Ende des 17. Jahrhunderts gibt es immer noch keine überzeugende Beschreibung für die Verbalstellung. Aber im Gegensatz zum Anfang des Jahrhunderts bei Kromayer oder Ratke registriert nun auch ein wortkarger Grammatiker wie Gezelius nur noch Beispielsätze, die mit der typologischen Ordnung des Deutschen übereinstimmen: (19) Composita in Indicativo Praesenti & Imperfecto dissecta inverti & Praepositionem verbo postponi, aliis quibusdam interjectis, ut: Verbum abschreiben in praesenti ita divellitur: Ich schreibe ictz diesen Brief ab. Et ita etiam in Imperfecto Ich schrieb ab non ich abschrieb. (Gezelius, Grammaticae Germanicae synopsis (1667), 130) Und Schottels Anmerkungen umfassen diese drei Bereiche komplett mit semantischer Argumentation. Hauptzeitworte mit ihrer vollen Bedeutung müssen eben unzertheilet bleiben: Beispiel 20 für Verben mit trennbaren Präfixen, Beispiel 21 für andere Verben (sowohl im Haupt- als im Nebensatz), wo sie sich am Ende einer Periode befinden sollen. Die Häufigkeitsmarkierung im Lateinischen – toties … quoties (jedes Mal, wenn) – lässt jetzt einen Stellungszwang erkennen: (20) Wenn in der Rede vorgehet so / wenn / daß / als / der / alsdenn bleiben die gedoppelten unzerteihlet: Item notandum, quoties in sermone praecedit so / wenn / daß / als / der toties praepositiones componentes locum suum servare solent, hoc est, a verbis suis non separantur, ut: Wan das Volk den Damm durchbricht. So wir Menschen erst von Gott abfallen. Als das Geschütz mit Knallen losging. Daß ich austrete / dessen ist Uhrsach. Der ich durchdringe mit Gewalt. (Schottel, Ausführliche Arbeit (1663), 748) (21) Es lautet wol und schleust sich ordentlich in Teutscher Sprache / wenn man die Meynungen also einfügen / und die Spruchrede (periodum) mit dem Hauptzeitwort (illo verbo, quo totus sensus recipit, seu quod primarium significandi locum obtinet) schliessen oder endigen kan / als [...]. Dieweil aber der Erbfeind Sieberbürgen mit grosser Gewalt überfallen / dahers unsere Königreiche und Erblande / welche nunmehr der Gefahr viel näher worden / unsere Zunahung und Gegenwart / und zu nötigem eilenden Widerstande / vermittelst der Landtage / zeittge Fürsehung / so viel immer möglich zuthun / zum höchsten erforderen. R. Absch. (Ebd., 755)
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Der Wunsch, es den Lateinern gleich zu tun,9 erklärt, warum Sprachwertmarkierungen zur Beurteilung von Syntax herbemüht werden. Rhetorik als Modell bevorzugt eine Verbstellung, in der es nur angeblich um Kommunikationszwecke geht: Die Periode ist das Musterbeispiel des ordo elegans. Das Auftreten von nationalen Markierungen (Teutsch in Beispiel 20, Unteutsch in 22) und von Evaluativen (wol, ordentlich) offenbart die Prestigesuche. Der Beispielsatz in (22) klingt sonderbar. Aber es geht dem Grammatiker lediglich darum, bei einer Verbendstellung die unverrückbare Ordnung zwischen Präfix und konjugiertem Verb zu verkünden: die Markierung etwas Unteutsch kennzeichnet also ein offensichtliches Gegenbeispiel. (22) Anderermaßen die Vorwörter abtrennen/ sol nicht leichtlich sonderlich in ungebundener Rede geschehen / denn solches ist etwas Unteutsch / als: Bey einem Berge sie um den Verräther brachte. [umbrachte]. (Ebd., 748) Die Verbstellungsgesetze werden jetzt als Norm erkannt, auch wenn ihre Beschreibung noch ungenügend ausfällt. Die Entwicklung der Markierungen zeigt den Diskurswandel zu diesem Thema. 3.2. Zweite Untersuchungsdomäne: Afinite Nebensätze Die Auslassung des Hilfsverbs bei zusammengesetzten Zeiten ist eine schriftsprachliche Erscheinung, die sich im 15. Jahrhundert auszubreiten beginnt und ihre Blütezeit im 17. Jahrhundert kennt, bevor das ciceronische Stilmodell durch das des Seneca bzw. durch den französischen style coupé abgelöst wird. Die Auslassung des konjugierten Teils stellt an sich weder Interpretations- noch Gedächtnisprobleme dar, da alle für die Dekodierung nötigen Elemente im Schriftstück visuell zu finden sind. Die späteren Urteile in Bezug auf eine Erschwerung der Verständlichkeit verkennen die verschiedenen Anforderungen von Schrift- und Sprechstilen, bzw. missdeuten die hohe Informationsverdichtung, die daraus resultiert, als Verwirrung. Die Verbreitung der afiniten Nebensätze erklärt sich aus einer Prestigesteigerung im Laufe der Periode 1500-1700, die man an den Markierungen ihrer Beschreibung verfolgen kann. Als erstes Indiz fungiert eine beiläufige Bemerkung von Meichszner in einem Kontext, wo es allgemein um Wortzusammensetzung und -ableitung geht: Er kreditiert ganz allgemein die lexikalische Komplexität eines _____________ 9
Dieser ist beim Rückgriff auf die Kategorie periodum unterschwellig.
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Bedeutungszugewinnes und gibt Beispiele von Präfixverben, wie erheyraten im Beispiel 23, die bedeutungsschwangerer seien, als wenn sie umschrieben würden. Interessanterweise bezieht sich seine Abneigung gegenüber Periphrastischem und Redundantem (lang und verdrießlich) auf die Realisierung des Verbkomplexes, die er in seinem Beleg dann auch ausspart: (23) denen jr eigentliche bedütung zugelegt werden / die all zu schryben / zu lang vnd verdrißlich wern / Acquisitive. Ich hab ein reich wyb genommen / die mir gestorben /dadurch ich vil erheyratet. (Meichszner, Handbüchlin (1538), 165) Ein Jahrhundert später findet sich die Beobachtung, wonach Teile eines Verbalkomplexes nicht realisiert werden müssen, als Häufigkeitsfeststellung. Im Beispiel 24 gilt es für das so genannte wesentliche Sprechwort, d.h. für das Verb sein des zweiten Beispiels, eines allein stehenden Nebensatzes. (24) Was ist hierbey in acht zu nehmen? Daß vntterweilen das wörtlin „worden“ gantz außgelaßen wird, bißweilen auch das wesentliche sprechwort alß Ich bin geliebet für ich bin geliebet worden. Nachdem Ich geliebet worden für Nachdem ich bin geliebet worden. (Ratke, Wortschickungslehr (1630), 107) Bei einem leicht späteren Grammatiker wird zusätzlich zur Häufigkeitsmarkierung – bißweilen ist einem ofte gewichen – im Beleg 25 eine textuelle Erklärung angeboten (in Schlusreden), woraus entnommen werden darf, dass es sich laut Gueintz in einem Schlusssatz besser anhört und einen Pointencharakter heraufbeschwört. (25) In Schlusreden werden ofte die vornenwörter vnd hülfwörter der vergangenen zeit ausgeschlossen / als: Wollest derhalben. Es ist also / wie geschrieben. (Gueintz, Teutscher Sprachlehre Entwurf (1641), 117) Ein Jahrhundert später wird von Schottel die Vollständigkeit der Verbform grundsätzlich abgelehnt: In zwei kurz aufeinander folgenden Stellen (Belege 26 und 27) wird die Werbetrommel zuerst (26) kräftig für die elliptische Ausdrucksweise gerührt mit Argumenten, die zusätzlich zur Häufigkeit (Markierung gemeiniglich) auch ästhetische, d.h. evaluative Markierungen bemühen: Wohllaut, füglich, wol. Sein Sprachbeispiel in (26) würden allerdings moderne Leser kaum mit den genannten Attributen versehen, da die größtmögliche Extension der Verbalklammer (haben … geliebet) und die Heterogenität der ausgelassenen Formen als störend empfunden würden: Die meisten Formen laufen auf ein ausgelassenes habt zurück, verhal-
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ten hab(e)t, gedienet hab(e)t, aber das Verb sein wird auch in so uns dienlich gewesen ausgelassen. (26) Von den Hülfwörtern ist sattsamlich im andern Buche an seinem Orte gesaget worden. Allhie ist zuwissen: Daß sie gemeiniglich in der Rede von ihrem Zeitworte getheihlet / die Beyrede zwischen gesetzt das Hauptzeitwort aber biß zuletzt gesparet werde: Solches gibt einen sonderlichen Wollaut / und schleust sich füglich und wol / als: Wir haben euch allezeit / weil ihr euch wol verhalten / treulich uns gedienet / und keine Mühe / so uns dienlich gewesen / gesparet /sonderen mit grosser Lebensgefahr / unsere Wolfahrt embsigst gesuchet / und solches alles in dem Werk selbst ofters erwiesen / geliebet / weil etc. (Schottel, Teutsche Hauptsprache (1663), 743) Er fährt mit einem Kommentar fort, in dem der lateinische Text, der keine genaue Übersetzung der deutschen Formulierung darstellt, eine besonders interessante Markierung anbietet. Die kondensierte Variante entspricht dem Charakter der deutschen Sprache, wenn man es der Litotes glauben darf: Sie widerspricht keinesfalls dem Sprachgenius – nec linguae genius repugnat. Die evaluative Markierung mit Rückgriff auf eine sprachnationale Komponente zeigt den hohen Sprachwert, der jetzt dieser komprimierten Ausdrucksweise zukommt: (27) Die Hülfwörter / so zu einiger vergangenen Zeit gehören / werden in Teutscher Sprache zum oftern ausgelassen / und unter dem Zeitworte gar wol verstanden. […] Verba auxiliaria, etsi temporis rationem indicant, saepe tamen omittuntur, nec linguae genius repugnat [...]. Demnach endlich der Unmuth jhre Sinne verdunkelt / und die dunkele Nacht jhre Aeugelein beschlossen / (verdunkelt hatte / beschlossen hatte.) (Ebd., 744) Als letzter Beleg für die hohe Einschätzung dieser sprachlichen Erscheinung diene noch die schlichte Formulierung des angesehensten Briefstellers der Zeit, Stielers Sekretariat-Kunst: Ohne begleitenden metasprachlichen Diskurs stellt er fest, dass solche Ausdrucksweise sich für den ‚hohen Stil‘ eigne, das heißt für den förmlichen Stil, den Untergebene Standespersonen gegenüber schreiben sollen, und er präsentiert ein vierzigzeiliges Briefmodell, in welchem alle Nebensätze afinit realisiert werden: (28) Das Sechste Kapitel. Von den Dankschreiben. Ein Exempel in hoher Schreibart kan folgendes seyn:
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Daß E. F. Durchl. die Geringschätzigkeit meiner untertähnigen Person von so langen Jahren her mit so gnädigen Augen angesehen /in dem sie mich vor vielen andern dero eingebohrnen Landeskindern / zu dero unwürdigen Raht und Diener erwehlet / und nach der Zeit Ihre Fürstl. hohe Gnade / weit über alles Verdienst und Hoffen / mir auf ungezehlte Weise reichlich widerfahren laßen / dervor habe E. F. Durchl. ich bishero […]. (Stieler, Sekretariat-Kunst (1673), 395) Man kann überrascht sein, die kürzere Form als die schickere präsentiert zu bekommen in einer Schreibfibel, in der vor unhöflichen Abkürzungen gewarnt wird, weil sich darin ein mangelnder Respekt zeigen könne. Auch liegt eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Ersparnis von konjugierten Verbformen in einem ansonsten weitschweifigen und redundanten Brief. Aber den hohen Personen den scharfen Verstand nicht zuzutrauen, der für das Knacken solcher elliptischer Formulierungen notwendig ist, wäre noch unhöflicher, womit sich diese syntaktische Bevorzugung gut mit den höfischen Kommunikationsmaximen vertragen könnte. Überhaupt sind inkonsequente Metakommentare und Sprachgebote das beste Indiz dafür, dass nicht aus den Gesetzmäßigkeiten der Sprache, sondern aus dem Gefühl heraus argumentiert wird. Die Auswahl der in den Augen des Grammatikers besseren Form erfolgt nicht nach sprachfunktionalem Gesichtspunkt, sondern aus dem Wertesystem der Epoche heraus.
4. Zum Schluss Die Erfassung von Markierungen eröffnet einen Blick auf den sprachtheoretischen Kenntnisstand und das Sprachverständnis der Zeit: Die vielfältigen Markierungen zeigen, wie ganz andere als objektive Faktoren für den Sprachbeschreiber eine Rolle spielen: Häufigkeit, nationaler Charakter, Stilistisches oder Ästhetisches. Die subjektive Herangehensweise an die Sprache macht vor Sprachfantasien nicht Halt. Gerade deswegen sind diese Markierungen als ‚weiche Daten‘ in einer sprachgeschichtstheoretischen Perspektive interessant. Ihre Einzelauswertung für die zwei besprochenen Phänomene aus der Verbsyntax hat gezeigt, wie Sprachwandel und epilinguistisches Bewusstsein miteinander verwoben sind. Zwei Erkenntnisse sollen aus der Untersuchung gezogen werden, einmal zum Zusammenhang zwischen Markierungspraxis und Norm und dann zum möglichen Zusammenhang zwischen Markierungspraxis und Systemgeschichte: 1. Zur Beziehung zwischen Markierungen und Normgeschichte: In der Frühphase der Grammatikographie ist eine gewisse Zurückhal-
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tung in der normativen Ausrichtung der Kommentare festzustellen. Die Markierungen sind Häufigkeitsangaben und werden sparsam eingesetzt, der Grammatiker verhält sich abwartend. Im nächsten Jahrhundert (XVII°) wird die Markierungspraxis komplexer: Es geht um Schönheit und nationalen Charakter, um Stil und kommunikative Wirksamkeit. Die Markierungen dienen der subjektiven Fundierung einer präferierten Syntax. Ein Begriff vom guten und richtigen Sprachgebrauch kommt in Umlauf. Die Norm kann sich etablieren, die Standardvarietät wird verbindlich. 2. Zur Beziehung zwischen Markierungspraxis und Systemgeschichte: Bergmann wies Anfang der achtziger Jahre auf die Argumentationsnot der Befürworter einer grammatikographischen Wirkung auf die Sprache hin.10 Es wird hier die Sichtweise angeboten, solche Elemente einer Sprachbewusstseinsgeschichte als das missing link für die Beeinflussung von Sprachzuständen durch die Grammatikschreibung anzusehen: Die Untersuchung zu den afiniten Sätzen könnte erklären, wie ein sprachgeschichtlicher Tick aus dem Kanzleistil den ganzen Schriftusus einer Epoche zu bestimmen vermag, wenn er immer positiver evaluiert wird. Markierungen füllen den Sprachgebrauch mit sozialem und symbolischem Sinn, woraus dann die Sprachteilnehmer ihre Sprach- und Schreibmaximen herleiten. Die Untersuchung zur Verbendstellung zeigt ihrerseits, wie lange Schriftwirklichkeit braucht, um sich gegen andersgeartete Erklärungselemente durchzusetzen: die Markierungen zeigen ein Sich-Beugen vor unabwendbaren Tatsachen, das erst spät zur positiven Evaluation führt. In beiden untersuchten Domänen aber haben die Sprachgebrauchsmaximen, die die Autoren verbreiten, weniger eine sprachsystemische als eine ideelle Grundlage. In einer grammatisierten Epoche tritt die organische Entwicklung der Sprache hinter die sozial konventionalisierte zurück.
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_____________ 10
Vgl. Bergmann (1982, 278).
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Syntaktische Strukturen in den Summarien in Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts Manja Vorbeck-Heyn (Berlin)
1. Die Summarien in den Evangelien als Grundlage für syntaktische Untersuchungen Die Evangelien sind unter sprachwissenschaftlichen Aspekten von besonderer Bedeutung für die Erforschung der deutschen Sprachgeschichte, insbesondere für die Zeit des Frühneuhochdeutschen.1 Erstens zeichnen sie sich durch eine kontinuierliche Textüberlieferung in Handschriften seit 13432 und in Drucken seit 14663 aus, zweitens bilden sie die Textsorte (Geoffenbarter) Bericht, eine spezifische Textsorte im Objektbereich der christlichen Religion,4 drittens ist ihre Überlieferung so umfangreich, dass sprachliche Untersuchungen auf allen linguistischen Ebenen vom Phonem bis zur Textsorte erfolgen können, viertens repräsentieren sie die verschiedenen Schreibdialekte des Deutschen und fünftens können in einer Materialgrundlage vorlutheranische Bibeln in Handschriften und Drucken, lutheranische und katholische Bibeln in Drucken sowie Drucke der Zürcher Bibeltradition kontrastiv gegenübergestellt werden. _____________ 1 2 3 4
Zur Sprachstufe des Frühneuhochdeutschen vgl. Hartweg / Wegera (2005); Schmidt (2004). Vgl. das Evangelienbuch des Matthias von Beheim (1343). Eine ausführliche Handschriftenbeschreibung findet sich in Vorbeck-Heyn (2008, 43ff.). Vgl. die Bibel von Johann Mentelin (Straßburg, 1466), vgl. http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de (Stand: 06.05.2008). Evangelien in so genannten Evangeliaren bilden Textallianzen von Textexemplaren einer einzigen Textsorte und werden aufgrund ihrer externen Variablenkonstellation und der internen Merkmale der Makrostrukturen und der syntaktischen und lexikalischen Merkmale als (Geoffenbarter) Bericht klassifiziert. Im Vergleich dazu ist eine Vollbibel eine Textallianz aus Textexemplaren unterschiedlicher Textsorten. Zur Typologie religiöser Textsorten, insbesondere der Textsorte (Geoffenbarter) Bericht, vgl. Simmler (2000, 676ff.); Simmler (2004a, 343ff.); Simmler (2004b, 379ff.).
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Die Summarien in den Evangelien stellen ein spezifisches Textgliederungsprinzip dar, das in der deutschsprachigen Bibeltradition5 mit funktionell verschiedenen Textgliederungsprinzipien kombiniert werden kann. Die Makrostruktur6 Summarium kann Textexemplare der Textsorte (Geoffenbarter) Bericht mitkonstituieren, ihre verschiedenen Realisationsformen und ihre spezifischen syntaktischen Aufbauprinzipien eignen sich in besonderem Maße für syntaktische Untersuchungen.
2. Forschungsstand und Erkenntnisziel In der neueren Forschung bezeichnet Christine Wulf mit dem Terminus Summarien „texterschließende Beigaben [...] in mittelalterlichen deutschen Bibeln“7 und versteht darunter „ganz allgemein Texte [...], die den Bibelinhalt in knapper Form zusammenfassen“.8 Wulf greift den Terminus der Tituli, die eine Subgruppe der Summarien bilden, aus der älteren Forschung9 wieder auf, versteht darunter Kapitelüberschriften, „die in knapper Form den Inhalt des nachstehenden Text[e]s wiedergeben“10 und gibt an, dass diese erstmals in Anton Kobergers Bibeldruck aus dem Jahre 1483 auftreten. Summarien treten bereits in zwei Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts auf,11 so dass die Aussage von Wulf somit nur für die deutschsprachige Drucktradition Gültigkeit besitzt. Die die deutschsprachige Bibeltradition des 14. und 15. Jahrhunderts begleitenden und ergänzenden Summarien werden folgendermaßen definiert: Die Makrostruktur Summarium ist eine textinterne, aus Ausdrucks- und Inhaltsseite bestehende satzübergreifende Einheit der langue. Durch den Willen des Verfassers konstituiert das Summarium einen nicht notwendigen, aber möglichen Textteil innerhalb der Textexemplare der Textsorte ‚(Geoffenbarter) Bericht‘. Ausdrucksseitig besitzt das Summarium hervorhebende Merkmale (wie Initiatorengebrauch, Rubrumverwendung) und eine besondere Platzierung. Inhaltssei-
_____________ 5 6 7 8 9 10 11
Überblicksliteratur zur deutschsprachigen Bibeltradition vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 34). Zum Terminus Makrostruktur vgl. Simmler (1985, 213ff.). Die Definition der Makrostrukturen wird aus ebd., 213f. übernommen. Wulf (1991, 385). Ebd. Vgl. Schmid (1892); Berger (1976); Fischer (1985). Wulf (1991, 385). Zum Forschungsstand und zur Abgrenzung der Termini Summarium, Tituli, Breves und Capitula vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 521ff. ). Es handelt sich um das Evangeliar Zürich, Zentralbibliothek (um 1360), Ms. C 55 und das Neue Testament Weimar (um 1475), Herzogin Anna Amalia Bibliothek, fol. 10. Ausführliche Handschriftenbeschreibungen vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 47f. und 79f.).
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tig besteht seine Funktion darin, auf die inhaltlichen Hauptpunkte der Evangelienkapitel bzw. auf die ersten Verse eines Evangelienkapitels hinzuweisen.12
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, neben den Anordnungsprinzipien die unterschiedlichen syntaktischen Strukturen sowie die inhaltlichen Bezüge zwischen den Summarien und den Kapiteln in den Evangelientexten in der Drucktradition des 15. und 16. Jahrhunderts zu erfassen und den derzeitigen Forschungsstand mit differenzierteren Angaben über die genaue Funktionsbestimmung der die Bibeltradition begleitenden und ergänzenden Summarien um die Drucktradition des 15. und 16. Jahrhunderts zu erweitern.
3. Quellengrundlage In der Quellengrundlage sind Evangelien mit dem Textgliederungsprinzip der Summarien aus dem 15. und 16. Jahrhundert in vorlutheranischen Bibeldrucken (3.1.), in katholischen (3.2.) und Zürcher Bibeldrucken (3.3.) und in Luther-Drucken (3.4.) zusammengestellt. 3.1. Vorlutheranische Bibeldrucke Erstmals kommen Summarien innerhalb der vier Evangelien in der vorlutheranischen Vollbibel des Nürnberger Druckers Anton Koberger 1483 vor.13 Das Textgliederungsprinzip der Summarien tritt in drei weiteren Inkunabeln auf: in der Bibel des Straßburger Druckers Johann Grüninger aus dem Jahre 1485 und in den Bibeln des Augsburger Druckers Johann Schönsperger aus den Jahren 1487 und 1490.14 Der Vergleich der Makrostruktur Summarium in den Evangelientexten dieser drei Inkunabeln mit denen in der Kobergerbibel ergibt eine Übereinstimmung hinsichtlich aller Untersuchungskriterien.
_____________ 12 13 14
Ebd., 590. Bibel von Anton Koberger (Nürnberg, 1483). Erstens die Bibel von Johann Grüninger (Straßburg, 1485), zweitens die Bibel von Johann Schönsperger (Augsburg, 1487), drittens die Bibel von Johann Schönsperger (Augsburg, 1490).
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3.2. Katholische Bibeldrucke In der katholischen Bibeltradition des 16. Jahrhunderts sind Summarien erstmals in der Oktavausgabe des Neuen Testaments in der Übersetzung des Hieronymus Emser des Kölner Druckers Peter Quentel 1528 nachweisbar,15 sechs Jahre nach der Veröffentlichung von Luthers Septembertestament. Im Vorwort des Neuen Testaments, das nach Emsers Tod (1527) erschienen ist, heißt es, dass nach der Vorrede des Heiligen Hieronymus „volget so baldt […] der Text. wie // yhn Emser saeliget vordeutzscht. vnd vor ye= // dem Capittel Eyn Summarium. welchs man noch biczher, Jn keynem dewtschen Exemplar ge // habt.“ (Bl. 3r, Z. 7-11). Als nächstes kommen Summarien in der ersten katholischen Übersetzung der ganzen Bibel aus der Reformationszeit durch den Dominikaner Johann Dietenberger, gedruckt 1534 durch den Mainzer Drucker Peter Jordan für Peter Quentel, vor.16 Diese Übersetzung erschien somit noch vor Luthers erster Gesamtausgabe seiner Bibelverdeutschung. In der zweiten katholischen Bibel der Lutherzeit in der Übersetzung des Johann Eck sind ebenfalls Summarien nachweisbar. Sie ist 1537 erschienen, gedruckt vom Augsburger Drucker Alexander Weißenhorn.17 Im Vorwort der Bibel heißt es: Aber im newen testament / so ditz vor mit h=hsten fleiß verricht hat / der ehrlich vnd // fürtreffenlich man Licenciat Emser s(liger / hab ich jhn des lobs / lohn vnd preiß sei= // ner arbait nit w=llen berauben: wie die trucker sein new testament einflechten / on mel= // dung seins namens: das ich fúr vnrecht halt: darum hab ichs bei seiner translation las // sen bleiben:
3.3. Zürcher Bibeldrucke In der Zürcher Bibeltradition treten Summarien erstmals in der Vollbibel des Zürcher Druckers Christoffel Froschauer aus dem Jahre 1531 auf,18 auf die im Vorwort folgendermaßen hingewiesen wird: Einem yetlichen capitel habend wir die summ / so darinn begriffen / in kurtzen worten arguments weyß fürgestelt / vnnd n(bend dem text concordantzen angehefftet / welches alles in anderen / die vormals getruckt sind / Biblien / nit so eigentlich obseruiert ist.
_____________ 15
16 17 18
Neues Testament von Peter Quentel (Köln, 1528), vgl. http://www.vdlb.de/ (Stand: 29.09.2008), vgl. Reinitzer (1983, 198). In der ersten Ausgabe des Neuen Testaments in der Übersetzung des Hieronymus Emser, gedruckt 1527 durch den Dresdner Wolfgang Stöckel, sind keine Summarien enthalten. Bibel von Peter Jordan für Peter Quentel (Mainz, 1534), vgl. Reinitzer (1983, 203ff.) Bibel von Alexander Weißenhorn (Augsburg, 1537). Bibel von Christoffel Froschauer (Zürich, 1531).
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3.4. Luther-Drucke In der ersten Gesamtausgabe der Wittenberger Bibel in der Übersetzung Luthers aus dem Jahre 1541, gedruckt durch Hans Lufft, kommen in den vier Evangelien keine Summarien vor,19 es treten neben dem Text nur Randglossen auf, die Worterklärungen bzw. Übersetzungen enthalten. Für die erste gedruckte Wittenberger Bibel von Hans Krafft d. Ä. aus dem Jahre 157220 gibt Reinitzer an, dass diese „am Anfang jedes Kapitels ‚Summarien‘, kommentierende Inhaltsangaben von Veit Dietrich (15061549)“,21 enthält. Die Überprüfung dieser Angabe ergab jedoch, dass es sich bei den Textteilen, die Reinitzer als Summarien bezeichnet, um Textteile handelt, die sich sowohl auf den Inhalt beziehen als auch kommentierende Funktion übernehmen. Die korrigierte Ausgabe der Bibel in Luthers Übersetzung erschien 1583, wurde von Johann Feyerabend zu Frankfurt am Main gedruckt und enthält zum ersten Mal Verszählung und Summarien des Petrus Patiens. Dieser „stammte aus Gernrode, war Pfarrer in Landau, schließlich kurpfälzischer Generalsuperintendent und Kirchenvater in Heidelberg. Seine Summarien fassen den Text inhaltlich kurz zusammen, interpretieren ihn nicht und ‚streichen ihm nicht zu wider‘.“22
4. Auswertung Die Auswertung der Summarien in diesen vier Traditionen erfolgt nach drei Kriterien. Zunächst werden die Anordnungsprinzipien der Repräsentationstypen untersucht, zweitens werden die syntaktischen Strukturen der Makrostruktur Summarium anhand repräsentativer Beispiele beschrieben und drittens werden die syntaktischen Strukturen mit den Evangelientexten verglichen, um zu klären, in welcher Beziehung die Summarien zu den Textteilen der Kapitel in den Evangelien stehen. Dabei wird überprüft, ob die Textteile aus den Evangelientexten zitiert, paraphrasiert oder frei formuliert im Summarium wiedergegeben werden. Die Auswertung dieser Traditionen hat zu folgenden Ergebnissen geführt: _____________ 19 20 21 22
Bibel von Hans Lufft (Wittenberg, 1541). Bibel von Hans Krafft (Wittenberg, 1572). Reinitzer (1983, 259). Ebd., 261. Bibel von Johann Feyerabend (Frankfurt / Main, 1583). Zwei weitere LutherBibel-Drucke am Ausgang des 16. Jahrhunderts sind hinsichtlich der Textgliederungsstruktur der Summarien noch zu überprüfen: Zum einen handelt es sich um die von Zacharias Lehmann in Wittenberg gedruckte Bibel (1594), VD 16: B 2822, zum anderen um die von Christoff Raben in Herborn gedruckte Bibel (1598), VD 16: B 2833.
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4.1. Anton Koberger (1483) 4.1.1. Anordnungsprinzipien der Repräsentationstypen (1)
t [SZ in R] Das [D = RS] erst Capitel . [C = RS] wy der [SchG (2)] // engel zacharie erschiene . Zacharias [Z = RS] dem engel nit // gelaubet . vnd darumm erstummet . Wy [W = RS] maria von dem // engel gegrFst ward . vnd auƒ vermanung des en= // gels elizabeth heimsucht . vnd grFsset . vnd wy eliza // beth gepare . vnd zacharie sein mund er=ffent ward [Holzschnitt] // ES [E = In (7z) in Blau; S = RS] was in den // tagen hero [SchG (2)] // dis des kFnigs iudee // ein priester mit namen zacharias . Von [V = RS] dem // geschleht abia . (Bl. 494v, Z. 14b-22a [sic!]).
(2)
t [SZ in R] Das [D = RS] . IIII . Capitel . [C = RS] Von [V = RS] der [„t […] der“ = SchG (2)] // vasten vnd versFchung Christi . [C = RS] Vnd [V = RS] von seiner // lere vnd predig . Vnd [V = RS] wie Jhesus [J = RS] einen besessen // menschen erlediget . Auch [A = RS] die swiger petri . vnd // vil ander siech gesund machet . [Spa] // IHesus [I = In (3z) in Blau; H = RS] aber vol des [SchG (2)] // heyligen geystes kert wider von dem // iordan . (Bl. 496v, Z. 34b-41b).
(3)
t [SZ in R] Das [D = RS] . XXII . Capitel . [C = RS] Hie [H = RS] be [„t […] be“ = SchG (2)] // schreybt der ewangelist den passion . vnd daz ley // den cristi . biƒ auff das stuck als Jhesus
[J = RS] pylato // vberantwurt ward . [Spa] // UNd [U = In (3z) in Blau; N = RS] es zunahet der [„Und […] der“ = SchG (2)] // hohzeytlich tag der vngehefelten brot // der da wirt genennet der ostertag . (Bl. 507v, Z. 37a-43a). Die Beispiele 1-3 zeigen, dass sich die Kapitelüberschriften und die Textteile, die sich zwischen den Kapitelüberschriften und dem Textkorpus befinden, aufgrund ausdrucks- und inhaltsseitiger Merkmale voneinander unterscheiden lassen. Die Kapitelüberschriften in den drei Beispielen bestehen aus einem eingliedrigen Nominalsatz und bieten keinen Hinweis auf den folgenden Kapitelinhalt: im Beispiel 1: Das erst Capitel ., im Beispiel 2: Das . IIII . Capitel . und im Beispiel 3: Das . XXII . Capitel . Die Kapitelüberschriften sind demnach weniger komplex als von Christine Wulf bisher angenommen.23 Der Nukleus Capitel des Nominalsatzes weist explizit auf die Makrostruktur Kapitel hin und mit der Attribuierung mit einem Zahladjektiv wird auf eine explizite Nummerierung der Gesamtzahl der _____________ 23
Vgl. Wulf (1991, 385).
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Kapitel im Evangelium hingewiesen. Es erfolgt demnach durch die Kapitelüberschrift in keiner Form ein Verweis auf den Inhalt des nachstehenden Evangelientextes. Zwischen den Kapitelüberschriften und dem folgenden Textkorpus befinden sich weitere eigene Textteile. Sie verstärken die Initiatorenfunktion des Kapitelbeginns und dienen dazu, dem jeweiligen Kapitel des Evangelientextes eine Inhaltsangabe bzw. einen Inhaltsverweis voranzustellen. Sie sind deutlich von dem in Kapitel gegliederten Evangelientext abgrenzbar. Diese eigenen Textteile und ihre Anordnung signalisieren, dass es sich bei ihnen um eine eigene Makrostruktur handelt, die sie von der hierarchisch niederen Makrostruktur der Absätze unterscheidet. Die Befunde der Beispiele 1-3 zeigen, dass Wulfs Definition der Kapiteltituli zu ungenau ist, da von ihr zwei voneinander zu unterscheidende Makrostrukturen unter einem Terminus zusammengefasst werden.24 Für die Summarien können zwei Repräsentationstypen festgestellt werden, zum einen SZ + Ü + SU + Bild + In (7z)-Maj + SchG (2, 2z) (Bsp. 1), zum anderen SZ + Ü + SU + In (3z)-Maj + SchG (2) (Bsp. 2 und 3). Der erste Repräsentationstyp tritt nur einmal und zwar beim ersten Summarium auf, das heißt, nur beim ersten Kapitel ist ausdrucksseitig eine Verbindung des Summariums mit einer siebenzeiligen Initiale nachweisbar. Bei den anderen Kapiteln folgt dem Summarium eine dreizeilige Initiale, die den Kapitelbeginn markiert. Ausdrucksseitig ist nur das erste Kapitel von den anderen abgrenzbar. 4.1.2. Ermittlung der syntaktischen Strukturen der Makrostruktur Summarium anhand repräsentativer Beispiele Das Beispiel 1 besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die durch die Repräsentationstypen P(u) + Min oder P(u) + Maj markiert werden. Über die Repräsentationstypen werden ein isoliert gebrauchter einfacher Satz und die Teilsätze der Gesamtsätze voneinander abgegrenzt, die als Verbalsätze bestimmt werden. Der erste isoliert gebrauchte einfache Satz ist ein Verbalsatz – selbständig gebrauchter Nebensatz – Adverbialsatz = Modalsatz: wy der // engel zacharie erschiene. Der erste Gesamtsatz besteht aus zwei Hauptsätzen, die über die Konjunktion vnd parataktisch gereiht sind: Zacharias dem engel nit // gelaubet. vnd darumm erstummet. Der zweite Gesamtsatz besteht aus fünf Teilsätzen – Verbalsätze – selbständig gebrauchte Nebensätze – Adverbialsätze = Modalsätze, die mit dem Adverb wie eingeleitet werden, das aufgrund von Vorerwähntheit elliptisch ausgelassen sein kann, und die über die Konjunktion vnd parataktisch ge_____________ 24
Vgl. Vorbeck-Heyn (2008, 576ff.).
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reiht sind: Wy maria von dem // engel gegrFst ward . vnd auƒ vermanung des en= // gels elizabeth heimsucht . vnd grFsset . vnd wy eliza // beth gepare . vnd zacharie sein mund er=ffent ward. Das Beispiel 2 besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die durch die Repräsentationstypen P(u) + Maj und P(u) + Min voneinander abgegrenzt sind. Es können nominale sowie verbale Satzstrukturen nachgewiesen werden. Zunächst treten zwei isoliert gebrauchte einfache Sätze mit nominaler Struktur auf: Von der // vasten vnd versFchung Christi . Vnd von seiner // lere vnd predig. Daran schließt sich ein selbständig gebrauchter Adverbialsatz (Modalsatz) an: Vnd wie Jhesus einen besessen // menschen erlediget ., gefolgt von einem selbständig gebrauchten Adverbialsatz mit einer Ellipse von wie Jhesus aufgrund von Vorerwähntheit und gereihten Nuklei: Auch die swiger petri . vnd // vil ander siech gesund machet. Das Beispiel 3 besteht aus syntaktischen Einheiten, die durch die Repräsentationstypen P(u) + Maj und P(u) + Min voneinander abgegrenzt sind. Es liegt ein Gesamtsatz vor, der aus zwei Teilsätzen – Verbalsätzen – Hauptsätzen besteht: Hie be // schreybt der ewangelist den passion . vnd daz ley // den cristi . biƒ auff das stuck und einem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz, von stuck abhängig: als Jhesus pylato // vberantwurt ward. Ausdrucksseitig ist nur das erste Kapitel von den anderen innerhalb eines Evangeliums abgrenzbar. Aus syntaktischer Sicht werden die Sätze in den Summarien verschieden eingeleitet: 1. mit dem Adverb wy / wie, 2. mit der Präposition von oder 3. durch den Verbalsatz beschreybt der evangelist. 16 Summarien im Lk25 werden mit dem Adverb wy / wie eingeleitet, fünf26 mit der Präposition von und zwei mit dem Verbalsatz beschreybt der evangelist.27 Das Adverb wie steht zu Beginn eines selbständig gebrauchten Nebensatzes, eines Modalsatzes, und es leitet die Kapitel ein, in denen etwas über das Geschehen von Jesu Geburt bis zu seiner Auferstehung berichtet wird. Die Teilsätze im Summarium verweisen auf den Inhalt des Kapiteltextes, folgen diesem chronologisch und dienen dem Bibelbenutzer als Lektürehilfe. Die Präposition von leitet jeweils einen Nominalsatz ein, der der Überschrift, die ebenfalls in Form eines Nominalsatzes realisiert wird, folgt.28 Diese Summarien weisen ebenfalls inhaltliche Spezifika auf. Das achte, 17. und 18. Kapitel beinhalten Gleichnisse, die Jesus an seine Jünger richtet. Im Vergleich dazu werden die Summarien des 13. und 15. _____________ 25 26 27 28
Kapitel 1, 2, 3, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 20, 21, 24. Kapitel 4, 8, 17, 18, 19. Kapitel 22, 23. Die Annahme einer generellen Ellipse der dritten Person Singular des Vollverbs sein mit der Inhaltsseite handelt von wird aufgrund der geringen Frequenz des Typus als abwegig eingestuft, obwohl es dafür zwei Belege im Mt und Mk für das jeweils erste Kapitel gibt (Mt 1,1: Bl. 470v, Z. 1a-5a; Mk 1,1: Bl. 485v, Z. 1a-8a).
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Kapitels mit dem Adverb wie eingeleitet, obwohl es sich auch hier um Gleichnisse handelt, die Jesus spricht. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass hier nicht die Jünger Jesu die Adressaten sind, sondern im 13. Kapitel Menschen aus dem Volk, die Jesus von den Galiläern berichten, und im 15. Kapitel sind es die Zöllner, Sünder, Pharisäer und Schriftgelehrten. In den Summarien zum vierten und 19. Kapitel handelt es sich nicht um Gleichnisse. In ihnen tritt Jesus als Subjekt auf. Es wird hier nicht nur etwas über Jesus berichtet, sondern er ist innerhalb der Handlung Agens. Im vierten Kapitel versucht ihn der Teufel. Die Versuchungsgeschichte steht am Anfang vom Wirken Jesu. Im 19. Kapitel richtet sich Jesus an Zachäus. Sein Wort bringt die Entscheidung, er spricht Zachäus Heil. Der Verbalsatz beschreybt der evangelist tritt in den Summarien zum 22. und 23. Kapitel im Lk auf. Beide Kapitel sind der Passionsgeschichte zuzuordnen. Der Vergleich mit den anderen drei Evangelien ergibt, dass auch hier die Summarien, die über den Verbalsatz beschreybt der evangelist eingeleitet werden, inhaltlich jeweils den Leidensweg Jesu bis zu seiner Grablegung wiedergeben. Der Verbalsatz markiert die Sonderstellung dieser Kapitel, die als Einheiten in der Osterliturgie verwendet werden.29 Insgesamt sechsmal ist es in den vier Evangelientexten der KobergerBibel nicht möglich, den Beginn der Summarien einer bereits bekannten Eingangsformel zuzuordnen. Dabei handelt es sich um die Summarien zu Mt 7, Mt 28, Lk 16, Joh 1, Joh 10 und Joh 13. Das Summarium vor Lk 16,1 wird nicht mit der Präposition von eingeleitet, obwohl es sich um die Beschreibung eines Gleichnisses handelt, das Jesus an seine Jünger richtet, sondern hier wird der Textteil explizit als Gleichnis bezeichnet (Bsp. 4): (4)
t [SZ in R] Das [D = RS] . XVI . Capitel . [C = RS] Ein [E = RS] [„t […] Ein“ = SchG (2)] // gleychnuƒ von einem boƒhafftigen mayr . Vnd [V = RS] // wie nyemant zweyen herren dienen mFg . Vnd [V = RS] // dz mFglicher sey . das
hymel vnd erd zergee . dann // ein buchstab vomm gesetz . Auch [A = RS] vomm eebruch . // Vnd [V = RS] von dem reychen mann . vnd dem armen lazaro . (SU vor Lk 16,1: Bl. 504v, Z. 29a34a).
_____________ 29
Mt: Bl. 482v, Z. 6b-10b; Bl. 483v, Z. 41a-43a; Mk: Bl. 492r, Z. 12b-15b; Bl. 493r, Z. 34a-36a; Joh: Bl. 519v, Z. 1a-5a.
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4.1.3. Vergleich der syntaktischen Strukturen der Summarien mit den Evangelientexten Das Summarium zum ersten Kapitel im Lk (Bsp. 1) verweist auf verschiedene Textteile aus dem ersten Kapitel. Die Sätze beziehen sich auf die Verheißung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) wy der // engel zacharie erschiene . Zacharias dem engel nit // gelaubet . vnd darumm erstummet ., auf die Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26-38) Wy maria von dem engel gegrFst ward ., auf den Besuch Marias bei Elisabet (Lk 1,39-56) vnd auƒ vermanung des en= // gels elizabeth heimsucht . und auf die Geburt des Täufers (Lk 1,5780) vnd grFsset . vnd wy eliza // beth gepare . vnd zacharie sein mund er=ffent ward. Die Sätze des Summariums folgen chronologisch dem Kapitelinhalt und werden im Evangelientext folgendermaßen wiedergegeben (Bsp. 5-11): (5)
Vnd [V = RS] der engel des herren erschyn // im . steend zu der gerechten des altars des wey= // rauchs . (Lk 1,11: Bl. 494v, Z. 28b-Bl. 495r, Z. 1a).
(6)
vnd sih . du // wirst schweygen . vnd magst nit gereden vntz an den // tag das dise ding werden geschehen . Darumm [D = RS] das // du nit hast gelaubt meinen worten . die do wer= // den erfFllt in seiner zeyt . (Lk 1,20: Bl. 495r, Z. 21a-25a).
(7)
Der [D = RS] engel gieng ein zu ir . vnd sprach . // GegrFsset [G = RS] seistu vol der gnaden . (Lk 1,28: Bl. 495r, Z. 41af.).
(8)
vnd // Maria [M = RS] stund auff in den tagen vnd gieng ab mit // eylen . vber das gebirg in die stat iuda (Lk 1,39: Bl. 495r, Z. 15b-17b).
(9)
vnd gieng // in das hauƒ zacharie . vnd grFsset elizabeth (Lk 1,40: Bl. 495r, Z. 17bf.).
(10) vnd die zeyt des geperns elizabeth ward // erfFllt . vnd sie gepar einen sun . (Lk 1,57: Bl. 495r, Z. 48bf.). (11) vnd zehand sein mund vnnd sein // zung ward auffgethan . (Lk 1,64: Bl. 495v, Z. 11af.). Das Beispiel 5 zeigt, dass der engel im Evangelientext durch ein postnukleares Genitivattribut erweitert ist und so explizit zum Boten Gottes wird. Die Verbformen werden teilweise übernommen (Bsp. 5f. und 9f.) und im Beispiel 11 die Lexeme sein mund, ansonsten handelt es sich um freie Formulierungen des Übersetzers. Das Summarium zum vierten Kapitel des Lk bezieht sich auf folgende Textteile im vierten Kapitel: die Versuchung Jesu (Lk 4,1-13) Von der vasten
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vnd versFchung Christi ., das erste Auftreten Jesu in Galiläa und die Ablehnung Jesu in seiner Heimat (Lk 4,14-30) Vnd von seiner lere // vnd predig ., Jesus in der Synagoge von Kafarnaum (Lk 4,31-37) Vnd wie Jhesus einen besessen // menschen erlediget ., die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Lk 4,38-39) Auch die swiger petri . und die Heilung von Besessenen und Kranken (Lk 4,40-41) vnd // vil ander siech gesund machet. In diesem Summarium (Bsp. 2) wird der Kapitelinhalt chronologisch wiedergegeben. Es fehlt aber der Hinweis auf den Textteil, in dem der Aufbruch nach Kafarnaum (Lk 4,42-44) geschildert wird. Die Sätze des Summariums (Bsp. 2) werden im Evangelientext folgendermaßen wiedergegeben (Bsp. 12-16): (12) vnd warde versFchet von dem // tewfel . vnd aƒ nichts in disen tagen . (Lk 4,2f.: Bl. 496v, Z. 42bf.). (13) vnd er lert in iren synagogen // vnd ward groƒgemachet von allen . (Lk 4,15: Bl. 497r, Z. 24af.). (14) Vnd [V = RS] Jhe // sus [J = RS] strafft in sagend . Erstumm . [E = RS] vnd geeauƒ von im . vnd do er het auƒgeworffen den teufel . in die mit // te gieng er auƒ von im . (Lk 4,35: Bl. 497r, Z. 23b-26b). (15) Er [E = RS] gieng in dz // hauƒ symonis . vnd die schwiger symonis wz be // griffen mit grossem fieber . vnd sy batten in vmm // sie . Er [E = RS] stund ob ir . vnd gebot dem fieber . vnd er // lieƒ sie . zehand stund sie auff vnd dienet in . (Lk 4,38f.: Bl. 497r, Z. 33b-37b). (16) alle die do hetten // die siechen mit maniger kranckheyt . die fFrten sy // zu im . er legt auff die hende allen . vnd machet // sie gesund . (Lk 4,40f.: Bl. 497r, Z. 38b-41b). Im Beispiel 15 wird die Schwiegermutter als die des Simon bezeichnet, im Summarium (Bsp. 2) als die des Petrus. Die unterschiedlichen Attribuierungen ergeben sich aus der Namensgebung (Joh 1,42): „Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels (Petrus)“,30 sagt Christus zu Petrus, nachdem Andreas, der Bruder, ihn zu Jesus geführt hat. Im Beispiel 15 wird das Prädikat und das Modaladverbial machet gesund aus dem Evangelientext übernommen, ansonsten handelt es sich bei den Sätzen des Summariums (Bsp. 2) um freie Formulierungen des Übersetzers. Das Summarium zum 22. Kapitel des Lk (Bsp. 3) ordnet das Kapitel explizit der Passionsgeschichte zu und zwar biß auff das stuck als Jhesus pylato _____________ 30
Die Bibel. Einheitsübersetzung (2003, 1183).
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vberantwurt ward. Die Auslieferung Jesu an Pilatus ist dem 23. Kapitel zugeordnet. 4.1.4. Zusammenfassung (Anton Koberger 1483) Die Summarien sind Textteile, die sich jeweils zwischen den Kapitelüberschriften und dem in Kapitel gegliederten Evangelientext befinden (Bsp. 1-3). Die Kapitelüberschriften und die sich anschließenden Textteile können aufgrund von ausdrucks- und inhaltsseitigen Merkmalen voneinander unterschieden werden. Die Kapitelüberschriften sind eingliedrige Nominalsätze, deren Nukleus Capitel explizit auf die Makrostruktur Kapitel hinweist und keinen Hinweis auf den folgenden Kapitelinhalt bietet. Mit der Attribuierung mit einem Zahladjektiv wird auf eine explizite Nummerierung der Gesamtzahl der Evangelienkapitel hingewiesen. Die von Wulf eingangs angeführte Definition der Kapiteltituli, bei denen es sich um Kapitelüberschriften handeln soll, „die in knapper Form den Inhalt des nachstehenden Text[e]s wiedergeben“,31 erweist sich demnach als zu ungenau. Zwischen den Kapitelüberschriften und dem folgenden Textkorpus befinden sich eigene Textteile, die die Initiatorenfunktion des Kapitelbeginns verstärken und dazu dienen, dem jeweiligen Kapitel des Evangelientextes eine Inhaltsangabe voranzustellen. Zwei Repräsentationstypen zur Markierung der Makrostruktur Summarium sind in dieser Texttradition nachweisbar: Der Repräsentationstyp SZ + Ü + SU + Bild + In (7z)-Maj + SchG (2, 2z) tritt nur einmal beim ersten Summarium in den Evangelien auf (Bsp. 1), über den Repräsentationstyp SZ + Ü + SU + In (3z)-Maj + SchG (2) erfolgt die Markierung der anderen Summarien (Bsp. 2 und 3). Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten, es können isoliert gebrauchte einfache Sätze, aber auch Gesamtsätze aus mindestens zwei Teilsätzen nachgewiesen werden. Die Kennzeichnung der Sätze in den Summarien erfolgt über die Repräsentationstypen P(u) + Min und P(u) + Maj. Eine Differenzierung der Summarien ist aufgrund der verschiedenen Eingangsformeln wie, von und der evangelist beschreybt möglich, quantitativ am häufigsten tritt die Eingangsformel wie auf (Bsp. 1). Die Eingangsformeln übernehmen eine syntaktische Funktion und verweisen auf inhaltliche Spezifika. Das Adverb wie steht zu Beginn eines selbständig gebrauchten Nebensatzes, eines Modalsatzes, und leitet die Kapitel ein, in denen etwas über das Geschehen von Jesu Geburt bis zu seiner Auferstehung berichtet _____________ 31
Wulf (1991, 385).
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wird, oder es handelt sich um Gleichnisse, wobei die Adressaten Menschen aus dem Volk sind (Lk Kap. 13) oder die Zöllner, Sünder, Pharisäer und Schriftgelehrten (Lk Kap. 15). Die Präposition von (Bsp. 2) leitet jeweils einen Nominalsatz ein. Diese Summarien beinhalten Gleichnisse, die Jesus an seine Jünger richtet, oder es wird nicht nur etwas über Jesus berichtet, sondern er ist innerhalb der Handlung Agens (Lk Kap. 4 und 19). Der Verbalsatz beschreybt der evangelist (Bsp. 3) leitet Kapitel ein, die der Passionsgeschichte zuzuordnen sind und inhaltlich den Leidensweg Jesu bis zu seiner Grablegung wiedergeben. Bei den Sätzen der Summarien handelt es sich überwiegend um freie Formulierungen des Übersetzers. Des Weiteren bestehen umfangreiche inhaltliche Bezüge zwischen den Summarien und dem Kapitelinhalt. Der Kapitelinhalt wird in den Summarien chronologisch wiedergegeben. 4.2. Hieronymus Emser (1528) 4.2.1. Anordnungsprinzipien der Repräsentationstypen (17) [Spa] Das Erst Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ [Spa] // [Spa] Uon Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johannem geboren // vnd wie der Engel Marie den gruß gepracht / Auch was lob- // gesangk der Zacharias / des gleychen wie Maria nach dem sie // Christum empfangen / Das Magnificat gemacht hat. [Spa] // ZV [Z = In (3z)] der tzeyt Herodis / des k=niges Judee / war // eyn priester an stad Abia / mit namen Zachari // as / (Lk 1,5: Bl. 74v, Z. 7-14). (18) [Spa] Das IIII. Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Uon der fasten / vnnd versuchung Christi / wie sich Jhesus // vor den Judenn verborgenn / wie ein beseßner entledigt / vnnd // wie er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema // cht hat. [Spa] // IHesus [I = In (3z)] aber voll des heyligen geystes / kam widder // von dem Jordan / (Lk 4,1: Bl. 83r, Z. 12-18). Für die Summarien in der katholischen Übersetzung von Hieronymus Emser kann der Repräsentationstyp Ü + Spa + NoS [♣ Summa. ♣]-ZUSpa-SU [kl. SchG] + ZU + In (3z)-Maj nachgewiesen werden. Im Mt, Mk und Joh ist die Überschrift zusätzlich mit einem ihr unmittelbar vorausgehenden Evangelistenbild kombiniert, das im Lk mit dem Vorwort 1,1-4 verbunden ist, das heißt, ausdrucksseitig sind im Mt, Mk und Joh nur jeweils das erste Kapitel von den anderen durch den Holzschnitt abgrenz-
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bar,32 im Lk kommt nur der oben genannte Repräsentationstyp vor. Der Nukleus Capittel des Nominalsatzes, der mit einem Zahladjektiv zur Nummerierung der Evangelienkapitel attribuiert ist, weist explizit auf die Makrostruktur Kapitel hin. Der sich anschließende Textteil zwischen der Kapitelüberschrift und dem Textkorpus wird durch den Nominalsatz Summa. eingeleitet, der explizit auf die Makrostruktur Summarium hinweist. Der Nominalsatz wird drucktechnisch durch zwei Kleeblätter hervorgehoben, für den sich anschließenden Textteil ist eine kleinere Schriftgröße gewählt. 4.2.2. Ermittlung der syntaktischen Strukturen der Makrostruktur Summarium anhand repräsentativer Beispiele Der Beginn des Summariums (Bsp. 18) wird durch den Nominalsatz Summa. signalisiert, der zusätzlich von zwei Kleeblättern eingerahmt wird. Das Ende des Summariums wird durch einen P(u) mit Spa bis ZR markiert. Das Summarium besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die durch die Repräsentationstypen P(u) + Maj und Virgel + Min voneinander abgegrenzt werden. Es kommen neben verbalen auch nominale Satzstrukturen vor. Der Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer Struktur besteht aus vier Teilsätzen: einem Nominalsatz – Hauptsatz mit zwei gereihten Nuklei: Uon der fasten / vnnd versuchung Christi /, einem Nebensatz – Adverbialsatz = Modalsatz: wie sich Jhesus // vor den Judenn verborgenn /, einem Nebensatz – Adverbialsatz = Modalsatz: wie ein beseßner entledigt / mit einer Ellipse des Subjekts Jhesus aufgrund von Vorerwähntheit und einer Ellipse von hat aufgrund von Nacherwähntheit und einem Nebensatz – Adverbialsatz = Modalsatz: vnnd // wie er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema // cht hat. (19) [Spa] Das. XXIII. Capittel. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Christus wirt tzu Pilaten / vnd von dannen fur Herodem // gefurt / Strafft die weyber / die yhn beweyneten / wirt gecreu= // tzigt vnd begraben. [Spa] // VNd [V = In (3z)] der gantz hauffe stund auff / vnd furten ihn // fFr Pilatum (Bl. 114r, Z. 12-17). Der Beginn des Summariums (Bsp. 19) wird über den eingliedrigen Nominalsatz Summa. markiert, das Ende über einen P(u) + Spa bis ZR. Es können verschiedene syntaktische Einheiten durch die Repräsentationsty_____________ 32
Holzschnitt im Mt: Bl. 1r, Holzschnitt im Mk: Bl. 47r, Holzschnitt im Joh: Bl. 118r.
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pen P(u) + Maj, Virgel + Min und Virgel + Maj abgegrenzt werden. Eine Abgrenzung der Teilsätze erfolgt jedoch nicht in allen Fällen. Der erste Gesamtsatz (Parataxe) besteht aus zwei Teilsätzen: einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von gefurt aufgrund von Nacherwähntheit: Christus wirt tzu Pilaten / und einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von Christus wirt aufgrund von Vorerwähntheit: vnd von dannen fur Herodem // gefurt /. Der zweite Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer Struktur besteht aus vier Teilsätzen: einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von Christus aufgrund von Vorerwähntheit: Strafft die weyber /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz: die yhn beweyneten /, einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von Christus aufgrund von Vorerwähntheit: wirt gecreu= // tzigt und einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von Christus wird aufgrund von Vorerwähntheit: vnd begraben. Ausdrucksseitig sind die Summarien innerhalb des Lk nicht voneinander abgrenzbar, in den anderen drei Evangelien nur das erste von den anderen. Aus syntaktischer Sicht werden die Summarien in den Evangelien verschieden eingeleitet: Erstens erfolgt die Einleitung zweimal33 mit dem Adverb wie (Bsp. 20), zweitens 15-mal34 mit der Präposition von (Bsp. 18) oder drittens fehlt siebenmal35 in dieser Bibeltradition eine Eingangsformel (Bsp. 19). Mit dem Adverb wie wird ein Modalsatz eingeleitet und die Präposition von leitet ein präpositionales Satzglied ein, das einen eingliedrigen Nominalsatz konstituiert. In dieser Bibeltradition übernehmen die Eingangsformeln keine Hinweisfunktion auf inhaltliche Spezifika, sondern verweisen ausschließlich auf den Inhalt des Kapiteltextes. (20) [Spa] Das XXIIII. Cap. [Spa] ♣ Summa. ♣ // [Spa] Wie die frawen / den begraben Jesum vergebenlich such= // ten / wie Petrus tzum grab lieff vnd die tzween bylgram gen // Emaus giengen / wie Jesus mitten ynder den iungern stund / // vnd wie er tzu hymmel fuhr. [Spa] // ABer [A = In (3z)] der Sabather einen kamen sie tzum gra= // be seer frue / (Bl. 115v, Z. 32-Bl. 116r, Z. 2). 4.2.3. Vergleich der syntaktischen Strukturen der Summarien mit den Evangelientexten Das Summarium zum ersten Kapitel im Lk (Bsp. 17) verweist auf verschiedene Textteile aus dem ersten Kapitel. Die beiden Teilsätze Uon _____________ 33 34 35
Kapitel 9, 24. Kapitel 1, 4, 5, 6, 7, 8, 10, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 21, 22. Kapitel 2, 3, 11, 12, 13, 20, 23.
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Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johannem geboren // beziehen sich auf die Verheißung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) und die Geburt des Täufers (Lk 1,57-80), der Teilsatz vnd wie der Engel Marie den gruß gepracht / auf die Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26-38). Auf das Benedictus (Lk 1,6879), in dem Zacharias zum einen das Handeln Gottes an seinem Volk besingt und zum anderen Johannes den Täufer als endzeitlichen Heilsmittler weissagt, und auf das Magnificat, in dem Maria von den Taten Gottes berichtet und die Großtaten Gottes an Israel preist, wird im Summarium explizit mit den folgenden Sätzen hingewiesen: Auch was lob- // gesangk der Zacharias / des gleychen wie Maria nach dem sie // Christum empfangen / Das Magnificat gemacht hat. Die Sätze des Summariums folgen dem Kapitelinhalt nicht chronologisch und werden im Evangelientext folgendermaßen wiedergegeben (Bsp. 21-25): (21) ZV der tzeyt Herodis / des k=niges Judee / war eyn priester an stad Abia / mit namen Zachari // as / vnnd seyn weyb von den t=chtern Aaron // deren nam war Elizabeth (Lk 1,5: Bl. 74v, Z. 12-15). (22) Elizabeth kam jhr tzeit / das sie geperen solt / vnd // sie gebar einen son / (Lk 1,57: Bl. 76r, Z. 33f.). (23) Vnd der // Engel kam tzu yhr hineyn / vnd sprach. Gegrusset seye= // stu [voll genaden/] der Herr ist mit dir du bist gebene // deyet vnder den weybern. (Lk 1,28: Bl. 75r, Z. 32-34). (24) Do sprach Maria. Meyn seel macht groß den Her // ren / vnd meyn Geyst hat sich gefrewet jn Godt mey= // nem heyland. (Lk 1,46: Bl. 76r, Z. 15-17). (25) Vnd seyn vatter Zacharias ward erfFllet von dem // heyligen geyste / weissaget vnd sprach / Gebenedeyet // sey Gott der Herr von Jsrael / denn er hat besucht vnd // erl=set sein volck/ (Lk 1,67: Bl. 76v, Z. 16-19). Die Beispiele 21-25 zeigen, dass es sich bei den Sätzen des Summariums um freie Formulierungen des Übersetzers handelt. Das Summarium zum vierten Kapitel (Bsp. 18) bezieht sich auf folgende Textteile: die Versuchung Jesu (Lk 4,1-13) Uon der fasten / vnnd versuchung Christi /, die Ablehnung Jesu in seiner Heimat (Lk 4,16-30) wie sich Jhesus // vor den Judenn verborgenn /, Jesus in der Synagoge von Kafarnaum (Lk 4,31-37) wie ein beseßner entledigt / und die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Lk 4,38-39) und von Besessenen und Kranken (Lk 4,40-41) vnnd // wie er die Schwiger petri sampt andern vilen gesundt gema // cht hat. In diesem Summarium wird der Kapitelinhalt chronologisch wieder-
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gegeben. Es fehlt aber der Hinweis auf die Tetxtteile, in denen das erste Auftreten in Galiläa (Lk 4,14-15) und der Aufbruch aus Kafarnaum (Lk 4,42-44) geschildert werden. Wie die Beispiele 26-30 zeigen, handelt es sich bei den Sätzen des Summariums um freie Formulierungen des Übersetzers: (26) IHesus [I = In (3z)] aber voll des heyligen geystes / kam widder // von dem Jordan / vnd ward getrieben vom Geyst // jn die wGste viertzig tag langk / vnd ward versuch // et von dem tewffell / vnd er aß nichts jn den selbigenn // tagen / vnd da die selbigen ein ende hatten / hungerthe // jhn. (Lk 4,1f.: Bl. 83r, Z.16-21). (27) Vnd // da der teuffel alle versFchung vollendet hatte / weych // er von yhm / byß auff eyn tzeyth. (Lk 4,13: Bl. 81r, Z. 10-12). (28) Aber er gieng mitten durch sie hin. (Lk 4,30: Bl. 81v, Z. 33). (29) Vnnd es war ein mensch in der schule / besessen mit // einem vnreynen tewffel / […] Er gepeuth mit macht vnd gewalt den vnreynen // geysten / vnd sie faren auß Vnd es erschall sein geschrei // in alle orte des vmbligenden landes. (Lk 4,33-37: Bl. 81v, Z. 37-Bl. 82r, Z. 12). (30) Aber Jhesus stund auff vnd gieng auß der schulen in // das haws Simonis / vnd die Schwiger Simonis war mit einem harrten fieber behafftet / vnd sie bathen jhn // fFr sie / vnd er trat tzu yhr / vnd gebot dem fieber / vnnd // es verlies sie / vnd bald stund sie auff / vnd dienete yhn. // [Spa] Vnnd do die Sonne vndergangen ware / alle die do // krancken hatten von manicherley seuchten / die brach // ten sie zu yhm / vnd er legt auff eynen ytzliche die hende / // vnd machet sie gesund (Lk 4,38-40: Bl. 82r, Z. 13-19). Das Summarium zum 23. Kapitel (Bsp. 19) bezieht sich auf folgende Textteile: die Auslieferung an Pilatus (Lk 23,1-5) Christus wirt tzu Pilaten /, die Verspottung durch Herodes (Lk 23,6-12) vnd von dannen fur Herodem // gefurt /, die Verhandlung vor Pilatus (Lk 23,13-25) Strafft die weyber / die yhn beweyneten /, die Kreuzigung (Lk 23,26-43) wirt gecreu= // tzigt und das Begräbnis Jesu (Lk 23,50-56) vnd begraben. Es fehlt der Hinweis auf den Textteil mit der Schilderung des Todes Jesu (Lk 23,44-49), der Kapitelinhalt wird chronologisch wiedergegeben. Es handelt sich bei den Sätzen im Summarium um freie Formulierungen des Übersetzers, wie die Beispiele aus dem Evangelientext zeigen (Bsp. 31-35):
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(31) VNd der gantz hauffe stund auff / vnd furten jhn // fFr Pilatum (Lk 23,1: Bl. 114r, Z. 16). (32) vnd als er [Pilatus] vernam das // er [Jesus] vnder Herodes =birkeit geh=ret / vbersand er yhn zu // Herodes / (Lk 23,7: Bl. 114r, Z. 28-30). (33) Es volget yhm aber noch eyn grosser hauffe vol= // cks vnnd weyber / die klagten vnnd beweyneten yhn/ // Jhesus aber wandt sich vmb zu yhn / Vnd sprach yhr // t=chter von Hierusalem / weynet nicht vber mich / son= // der weynet vber euch selbs / vnnd vber ewre kinder. (Lk 23,27f.: Bl. 114v, Z. 35Bl. 115r, Z. 3). (34) vnd als sie kamen an die stedt die do heist Scheddel= // stedt / Creuzigeten sie yhn do selbs / (Lk 23,23: Bl. 115r, Z. 13f.). (35) der [Josef] gieng zu Pilato vnd // bat vmb den leib Jhesu / vnd nam yhn ab / wickelt yhn // in leynwat / vnd legt yhn in ein gehawen grab / (Lk 23,53: Bl. 115v, Z. 22-24). 4.2.4. Zusammenfassung (Hieronymus Emser 1528) Die Summarien sind Textteile zwischen den Kapitelüberschriften und dem Textkorpus. Für die Summarien kann nur der Repräsentationstyp Ü + Spa + NoS [♣ Summa. ♣]-ZU-Spa-SU [kl. SchG] + ZU + In (3z)Maj nachgewiesen werden (Bsp. 17f.), das heißt, in dieser Tradition werden die Summarien durch den eingliedrigen Nominalsatz Summa. eingeleitet, der explizit auf die Makrostruktur Summarium hinweist. Der Nominalsatz wird drucktechnisch durch zwei Kleeblätter hervorgehoben, für den sich anschließenden Textteil ist eine kleinere Schriftgröße gewählt. Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten. Es können nur Gesamtsätze innerhalb der Summarien nachgewiesen werden, die aus mehr als zwei Teilsätzen bestehen. Die Kennzeichnung der Sätze in den Summarien erfolgt über die Repräsentationstypen P(u) + Maj, Virgel + Min und Virgel + Maj. Eine Abgrenzung der Teilsätze innerhalb von Gesamtsätzen durch Repräsentationstypen erfolgt jedoch nicht in allen Fällen. Der Beginn der Summarien wird in allen Fällen über den eingliedrigen Nominalsatz Summa. signalisiert und ihr Ende über den Repräsentationstyp P(u) + Spa bis ZR. In dieser Bibeltradition erfolgt die Einleitung in die Summarien variabel. Entweder fehlt eine Eingangsformel (Bsp. 19) oder zu Beginn der Summarien steht quantitativ am häufigsten die Präposition von (Bsp. 18),
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die ein präpositionales Satzglied einleitet, das einen eingliedrigen Nominalsatz konstituiert, oder das Adverb wie (Bsp. 20), um einen Modalsatz einzuleiten. Die Eingangsformeln übernehmen keine Hinweisfunktion auf inhaltliche Spezifika wie in der Koberger-Bibel, sondern verweisen ausschließlich auf den Inhalt des Kapiteltextes. Bei den Sätzen der Summarien handelt es sich ausschließlich um freie Formulierungen des Übersetzers. Es bestehen umfangreiche inhaltliche Bezüge zwischen den Summarien und dem Kapitelinhalt, die nicht in allen Fällen der chronologischen Abfolge des Kapitelinhalts folgen. 4.3. Zusammenfassung (Johann Dietenberger 1534) In der ersten katholischen Übersetzung der ganzen Bibel aus der Reformationszeit durch den Dominikaner Johann Dietenberger sind die Summarien durch eine kleinere Schriftgröße ausdrucksseitig abgrenzbar, ein Segmentierungszeichen als hervorhebendes Mittel steht zu Beginn der Summarien, die Einleitung erfolgt also nicht wie bei Emser durch den Nominalsatz Summa. In diesem Bibeldruck ist der Repräsentationstyp Ü + Spa + ZU + SZ-SU [kl. SchG] + ZU + Holzschnitt + BildIn (9z)-Maj für das jeweils erste Summarium in den Evangelien36 und der Repräsentationstyp Ü + Spa + ZU + SZ-SU [kl. SchG] + ZU + BildIn (5z)-Maj für die anderen Summarien nachweisbar.37 Ausdrucksseitig ist nur jeweils das erste Summarium von den anderen abgrenzbar, da bei diesem eine Kombination mit einem Holzschnitt und einer neunzeiligen Bildinitiale vorkommt, in den anderen Fällen entfällt der Holzschnitt und das Summarium ist mit einer fünfzeiligen Bildinitiale kombiniert. Hinsichtlich der syntaktischen Strukturen und deren Kennzeichnung, hinsichtlich der Eingangsformeln, der eigenständigen Formulierungen des Übersetzers und der inhaltlichen Bezüge der Summarien und der Kapitelinhalte sind keine Unterschiede zur Übersetzung des Hieronymus Emser aus dem Jahre 1528 feststellbar. _____________ 36
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Zum Beispiel: [Spa] Das I. Capitel. [Spa] // s Uon Zacharia vnnd Elizabeth wie sie Johannem gebo= // renn / vnd wie der Engel Marie den grFß gebracht / Auch // was lobgesang der Zacharias / des gleichen wie Ma // ria nach dem sie // Christum empfangen / das Magnificat gemacht hat. // Holzschnitt [Evangelistenbild] // ZV [Z = BildIn (9z)] der zeit Hero [SchG (2)] // dis / des k=nigs Judee // war einn priester an // statt Abia / mit namen // Zacharias / (Bl. 473v, Z. 1b-10b). Zum Beispiel: [Spa] Das IIII. Capitel. [Spa] // s Von der fastenn vnnd versFchung Christi / wie sich Jesus // vor den Juden verborgen / wie ein beseßner entledigt / vnd // wie er die schwiger Petri sampt andern vilen // gesundt gemacht hat. [Spa] // IEsus [I = BildIn (5z)] aber vol des heiligen geists / // kam widder vonn dem Jordan / // (Bl. 476r, Z. 37a43a).
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4.4. Zusammenfassung (Johann Eck 1537) In der katholischen Bibel in der Übersetzung des Johann Eck können für die Summarien zwei Repräsentationstypen festgestellt werden, zum einen der Repräsentationstyp Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + Holzschnitt + ZU + In (14z)-Maj,38 zum anderen der Repräsentationstyp Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + In (5z)-Maj.39 Ausdrucksseitig kann in dieser Texttradition demnach nur das erste Kapitel von den anderen Kapiteln aufgrund der Kombination des Summariums mit einem Holzschnitt und einer 14-zeiligen Schmuckinitiale abgegrenzt werden. Die Summarien der anderen Kapitel sind mit fünfzeiligen Initialen kombiniert. Ausdrucksseitig ist allen Summarien gemeinsam, dass für ihren Druck eine kleinere Schriftgröße gegenüber den anderen Textteilen gewählt wurde. Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten, es können isoliert gebrauchte einfache Sätze und Gesamtsätze aus mindestens zwei Teilsätzen nachgewiesen werden. Die Kennzeichnung der Sätze in den Summarien erfolgt wie in der Übersetzung des Hieronymus Emser über die Repräsentationstypen P(u) + Maj, Virgel + Min und Virgel + Maj. In dieser Texttradition werden die Summarien quantitativ am häufigsten mit der Präposition von eingeleitet,40 ohne dass hierfür inhaltliche Spezifika festgestellt werden können. In den anderen Summarien fehlt eine spezifische Einleitungsformel.41 Die Summarien verweisen auf den Inhalt des Kapiteltextes. Wie in der Übersetzung Emsers handelt es sich bei den Textteilen der Summarien um freie Formulierungen des Übersetzers, die aber gegenüber Emsers Übersetzung eigenständig sind. Es bestehen auch in dieser Tradi_____________ 38
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Zum Beispiel: [Spa] Das I. Capitel. [Spa] // Von Johannes geburt / vnd wie der Engel // Mari$ grüeßt / das lobgesang Zacharie / vnd // Marie Magnificat. [Spa] // Holzschnitt [Evangelistenbild] // ZV [Z = SchmuckIn (14z)] der zeit // Hero= // dis / des // künigs // Judee // war ein // priester // in der // ordnung // Abia / // mit na= // men Za // charias // (Bl. 27v, Z. 35b-Bl. 28r, Z. 13a). Zum Beispiel: [Spa] Das VI. Capitel [Spa] // Von außhülsung der (hern / von der dürre hand / er= // w=lung der Apostel die / feind zG lieben / vnd frid zG // haben / vnd niemants vrtailen soll. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es geschach auf ain after // sabbath / dz er durchs getraid // gieng / (Bl. 31v, Z. 14a-20a). Zum Beispiel: [Spa] Das IIII. Capitel. [Spa] // Von der fasten vnd versGchung Christi / wie sich Jhe= // sus verbarg / einbesesnen entledigt / vnd die schwi= // ger Petri samt andern gesund macht. [Spa] // JHESVS [J = In (10z)] aber vol des // hailigen gaists / kam // wider von dem Jor= // dan: (Bl. 30r, Z. 14b-21b). Zum Beispiel: [Spa] Das II. Capitel. [Spa] // Die welt würdt beschriben / Die junckfraw gebürt / // die hirten wachen über ihr herdt / Jhesus würdt be= // schnitten / Simeon vnd Anna weißsagen / vnd das // kindlin Jhesus sitzt in der Sinagog / mitten vnder // den doctorn. [Spa] // ES [E = In (5z)] begab sich aber zG der zeit / // das ain gebot außgieng von // dem Kaiser Augusto / dz alle // welt beschriben wurde. (Bl. 29r, Z. 8a-17a).
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tion inhaltliche Bezüge zwischen den Summarien und dem Kapitelinhalt, die nicht in allen Fällen der chronologischen Abfolge des Kapitelinhaltes folgen. 4.5. Zusammenfassung (Christoffel Froschauer 1531) In der Zürcher Bibel von Christoffel Froschauer sind zwei Repräsentationstypen zur Markierung der Makrostruktur Summarium nachweisbar. Die ersten Summarien in den Evangelientexten werden über den Repräsentationstyp Spa + Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + BildIn (8z)Maj signalisiert,42 die anderen Summarien über den Repräsentationstyp Spa + Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + ZU + In (5z)-Maj.43 Nur beim ersten Kapitel in den Evangelien wird das Summarium mit einer achtzeiligen Bildinitiale kombiniert, die anderen Kapitel sind mit einer fünfzeiligen Initiale als hervorhebendes Mittel verbunden. Für die Textteile der Summarien ist in allen Fällen eine kleinere Schriftgröße gewählt, so dass sie ausdrucksseitig vom Evangelientext und den Kapitelüberschriften abgrenzbar sind. Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzstrukturen. Es treten innerhalb der Summarien isoliert gebrauchte einfache Sätze und Gesamtsätze auf. Der Beginn der isoliert gebrauchten einfachen Sätze sowie der Gesamtsätze wird in dieser Texttradition über die Repräsentationstypen P(u) + Majuskel oder Virgel + Majuskel signalisiert, die Teilsätze in den Gesamtsätzen werden über die Repräsentationstypen Virgel + Minuskel44 oder Kolon + Minuskel45 voneinander abgegrenzt. _____________ 42
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Zum Beispiel: [Spa] Das erst Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Von der empfencknuß vnnd geburt Johannis / Von der // empfengknuß Jesu Christi / Von dem lobgsang Marie / Zacharie vnd Elizabeth. [Spa] // ZV [Z = BildIn (8z)] der zeyt He= [SchG (2)] // rodis des Künigs // Judee / was ein prie // ster von der odnung // Abia mit namen Za= // charias : (Bl. 218v, Z. 16b-25b). Zum Beispiel: [Spa] Das xj. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Christus leert seine jünger b(tten/ vnd wie man im geb(tt // verharren sol will man erw(rben. Treybt einen teüfel auß / be= // schiltet die schm(henden Phariseer / vnd bew(rt das er nitt in // krafft des teüfels (als sy jm zGlegtend) die teüfel außtreybe : straafft jr vndanckbarkeyt vnd schalckheyt. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es begab sich / dz er was an // einem ort vnd b(ttet. (Bl. 226v, Z. 22b-29b). Zum Beispiel: [Spa] Das iiij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jesus gadt in die wFste / wirdt versGcht vom teüfel / den // überwindt er / nach dem kumpt er in Galileam / prediget zG // Nazareth vnd Capernaum / von Juden wird er verachtet / von // teüflen bekennt / kumpt in Peters hauß / machet jm sein schwi= // ger gsund / vnd thGt grosse zeychen. [Spa] // ABer [A = In (5z)] Jesus voll heyligs gey= // stes / kam wider von dem Jor= // dan / vnd ward vom geist in die wFste gefFrt / (Bl. 221r, Z. 26b-35b).
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Eine Differenzierung der Summarien ist in dieser Texttradition aufgrund der verschiedenen Eingangsformeln möglich. Zum einen steht zu Beginn der Summarien die Präposition von,46 die ein präpositionales Satzglied einleitet, das einen eingliedrigen Nominalsatz konstituiert, zum anderen finden sich zu Beginn dieser Textteile die nomina propria Jesus47 oder Christus,48 ohne dass ihre Verwendung inhaltlich begründbar ist. Des Weiteren sind die Einleitungen variabel, sie übernehmen dann aber i.d.R. eine Hinweisfunktion auf inhaltliche Spezifika des Evangelientextes.49 Bei den Sätzen der Summarien handelt es sich um freie Formulierungen des Übersetzers. Es bestehen umfangreiche inhaltliche Bezüge zwischen den Summarien und dem Kapitelinhalt, der chronologischen Reihenfolge des Kapitelinhaltes wird in den Summarien entsprochen.
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Zum Beispiel: [Spa] Das xviij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Er leert wie man empfig vnnd verharrlich b(tten sol: ver= // wirfft die Phariseische frommkeyt: die kindlin lasst er zG jm kommen: berichtet den der jn fraget was er thGn sol das er ins l(= // ben komme / verheyßt belonung denen die vmb seinent willen // das jr verlierend vnd jm anhangend. [Spa] // ER [E = In (5z)] sagt jnen aber ein gleychnuß // daruon / (Bl. 231r, Z. 20b-27b). Zum Beispiel: [Spa] Das erst Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Von der empfencknuß vnnd geburt Johannis / Von der // empfengknuß Jesu Christi / Von dem lobgsang Marie / Zacharie vnd Elizabeth. [Spa] // ZV [Z = BildIn (8z)] der zeyt He= [SchG (2)] // rodis des Künigs // Judee / was ein prie // ster von der odnung // Abia mit namen Za= // charias : (Bl. 218v, Z. 16b-25b). Zum Beispiel: [Spa] Das iiij. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jesus gadt in die wFste / wirdt versGcht vom teüfel / den // überwindt er / nach dem kumpt er in Galileam / prediget zG // Nazareth vnd Capernaum / von Juden wird er verachtet / von // teüflen bekennt / kumpt in Peters hauß / machet jm sein schwi= // ger gsund / vnd thGt grosse zeychen. [Spa] // ABer [A = In (5z)] Jesus voll heyligs gey= // stes / kam wider von dem Jor= // dan / vnd ward vom geist in die wFste gefFrt / (Bl. 221r, Z. 26b-35b). Zum Beispiel: [Spa] Das xj. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Christus leert seine jünger b(tten/ vnd wie man im geb(tt // verharren sol will man erw(rben. Treybt einen teüfel auß / be= // schiltet die schm(henden Phariseer / vnd bew(rt das er nitt in // krafft des teüfels (als sy jm zGlegtend) die teüfel außtreybe : straafft jr vndanckbarkeyt vnd schalckheyt. [Spa] // UNd [U = In (5z)] es begab sich / dz er was an // einem ort vnd b(ttet. (Bl. 226v, Z. 22b-29b). Zum Beispiel: [Spa] Das v. Capitel. [Spa] // [SU = kl. SchG] Jn disem Capitel werdennd etliche zeychen beschriben die // Jesus gethon hatt / die berFffung Mathei / der zanck der // Phariseern wider Christum vnd seine jünger. [Spa] // ES [E = In (5z)] begab sich aber / do jnn das // volck überfiel zeh=ren das wort // Gottes / (Bl. 222r, Z. 8a-14a). Beispiel: [Spa] Das xxij. Capitel. [Spa] // Hie facht der Euangelist das leyden Christi zG beschreyben / w(ret biß ins xxiiij. Capitel. [Spa] // ES [E = In (5z)] was aber naach das f(st der SFssen broten / (Bl. 233v, Z. 15b-19b).
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4.6. Johann Feyerabend (1583) 4.6.1. Anordnungsprinzipien der Repräsentationstypen (36) [Spa] I. Cap. [Spa] // [SU = kl. SchG] 1 Vorrede dieser Historien / 2 dem alten Zacharia / der eine vnfruchtbar Ehe hatte / 4 verheisset ein Engel // einen Son / Johannem / 5 das glaubt er nicht / vnd erstummet / 6 doch wird Elisabeth schwanger / 7 Der En= // gel Gabriel verkFndigt der Jungfrauwen Maria / 8 daß sie einen Son / Jesum Christ / geberen sol / 9 durch die // crafft deß H=hesten / dem kein ding vnmFglich / 10 darauff gehet sie zu Elisabeth / von welcher sie eben dasselbe h== // ret / 11 vnd preiset mit jrem Lobgesang den HERRN / 12 Elisabeth gebieret einen Son / vnd leßt jn Johannes // heissen / 13 welches Zacharias schrifftlich bestetigt / fahet damit wider an zu reden / 15 vnd preyset den HERRN // mit seinem Lobgesang. [Spa] Holzschnitt [Evangelistenbild] SJntemal [S = In (5z)] sichs viel vnterwunden haben / zu stellen die [SchG (2)] // Rede von den Geschichten / so vnter vns ergangen sind / wie vns das // gegeben haben / die es von anfang selbs gesehen / vnd diener deß Worts // gewesen sind / Habe ichs auch fFr gut angesehen / nach dem ichs alles // von anbegin erkundet habe / daß ichs zu dir / mein guter Theophile / mit // fleiß ordenlichen schriebe / Auff daß du gewissen grundt erfahrest der Lehre / welcher du // vnterrichtet bist. [Spa] // ZU [Z = In (8z)] der zeit Herodis / deß K= [SchG (2)] // nigs Judee / war ein Priester von der ordnung // Abia / mit Namen Zacharias / (Lk 1,1: Bl. 34r, Z. 1-18). (37) [Spa] IIII. Cap. [Spa] // [SU = kl. SchG] 1 Jesus wirdt vom Teuffel versucht / vnd vberwindet jn mit Gottes Wort / 4 Lehret in den Schulen / 5 Zu // Nazareth predigt er auß Jesaia / 6 daß sie sich vber seinen holdseligen Worten verwundern / 8 doch w=llen sie // jn vber den Berg hinab stFrtzen / 9 Er treibt einen Teuffel auß / der jn den heyligen Gottes nennet / 10 Macht // die Schwieger Petri gesund / 11 Heylet auch sonst viel Krancken / vnd l(ßt die Teuffel nicht reden / 12 Saget / // er muß auch andern das Euangelion predigen / dazu er denn gesand sey. [Spa] // JHesus [J = In (5z)] aber voll heyliges Geistes / kam wider von dem [SchG (2)] // Jordan / vnd ward vom Geist in die WFsten gefFhret / vnd wardt vier= // tzig tage lang von dem Teuffel versucht / (Lk 4,1: Bl. 37v, Z. 7-15).
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In der korrigierten Ausgabe der Bibel in Luthers Übersetzung von Johann Feyerabend kann der Repräsentationstyp Spa + Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + Evangelistenbild + In (5z/8z)-Maj (Bsp. 36) zur Markierung des ersten Summariums in den Evangelien und der Repräsentationstyp Spa + Ü + Spa + ZU + SU [kl. SchG] + In (5z)-Maj (Bsp. 37) zur Markierung der anderen Summarien nachgewiesen werden. Ausdrucksseitig ist nur das erste Summarium von den anderen abgrenzbar. Die Summarien sind mit einer Verszählung verbunden. 4.6.2. Ermittlung der syntaktischen Strukturen der Makrostruktur Summarium anhand repräsentativer Beispiele Der Beginn der Summarien wird in dieser Texttradition nicht durch ein hervorhebendes Mittel (Initialengebrauch, Segmentierungszeichen) bzw. durch eine syntaktische Einheit in Form eines Nominalsatzes signalisiert, für den Textteil der Summarien ist aber eine kleinere Schriftgröße gewählt, das Ende der Summarien wird durch einen P(u) mit Spa bis ZR signalisiert. Das Summarium zum ersten Kapitel (Bsp. 36) besteht aus verschiedenen syntaktischen Einheiten, die durch die Repräsentationstypen Virgel + Maj und Virgel + Min voneinander abgegrenzt werden. Teilsätze und Satzgliedteile werden durch Virgel + Min signalisiert, Virgel + Maj markiert den Beginn eines neuen Gesamtsatzes, insgesamt bilden drei Gesamtsätze dieses Summarium. Es kommen verbale als auch nominale Satzstrukturen vor. Der erste Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer Struktur besteht aus sechs Teilsätzen: einem Nominalsatz – Hauptsatz: Vorrede dieser Historien /, einem Verbalsatz – Hauptsatz: dem alten Zacharia / […] verheisset ein Engel // einen Son / Johannem /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz: der eine vnfruchtbar Ehe hatte /, einem Verbalsatz – Hauptsatz: das glaubt er nicht /, einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von er aufgrund von Vorerwähntheit vnd erstummet / und einem Verbalsatz – Hauptsatz: doch wird Elisabeth schwanger /. Der zweite Gesamtsatz mit parataktisch-hypotaktischer Struktur besteht aus sechs Teilsätzen: einem Verbalsatz – Hauptsatz: Der En= // gel Gabriel verkFndigt der Jungfrauwen Maria /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Objektsatz: daß sie einen Son / Jesum Christ / geberen sol / durch die // crafft deß H=hesten /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz: dem kein ding vnmFglich /, einem Verbalsatz – Hauptsatz: darauff gehet sie zu Elisabeth /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz: von welcher sie eben dasselbe h== // ret / und einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von sie aufgrund von Vorerwähntheit: vnd preiset mit jrem Lobgesang den HERRN /. Der dritte Gesamtsatz mit parataktisch-
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hypotaktischer Struktur besteht aus fünf Teilsätzen: einem Verbalsatz – Hauptsatz: Elisabeth gebieret einen Son /, einem Verbalsatz – Hauptsatz mit Ellipse von Elisabeth aufgrund von Vorerwähntheit: vnd leßt jn Johannes // heissen /, einem Verbalsatz – Nebensatz – Attributsatz: welches Zacharias schrifftlich bestetigt /, einem Verbalsatz – Hauptsatz mit der Ellipse von Zacharias aufgrund von Vorerwähntheit: fahet damit wider an zu reden / und einem Verbalsatz – Hauptsatz mit der Ellipse von Zacharias aufgrund von Vorerwähntheit: vnd preyset den HERRN // mit seinem Lobgesang. 4.6.3. Vergleich der syntaktischen Strukturen der Summarien mit den Evangelientexten Das Summarium zum ersten Kapitel (Bsp. 36) verweist auf verschiedene Textteile aus dem ersten Kapitel. Der erste Nominalsatz 1 Vorrede dieser Historien / bezieht sich auf das Vorwort (Lk 1,1-4), der Textteil zur Verheißung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) wird im Summarium durch die Teilsätze 2 dem alten Zacharia / der eine vnfruchtbar Ehe hatte / 4 verheisset ein Engel // einen Son / Johannem / 5 das glaubt er nicht / vnd erstummet / 6 doch wird Elisabeth schwanger / wiedergegeben. Auf die Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26-38) wird mit dem Gesamtsatz 7 Der En= // gel Gabriel verkFndigt der Jungfrauwen Maria / 8 daß sie einen Son / Jesum Christ / geberen sol / 9 durch die // crafft deß H=hesten / dem kein ding vnmFglich / verwiesen, auf den Besuch Marias bei Elisabet (Lk 1,39-56) mit den Teilsätzen 10 darauff gehet sie zu Elisabeth / von welcher sie eben dasselbe h== // ret / 11 vnd preiset mit jrem Lobgesang den HERRN / und auf die Geburt des Täufers mit dem Gesamtsatz 12 Elisabeth gebieret einen Son / vnd leßt jn Johannes // heissen / 13 welches Zacharias schrifftlich bestetigt / fahet damit wider an zu reden / 15 vnd preyset den HERRN // mit seinem Lobgesang. 4.6.4. Zusammenfassung (Johann Feyerabend 1583) In der im Jahre 1583 erschienenen Ausgabe der Bibel in Luthers Übersetzung sind ausdrucksseitig nur die jeweils ersten Summarien in den Evangelien (Bsp. 36) von den anderen abgrenzbar (Bsp. 37). Auch in dieser Bibeltradition sind die Summarien zwischen Kapitelüberschrift und Evangelientext angeordnet, sie sind in einer kleineren Schriftgröße realisiert und zum ersten Mal mit einer Verszählung kombiniert. Die Summarien bestehen aus nominalen und verbalen Satzeinheiten. Es treten isoliert gebrauchte einfache Sätze und Gesamtsätze auf. Die Kennzeichnung der Satzanfänge erfolgt über den Repräsentationstyp Vir-
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gel + Majuskel, Teilsätze innerhalb der Gesamtsätze und Satzgliedteile werden über den Repräsentationstyp Virgel + Minuskel voneinander abgegrenzt. In dieser Bibeltradition sind keine spezifischen Eingangsformeln nachweisbar. Bei den Sätzen der Summarien handelt es sich um freie Formulierungen des Übersetzers Petrus Patiens. Für die gesamte Drucktradition des 15. und 16. Jahrhunderts werden in den Summarien des Petrus Patiens die umfangreichsten inhaltlichen Bezüge hergestellt, ohne dass der Übersetzer den Evangelientext kommentiert (Bsp. 36f.). In allen Fällen folgen die Summarien der chronologischen Abfolge des Kapitelinhalts. Die einzelnen inhaltlichen Hauptpunkte sind mit der dem Evangelientext entsprechenden Verszählung verbunden.
5. Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass Summarien nicht notwendige, aber mögliche Textteile innerhalb der Textexemplare der Textsorte (Geoffenbarter) Bericht sind. Diese Textgliederungsstruktur tritt bereits in der vorlutheranischen Bibeltradition auf, in der Reformationszeit zunächst in katholischen und Zürcher Drucken und erst 1583 in einer korrigierten Ausgabe der Bibel in Luthers Übersetzung. Die ausdrucksseitig nachweisbaren hervorhebenden Merkmale der Summarien in der Handschriftentradition sind um die gewonnenen Erkenntnisse aus der Drucktradition zu erweitern: Neben einer Rubrumverwendung in den Handschriften für die Textteile der Summarien sind in der Drucktradition kleinere Schriftgrößenwahl, die Platzierung zwischen den Kapitelüberschriften und den Evangelienkapiteln und die mögliche, aber nicht notwendige Verwendung eines eingliedrigen Nominalsatzes mit dem Nukleus Summa. zu nennen. Inhaltsseitig besteht die Funktion der Summarien in der Drucktradition des 15. und 16. Jahrhunderts darin, auf die Hauptpunkte der Evangelienkapitel hinzuweisen. Neben ihrer Funktion, den Evangelientext inhaltlich zu erschließen, kommt ihnen eine Orientierungsfunktion zu, sie dienen dem Bibelbenutzer als Lektürehilfe. Bei den Textteilen der Summarien in den verschiedenen Drucktraditionen des 15. und 16. Jahrhunderts handelt es sich ausschließlich um eigene Formulierungen der Übersetzer.
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Syntaktische Strukturen in Summarien
Abkürzungsverzeichnis In Joh Lk Maj Mk Mt Min NoS P(u) R RS SchG Spa SU SZ Ü z ZU / //
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = =
Initiale Johannesevangelium Lukasevangelium Majuskel Markusevangelium Matthäusevangelium Minuskel Nominalsatz Punkt unten Rubrum Rubrumstrich Schriftgröße Spatium Summarium Segmentierungszeichen Überschrift zeilig Zeilenumbruch Virgel Zeilenende
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Zum Ausdruck der kausalen Relation in den spätmittelalterlichen medizinischen Texten Lenka Vaňková (Ostrava)
1. Einleitung Ende der 90er-Jahre wies Anne Betten (1998) in ihrem Beitrag „Zur Textsortenspezifik der Syntax des Frühneuhochdeutschen“ darauf hin, dass die Syntax der deutschen Fachprosa von der Forschung vernachlässigt wird und dass – wahrscheinlich auch demzufolge – in den Lehrwerken und Überblickswerken zum Frühneuhochdeutschen fast ausschließlich Belege aus kanzleisprachigen Texten oder aus verschiedenen Gattungen der Erzählprosa präsentiert werden. Im letzten Jahrzehnt ist diese Lücke in der Erforschung der frühneuhochdeutschen Syntax durch mehrere Analysen gefüllt worden, die zum großen Teil medizinischen bzw. naturwissenschaftlichen mittelalterlichen sowie frühneuzeitlichen Texten gewidmet wurden. In diesem Zusammenhang ist z.B. an die Arbeiten von Irmtraud Rösler (1997), Mechthild Habermann (2001) oder Jörg Riecke (2004) zu erinnern. Die Untersuchung der Satzstruktur bildet auch einen der Schwerpunkte in der Arbeit „Medizinische Fachprosa aus Mähren. Sprache – Struktur – Edition“ (Vaňková 2004). Als Materialquelle dienten hier fachsprachliche Texte, die im 15. Jahrhundert aufgeschrieben worden sind und deren Handschriften sich in Olmützer Archiven und Bibliotheken befinden. Aus den Olmützer Texten wurde ein vielfältiges Korpus zusammengestellt, das insgesamt 233 Folioseiten umfasst und in dem unterschiedliche Textsorten wie Traktat, Rezeptar, Herbar vertreten sind.
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2. Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Satzbau der mittelalterlichen medizinischen Texte anhand des ‚Olmützer Quellenkorpus‘ Das ‚Olmützer Quellenkorpus‘ wurde schon unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert.1 Bei der Untersuchung konzentrierte sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Struktur der komplexen Sätze, wobei der Umfang der Ganzsätze, die Kompositionstypen der Satzgefüge sowie der Anteil an hypotaktischen Strukturen analysiert wurden. Der Schwerpunkt lag auf der Betrachtung der Gestaltung von hypotaktischen Satzbeziehungen: Dabei wurde vor allem die Variation beim Gebrauch von Mitteln, die zur Markierung der einzelnen syntaktisch-semantischen Relationen dienten, verfolgt. Es hat sich gezeigt, dass die einzelnen medizinischen Texte im Rahmen derselben Textsorte zahlreiche Gemeinsamkeiten im Satzbau aufweisen. Dies war dadurch gegeben, dass sich in den einzelnen Textsorten schon bestimmte Aufbaumuster durchgesetzt haben, die nicht nur auf der Makrostruktur-, sondern auch auf der Mikrostrukturebene zu erkennen sind.2 So war in Rezepten als formalisierten Anweisungen für die Herstellung eines bestimmten Medikaments die syntaktische Struktur zum großen Teil vorgegeben.3 Zu den charakteristischen Merkmalen der Rezepte gehört eine niedrige Varianz der Nebensätze: Neben Konditionalsätzen, die fast die Hälfte aller Nebensätze darstellen, treten in Rezepten in bedeutenderem Maße noch Temporal- und Attributsätze auf. Der prozessuale Charakter des Herstellungsverfahrens wird durch die häufige Verwendung von parataktisch aneinandergereihten Sätzen verdeutlicht. In Traktaten und Teiltexten der Kompendien (die auch als Kurztraktate zu betrachten sind) dagegen stellte die Notwendigkeit der Darstellung von Ursachen, Symptomen, Bedingungen der Heilwirkung und Konsequenzen der verabreichten Behandlung höhere Anforderungen an die Autoren, die all diese komplizierten Beziehungen zum Ausdruck bringen mussten. Dies geschah in Form von komplexeren Sätzen mit einem hohen Anteil der Hypotaxe und mit verschiedenartigen semantischen Beziehungen zwischen dem über- und untergeordneten Satz. Man kann in Trakta_____________ 1 2 3
Zu den einzelnen Gesichtspunkten vgl. Vaňková (2001a, 2001b, 2001c; 2003; 2004a, 2004b, 2004c). Zur Problematik der Makrostruktur der einzelnen medizinischen Textsorten vgl. Vaňková (2001a; 2004c, 131-161), wo auch Verweise auf weiterführende Literatur zu finden sind. In der Makrostruktur der Rezepte werden meistens drei Bauelemente unterschieden: Indikation, Rezeptur (Herstellung) und Applikation, vgl. Keil (1961). Zu dieser Problematik vgl. auch Vaňková (2004c, 144), Vaňková / Keil (2005, 34ff.).
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ten komplizierte Satzgefüge finden, die nicht selten aus sieben oder acht Sätzen bestehen (1): (1)
Vnd ist, das das eisen kain schafft nicht hat, so scholt du fragen den, der geschossen ist, wie er gestanden sey, da man in schos, vnd wa er den smerczen des eysen enpfinden vnd wa er sei oben oder vnden oder derneben, ab du des selber nicht envust. (OW 178v)
Die Unterschiede im syntaktischen Bau zwischen den einzelnen Textsorten sind auf die unterschiedlichen Funktionen der jeweiligen Textsorte zurückzuführen. Es wurden aber auch im Rahmen derselben Textsorte (Traktat) größere Unterschiede festgestellt, die durch die Wirkung mehrerer Faktoren verursacht wurden. Unter diesen spielten die Persönlichkeit des Autors, seine Kenntnisse, seine Motivation, seine stilistische Begabung und das Bestreben, den Text stilistisch abzusondern, eine wichtige Rolle. Nicht zu vergessen ist der angestrebte Rezipientenkreis: Das Bemühen, das Wissen auf für die Adressaten verständliche Art und Weise zu vermitteln, war einer der Faktoren, die sich auf die syntaktische Textstruktur ausgewirkt haben. Auch die territoriale Zugehörigkeit des Textes, bzw. seiner Vorlage, gehörte zu den Faktoren, die u.a. die Wahl und Distribution von Einleitungsmitteln der einzelnen Nebensätze beeinflusst haben dürften.
3. Die Variation in der Wiedergabe der Kausalität Trotz aller Unterschiede weisen aber medizinische Texte im Bereich der Satzstruktur viele Gemeinsamkeiten auf. Im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen soll ein Aspekt herausgegriffen werden, der gerade für mittelalterliche medizinische Texte, die größtenteils für den ‚gemeinen Mann‘, d.h. für in der Praxis wirkende Laien, geschrieben wurden, typisch ist. In all diesen volkssprachlichen Texten spielt die Beziehung Symptome – Therapie eine zentrale Rolle. Diese sachliche Relation bringt mehrere zusammenhängende kognitive Relationen mit sich: Ursache – Wirkung sowie zeitliches Vorher – Nachher. Dabei geht die Relation Ursache – Wirkung meistens nicht von tatsächlichen, realen Ursachen aus, sondern von möglichen (bzw. von der Iterativität möglicher Ursachen, d.h. „immer wenn …“). Da die Kausalität4 beim Formulieren des medizinischen Wissens eine bedeutende Stellung einnimmt, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie wirkliche, reale Ursachen sowie mögliche oder gedach_____________ 4
Zu dieser Problematik vgl. Duden (2005, 1096ff.).
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te Gründe im ‚Olmützer medizinischen Korpus‘ zum Ausdruck gebracht werden. 3.1. Causa Die Causa, d.h. die Bezeichnung der Ursachen der jeweiligen Krankheit, stellt in Traktaten eines der obligatorischen Elemente der Makrostruktur dar. Sie wird meistens mithilfe einer Präpositionalphrase formuliert, in der die Präposition von in Verbindung mit den Verben sein, werden, kommen, geschehen, die fast synonym gebraucht werden, auftaucht. Die Ursache der Krankheit wurde in Übereinstimmung mit der damals vorherrschenden Viersäftelehre5 oft in einem gestörten Verhältnis der vier Körpersäfte des Menschen gesehen. Es werden also als Verursacher der Krankheit Blut, Cholera, Flegma usw. genannt (2, 3). Daneben findet man – besonders bei der Darstellung von Ursachen einer Verletzung – nach der Präposition von oft substantivierte Infinitive (4, 5). Wesentlich seltener erscheinen nach von Verbalabstrakta (6). Manchmal tritt die Präposition von zusammen mit wegen auf (7): (2)
Item etwan werden platern am haubt von uil haizzer feicht des leibs oder von dem grunenten flegma. (OK11v)
(3)
Item chumpt dz hauptwee von der colera, dj da rott ist…(OK 54r)
(4)
Damma haist ain vnsynnikait, chumpt von põsem essen vnd vbrigem trinckhen starcks weins oder von haisser kost… (OK 64 r)
(5)
Furcula ist das pain, das oben an di achssel stost, vnd prycht offt von schwer tragen vnd offt von vallen vnd offt von einen starken slag ... (OW 184v)
(6)
Ist der wetag in der mitt des haubcz, so ist es von der aufriechung des magen von den tãmpffen. (OK 54v)
(7)
Wer tõbig im haubt ist vnd sein synn verleurt von kranckheit des haupcz wegen… (OK 62r)
Nur selten wird die Ursache in Form eines Nebensatzes ausformuliert: Es geht in diesen Fällen um eine mögliche Ursache, die entweder in Form eines Bedingungssatzes (8) oder (auch wenn es sich in der Tiefenstruktur um eine konditionale Beziehung handelt) als ein mit das eingeleiteter In_____________ 5
Die Viersäftelehre geht davon aus, dass den Körpersäften des Menschen (Blut, Schleim / Rotz, Gelbe und Schwarze Galle) die alles konstituierenden vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde) mit ihren Primärqualitäten (heiß, feucht, kalt und trocken) entsprechen. Für die Gesundheit des Menschen ist die Ausgewogenheit der Säfte notwendig.
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haltssatz (9, 10) vorliegt. Im übergeordneten Satz steht in letzterem Fall manchmal als Korrelat davon (11): (8)
Es geschicht auch oft, so dj rot vnd swarcz colera aufriechen in dz haubt. (OK 69r)
(9)
Item des magen siechtag ist manigerlaj, doch ist es gwonlich von põsen materj vnd vndãigen, vnd dz er manigerlai vnflat muß nemen, ... (OK 111v)
(10) Fastidium ist ain sucht, dz der mensch nit lust hat zu essen. Chumpt etwan von übriger feuchtikait des magen vnd aller glider als nach ainer sucht; oder das der mensch dj dürr hat; oder etwan von übrigem essen vnd trinckhen Etwan von übriger chelten, vnd von übriger hicz chumpt es. (OK 109v) (11) Item das tãglich fieber chumpt do uon, dz das haubt do von siech wirt, so sich der mensch über isst vnd nit deüen mag. (OK146r) Die Beispiele (6 / 8, 4 / 11) zeigen, dass derselbe Inhalt (dieselbe Ursache) ein Mal in Form einer Nominalphrase, ein anderes Mal in Form eines Nebensatzes ausgedrückt wurde. Dabei ist klar, dass bei der Bezeichnung der Ursache durch eine Präpositionalphrase bestimmte Angaben fehlen. So wird z.B. die Person nicht genannt (so sich der mesch überisst x von übrigem essen), es wird auch der Modus nicht bezeichnet (vnd nicht deuen mag). Die nominalen Phrasen stellen somit eine Art der Verallgemeinerung dar, die bei der Kommunikation unter Fachleuten, für die eine explizite Nennung aller Umstände nicht notwendig war, jedoch kein Hindernis bedeutete.6 3.2. Symptome / Indikation Eine ähnliche Situation findet man bei der Bezeichnung der Symptome einer Krankheit. Diese werden oft ganz allgemein formuliert, und zwar mithilfe einer Präpositionalkonstruktion, in der die Präpositionen zu (czu) (12), für (fur, vor) (13, 14), wider (wedir, veder) (15), auf (of) sowie das lateinische contra oder ad vorkommen. Solche Formulierungen sind auch in den Überschriften anzutreffen (z.B. Contra dolorem dencium, Ad memoriam, Czu brochen), wo sie eine erste Auskunft über den Indikationsbereich geben. Dabei wird nur selten vorausgesetzt, dass dem Rezipienten die einzelnen Bedingungen, unter denen das Medikament oder das Heilver_____________ 6
Von den Linguisten werden die satzwertigen Präpositionalfügungen meist als Ausdruck der Neigung zur abstrakten Ausdrucksweise gewertet. Nach Möslein (1974, 181) steht der Nebensatz der konkreten Widerspiegelung von Geschehen und Zuständen näher als die nominale Gruppe.
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fahren anzuwenden ist, bekannt sind: Deshalb werden die Symptome im anschließenden Text näher spezifiziert (16, 17): (12) Das selbige ol ist gut czu den druzen ... (OlB131r) (13) Vnd is galganum vnd yngber vnd polay, gamandir vnd is ravten somen vnd saluay somen, petersilge vurcze fur dy gift … ( OCh 200r) (14) Sye ist gut genoczet vor dy gift: der geroch von ebereisen vortribet dy slangen.(OKr 209r) (15) Vermute ist gut veder das nicken … (OKr 210r) (16) Of geschos Item wiltu geschos aus czyn, das do stiket yn dem fleizze ader anders wo, zo … (OlB 132r) (17) Ad nebulam oculorum: Wiltu machen eyne salbe weder das mol zu den augen weder das nicken vnd weder das mol zu den augen vnd weder das winsterins der augen, nym das saf… (OlB 133r) Noch häufiger werden für die Bezeichnung der Bedingungen, unter welchen ein Medikament zu indizieren ist oder unter denen das empfohlene Verfahren zu realisieren ist, Konditionalsätze verwendet. Der häufigste Strukturtyp des Konditionalsatzes im untersuchten Korpus in dieser Funktion ist ein uneingeleiteter Nebensatz mit der Spitzenstellung des finiten Verbs. Dieser für das Rezept charakteristische Typ kommt in allen Texten vor. Der Konditionalsatz steht in der Regel vor dem Hauptsatz, der vorwiegend durch das Korrelat so eingeleitet wird (18). Etwa in einem Viertel der Belege dieses Strukturtyps steht jedoch der Hauptsatz ohne Korrelat (19). (18) Ist dy vonde an der hole des leybes, zo nym eyn weycz leynen tuch ... (OCh 192r) (19) Viltu eyn beyn aus zien, nym dyptame,… (OCh 195r) Den zweithäufigsten Typ des Nebensatzes zum Ausdruck der möglichen Bedingungen stellen im ‚Olmützer medizinischen Korpus‘ mit Relativpronomen (wer bzw. was oder welcher + Personenbezeichnung) eingeleitete Nebensätze dar, die als semantisch äquivalent zu Konditionalsätzen anzusehen sind (20).7 Dieser Typ von Nebensätzen mit dem verallgemeinern-
_____________ 7
Zum Relativsatz in der Funktion und Bedeutung eines Konditionalsatzes vgl. Paul / Schröbler / Wiehl / Grosse (1998, 418); Haage (1982, 368). Zu den einzelnen Typen dieser Sätze vgl. Vaňková (2004c, 210ff.).
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den Relativum swer bzw. swaz ist häufig im Mhd. vorhanden und entspricht den im Lat. mit si bzw. nisi eingeleiteten Sätzen.8 Als Bestätigung der funktionalen Nähe dieser Relativsätze zu den Konditionalsätzen ist die Verwendung des Korrelats so im Hauptsatz zu betrachten (21). Als anderer Beweis kann das Anfügen eines konjunktionalen (bzw. uneingeleiteten) konditionalen Nebensatzes an den Relativsatz dienen, wobei sich beide NS auf denselben HS beziehen (22). (20) Welich man an freude ist an seinem dinge, vor das seynt gut fencheln worczelen mit veyne (OKr 216v) (21) Wer tõbig im haubt ist vnd sein synn verleurt von kranckheit des haupcz wegen, so recipe grana iuniperi, tere bene in mortario, postea fiat ad sacculum. (OK 62r) (22) Ver vorerret ist an dem sloffe, ruchet her sye dikke, her wirt sloffende. (OKr 210r) Das Spektrum der Signale der Konditionalsätze, durch die Krankheitssymptome bezeichnet werden, ist in den untersuchten medizinischen Texten sehr breit und variiert von Text zu Text. Am häufigsten sind ob, so, wen / wan und die sog. ist-Syntagmen zu verzeichnen (23, 24). Bei der Wahl der einzelnen Verknüpfungsmittel wirkten sich mehrere Faktoren aus, unter denen die territoriale Zugehörigkeit des Textes sowie sein stilistisches Niveau nicht zu unterschätzen sind. (23) Ob ain mensch siech oder amãchtig wãr an dem herczen: Recipe ain han… (OK 99r) (24) So du nit lust hast zu essen, so schab dein zung, vnd was du ab schabst, dz streich auf ain prot. (OK 109v) 3.3. Therapie: Bedingungen der Heilwirkung Konditionalsätze werden weiter für die Darstellung von Bedingungen, deren Erfüllung für die erfolgreiche Heilwirkung notwendig war, verwendet. Die konditionale Beziehung wird dabei auf verschiedene Art und Weise signalisiert (25-29).9 Bei der Aufzählung von verschiedenen mögli_____________ 8 9
Putzer (1979, 207) belegt die Konditionalsätze in Form eines Relativsatzes in dem von ihm untersuchten Text ‚Erkenntnis der Sünde‘. Sie sind auch in spätmittelalterlichen Rezepten nachgewiesen (vgl. Ehlert 1990, 264; Mildenberger 1997, 2272f.). Im ‚Olmützer medizinischen Korpus‘ wurden insgesamt 13 Möglichkeiten der Realisierung der konditionalen Relation verzeichnet, vgl. Vaňková (2004c, 208).
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chen Bedingungen treten oft uneingeleitete Konditionalsätze auf, wobei auch die Nachstellung des konjunktionslosen Bedingungssatzes zu belegen ist (30, 31).10 Viel häufiger als in den anderen Textteilen sind die sog. ist-Syntagmen zu verzeichnen (32-35), die als typisches Mittel von „höheren“ Textsorten betrachtet werden. Diese Konstruktionen kommen vor allem aus dem juristischen Bereich, wo sie zur Präzisierung der Aussage dienen (vgl. Masařík 1985, 211). Die Belege aus dem medizinischen Bereich beweisen, dass sie auch außerhalb des Kanzleibereiches verwendet wurden und dass sie als Indikatoren für das stilistische Niveau der Texte angesehen werden können: (25) Aber wenne man di wunden gar wol vnd uast czusamen pindet, das hilft wol. (OW 147v) (26) Liligen worczel gesoten mit smer ader mit bavm ol macht das har vachsende an der vorbranten stat, ab man is do mete bestreychet. (OKr 217v) (27) …vnd wo es nit her auß zogen oder ledig worden ist, so strich dj salben wider auf das tuech an dem selben end, do…(OK 19v) (28) Dy totlich wunden sein, als das hertcz verwunt wirt vnd der magen vnd di plater vnd di leber vnd ander vngereusch in dem menschen, vnd wer in das haupt wund wirt, das im das hirn aus get. (OW 144v) (29) Alles vnrains vnd fauls plut in der wunden let di wunden nicht hailen, denne es kvm vor aus der wunden. (OW 147r) (30) Dy vegebreyt vorstellet das blut yn den vonden, virt sy gestussen vnd do auf gelet. (OKr 112r) (31) An dem andern tag, hat er kraft, so mach im ain wasser pad, tag vnd nacht, do costen inn gesoten ist. (OK 129v) (32) Dar vmb so sol man den auß lauff in 3 oder 4 tagen nit verstellen, er sy dann vnmãssig groß. (OK 140r) (33) Ist er aber starck vnd plũtrich sunderlich, wolt dz plũt nit verstan, es wãr dann ain frau, der ir zeit verstanden wãr, dj sol an den fũessen inwendig lassen. (OK 87r) _____________ 10
Rösler (1998, 157) weist darauf hin, dass die veränderte Reihenfolge von Bedingung und Folge bewirkt, dass die Angabe der Bedingung an kommunikativem Gewicht verliert und eher den Charakter einer Nebenbemerkung hat. Denselben Eindruck – fast einer parenthetischen Ergänzung – erweckt die Einschaltung des uneingeleiteten Konditionalsatzes in den übergeordneten Satz, die im ‚Olmützer Kompendium‘ und im ‚Kräuterbuch’ zu verzeichnen ist (vgl. Bsp. 31).
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(34) Ist dan sach dz das pluet her aus get oder aitter, den selben magstu wol hailen. Ist dz nichcz her aus get vnd stet also drochen, still vnd faul, so wiß, dz gar chumerlich zu haillen is, es sy dann mit grosser arbait. (OK 17v) (35) Wãr aber sach das dz plutspeiben her oben abchãm von dem haubt, so leg dz pflaster auf dj schlaff ader, ... (OK 87r) Reale, tatsächliche Gründe werden in den medizinischen Texten viel seltener als potentielle Ursachen genannt. Sie erscheinen oft, wenn auf die Faktoren hingewiesen wird, die die erfolgreiche Therapie gefährden könnten. Reale Ursachen werden in Form eines mit wann / wenn eingeleiteten Satzes formuliert. In den untersuchten Texten zeigt sich eine deutliche regionale / dialektale Distribution der Formen wenne / wen / ven und wanne / wan. Die Form mit -e ist in den Texten belegt, welche eine omd. Prägung aufweisen; wann dominiert dagegen in Texten, die den Einfluss des obd. Sprachraums nicht verleugnen können. In den untersuchten Texten überwiegt in den mit wann / wenn eingeleiteten Sätzen noch die Drittstellung des finiten Verbs, was als Hinweis darauf aufgefasst werden könnte, dass es um Sätze von kausaler Bedeutung geht, die zu dem Satz, dessen Inhalt sie begründen, in einem parataktischen Verhältnis stehen (36).11 (Wann / wenn würde also dem nhd. denn entsprechen).12 Parallel zu den Sätzen mit der Drittstellung des finiten Verbs finden sich aber im untersuchten Korpus auch Kausalsätze mit wann / wenn, die die Endstellung des finiten Verbs aufweisen (37, 38). Es sind auch solche Satzstrukturen zu belegen, in denen wann / wenn parallel sub- und koordinierend auftritt (39). Diese Fälle zeugen davon, dass sich auch im Bereich des kausalen Verhältnisses die hypotaktische Struktur – wahrscheinlich auch unter dem Einfluss der allgemein zunehmenden Hypotaxe – stärker durchzusetzen begann. (36) …dy schal eppe vormiden, wan an das kindes libe werden vnreyne bloteren, vele vnd sweren. (OKr 214r) (37) Is schadet auch den frawen,[…] wen sy do won dy kinder czu wnczeyt gewynen. (OKr 215v) (38) Doch tribs nit zu lang, wann sõlichs pãen geren swach macht. (OK 140r) _____________ 11 12
Das kausale wann / wenn (mhd. wan(e) / wand / want) hatte im Deutschen ursprünglich beiordnende Funktion. Im Mhd. kann es sowohl sub- als auch koordinierend gebraucht werden, vgl. Arndt (1959). Nach Arndt (1959, 415) beginnt der Prozess des ‚Absterbens‘ des begründenden ‚wann‘ in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In der Zeitspanne zwischen 1400 und 1550 geht kausales wann / wenn unter und wird im Laufe des 15. Jahrhunderts im Kausalbereich durch dann / denn und weil verdrängt.
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(39) Sy ist czweyerley: dy grosse, wen zy gruze worczeln hot; dy mynner, wen sy subirt den frawen, dy do kinder haben. (OKr 226r) Kausale Nebensätze mit einer anderen Einleitung als wann / wenn sind nur selten belegt. Als ihre Einleitung erscheint die Konjunktion darum das (40). (40) …seyn begiren czv frawen ist klain, vnd mag auch nicht vil, darvm das er truken vnd feucht ist. (OW 143v) Das Fehlen anderer Mittel zum Ausdruck der kausalen Relation wie dann / denn und dieweil / weil, die jedoch vor dem 15. Jahrhundert kaum kausal vorkommen, zeugt davon, dass die Entstehungszeit der vorliegenden Texte am Anfang des Frnhd. zu suchen ist.
4. Fazit Die Kausalität spielt in mittelalterlichen medizinischen Texten eine besondere Rolle: Es mussten die Ursachen für eine Krankheit genannt werden, es mussten alle Umstände beschrieben werden, unter welchen das jeweilige Medikament zu verabreichen war, es mussten Warnungen vor negativen Einflüssen formuliert werden, die die Genesung beeinträchtigen könnten. Dabei ging es nicht nur um die Bezeichnung der unmittelbaren Gründe, sondern um die Darstellung aller möglichen, potenziellen Ursachen. Der vorliegende Beitrag zielte darauf ab, anhand des ‚Olmützer medizinischen Korpus‘ die syntaktischen Möglichkeiten des Frühneuhochdeutschen zur Bezeichnung der kausalen Relation darzustellen, wobei keine statistische Auswertung der tatsächlichen Nutzung angestrebt wurde. Es hat sich gezeigt, dass neben Nebensätzen auch bestimmte Präpositionalphrasen zum Ausdruck der Ursache-Wirkung-Relation dienten. Ihre Verwendung beschränkte sich jedoch nur auf bestimmte Bereiche, wie Formulierung der Ursachen der Krankheit und Beschreibung der Symptome, bzw. Bedingungen für die Indikation eines Medikaments. In diesen Fällen setzte man voraus, dass den Fachleuten (bzw. den fachkundigen Laien) die gegebenen Zusammenhänge bekannt waren und dass nicht alle Bezüge explizit genannt werden mussten. Die Präpositionalphrasen stellen somit eine Art Verallgemeinerung dar, die auf früherem Wissen basierte. Bei der Formulierung der Heilbedingungen verwendeten die Autoren der medizinischen Texte ausschließlich Nebensätze. Der Gebrauch von Nebensätzen ermöglichte es nämlich, den prozessualen Charakter der Behandlung zu vermitteln und erlaubte es auch zusätzliche, für die Heilung wichtige Informationen beizufügen.
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Instruktion Kaiser Maximilians I. vom 7. August 1515 an die Krainer Landstände und ainer ersamen landschaft undertanige
antwort Eine vergleichende syntaktische Untersuchung
Marija Javor Briški (Ljubljana)
1. Einleitung Das Textcorpus der vorliegenden Untersuchung bilden zwei Landtagsakten, die im Staatsarchiv von Slowenien1 aufbewahrt werden. Es handelt sich zum einen um die vom 7. August 1515 in Wien datierte Instruktion Kaiser Maximilians des I. an den Freisinger Bischof Philipp und andere kaiserliche Kommissare der Krainer Landstände und zum anderen um deren Antwortschreiben, das am 24. August 1515 auf dem in Ljubljana gehaltenen Landtag dem Kaiser übermittelt wurde. Die Landstände für Krain rekrutierten sich zunächst aus dem Landadel, Mitte des 15. Jahrhunderts fanden noch die Prälaten Aufnahme und Ende des 15. / Anfang des 16. Jahrhunderts schließlich noch die landesfürstlichen Städte. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts wurden die Landstände vom Landesfürsten auf den sog. Landtagen einberufen, wo sie ihr Mitspracherecht bei der Festlegung von Landessteuern geltend machen konnten. Die Vertreter des Landesfürsten überbrachten den Landständen seine Steuerforderungen. Sie mussten sie zwar mehr oder weniger bewilligen, konnten aber für ihre Zustimmung auch eigene Forderungen heraushandeln.2 Das ist auch den besagten Quellen zu entnehmen. In der vorliegenden Instruktion Kaiser Maximilians geht es vor allem um die Niederschlagung des sog. slowenischen Bauernaufstandes (Windi_____________ 1 2
Signatur: AS, Stan. I, 315 (fasc. 211), rote Registratur 67, 68 und 69. Zum historischen Abriss der Stände vgl. Kološa (1999, 314f.).
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scher Bauernbund)3 von 1515, der insbesondere durch die schlechte wirtschaftliche Lage, die steigenden Robotleistungen und Abgaben der Bauern an ihre Grundherren ausgelöst wurde, und die Bestrafung aller, die an der Rebellion beteiligt waren. Es wurden Geldstrafen verhängt, die Rädelsführer des Aufstandes sollten aber unverzüglich hingerichtet werden. Ein nicht geringeres Anliegen des Kaisers war die Bewilligung außerordentlicher Steuern. Das veranschlagte straff und hilfgelt wollte er, wie in der Instruktion formuliert wird, zu unserm und unser land und leut gemainen nutz gebrauchen. Darunter verstand er die Unterdrückung ‚bäuerlichen Ungehorsams‘, die Sicherung der Grenzen gegen die Venetianer, die Eroberung Friauls und die Verteidigung gegen die Türken. Im Bewusstsein der Gefahr, welche Konsequenzen seine Abwesenheit im Land nach sich ziehen könnte, wenn den Anliegen der Bauern und den Beschwerden des Adels gegen ihre Untertanen kein Gehör geschenkt wird – zumal er sich für sein spätes Eingreifen im Bauernaufstand entschuldigt hatte –, ermächtigte er den Kardinal von Gurk an seiner Statt unverzüglich Abhilfe zu schaffen. Im Antwortschreiben bewilligen die Landstände nach anfänglichen Höflichkeitsbekundungen zwar im Großen und Ganzen die kaiserlichen Forderungen und Direktiven, sie danken ihm für seine Hilfeleistungen, erwarten aber auch gewisse Zugeständnisse des Kaisers. Sie befürworten einspruchslos die Hinrichtung der Anführer des Aufstandes, bei den Geldforderungen wollen sie jedoch die Höhe der Beträge und ihre Bedingungen aushandeln. So sollen beispielsweise die Truppen, falls es bei der Eintreibung der Gelder zu Widerständen kommen sollte, von einem Teil der Einnahmen besoldet werden. Schließlich bringen auch die Landstände ihre Bitten vor: Sie fordern eine harte Bestrafung der aufrührerischen Bauern, die durch Plünderung und Verwüstung von Schlössern, Ermordung von Adligen und andere schwere Delikte große Schuld auf sich geladen haben, die Entschädigung eines gewissen Juryschitsch, dem ihm von einem Adligen anvertraute Schätze geraubt wurden, die Beschlagnahmung aller Waffen in den Händen von Bauern und die Instandsetzung der Fluchtburgen, wo die bäuerliche Bevölkerung bei den Türkeneinfällen Schutz und Zuflucht suchte. Soviel zur inhaltlichen Information über die Texte. Zur Sprache der kaiserlichen Kanzlei gibt es schon einige Studien,4 die sich vor allem mit der Graphematik befassen. Die folgende Untersuchung soll dagegen einige syntaktische Aspekte beleuchten. Sie fokussiert auf die Typen der Nebensätze, die nach semantischem, formalem und satzfunktionalem Aspekt betrachtet werden, die satzäquivalenten Infinitivkon_____________ 3 4
Vgl. Štih / Simoniti / Vodopivec (2008, 133). Wie z.B. Moser (1977) und Tennant (1985).
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struktionen, die Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen, die Arten der Ellipsen und die Inkongruenz des Numerus zwischen Subjekt und Prädikatsverb. Bei der Analyse werden die beiden Quellen gesondert ins Visier genommen und die Ergebnisse abschließend verglichen, um festzustellen, welche Parallelen oder Unterschiede auf syntaktischer Ebene in den Schreibsprachen der beiden Landtagsakten bestehen. Für die vorliegende Analyse wurden nicht die originalen Quellen herangezogen, sondern die von Marija Verbič 5 veröffentlichten Texte. Die Publikation spiegelt nicht die graphematischen Eigentümlichkeiten der Texte wider, weil die Schreibung ‚normalisiert‘ wurde. Dies ist aber bei der Untersuchung der Syntax irrelevant. Die syntaktische Gliederung wurde im Großen und Ganzen durch Setzung von Kommata, Semikola und Punkten schon in der Druckversion der Quellen vorgenommen. Die Herausgeberin hielt sich dabei im Wesentlichen an die Vorlage. 6 Nicht immer entspricht die Interpunktion unserem heutigen Verständnis. So kann beispielsweise der Punkt als rhetorisches Interpunktionszeichen fungieren und muss nicht unbedingt als satzabschließendes Zeichen gedeutet werden, 7 wie folgendes Beispiel zeigt: (1)
Dieweil uns dann zu der hilf und beystand [NS1a], so wir von babstlicher heiligkait, auch dem kunig zu Arrogon und andern unsern pundtsverwondten wider den kunig von Franngkreich und die Venediger vorhanden haben [eNS2a], nott und gepuren wirdet [NS1a/R], mit ainer merklichen anzal kriegsfolk zu veld zuziehen [NS2b/Inf.] , damit der kunig von Frannkhreich [NS3a/Inf.] der nu gericht und berait ist [eNS4a], den Venedigern zu hilf und beystand wider uns und unser erblandt Maylanndt einzunemen [eNS5a/Inf.], zudringen [NS3a/Inf./R], von den Venedigern abzusteen [NS4b/Inf.]. [!] Dardurch wir doch ainst zu ainem endt mit Frannczosen und Venedigern komen mechten [HSI], das uns aber on unser land und leut hilf und zutun kains wegs muglich ist [NS1b], deshalben wir auch unser landt durch ire ausschuss nechst durch bemelten unsern freundt den cardinal umb hilf auf maynung [HSII] wie sy wissen [eNS1c], ernstlich ersuecht [HSII/R], aber dessmals nicht erlangen mugen [HSIII]. 8 (S. 152)
_____________ 5 6 7 8
Verbič (1980, 151ff. u. 156ff). Vgl. ebd., XIX. Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 29). NS bedeutet Nebensatz, die nachfolgenden arabischen Ziffern kennzeichnen den Grad der Abhängigkeit, die Kleinbuchstaben die Nummerierung der Nebensätze gleichen Grades und das e markiert einen eingebetteten Nebensatz. Das R weist auf die Weiterführung eines unterbrochenen Satzes hin. Inf. ist die Abkürzung für Infinitivkonstruktion und HS für Hauptsatz. Die römischen Ziffern kennzeichnen die verschiedenen Hauptsätze in einer Satzperiode.
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Der zitierte Text bildet eine Satzperiode, wobei die vor dem Punkt stehenden ‚Elementarsätze‘9 Nebensätze bzw. satzwertige Infinitivkonstruktionen verschiedenen Grades darstellen, in die zum Teil abhängige Nebensätze eingebettet sind, der erste Hauptsatz steht dagegen erst nach dem Punkt. Die Satzzeichen wurden also in der Analyse, wenn notwendig, revidiert.
2. Typen der Nebensätze 2.1. Instruktion Kaiser Maximilians 2.1.1. Einteilung nach semantischem Aspekt Unter semantischem Gesichtspunkt betrachtet, findet man in der kaiserlichen Instruktion 35 Relativsätze, zehn Komparativsätze, sieben Kausalsätze, sechs Konditionalsätze, fünf Temporalsätze, drei Konzessivsätze, drei Finalsätze, zwei Lokalsätze und einen indirekten Fragesatz. Die satzwertigen Infinitivkonstruktionen wurden bei dieser Auflistung nicht berücksichtigt. Eine Sonderstellung nehmen die sog. mit das eingeleiteten Inhaltssätze ein, die sehr häufig vorkommen (16 NS + 12 HS = 28), bei nahezu der Hälfte handelt es sich um selbstständige Sätze, die einen Befehl zum Ausdruck bringen,10 wie folgendes Beispiel demonstriert: (2)
Das uns ain jeder landtman ... von seinen angesessen holden, ... von ainer jeden hueben drey gulden reinisch und von ainem zuepaw 1 gulden reinisch zu straff der pawrn raichen und volgen lassen, ... , das solh bezallung bescheh in zwayen jaren, nämlich jedlichs jars ain halben tail und darinnen ausgeslossen die verprendten hueben. (S. 152)
2.1.2. Einteilung nach formalem Aspekt Nicht eingeleitete Sätze treten nur selten auf, als Beispiel sei genannt: (3)
... solcher fürsorg ..., √11 die sachen weren p[o]sser und ungestiemmer, auch villeicht unsern landtleuten zuswer worden. (S. 152)
_____________ 9 10 11
Zum Begriff vgl. Admoni (1990, 4f.). Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 419f.). Das Zeichen √ markiert eine Auslassung.
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Einleitungselemente von Relativsätzen sind die Relativpartikel so (19), als (1), damit (1), daselbs (1), die Pronomina der (1), die (3), deren (1), welhe (1) und das Relativum was (1): (4)
Die beswerlich empörung, so sich verschiner zeit von den undertanen und pawrsleuten in unsern furstentumben Steyr, Kärnndten und Crain erwegkt und begeben hat, ... (S. 151)
(5)
wie wir, als uns anlangt, von etlichen verdacht und beschuldigt worden, ... (S. 151)
(6)
... und wir dann nach guetem gligklichen besluss, so wir mit unsern lieben bruedern den kunigen von Hungern und Polhaim hie getan, damit auch uns unsern kynden, landen und leuten vil frucht, eer und guets geschaft haben, ... (S. 152)
(7)
... zueroberung Friaull, daselbs wir als dann von allen nutzen und einkomen des lands Fryaull ain ordinanz wider die Turkhen auch Venediger und die pawrschaften aufrichten wellen, ... (S. 153)
(8)
Item, das all burger in stetten oder merkten, die sich willigklich in pundt ergeben haben, ... (S. 153)
(9)
Welhe desselben verdachts oder ainicher dergleichen reden uber uns gewesst wern, die hetten ... (S. 151)
Komparativsätze werden eingeleitet durch wie (7), als (2) und souil als (1): (10) ... und wir mit der tat bis auf die zeit, wie unser landtleut wissen, nit dargegen fuergenomen haben, ... (S. 152) (11) ... wie wir ... von etlichen verdacht und beschuldigt worden, als sollten wir solher empörung, ungehorsam und beswärlichen furnemen der pawrn willen getragen, und gern zuegesehen haben. (S. 151) (12) Item das uns die stet und burger ... zu guetwilliger stewr und hilf raichen souil als inen zu ainem vierden tail vom 10.000 gulden reinisch ... gepürt ... (S. 153) Einleitende Elemente von Kausalsätzen sind dieweil (3) und dann (1): (13) Dieweil nu der pawrschaft empörung und gewaltige fuernemen von gnaden gots gestillt, ... (S. 152) (14) Welhe desselben verdachts oder ainicher dergleichen reden uber uns gewesst wern, die hetten solhs mit der unwarhait aus ungegrundten won und besten ungetrewm willen getan, dann wir von gnaden gots der vernunft, tugend und adlichem herkomens und gemuets und dauon meer genaigt und begierig sein den adel zuerhorhen, ... (S. 151f.)
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Einleitungselemente von Konditionalsätzen sind: wo (4) und ob (2). (15) Wiewol nu die empörung diser zeit gestillt sein und werden mochten, so ist doch zubesorgen, wo in beruerten beswerungen nit mass und ordnung gesetzt und gehalten, das solh ungehorsam und empörung kunftigklich meer bewegt und ersteen werde. (S. 153) (16) ... ob aber noch etwas unuerrichts verhanden wer, dasselb doch ungezweiflt durch uns, auch unser landtleut kriegsfolk von tag zu tag hingelegt werden mag, ... (S. 152) Die Temporalsätze werden eingeleitet durch die weil (1), so pald (1), bis (1), auf was zeit (1): (17) ... das wir im anfang die weil wir noch oben im reich und mit merklichen hendlen beladen gewesst sein, stäts gemaynt und gehoft haben, ... (S. 152) (18) ... sy mitler zeit, bis wir berait werden und ankomen möchten von irem fuernemen guetlich zu wenden, ... (S. 152) (19) ... sopald und auf was zeit auch an was ort der genannt cardinal den ausschuss beschreiben und erfordern wirdet, das er darauf anziech und erschein, ... (S. 154) Das Einleitungswort von Konzessivsätzen ist wiewol (3): (20) Wiewol nu die empörung diser zeit gestillt sein und werden mochten, so ist doch zubesorgen, ... (S. 153) Die Finalsätze haben folgende Einleitungselemente: das (1) und damit (3). Als Beispiel sei genannt: (21) das ain jeder getrewer abnemen mugen het, uns solh unser land beswerung laid und wider sein. (S. 152) (22) ... die bey iren aiden ... bey yegclichem landtman ... darob und daran sein, damit ain jeclicher die obgeschriben straff und hilfgelt von seinen pawren raichen ... (S. 153) Die beiden in der Instruktion vorkommenden Lokalsätze werden eingeleitet durch wo und an was ort: (23) Item, das all anfänger auch haubtleut, radlfuerer und ursacher diser emporung und pundtnusn, ... wo man die in landen begreifft, on al[le]s berechten gehengkt, und nymer mer begnadt werden. (S. 153) (24) ... an was ort der genannt cardinal den ausschuss beschreiben und erfordern wirdet, das er darauf anziech und erschein, ... (S. 154)
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Das Einleitungselement des einzig vorkommenden Fragesatzes lautet wie: (25) ... erzelen ... wie die pawrsleut bisher mit ungestimben, gewaltigen und groben furnemen wider uns auch die stend unser land beharrt haben zu nachtail und a[b]pruch unser obri[g]kait, herlichaiten auch endtlicher des adels und darzue vil ir selbs der pawrn leyb hab und gueter. (S. 151) 2.1.3. Einteilung nach satzfunktionalem Aspekt Die folgende Aufstellung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, es werden nur die Attribut-, Subjekt- und Objektsätze berücksichtigt. Die Attributsätze kommen 36 Mal vor und bilden die zahlenmäßig stärkste Gruppe. Zumeist werden Attributsätze, was nicht verwunderlich ist, als Relativsätze realisiert (30), nur vereinzelt kommen dafür Infinitivsätze vor – (26) ... zu ainer gedachtnus sich dergleichen ungehorsam hinfur zumassen, auch die pösen mit etwas entgeltnus gegen den gueten zubedeitten. (S. 152) – oder durch das eingeleitete Konjunktionalsätze: (27) ... das der pawrn empörung, ungehorsam und beswerlich furnemen am maysten bewegt und her geflossen sein mechten aus nachfolgenden ursachen, nämblich das sy etwa durch die herschaften in den ordinari renten und diensten gestaigert. (S. 153) Auch der einzige Subjektsatz wird in formaler Hinsicht als Relativsatz realisiert: (28) Welhe desselben verdachts oder ainicher dergleichen reden uber uns gewesst wern, die hetten solhs mit der unwarhait aus ungegrundten won und besten ungetrewm willen getan, ... (S. 151) Recht zahlreich sind Objektsätze (17). Am häufigsten handelt es sich um Konjunktionalsätze, die mit das eingeleitet werden, z.B.: (29) ... die nit genuegsam beybringen mugen, das sy zu iren handlungen genött worden sein, ... (S. 153) Objektsätze sind auch durch Infinitivsätze (7) vertreten: (30) ... wie wir die beruerten straff und hilfgelt unser landtleut undertanen auftzulegen und a[n]zuslagen mainen ... (S. 153)
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Einmal kommt auch ein Relativsatz in der Funktion eines Objektsatzes vor: (31) ... welhe des rechtens uberhaben sein wolten, mit denen mag unser freundt der cardinal selbs oder durch die verordenten einnemer componieren nach seinem guetbedunken. (S. 153) 2.2. Antwort der Landstände 2.2.1. Einteilung nach semantischem Aspekt Im zweiten Text finden sich, unter semantischem Aspekt betrachtet, 38 Relativsätze, 11 Konditionalsätze, zehn Kausalsätze, neun Komparativsätze, drei Finalsätze, zwei Temporalsätze, ein Konzessivsatz und ein Lokalsatz. Auch hier sind Inhaltsätze zahlreich vertreten (20 NS + 4 HS). Wie im ersten Text wurden auch in dieser Auflistung die vielen Infinitivkonstruktionen nicht mit einbezogen. 2.2.2. Einteilung nach formalem Aspekt Wie in der kaiserlichen Instruktion, so kommen auch in der Antwort nur wenige nicht eingeleitete Nebensätze vor, nämlich fünf. Als Beispiel sei genannt: (32) ... demnach ist ainer landschaft undertanigs bittn, √ kay. mt. welln beuelh ausgeen lassen, ... (S. 158) Relativsätze werden eingeleitet durch die Relativpartikeln so (24), daruber (1), darzu (1), alda (1) und die Pronomina die (6), welh(s) (2): (33) ... demnach habn sich die von stettn von ainem yedn besetztn haus, so in irm gerichtszwang gelegn und daruber sy zugepietn habn, ain halbn guldn reinisch zuraychn bewilligt, ... (S. 158) (34) ... das die pawrn all ir weer irn hern und zu den gslossern, darzu sy ir zuflucht habn, antwortn, ... (S. 158) (35) Nachdem auch die pawrn in der turknflucht zu den tabern mit weyb, kindern und guetern lauffn, alda sy von inen an alle widerwartigkait ... die armen leut weeg furn, ... (S. 159) (36) ... das all anfenger, haubtleut, radlfurer und ursacher der empörung und puntnuss der pawrschaft im land, die nit genugsam beybringen mugn, ... an alles berechtn gehenkt und nymermer begenad werden, ... (S. 157)
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(37) ... und welh des rechtn uberhabn mit den mug unser genadigister herr der cardinal von Gurk oder seiner furstlich gnaden verordent componiern nach gutbedunkn, ... (S. 157) Als Einleitungselemente von Konditionalsätzen findet man ob (4), wo (3) und wan (2): (38) ... das ir kay. mt. in dem gsloss Laybach ain zeughaus aufzerichtn verorden, und das mit veldgeschutz, harnasch, helbmpartn und ander weer fursehn tue, ob sich ainigerlay aufrur im land erhebn, sich damit in gegenwer zuschigkhn. (S. 158) (39) Wo aber der angezaygtn ausgab in der bestimbtn zeyt aine erstund, so bittn ain landschaft ... (S. 157) (40) ... doch wan ain aufpot im land ersteet, oder das von den Turkhn oder andern widerwärtigen ain einzug bescheh, das den pawrn alsdan solh wer inen wider zuantwortn beuolhn. (S. 158f.) Bei den Kausalsätzen sind die Einleitungselemente dieweyl (7), nachdem (4) und das (2): (41) Und nachdem ain landschaft, landleut, und irer mt. commissari vor langst verordent das fridgelt einzenemen und dieweyl sy nu den maystn tayl von den urbarsleutn und den andern einpracht, solhs ain landschaft kay. mt. unangezaygt nit lassen welln. (S. 158) (42) Ein ersame landschaft sagt auch irer kay. mt. als irm allergnedigisten herrn undertanign hochn und grossen dank, das ir mt. disem land gegen den puntherrn und radlfurern mit tapfer hilf zu ross und fuess zugeschigkt hat, und das ir mt. solh strafgelt allain irer mt. land und leutn gemainen nutz, bewarung der granitzn gegen den Venedigern und zu erobrung Fryaul brauchn und anlegn welle, ... (S. 158) Einleitungselemente von Komparativsätzen sind wie (5), als (2) und alsuil (1): (43) ... ir kay. mt. welle an dem ain guldn ungrisch wie oben angezaygt ist, genadigklich ersettigt sein, ... (S. 157) (44) ... die sich aus irer leychtfertigkait und unuerstant in irn samlungn offenlich haren lassen, als solten ir kay. mt. ob irm rebell und unpillichn furnemen ... gefalln tragn ... (S. 156f.) (45) Das auch die stett und burger ... zu gutwilliger steur und hilf irer mt. raychn, alsuil inen zu ainem vierdtn tayl von zehen taussent guldn reinisch, ... gepurt, ... (S. 158)
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Finalsätze werden eingeleitet durch damit (3): (46) ... das ir kay. mt. mit den pawrsleutn ... ernstlich verschaffn, damit irer mt. gehorsamer und trewr adl solher grosser und verderblicher schaden durch verhör von angezaygtn pawrn und puntleutn benügn und abtrag beschehe ... (S. 158) Das Einleitungswort des einzigen Temporalsatzes ist als (1): (47) Dieweyl ... auch ditz land in dem venedigischn krieg mit darstrekung leybs und guets gross mitleydung mit irer mt. gehabt, und als die gehorsam hinfur nach allem irm vermugn tuen welln ... (S. 157) Mit wiewol wird der Konzessivsatz eingeleitet: (48) Wiewol ain landschaft ermessen, das die pawrn gar vil mer als drey reinisch guldn ... verschuld hetten ... (S. 157) Das Einleitungselement des Lokalsatzes ist wo (1): (49) ... das all anfenger, haubtleut, radlfurer und ursacher der empörung und puntnuss der pawrschaft im land ... wo man die ergreyfft, an alles berechtn gehenkt und nymermer begenad werden, ... (S. 157) 2.2.3. Einteilung nach satzfunktionalem Aspekt Sehr häufig vertreten sind Attributsätze (ca. 38 Mal), vor allem in Form von Relativsätzen, z.B.: (50) ... das die pawrn gar vil mer als drey reinisch guldn so ir kay. mt. begert verschuld hetten, ... (S. 157) Auch das-Sätze bilden Attributsätze, z.B.: (51) Dieweyl auch die instruction inhelt das ain yetzlicher urbarsman von seiner huebn zu ewiger gedachtnus seinem herrn jarlichn zwen oder drey kreuzer gebn soll ... (S. 157) Subjektsätze sind nicht vorhanden, dagegen findet man relativ häufig Objektsätze (ca. 20 Mal) in der Form von Konjunktionalsätzen – (52) Und als ir kay. mt. in der instruction anzaygt, das all anfenger, haubtleut, radlfurer und ursacher der empörung und puntnuss der pawrschaft im land, ... an alles berechtn gehenkt und nymermer begenad werden, ... (S. 157)
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– oder als Infinitivsätze: (53) ... bittn ain landschaft kay. mt. undertanigklich zubeuelhen, diselbn taber zubereytn ... (S. 159)
3. Nebensatzäquivalente Infinitivkonstruktionen Ohne das Verhältnis von Nebensätzen und satzwertigen Infinitivkonstruktionen im Einzelnen analysieren und die Infinitivsätze in ihrer Vollständigkeit auflisten zu wollen, kann man feststellen, dass in der Instruktion Kaiser Maximilians ca. 30 Infinitivkonstruktionen vorhanden sind, und zwar in der Funktion von Finalsätzen (8), Objektsätzen (6), Ergänzungen eines prädikativen Adjektivs (5) und Ergänzungen eines prädikativen Substantivs (6). Der Anteil an Infinitivkonstruktionen im Vergleich zu den Nebensätzen mit finitem Verb beträgt ungefähr 27 %. In der Antwort der Landstände sind etwa 20 zu finden, davon hat eine die Funktion eines Finalsatzes, 12 sind Objektsätze, zwei Ergänzungen eines prädikativen Adjektivs und drei Ergänzungen eines prädikativen Substantivs. Hier sind die Infinitivkonstruktionen mit einem Anteil von ca. 14 % im Vergleich zur Quote in der kaiserlichen Instruktion schwächer vertreten.
4. Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen 4.1. Instruktion Kaiser Maximilians In den aussagenden Hauptsätzen dominiert die Erst- bzw. Zweitstellung des finiten Verbs, der zweite Prädikatsteil bildet gewöhnlich die Satzklammer. Allerdings kommen auch Ausklammerungen vor, und zwar meist in den Fällen, in denen weitere Satzgefüge folgen, die sich auf den ausgeklammerten Teil beziehen, z.B.: (54) Aber doch so pald wir der pawrn fuernemen vernomen, haben wir unser comissari stäts zu inen verordent, der gueten maynung und hofnung, sy mitler zeit ... von irem fuernemen guetlich zu wenden, und in irn taten aufzuhalten ... (S. 152)
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Von der Erst- bzw. Zweitstellung des finiten Verbs gibt es auch einige Abweichungen, und zwar: •
bei Fortsetzungen von Hauptsätzen, die mit und eingeleitet werden:12 (55) Und sonderlich unsernthalben nit die maynung gewesst ist, wie wir als uns anlangt, von etlichen verdacht und beschuldigt worden, ... (S. 151)
•
bei Sätzen „mit anaphorischem Anschluß an einen vorangehenden Satz“:13 (56) Dardurch wir doch ainst zu ainem endt mit Frannczosen und Venedigern komen mechten, ... (S. 152)
Auch in Nebensätzen treten Ausklammerungen gewöhnlich dann auf, wenn sich hypotaktische Satzkonstruktionen daran anschließen, z.B.: (57) ... das der pawrn empörung, ungehorsam und beswerlich furnemen am maysten bewegt und her geflossen sein mechten aus nachfolgenden ursachen, nämblich das sy etwa durch die herschaften in den ordinari renten und diensten gestaigert. (S. 153) 4.2. Antwort der Landstände Im Antwortschreiben der Landstände entspricht die Verbstellung in den aussagenden Hauptsätzen in fast allen Fällen der Regel, nur einmal findet man eine Ausklammerung: (58) ... mit den mug unser genadigister herr der cardinal von Gurk oder seiner furstlich gnaden verordent componiern nach gutbedunkn, ... (S. 157) Es handelt sich hier um die Ausklammerung einer adverbialen Bestimmung, allerdings findet der Satz keine Fortsetzung durch untergeordnete Glied(teil)sätze. Vereinzelt (ca. vier Mal) findet man Spitzenstellung des Verbs bei Weglassung des expletiven es: (59) Ist an ir kay. mt. ainer ersamen landschaft undertanigs bittn, ir kay. mt. welle ... (S. 157)
_____________ 12 13
Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 431). Ebd., 431.
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5. Arten der Ellipsen 5.1. Instruktion Kaiser Maximilians Im Text kommen bisweilen sowohl afinite Ellipsen (6 NS + 2 HS) als auch Auslassungen von Subjektpronomen vor. Auxiliar-Ellipsen findet man neben Vermeidungen von Repetitionen des finiten Verbs bei Passivkonstruktionen und Prädikaten, die mit sein gebildet werden, oder beim Perfekt:14 (60) ... wo die tat und straf darüber fuergenomen und gepraucht und sonderlich wir nit gegenwirtig gewest ... (S. 152) (61) Aber doch so pald wir der pawrn fuernemen vernomen, haben wir unser comissari stäts zu inen verordent, ... (S. 152) Beim letzten Beispiel wurde die Einsparung des Hilfsverbs haben im Nebensatz wohl aus stilistischen Gründen favorisiert, um eine direkt anschließende Wiederholung des gleichen Hilfsverbs zu vermeiden. Das Subjektpronomen wir wird einige Male (ca. vier Mal) ausgelassen, es bezieht sich auf die kay. mt.: (62) ... darinnen √ auch mit unsern landen und leuten gnedig mitleiden getragen haben. (S. 151) 5.2. Antwort der Landstände Als stilistisches Merkmal auffallend sind die im Vergleich zur Instruktion sehr häufig vorkommenden afiniten Ellipsen (über 30) bei Passiv- und Perfektbildungen, die gewissermaßen eher die Regel als die Ausnahme sind: (63) Das auch die stett und burger, so nit im punt gewesen √ , zu gutwilliger steur und hilf irer mt. raychn, alsuil inen zu ainem vierdtn tayl von zehen taussent guldn reinisch, wo ain solhe suma durch ain landschaft angeslagn √ gepurt, darinen (√ ) berürter unser gnadigister herr der cardinal auch nach vermugn mit bisher in anslegn beieinander gestanden und nach irm vermugn gleyche gepurt getragn (√ ), ... (S. 158) Die Auslassung des expletiven Pronomens es (4) führt, wie schon erwähnt, in den aussagenden Hauptsätzen zur Spitzenstellung des finiten Verbs. _____________ 14
Vgl. ebd., 440f.
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6. Inkongruenz des Numerus zwischen Subjekt und Prädikatsverb 6.1. Instruktion Kaiser Maximilians Bezüglich des Numerus treten in Maximilans Anordnung bei jeder / jeclicher landtman (2), ainigerlay aufrur (1) und empörung (1) Inkongruenzen auf. Hier steht die plurale Verbform, weil das Subjekt, das formal ein Singular ist, durch Gebrauch der Pronomen als Gattung aufgefasst werden kann oder weil es kollektive Bedeutung hat.15 6.2. Antwort der Landstände Relativ häufig (17 Mal) ist dagegen die Inkongruenz des Numerus zwischen Subjekt und Prädikatsverb im Antwortschreiben der Krainer Landstände zu finden, und zwar bei folgenden Wörtern: jeder landman (1), yetzlicher urbarsman (1), landschaft (10), kay. mt. (5). Die Wörter landman und urbarsman vertreten durch die vorangestellten Pronomen eine Gattung, weswegen die Pluralform beim Verb verwendet wird,16 landschaft hat dagegen kollektive Bedeutung. Die Pluralform bei kay. mt. steht bekanntlich als Ausdruck der Höflichkeit und Ehrerbietung, doch konkurriert die Pluralform hier mit der Singularform, die sogar überwiegt (7).
7. Zusammenfassung In Bezug auf die Typen der Nebensätze, hat die Analyse ergeben, dass in beiden Texten die Relativsätze bei weitem die zahlreichsten sind, gefolgt werden sie von den Komparativsätzen in der Instruktion und den Konditionalsätzen im Antwortschreiben. Die Kausalsätze stehen, was die Häufigkeit anbelangt, in beiden Quellen an dritter Stelle, gefolgt werden sie von den Konditionalsätzen im kaiserlichen Schreiben und von den Komparativsätzen in der Mitteilung der Krainer Landstände. Nichteingeleitete Nebensätze sind in beiden Schriftstücken ein Ausnahmefall. Als Einleitungselement dominiert bei den Relativsätzen sowohl im ersten als auch im zweiten Text mit großem Vorsprung die Relativpartikel _____________ 15 16
Vgl. ebd., 422f. Vgl. ebd.
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so, die vor allem für die frühneuhochdeutsche Kanzleisprache typisch ist.17 Alle anderen Einleitungselemente kommen mehr oder weniger vereinzelt vor. Komparativsätze werden in beiden Landtagsakten vornehmlich durch wie eingeleitet, mit als dagegen nur zweimal. Bei den Kausalsätzen ist in beiden Fällen die für die Zeit zwischen 1400 und 1550 typische18 Konjunktion dieweil / dieweyl vorherrschend. Die häufigste Einleitung in Maximilians Anweisung bildet bei Konditionalsätzen wo, vor allem dann, wenn der Nebensatz vorangestellt ist,19 an zweiter Stelle folgt ob, eine Konjunktion, die im Frühneuhochdeutschen vor allem in dieser Funktion verwendet wird.20 Beim Antwortschreiben liegt dagegen die umgekehrte Reihenfolge vor, allerdings halten sich beide Einleitungswörter die Waage, so dass ein großer Unterschied in der Verteilung nicht festgestellt werden kann. Unter satzfunktionalem Aspekt überwiegen in beiden Quellen bei weitem die Attributsätze, die formal vor allem als Relativsätze realisiert werden, stark vertreten sind auch die Objektsätze insbesondere als sog. das-Sätze. Der Anteil an satzwertigen Infinitivkonstruktionen ist in Maximilians Schreiben höher als im Antwortschreiben der Landstände. In der Instruktion haben sie vor allem die Funktion von Finalsätzen. In dieser Funktion ist die Infinitivkonstruktion im Antwortschreiben nur einmal vertreten, was auf dessen Inhalt und den Texttyp zurückzuführen ist. Objektsätze in Form von Infinitivsätzen kommen dagegen in beiden Quellen relativ häufig vor. Was die Verbstellung anbelangt, so ist in der kaiserlichen Instruktion bei aussagenden Hauptsätzen die Erst- bzw. Zweitstellung des finiten Verbs vorherrschend und die Bildung des Satzrahmens durch Endstellung des zweiten Prädikatsteils. Nur selten findet man Ausklammerungen, hauptsächlich bei hypotaktischer Weiterführung der Sätze, was auch bei Nebensätzen der Fall ist. Eine Ausklammerung ist im Antwortschreiben nur einmal zu finden. Wenn auch vereinzelt vorkommend, bildet die nur im Antwortschreiben auftretende Spitzenstellung des finiten Verbs durch Auslassung des expletiven es ein interessantes stilistisches Merkmal. Stilprägend sind im Antwortschreiben der krainischen Landstände die zeittypischen,21 sehr häufig vorkommenden afiniten Ellipsen bei Passivund Perfektbildungen, während sie in der kaiserlichen Instruktion nicht so zahlreich vertreten sind. _____________ 17 18 19 20 21
Vgl. ebd., 447 u. Erben (1985, 1342). Vgl. Ebert / Reichmann / Solms / Wegera (1993, 473). Vgl. die Verteilungstabelle in Rieck (1977, 204). Vgl. Rieck (1977, 150). Vgl. Erben (1985, 1342f.).
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Inkongruenzen des Numerus zwischen Subjekt und Prädikatsverb treten in beiden Texten auf. Bei einigen der Form nach singulären Nomina wird die Pluralform beim Verb gebraucht, weil sie als Gattung aufgefasst werden oder kollektive Bedeutung haben. Interessant ist die im Antwortschreiben vorherrschende Kongruenz zwischen dem Titel kay. mt. und der finiten singularen Verbform, was dem Usus der kaiserlichen Kanzlei wohl eher widerspricht. Eine detaillierte Auswertung der komplexen Satzkonstruktionen steht noch aus, doch kann man auf einen Blick erkennen, dass Satzgefüge mit Nebensätzen verschiedenen Grades vorherrschend sind, vor allem in den Argumentationsteilen. Die Beschlüsse der kaiserlichen Instruktion stehen dagegen in Form von Hauptsätzen. Die prä-, post- oder interpositiv stehenden Nebensätze zum Teil verschiedenen Grades und die sog. ‚gesteigerten gestreckten Satzgefüge‘22 führen zu unübersichtlichen Verschachtelungen. In der Untersuchung nicht erwähnt wurden einige, wenn auch wenige sprachliche Unstimmigkeiten im Antwortschreiben, wie grammatische Fehler, unübliche Wiederholung desselben Subjekts und nicht logische Satzkonstruktionen, was auf einen weniger geübten Schreiber und den Konzeptcharakter der Quelle hindeutet. Die obige Analyse hat gezeigt, dass die untersuchten Quellen sowohl Parallelen als auch Unterschiede in der Schreibsprache aufweisen. Die Gemeinsamkeiten sind wohl eher auf die mehr oder weniger wörtliche Übernahme von Textstellen der kaiserlichen Instruktion im Antwortschreiben zurückzuführen als auf einen Einfluss der Kanzleisprache Kaiser Maximilians I.23 Um überhaupt von Einflüssen sprechen zu können, müssten noch weitere, nicht nur die Syntax umfassende Untersuchungen vorgenommen werden.
_____________ 22 23
Zum Begriff vgl. Admoni, zit. n. Betten (1987, 159). Tennant steht aufgrund ihrer Untersuchungen einer schreibsprachlichen Führungsrolle der Kanzleisprache Maximilians eher kritisch gegenüber; vgl. Tennant (1985, 130ff.).
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Quellen Verbič, Marija (Hrsg.) (1980), Deželnozborski spisi kranjskih stanov, Bd. 1, Ljubljana.
Literatur Admoni, Wladimir (1990), Historische Syntax des Deutschen, Tübingen. Betten, Anne (1987), Grundzüge der Prosasyntax. Stilprägende Entwicklungen vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen, Tübingen. Ebert, Robert Peter / Reichmann, Oskar / Solms, Hans-Joachim / Wegera, KlausPeter (1993), Frühneuhochdeutsche Grammatik, Tübingen. Erben, Johannes (1985), „Syntax des Frühneuhochdeutschen“, in: Werner Besch / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Bd. 2.2, Berlin, New York, 13411348. Kološa, Vladimir (Hrsg.) (1999), Vodnik po fondih in zbirkah Arhiva Republike Slovenije, Bd. I, Ljubljana. Moser, Hans (1977), Die Kanzlei Kaiser Maximilians I. Graphematik eines Schreibusus, Innsbruck. Rieck, Susanne (1977), Untersuchungen zu Bestand und Varianz der Konjunktionen im Frühneuhochdeutschen, Heidelberg. Štih, Peter / Simoniti, Vasko / Vodopivec, Peter (2008), Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz. Tennant, Elaine C. (1985), The Habsburg Chancery Language in Perspective, Berkeley, Los Angeles, London.
Sprachliche Besonderheiten der Fehdekommunikation – Ehre und Öffentlichkeit in der Fehde des späten Mittelalters Eckhard Weber (Valencia)
1. Fehdekommunikation im Spätmittelalter „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien“.1 Mit Blick auf das Mittelalter wurde vorgeschlagen dieses berühmte Zitat von Heraklit umzuschreiben und Krieg mit Fehde zu ersetzen. Denn die historische wie rechtshistorische Forschung hat gezeigt, welche zentrale Rolle die Fehde in der mittelalterlichen Realität einnahm. Kontrovers diskutiert wurde und wird aber, welche rechtliche, politische, wirtschaftliche oder auch soziale Qualität die Fehde im Mittelalter hatte. Lange wurde die Fehde als Faustrecht, als Recht des Stärkeren gedeutet und der Fehde führende mittelalterliche Ritter wurde als Raubritter eingestuft, auch wenn diese Bezeichnung in den Quellen nicht belegt ist.2 Im Blick auf unseren Untersuchungszeitraum, das 15. Jahrhundert, hat die Raubritterthese durch die Diskussion über das Spätmittelalter als eine Epoche der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung, die der ungehemmten Gewaltanwendung besonders von Seiten des Niederadels Vorschub geleistet habe, eine gewisse Renaissance erfahren.3 Die Rede vom Spätmittelalter als einer Zeit der Krise am Übergang zur Neuzeit ist bis in die Gegenwart ein gängiges Deutungsmuster. Als Beispiel mag Erich von Meuthens Handbuch über Das 15. Jahrhundert genügen, wo es heißt: _____________ 1 2 3
Diels (1951, 162, Fragment 53). Vgl. Rösener (1982, 469ff.). Vgl. Rothert (1940, 145ff.); Rösener (1982, 469-488).
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Das Spätmittelalter ist insgesamt eine in höchstem Maße gewalttätige Epoche gewesen. [...] Die Kriegslust des Feudaladels kann dabei durchaus als Hoffnung zu verstehen sein, seine sozialökonomischen Schwierigkeiten in dem ihm standeseigenen Kriegerberuf zu meistern. Beliebte Opfer waren Kaufleute und Städte, die Träger der handelswirtschaftlichen Bedrohung landadeliger Existenz.4
Die pauschale Annahme einer allgemeinen Verarmung des Niederadels und seiner Verdrängung in die politische Bedeutungslosigkeit hat sich jedoch nicht als haltbar erwiesen. Die Übergangsphase vom mittelalterlichen Personenverbandstaat zum frühneuzeitlichen Territorialstaat bot auch dem Niederadel Möglichkeiten, sich den veränderten Bedingungen anzupassen, was zu einem Differenzierungsprozess innerhalb des Adels geführt hat.5 Zudem konnte gezeigt werden, dass sich der Aufbau der fürstlichen Territorialstaaten gerade mit den Mitteln der Fehdeführung vollzog. So kann die spätmittelalterliche Fehdepraxis auch als politisches und soziales Phänomen gedeutet werden, das entscheidend zur Strukturierung und Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnung des Spätmittelalters beitrug.6 Ganz im Gegensatz zur Deutung der Fehdeführung als Raubrittertum wird heute meist die rechtliche Bedeutung der Fehde hervorgehoben. Demnach gilt die mittelalterliche Fehde als die in der Rechtsgewohnheit verankerte, zur Klage vor Gericht bzw. Schiedsgericht oder Zweikampf zumindest subsidiär alternative und legitime Selbsthilfe zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen. Die Anwendung von Gewalt bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen, mittels der dem Fehdegegner Schaden zugefügt werden konnte, war im Rahmen einer Fehde also legitim. Betont wird dabei die Alterität des Mittelalters, das noch kein staatliches Gewaltmonopol kannte und dessen Rechtssystem stark von Rechtsgewohnheiten geprägt war.7 Eine Gesellschaft, welche ihren Angehörigen nicht [...] zu ihrem Recht verhelfen kann, weil sie weder über die nötigen Machtmittel noch über einen entsprechenden Verwaltungsapparat verfügt, die also den für eine konsequente Verbrechensverfolgung nötigen ‚Gesamtwillen‘ nicht bilden kann, muss dem Verletzten weitgehend das Recht zur Selbsthilfe lassen, soll die verletzte Ordnung wiederhergestellt werden.8
Als rechtliches Institut wird die Fehde auch in den Gottes- und Landfrieden des 11. bis 15. Jahrhunderts behandelt. Hier tritt die Fehde aber in _____________ 4 5 6 7 8
Von Meuthen (1996, 11f.). Vgl. Görner (1987); Zmora (1997). Vgl. Algazi (1995, 39ff.); ders. (1996). Algazis Arbeiten wurden besonders wegen ihrer zu schmal angelegten Quellengrundlage kritisiert. Vgl. Graf (1998); Morsel (1996, 140ff.). Vgl. besonders Brunner (1973); Obenaus (1961); Patschovsky (1997, 145ff.); Fischer (2000, 123-ff.). Kaufmann (1971, Sp. 1084).
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erster Linie als etwas auf, das es zu beschränken gilt, indem ihre Legitimität an die Einhaltung bestimmter Formen gebunden wird. Als Elemente eines solchen technischen Fehderechts sind das Vorliegen eines Rechtsgrundes, die Rechtsverweigerung durch alternative Rechtsinstitute, die öffentliche schriftliche Ankündigung der Fehde sowie die Einhaltung einer Frist von drei Tagen vor Beginn der Kampfhandlungen zu nennen. Das neue Friedenskonzept der Landfrieden formulierte jedoch einen SollZustand, der für seine Realisierung des Strukturwandels vom mittelalterlichen Personenverband zum Staat neuzeitlicher Prägung bedurfte. Insofern blieben die Regelungen der Landfrieden bis zum Ausgang des Spätmittelalters hauptsächlich Programm.9 Wie sehr die Rechtsgewohnheit der Fehdeführung trotz der Regelungen der Landfrieden ein Strukturelement der mittelalterlichen Verfassungswirklichkeit war, zeigt sich insbesondere daran, dass der Aufbau eines neuzeitlichen Gewaltmonopols selbst mit den Mitteln des Fehdewesens, dem – wenn nicht Vater aller Dinge, dann doch zumindest – „Motor der modernen Welt“ erreicht wurde.10 Für den mittelalterlichen Kommunikationsstil ganz allgemein wurde hervorgehoben, dass er einen ritualisierten Charakter aufweist und immer im Bezug zur Öffentlichkeit steht. Durch die öffentliche „Inszenierung“ und „Demonstration“ mittels nicht-sprachlicher und sprachlicher Handlungen erhielten die in den Vorverhandlungen getroffenen Absprachen ein höchstes Maß an Verbindlichkeit.11 Der wechselseitige Bezug von Ehre, Recht und Öffentlichkeit wird bei der Fehde besonders deutlich. Denn jeder mittelalterliche Rechtsstreit wird öffentlich ausgetragen und ist dem Urteil der Öffentlichkeit ausgesetzt.12 Diese Tendenz zur Öffentlichkeit bedingt eine starke Bindung der Parteien. In der von Rechtsgewohnheiten, die auf Konsensbildung innerhalb der Rechtsgemeinschaft abzielen,13 gekennzeichneten mittelalterlichen Gesellschaft musste sich folglich alles politische und rechtliche Handeln vor der Instanz der Öffentlichkeit rechtfertigen.14 Öffentlichkeit konstituiert sich im Mittelalter nach den Prinzipien der Situativität und Präsenz und kann somit okkasionell genannt werden.15 Für die spätmittelalterliche Fehde gilt also: Die Anerkennung eines subjektiven Rechtsanspruches, der mittels einer Fehde durchgesetzt wer_____________ 9 10 11 12 13 14 15
Vgl. Gernhuber (1952, 73ff.); Buschmann (2002, 95ff.); Götz (2002, 31ff.). Patschovsky (1997, 169). Vgl. den Sammelband von Althoff (1997); ders. (1998, 154ff.); ders. (1999, 1ff.); Kamp (1996, 675ff.). Vgl. Obenaus (1961, 67). Vgl. zum Thema Rechtsgewohnheit Schulze (1992, 9ff.); Dilcher (1992, 21ff.). Vgl. Thum (1990, 65ff.). Vgl. ebd., 65ff., besonders 65-72; vgl. Patschovsky (1997, 152).
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den sollte, und die Legitimität der Fehdeführung entschieden sich im Wesentlichen erst durch die Konsensbildung vor dieser Instanz. Dies setzte aber auch ein hohes Maß an Kommunikation voraus. Der Diskurs der Ehre nimmt dabei eine zentrale Rolle ein: Zum einen wird gegen die Handlungen der gegnerischen Partei polemisiert und zum anderen die Ehrenhaftigkeit und somit Legitimität der eigenen Position zum Ausdruck gebracht sowie um ihre Anerkennung vor der Entscheidungsinstanz Öffentlichkeit geworben.16 Der „Kampf um die Gunst der öffentlichen Meinung“17 muss daher als ein wesentliches Element der spätmittelalterlichen Fehdeführung betrachtet werden.18 Der Bezug zur Öffentlichkeit ist aber auch schon in der mittelalterlichen Konzeption von adeliger Ehre selbst gegeben, die in erster Linie immer Standesehre und somit an den Konsens der öffentlichen Meinung der Adelsgesellschaft geknüpft war.19 In einem Zwischenresümee kann somit festgehalten werden: 1. Im allgemeinsten Sinn fällt unter Fehde jede Art der gewaltsamen Selbsthilfe [...], mithin jede Form von eigenmächtiger Gewalt, die im Fall einer Rechtsverletzung von der verletzten Seite angewandt wird, um eine Wiederherstellung des Rechts durch Vergeltung, Genugtuung oder Sühne zu erreichen.20
2. Mittels Fehdeführung konnten zwar auch wirtschaftliche, soziale oder politische Ziele verfolgt werden, in erster Linie ist die Fehde aber der Sphäre des Rechts zuzuordnen. 3. Die in den Landfrieden versuchte Beschränkung des Fehderechts speist sich aus der römisch-kanonischen Rechtskonzeption, sie blieb aber hauptsächlich Programm, solange dem Staat die Exekutionsorgane nicht zur Verfügung standen. 4. Mit den in den Landfrieden formulierten Friedenskonzepten konkurriert im Rechtsverständnis des deutschen Mittelalters die Rechtsgewohnheit, die das Recht auf Fehdeführung prinzipiell anerkannte. 5. Die Rechtsgewohnheit hebt dabei auf Konsensbildung vor einer relevanten Öffentlichkeit ab. Die legitime Fehde konstituiert sich also nicht nur aus der Einhaltung des in den Landfrieden formulierten _____________ 16 17 18 19
20
Vgl. Althoff (1993, 49f.); Morsel (1996,160f.); Zmora (1995, 92ff.). Graf (1997, 177). Vgl. Obenaus (1961, 68). Vgl. Zmora (1995, 100); Moeglin (1995, 77): „Ehre (honor) kann als ideelles Kapital an öffentlicher Achtung begriffen werden, das ein Mensch aufgrund seiner sozialen Stellung und seiner politischen Rolle zu beanspruchen vermag.“ Wadle (1999, 74).
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Fehderechts, sondern auch und vor allem durch den Konsens der Öffentlichkeit. 6. Zur Herstellung dieser Öffentlichkeit wird in der Fehdepraxis des Spätmittelalters ein enormer Aufwand an Kommunikation getrieben: durch die Produktion zahlreicher Schriften bzw. Briefe, in denen für die eigene Rechtsauffassung geworben wird und die oft nicht nur an die gegnerische Partei, sondern auch an weitere für die Konsensbildung in der Öffentlichkeit relevante Parteien verschickt werden. Auch im formalen Regelwerk der Landfrieden wird das Prinzip der Herstellung von Öffentlichkeit in der Pflicht zur „Verklarung“, also der öffentlichen Ansage der Fehde greifbar. 7. Öffentlichkeit und Recht stehen im engen Bezug zum mittelalterlichen Ehrbegriff. Der Diskurs der Ehre nimmt in den Fehdebriefen daher eine zentrale Rolle ein. Angesichts der großen Bedeutung von Kommunikation in der Fehdepraxis und der Herstellung von Öffentlichkeit liegt es auf der Hand, dass sich hier auch ein Forschungsfeld für die historische Pragmatik anbietet. Ihre Aufgabe ist die Rekonstruktion der kommunikativen Handlungsebenen in einzelnen Texten, hinter denen freilich allgemeinere Möglichkeiten des sprachlichen Handelns in bestimmten historischen Konstellationen (einschließlich ihrer flexiblen Ausgestaltung und Veränderbarkeit) sichtbar gemacht werden müßten.21
Es wurde vorgeschlagen, die Fehde als komplexes Handlungsmuster22 aufzufassen, das aus sprachlichen wie auch aus nicht-sprachlichen Handlungen besteht. Dabei werden ganze soziale Netze aktiviert oder sind zumindest betroffen. Neben den fehdeführenden Kontrahenten sind das zum einen Fehdehelfer, die die jeweilige Position einer Konfliktpartei rhetorisch oder tatkräftig, etwa als Boten oder Mitkämpfer, unterstützen. Zum anderen können Vermittler eingeschaltet werden, die möglicherweise von beiden Parteien als neutrale Schiedsrichter anerkannt werden. Zuletzt sind die von den Schadenshandlungen direkt Betroffenen zu nennen, wie Bauern, Hintersassen und Stadtbürger. Zudem konnte die für die mittelalterliche Gesellschaft so charakteristische Organisation im auf dem Lehenssystem beruhenden Personenverband dazu führen, dass aus einem begrenzten ein Konflikt in weit größerem politischen Maßstab wurde. Ein Handlungsmodell der Fehde muss also alle Kommunikationsteilnehmer einbeziehen, nur so kann es der Komplexität des Fehdegeschehens gerecht werden. _____________ 21 22
Cherubim (1998, 541f.). Im Folgenden vgl. Janich / Weber (2004, 163ff.).
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Der prototypische Verlauf einer Fehde stellt sich wie folgt dar: 1. Jede Fehde hat eine Vorgeschichte, die einen zumindest subjektiven Rechtsgrund (für Klagen, Verhandlungen oder schließlich die Fehdeeröffnung) liefert. 2. Auf diese Vorgeschichte folgen meist Verhandlungen der Konfliktparteien und / oder Klagebriefe, in denen gegenüber dem Gegner aber auch vor allem gegenüber Dritten der eigene Rechtsanspruch dargestellt wird. 3. Für die legitime Fehde von zentraler Bedeutung ist die darauf folgende Fehdeankündigung in Form der schriftlichen Absage / Widersage, die den Schädigungshandlungen vorausgehen muss. Auch diese kann zugleich Dritten zugesendet werden, um die nötige Öffentlichkeit zu schaffen. 4. Auf die Fehdeabsage erfolgt normalerweise eine Reaktion des Beschuldigten und darauf wieder entsprechende Gegenreaktionen. Diese Phase kann verschiedene Handlungen umfassen: •
gegenseitige materielle Schädigungen durch nicht-sprachliche Handlungen,
•
direkte mündliche und / oder indirekte schriftliche Verhandlungen,
•
Austrag des Rechtstreits durch Schiedsgericht oder gerichtlichen Zweikampf,
•
Unterbrechung der Fehde durch verabredete Friedenszeiten in der Form des Handfriedens.
Diese Phase kann Handlungswiederholungen sowie parallele Handlungsstränge aufweisen. Im konkreten Fall hängt das davon ab, ob einzelne Handlungen scheitern oder erfolgreich sind. 5. Die Beendigung der Fehde erfolgt entweder durch die Urfehde, in der mittels Schwur auf zukünftige Feindschaft verzichtet wird, und / oder durch die Sühne, einem Vertrag der die Schadensersatzverpflichtungen regelt. Sprachliche Handlungen innerhalb dieses Handlungsmusters sind zum Beispiel die schriftliche Fehdeankündigung, Verhandlungen mit dem Fehdegegner oder das Schwören einer Urfehde zur Beilegung der Fehde. Nicht-sprachliche Handlungen vollziehen sich hauptsächlich im so genannten Schädigen, wie Belagern, Plündern, Kämpfen oder Brandschatzen. Für die Bewertung der Fehdeführung als legitim und damit für die
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Abgrenzung von kriminellen Gewalttaten sind aber die sprachlichen Handlungen, die auf Rechtsdurchsetzung durch Konsensbildung abzielen, entscheidend. Solche für die Fehdeführung konstitutiven Sprachhandlungen möchte ich nun in fünf Thesen23 nennen und anhand möglichst typischer Textbeispiele eine kurze Analyse der sprachlichen Haupt- und Teilhandlungen vornehmen.
2. Thesen zur Konstitution von Sprachhandlungen in der Fehdeführung These 1: Durch die schriftliche Fehdeankündigung kann der Fehdeführende seinen Anspruch auf Rechtmäßigkeit bekräftigen. Textbeispiel 1: Brief Heinrichs von Seckendorf an den Markgrafen Friedrich von Brandenburg, 30. Juni 1420. Hochgeporner fürst und vnnd Her Markgraf Fridrich von Brandenburg vnd Burggraf zu Nurenberg. Ich laz euch wissn, daz ich der von Leumdorf feint pin vmb solchen vnrechtz vnnd mutwillen wegen, den sy an meiner mume Arnolcz weip von Tristhof gethan haben [...] so wist, daz ich Heinrich von Seckendorf, den man nent den Egerstdorfer, eur vnnd aller der euren feint sein will, aussgenommen de ur diner, on dy amptleut, deren feint will ich auch sein von euren wegen, und alle meine knecht, dy itzund hab oder noch gewinen mag vnnd alle dy ich uf euren schaden bringen mag, vnnd wil auch dez also meine ere gen euch vnd gen den euren amptleuten bewart haben. (Codex diplomaticus brandenburgensis, 162)
Die Haupthandlung – Ankündigung der Fehde –, die öffentlich erfolgen muss (vgl. Verklarungspflicht) ist gegliedert in mehrere Teilhandlungen: •
Nennung der Fehdeparteien bzw. von Absender und seiner Fehdehelfer sowie von Adressat und weiteren Betroffenen sowie Erklärung der Feindschaft: Hochgeporner fürst und vnnd Her Markgraf Fridrich von Brandenburg vnd Burggraf zu Nurenberg. Ich laz euch wissn, daz ich der von Leumdorf feint pin / so wist, daz ich Heinrich von Seckendorf, den man nent den Egerstdorfer, eur vnnd aller der euren feint sein will, aussgenommen de ur diner, on dy amptleut, deren feint will ich auch sein von euren wegen, und alle meine geprot knecht, dy itzund hab oder noch gewinen mag
•
Benennung des Rechtgrundes bzw. des erlittenen Unrechts:
_____________ 23
Vgl. ebd., 167f.
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vmb solchen vnrechtz vnnd mutwillen wegen, den sy an meiner mume Arnolcz weip von Tristhof gethan haben •
Schaden androhen: vnnd alle dy ich uf euren schaden bringen mag
•
Bewahrung der Ehre: vnnd wil auch dez also meine ere gen euch vnd gen den euren amptleuten bewart haben.
These 2: Durch vorhergehende oder den Fehdeverlauf begleitende Klagebriefe an weitere Parteien kann die für die Konsensfindung nötige Öffentlichkeit geschaffen werden. Textbeispiel 2: Schreiben Herzogs Ludwig von Bayern-Ingolstadt an alle Reichsstände, 12. Mai 1420. Allen fursten, herren, Grauen, freyen rittern, knechten, Steten, Märckten, gemeinden vnd allen anderen, den diser vnser briefe von vnsern wegen furpracht wirdt, Embieten wir Ludwig, von gotes genaden pfalczgraf bej Rein, herczog in Bayern vnd Graf zu Mortain [...] vnser fruntlich dinst, gunstlichen grus vnd alles gut zuuor. Als wir ew vor geschriben und zu erchennen gegeben haben den Newlich hochgemachten, vnendlichen, lugenhaftigen man, treulosen Burggraue von Nürmberg, ein glosirer der warhait zu lügen vnd der lüg zu warhait, der sich nennet Markgrauen von Brandenburg, der hat vns auf vnser ware schrift, als wir In beschuldigen [...] yeczo aber aus seiner alten gewurcelten poszheit geschriben, dieselben sein schrift er ew villeicht gesannt hat und horn lat, die doch all erticht und schalklich lüg sind, als vil der unser ere, wird und gelimpfen berührend. [...] Aus den vorgenannten vnsern waren geschriften vnd rechtlichen geboten, die wir zu volligem und entlichen austrag dem offt benanten, vnendlichen, lugenhaften, treulosen mann geboten haben und bieten, den er bis her von seiner poszhait wegen nye nach kommen getarste, hoffen wir, das Ir alle vnd ewr iglicher aigenlicher mercken sülle, das vnser schrift die gancz warhait ist. [...] So wellen wir darczu antwurten, das wir hoffen, das vnser ere, sein schand vnd darczu gleich sey. (Codex diplomaticus brandenburgensis, 161f.)
Die Haupthandlung dieser Klageschrift ist das Werben für den eigenen Rechtsstandpunkt. Relevante Teilhandlungen sind: •
Schaffung einer möglichst breiten Öffentlichkeit durch Adressierung an Dritte: Allen fursten, herren, Grauen, freyen rittern, knechten, Steten, Märckten, gemeinden vnd allen anderen, den diser vnser briefe von vnsern wegen furpracht wirdt
•
Ehrverletzende Schmähung des Fehdegegners: den Newlich hochgemachten, vnendlichen, lugenhaftigen man, treulosen Burggraue von Nürmberg, ein glosirer der warhait zu lügen vnd der lüg zu warhait/ yeczo aber aus seiner alten gewurcelten poszheit geschriben, dieselben sein schrift er ew villeicht gesannt hat und horn lat, die doch all erticht
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und schalklich lüg sind/ dem offt benanten, vnendlichen, Newfundigen, lugenhaften, treulosen •
Feststellung / Behauptung der eigenen ehrenhaften Position: als vil der unser ere, wird und gelimpfen berührend/ So wellen wir darczu antwurten, das wir hoffen, das vnser ere, sein schand vnd darczu gleich sey.
•
Angebot zum Rechtsaustrag: Aus den vorgenannten vnsern waren geschriften vnd rechtlichen geboten, die wir zu volligem und entlichen austrag [...] geboten haben und bieten
These 3: .Auch der Fehdegegner kann seinen Rechtsanspruch und seine Ehre nur dadurch bewahren, dass er sich auch gegenüber dritten rechtfertigt und Gegendarstellungen liefert oder gegebenenfalls Gegenforderungen stellt. Textbeispiel 3: Brief des Erzbischofs Johann von Mainz an die Stadt Frankfurt a. M., 6. August 1404. Iohann erzbischoff zu Mencze. Ersamen burgermeister, raid und burgere zu Franckenford. [...] Wir clagen uch mit clegelicher ernstlicher clage von den marggraven von Missen mit namen marggrave Balthazar, marggrave Wilhelm deme eltern sime brudere, marggrave Fryderich deme eltern und marggrave Fryderich dem iungeren des egenanten marggrave Balthazars son umbe daz große ungleubliche unrecht, daz si widder got, recht, bescheidenheid und iren eygen gelymp und ere mit rechtem muͤtwillen und gewalt an uns, unsern stifft, unsere lande und lude gelacht hant und noch tegelichin legen. Want die vorgenanten marggraveen unsere und unseres stifftes getruwe manne sin solten, als die egenanten marggrave Balthazar und marggrave Wilhelm der eltere in der stad zu Furcheim und der egenante marggrave Fryderich der eltere in der stad zu Nurnberg sliche manlehen von uns liplichin in geynwertigkeid fursten, herren und viel erber lude enphangen und unserme stifte getruwe und hold zu sin huldunge getan han, als solicher manlehen recht und gewonheid ist. [...] Und duncket uns, daz den vorgenanten marggraven ernster sii unsere und unsers stifte sloße, land und lude an sich zu bringen, das doch der allmechtige god und der gude sant Mertin wol verwaren sollen, dann yn lieb sii ire eygene truwe, ere, buntnisse und ingesigele zu versorgen. [...] so wollen wir des zu eyme unverzoglichen ußtrage kommen fur unserme gnedigen herren deme Romischen konige und dem riche, und so me kurfursten, fursten, graven, herren, rittere, knechte und erberliute dabii weren und gesin mochte, so uns lieber were, wann wir alle vorgeschriben sachen mit ganczer wahrheid wol biibrengen mogen und verwar gleuben und ez davor han, daz nye keyme fursten in großerme glauben ungleublicher geschen sii und geschehe, als uns geschicht von den egenanten marggraven. (Codex diplomaticus Saxoniae regiae, 390ff.)
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Die Haupthandlung ist wieder das Werben für die Rechtmäßigkeit der eigenen Position. Relevante Teilhandlungen sind: •
Schaffung von Öffentlichkeit durch Adressierung des Briefes an Dritte: Ersamen burgermeister, raid und burgere zu Franckenford
•
Klage über unehrenhafte und illegitime Schadenshandlungen der Fehdegegner: Wir clagen uch mit clegelicher ernstlicher clage von den marggraven von Missen mit namen marggrave Balthazar, marggrave Wilhelm deme eltern sime brudere, marggrave Fryderich deme eltern und marggrave Fryderich dem iungeren des egenanten marggrave Balthazars son umbe daz große ungleubliche unrecht, daz si widder got, recht, bescheidenheid und iren eygen gelymp und ere mit rechtem mFtwillen und gewalt an uns, unsern stifft, unsere lande und lude gelacht hant und noch tegelichin / daz nye keyme fursten in großerme glauben ungleublicher geschen sii und geschehe, als uns geschicht von den egenanten marggraven.
•
Begründung: Verstoß gegen Lehnsverpflichtungen: Want die vorgenanten marggraveen unsere und unseres stifftes getruwe manne sin solten, als die egenanten marggrave Balthazar und marggrave Wilhelm der eltere [...] manlehen von uns liplichin in geynwertigkeid fursten, herren und viel erber lude enphangen und unserme stifte getruwe und hold zu sin huldunge getan han, als solicher manlehen recht und gewonheid ist.
•
Angebot zu Rechtsaustrag vor König und Reich in möglichst großer Öffentlichkeit: so wollen wir des zu eyme unverzoglichen ußtrage kommen fur unserme gnedigen herren deme Romischen konige und dem riche, und so me kurfursten, fursten, graven, herren, rittere, knechte und erberliute dabii weren und gesin mochte, so uns lieber were, wann wir alle vorgeschriben sachen mit ganczer wahrheid wol biibrengen mogen
These 4: Fehdehelfer und Parteigänger können einerseits nur durch sprachliche Darstellungs- und Aufforderungshandlungen überzeugt und zur Unterstützung verpflichtet werden; andererseits müssen die Fehdehelfer selbst unter Umständen zur Wahrung ihrer eigenen Ehre ihre Handlungen rechtfertigen, indem sie ihre Parteinahme begründen. Textbeispiel 4: Absagebrief Ulrich Strobels u.a. an Friedrich Markgraf von Brandenburg und Burggraf von Nürnberg, 7. Juli 1420. Hochgeporen ffwrst vnd H. H. ffriederich, marckgraff zu pranburck vnd purckgraf zu nüremberg. Ich tu ewch wiszen, daz ich ewr veint will sein von wolfframs von egelloffstein vnd von dilgen von Deinstorff wegen von solcher spruch vnd recht wegen, die sie zu ewch vnd den ewren haben, vnd will mich dez
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mein er mit disem briff gen ewch vnd gen allen ewren steten vnd merckten bewart haben vnd will ewch awch hin nihsze mer zu plitig vnd zu don sein vnd will in irn ffriden vnd unfriden (sis) sein, ich vnd der her nach geschriben stett [...]. Vlreich Strobell, Jorgen Stengell, Hans krewsslein
(Codex diplomaticus brandenburgensis, 163)
Haupthandlung ist die Ankündigung der Fehde durch Fehdehelfer. Relevante sprachliche Teilhandlungen sind: •
Erklärung der Feindschaft als Fehdehelfer: Hochgeporen ffwrst [...] ffriederich, marckgraff zu pranburck vnd purckgraf zu nüremberg. Ich tu ewch wiszen, daz ich ewr veint will sein
•
(pauschale) Begründung mit Rechtsanspruch: von wolfframs von egelloffstein vnd von dilgen von Deinstorff wegen von solcher spruch vnd recht wegen, die sie zu ewch vnd den ewren haben
•
Bewahrung der Ehre: vnd will mich dez mein er mit disem briff gen ewch vnd gen allen ewren steten vnd merckten bewart haben
These 5: Die Konfliktlösung ist selbst bei intensiven kämpferischen Auseinandersetzungen nicht möglich ohne einen abschließenden Friedensvertrag, dem in aller Regel Verhandlungen vorausgehen. Textbeispiel 5: Urkundliche Verzichtserklärung des Erzbischofs Johann II. und des Domkapitels von Mainz, 20. März 1405. Darumbe verciihen wir Iohann ertzbischoff, Iohann dumprobst, Eberhard dechand und daz capitel gmeynlich des důmes zu Mentze fur uns unde alle unseren nachkommen uff die vorgenanten halben teile der sloße Eschenweg und Sůntra mit yren zugehorungen und ußern uns der sloße unde alles rechten, daz wir daran han, zu ewigen ziiten [...] und han auch darumbe die egenanten marggraven unde ire erben aller burghůde und darczů alle manne, burgmanne, amptlude, rete, bugere und arme lute zu den vorgenannten sloßen gehorende alle ire eide und globde, die sie uns getan han, mit unsern offen brieven ledig und lois gesaget und sagen sie auch der in crafft diesis brieves ledig unde verziihen gentzlich daruff unde sollen noch wollen die vorgenannten sloße semptlich oder besunder nummerme vertedigen, ingenemen noch die in kunfftigen ziiten ansprechen in einche wise. Alle und igliche vorgeschriben stucke, půnte und artikele redden wir [...] in guten truwen stete, vaste und unverbrochenlich zu halten und darwidder nicht zu thůn noch schaffen getan werden geistlich noch werntlich, heimlich noch offenbar, in dheine wiis, an alle geverde und ane argelist. Des zu urkunde han wir [...] unser [...] ingesigele an diesin brieff thůn hencken. (Codex diplomaticus Saxoniae regiae,
444f.)
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Die Haupthandlung ist hier die Beilegung des Konfliktes. Relevante Teilhandlungen sind: •
Verzichtserklärung auf Rechte an den Schlössern Eschwege und Sontra: Darumbe verciihen wir Iohann ertzbischoff, Iohann dumprobst, Eberhard dechand und daz capitel gmeynlich des důmes zu Mentze fur uns unde alle unseren nachkommen uff die vorgenanten halben teile der sloße Eschenweg und Sůntra mit yren zugehorungen und ußern uns der sloße unde alles rechten, daz wir daran han, zu ewigen ziiten
•
Lösung vorheriger Rechtsverpflichtungen in aller Öffentlichkeit: und han auch darumbe die egenanten marggraven unde ire erben aller burghůde und darczů alle manne, burgmanne, amptlude, rete, bugere und arme lute zu den vorgenannten sloßen gehorende alle ire eide und globde, die sie uns getan han, mit unsern offen brieven ledig und lois gesaget und sagen sie auch der in crafft diesis brieves ledig
•
Verzichtserklärung auf zukünftige Gewaltanwendung: unde verziihen gentzlich daruff unde sollen noch wollen die vorgenannten sloße semptlich oder besunder nummerme vertedigen, ingenemen noch die in kunfftigen ziiten ansprechen in einche wise
•
Versprechen (Schwur), den Verzicht in ehrenhafter Weise einzuhalten (mit guten truwen: Ehrenwort): Alle und igliche vorgeschriben stucke, půnte und artikele redden wir [...] in guten truwen stete, vaste und unverbrochenlich zu halten und darwidder nicht zu thůn noch schaffen getan werden geistlich noch werntlich, heimlich noch offenbar, in dheine wiis, an alle geverde und ane argelist.
3. Schlussbemerkung Diese Ansätze zu einer Analyse der sprachlichen Haupt- und Teilhandlungen von Fehdetexten erfassen die kommunikativen Strategien der Fehdekommunikation selbstverständlich noch nicht vollständig. Detailliertere Analysen müssen folgen, um für das prototypische Modell der Fehde als komplexes Handlungsmuster gültige Aussagen treffen zu können. Es ist m.A.n. aber deutlich geworden, dass der Diskurs der Ehre und der Bezug zur Öffentlichkeit eine zentrale Rolle in den sprachlichen Handlungen der Fehdekommunikation einnehmen. Wie gezeigt, können an allen Stationen des oben angedeuteten prototypischen Verlaufs einer Fehde sprachliche Handlungen nachgewiesen werden, die Öffentlichkeit herstellen sollen und auf das Moment der Ehre rekurrieren bzw. mittels des Ehrbegriffs argumentieren.
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In der historiographischen Forschung wurden Zweifel an der Aufrichtigkeit bei dieser adeligen Argumentation mit der Ehre im Fehdekontext geäußert. Demnach sei der Diskurs der Ehre innerhalb der Fehdeführung vor allem ein strategisch eingesetztes Mittel, um einen Konflikt um materielle Ressourcen in eine „moralische“ Auseinandersetzung zu verwandeln. Der ständige Bezug zur Standesehre sei daher vornehmlich als politisches Idiom zu sehen, „durch das Machtverhältnisse manipuliert werden konnten“.24 Es wurde jedoch auch dafür plädiert, die Rechtfertigungsschriften in Fehden und ihre Berufungen auf Recht und Ehre ernst zu nehmen.25 Eine umfassendere und detailliertere Analyse der Fehdekommunikation scheint m.E. geeignet, zu diesem Streitpunkt neue Lösungswege und Erkenntnisse zu liefern.
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_____________ 24 25
Zmora (1995, 109). Vgl. Graf (1998).
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Eckhard Weber
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Eckhard Weber
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Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ – Graphetische Syntax-Marker am Beispiel frühneuzeitlicher Autographe Andrea Hofmeister-Winter (Graz)
1.
Einleitung Die Interpunktion hat insbesondere die Funktion, die grammatische Struktur eines Textes für den Leser transparent zu machen. Sie dient der Ausgrenzung von Ganzsätzen, der Anzeige einer Koordination von Wörtern, Wortgruppen oder Teilsätzen sowie der Anzeige der Subordination von satzwertigen Konstituenten und von Herausstellungen. Weiterhin hat sie in Teilbereichen pragmatische Funktionen. In erster Linie setzt die Beherrschung der Interpunktion aber grammatische Kenntnis voraus.1
Was hier in kompakter Form über unsere moderne Zeichensetzung ausgesagt wird, trifft bekanntlich für historische Sprachstufen nur teilweise zu, wenngleich manche der aufgezählten Funktionen bereits für fnhd. Texte tendenziell gelten. Insbesondere der Anspruch, aus der Interpunktion die ‚grammatische Struktur‘ eines Textes ablesen zu wollen – übrigens ebenso wenig treffend wie der Versuch, in Anlehnung an antike Schriften ausschließlich nach rhetorischen Funktionen zu fahnden, führte lange Zeit zu einer Verkennung von Intention und Wirkung der Verschriftlichungsstrategien mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Handschriften. In diesem Bereich hat die historische Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten stark aufgeholt und manches Missverständnis ausräumen können. Dennoch ist noch viel zu tun, denn gerade für die Zeit des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit mit ihrem immensen Anstieg der Textproduktion in allen Lebensbereichen konnten viele Textsorten noch gar nicht systematisch in Hinblick auf ihr Inventar an Textgliederungsmitteln und deren Funktionen untersucht werden.2 _____________ 1 2
Weingarten (2003, 807f.). Vgl. Simmler (2003, 2474).
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Andrea Hofmeister-Winter
Meine kleine Studie zu einem fnhd. Gebrauchstext darf sich nicht anmaßen, bereits einen vollwertigen Beitrag zur Erforschung der Syntax historischer Texte liefern zu können, möchte aber mit der Bereitstellung von geeignetem Basismaterial und mit der Mitteilung einiger viel versprechender Beobachtungen den ersten Schritt dazu setzen. Ein umfassendes Bild von diesem Segment der historischen Schreibsprache kann sicher erst aus der Summe möglichst vieler Einzeluntersuchungen, möglichst breit über das gesamte Spektrum der Textsorten gestreut, erlangt werden. Die Umsetzung dieser banalen Forderung wird aber erschwert durch die Tatsache, dass seit jeher ein Mangel an solchen Editionen von handschriftlichen Überlieferungsträgern herrscht, welche die dafür nötigen Informationen liefern.3 Ich bin in der glücklichen Lage, über ein umfangreiches elektronisches Textkorpus zu verfügen, in dem durch eine spezielle Form der Datenaufnahme dafür gesorgt ist, dass u.a. auch Fragen zu den Textgliederungsmitteln sehr detailliert untersucht werden können. Vor allem seit dem Spätmittelalter bieten handgeschriebene Texte eine Fülle von verschiedenen graphischen Auszeichnungs- und Gliederungsmitteln, deren Gebrauch in einzelnen Überlieferungsträgern so stark variiert, dass der Eindruck entsteht, Auswahl und Kombination der vielfältigen Möglichkeiten seien allein der Willkür der Schreiber überlassen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese graphischen Mittel im Kommunikationsakt zwischen Schreiber und Leser ganz bestimmte Funktionen zu erfüllen hatten, darunter vielleicht auch solche, die unser modernes, normiertes Textgliederungs- und Interpunktionssystem vermissen lässt.4 Welche Funktionen das sind, hängt von der Textsorte ab und ist zudem im Einzelfall wohl auch speziell auf die individuellen Bedürfnisse eines Textes und seines intendierten Publikums abgestimmt. Nach einer kurzen Vorstellung meines konkreten Untersuchungsgegenstandes möchte ich an diesen folgende drei Fragen richten: •
Wie wird markiert, d.h., welche graphischen Mittel werden vom Schreiber eingesetzt?
•
Was wird markiert: Sprechpausen, Intonationsverläufe, syntaktische oder Sinneinheiten etc.?
•
Wozu wird markiert: Welchen potenziellen Nutzen hat der Leser davon oder welchen Sinn kann das aufwendige Markierungsverfahren sonst noch haben?
_____________ 3 4
Eine löbliche Ausnahme: Fiebig (2000). Vgl. Stolt (1990, bes. 385).
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘
2.
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Untersuchungsgegenstand: Das Brixner Dommesnerbuch5
Als Untersuchungsgegenstand steht mir ein umfangreiches Autograph des Brixner Dommesners Veit Feichter (um 1510-1560) zur Verfügung, das eine selten vertretene und daher in der Forschung bislang kaum bekannte Textsorte repräsentiert. Da es sich um die sehr detailreich ausformulierte Niederschrift der Dienstverpflichtungen des Mesners im Lauf des Kirchenjahres handelt, scheint mir für diese paraliturgische Gebrauchsschrift in Anlehnung an die Benennung ähnlicher Texte die schlichte Bezeichnung ‚Dommesnerbuch‘ gerechtfertigt. Entstanden ist der Codex mit dem nachträglich von anderer Hand hinzugefügten Titel Directorium seu Rubrica pro vtilitate chori ac Editui Eccl(es)ie Brixinen(sis)6 um 1558 und stellt den eindrucksvollen Versuch dar, althergebrachte Traditionen über eine Umbruchszeit hinweg zu retten7 – immerhin fand gerade zu jener Zeit das Konzil von Trient (1545-1563) statt, das die Gegenreformation einleitete und auch im liturgischen Bereich eine Reihe von einschneidenden Maßnahmen setzte. Im Zuge der Erstedition des Brixner Dommesnerbuches (DMB) habe ich vor einigen Jahren ein mehrstufiges Editionskonzept entwickelt, das ich als ‚Dynamische Edition‘ bezeichne. Diese Editionsmethode versucht, bewährte Editionsformen und -methoden zu verbinden, indem über mehrere Editionsstufen verschiedene Ebenen des Textes präsentiert werden: Faksimile, diplomatischer Abdruck und in beliebigem Grad normalisierte Lesefassungen unterscheiden sich voneinander im Wesentlichen durch zunehmende Abstraktion von der handschriftlichen Vorlage und rücken jeweils eine ausgewählte Ebene des Gesamtbefundes ins Zentrum der Aufmerksamkeit, z.B. die paläographische, die (ortho)graphische, die inhaltliche Ebene. Der schichtweise vorgenommene Informationsabbau in diesem nach oben offenen Editionsprozess erfolgt mit Hilfe linguistischer Methoden der Graphetik und Graphemik in kontrollierter Form und garantiert von jeder Stufe aus in hohem Maße die Rückführbarkeit auf das Original. Um den stark divergierenden Benutzeranforderungen entgegenzukommen und vor allem auch sprachwissenschaftlichen Interessen zu dienen, wird für die Präsentation der einzelnen Editionsstufen das jeweils optimale Publikationsmedium gewählt. _____________ 5 6 7
Zu Autor und Werk vgl. Hofmeister-Winter (2001, 15ff.). Brixner Domkapitelarchiv, o. Sign., Abt. Codices. Kodikologische Beschreibung vgl. Hofmeister-Winter (2001, 34ff.). Es seý aúch mier / dúrch meinem herren Cústor verpotten das Ich der Cústorei kain New´erung sol aúffpringen (DMB 45r/16f., zit. nach der gedruckten Edition von Hofmeister-Winter (2001).
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Andrea Hofmeister-Winter
Den Kern der ‚Dynamischen Edition‘ bildet eine elektronische Basistransliteration (BT), die den Text so handschriftennah wie möglich, also weit über dem Informationsniveau eines herkömmlichen diplomatischen Abdrucks, wiederzugeben versucht. Auf dieser Transliterationsstufe sind all jene graphischen Phänomene festgehalten und für weiterführende Analysen aufbereitet, die im Zuge einer vorangegangenen graphetischen Analyse als im weitesten Sinn schriftsystemrelevant erkannt wurden, aber noch keiner endgültigen Klärung zugeführt werden konnten, z.B. Interpunktionssymbole, Superskripte, vergrößerte Buchstabenrepräsentanten und alle sonstigen Textauszeichnungen. Diese elektronische Basistransliteration, aus welcher der Text meiner gedruckten Edition8 konsequent durch stufenweise Informationsreduktion abgeleitet wurde, steht der historischen Sprachwissenschaft auf meiner Forschungshomepage frei zur Verfügung9, die detaillierte Beschreibung des mehrstufigen Editionskonzeptes sowie meine bisherigen Untersuchungen zum Schriftsystem Veit Feichters sind separat publiziert.10 Für die folgende Detailstudie habe ich das sprachliche Material eingeschränkt auf je zehn Seiten vom Anfang und aus der Mitte des Codex (DMB fol. 1v-6r, 92r-96v), um allfällige Streuungen besser erfassen zu können. Sollte eine erste ‚Sondierung‘ signifikante Ergebnisse hervorbringen, kann die Analyse später problemlos auf den Gesamttext ausgedehnt werden. Was das Brixner Dommesnerbuch als Textcorpus für die Sprachwissenschaft besonders interessant macht, sind soziale Herkunft und Bildungshintergrund des Autors, über die wir gesicherte Informationen besitzen, zum einen von Veit Feichter selbst, der einer seiner Schriften eine kurze Vita vorangestellt hat,11 und zum anderen aus zahlreichen Aktennotizen in den Domkapitelprotokollen: Als Sohn eines aus der Umgebung von Brixen zugewanderten Bauernsohnes, der selbst erst um 1495 in die Stadt gekommen war, um im Dombezirk zunächst eine Lehrstelle als Mesnerknecht anzunehmen, und der sich schließlich bis zum Dommesner empordienen und das Bürgerrecht erlangen konnte, zählte Feichter zu jenen privilegierten Knaben, die in der Domschule gemeinsam mit dem künftigen geistlichen Nachwuchs eine fundierte Ausbildung im Lesen und _____________ 8 9
10 11
Vgl. Anm. 5. Siehe http://www.uni-graz.at/~hofmeisa/dyn_ed/download/DMB_Textstufe3.rtf; der elektronischen Transliteration sind in gesonderten Dateien Erläuterungen und detaillierte Transliterationsschlüssel beigegeben. Vgl. Hofmeister-Winter (2003). Dommesner-Urbar (DMU), fol. *4r-v. Diese schlichte Papierhandschrift wird ebenfalls im Brixner Domkapitelarchiv, o. Sign., Abt. Codices aufbewahrt; Kurzbeschreibung bei Hofmeister-Winter (2001, 15f.).
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Schreiben erwerben durften. Fast wie selbstverständlich trat er bereits im zarten Jugendalter in die Fußstapfen seines Vaters, bei dem er eine gründliche Lehre absolvierte, und als jener 1547 nach insgesamt 52 Dienstjahren verstarb, war die Nachbesetzung des Postens durch den inzwischen selbst schon über 30-jährigen Junior offenbar nur mehr ein Formalakt. 13 Jahre währte Veit Feichters Amtszeit als hauptverantwortlicher Mesner, in der er nicht nur engagiert für Disziplin und Ordnung im Bereich der Domsakristei sorgte – so verfasste er im Auftrag des Kustos ein Inventar12 aller Paramente, liturgischen Bücher und Geräte, für die er laut Dienstvertrag13 die persönliche Haftung übernommen hatte –, sondern seine Zuständigkeit erstreckte sich auch auf die finanzielle Verwaltung der Domsakristei, die von seinem illiteraten Vater selbst mit Unterstützung durch die schriftkundige Geistlichkeit anscheinend nur mehr mit Mühe aufrecht zu erhalten gewesen war. Auch hier griff er energisch durch, prüfte sorgfältig alle Einnahmen und Ausgaben und schuf mit seinem Urbar des Dommesneramtes eine gründliche Revision der geltenden Rechtsgrundlagen. Inhaltlich beschreibt das Dommesnerbuch das überaus vielfältige Aufgabenfeld des Dommesners, soweit es im entferntesten Sinn die Liturgie betrifft. Dieses umfasste die Vorbereitung der Gottesdienste, die Assistenz während der liturgischen Feiern sowie die Beschaffung, Verwahrung und Instandhaltung sämtlicher im liturgischen Rahmen benötigten Utensilien. Zur Umsetzung seines ehrgeizigen Vorhabens, für das in dieser Form noch keine schriftliche Vorlage existierte, bedurfte Veit Feichter eines straffen Verschriftlichungskonzeptes. Die Handschrift umfasst 380 Seiten im Folio-Format – ein derartiges Konvolut konnte Feichter unmöglich in einem Guss niederschreiben, wenn man bedenkt, wie sehr er mit seinen vielfältigen Dienstaufgaben ausgelastet war. Daher wählte er ein sehr pragmatisches Konzept, das sich seit Jahrhunderten in den lateinischen Ordines der Geistlichkeit bewährt hatte und neben seiner Berufstätigkeit einigermaßen ökonomisch handzuhaben war, nämlich die Anordnung der Informationen nach dem Kirchenjahr, beginnend mit dem ersten Adventsonntag. So war es ihm möglich, die aus mündlichen und schriftlichen Quellen zusammengetragenen Informationen14 jeweils ‚tagesaktuell‘ zu Papier zu bringen – ähnlich einem Protokoll – und obendrein sehr nah an der gelebten Praxis. _____________ 12 13
14
Aufbewahrt im Brixner Domkapitelarchiv; Kurzbeschreibung bei Hofmeister-Winter (2001, 15). Über den Inhalt des Dienstvertrags wissen wir ziemlich genau Bescheid, weil Feichter Abschriften der Dienstverträge seiner Vorgänger in sein Inventar (DMI) aufgenommen hat (siehe DMI fol. 23r-28r). Zu den Quellen siehe Hofmeister-Winter (1997, 63ff.).
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Andrea Hofmeister-Winter
Durch die strikte Einhaltung der Chronologie des liturgischen Kalenders entfiel die Notwendigkeit, dem Werk ein Inhaltsverzeichnis15 voranzustellen, um den punktgenauen Zugriff zu erleichtern. Bis weit in die Frühe Neuzeit navigierten Geistliche wie Laien im Kalender anhand der Namensfeste der Heiligen und anhand spezieller Gedenk- und Kirchenfeste. Die genaue Abfolge der unbeweglichen Festtage auswendig zu beherrschen, gehörte zur Allgemeinbildung und wurde z.B. mittels mnemotechnischer Hilfsmittel wie Cisiojani eingeprägt. Daher bereitete es kaum Schwierigkeiten, ein bestimmtes Kirchenfest innerhalb des Bandes rasch aufzusuchen, und da dieses Nachschlagewerk ohnehin daraufhin angelegt war, parallel zum Jahreslauf rezipiert zu werden, genügte als Markierung ein eingelegtes Lesezeichen.
3.
Graphische Mittel der Textgliederung
Ich möchte mich nun den graphischen Mitteln der Textgliederung zuwenden, die in diesem wissensspeichernden Text zum Einsatz kommen, ihrer Phänomenologie einerseits und ihren Funktionen im Kommunikationsprozess zwischen Autor und Leser andererseits. Folgende Maßnahmen nützt Feichter zur makro- und mikrostrukturellen Gliederung seines Textes und sorgt damit für Übersichtlichkeit: 1. Schreibräumliche Positionen: Eine wesentliche makrostrukturelle Gliederungsfunktion kommt dem Seitenlayout mit der Zeileneinteilung und der Absatzgliederung (durch Leerzeile und Zeileneinzug) zu – diese layouttechnischen Mittel sind bis in die Gegenwart in Gebrauch. Hinzu tritt im Fall frühneuzeitlicher Handschriften noch das Mittel des vergrößerten Wortabstandes innerhalb der Zeile. 2. Farbkontrast: Um den Leserblick zu lenken, setzt Feichter optische Farb-Anker ein, er verwendet rote Tinte als kontrastierendes Auszeichnungsmittel gegenüber der schwarzen Textschrift: Die Unterteilung in einzelne Tage / Feste erfolgt durch rote Überschriften, ebenso die weitere Untergliederung, die sich an den monastischen Gebetszeiten orientiert. In Rot sind auch sog. ‚Marginal headers‘ ausgeführt, die am linken Seitenrand stichwortartig auf den Inhalt hinweisen. _____________ 15
Hingegen war ein solches Register im Dommesner-Urbar offensichtlich sehr wohl vonnöten; es ist dort dem eigentlichen Urbar vorangestellt (*1r-*3v) und gibt die Blattzahlen der jeweiligen Rubriken an.
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Rote Tinte wird auch auf der nächstniedrigeren Strukturebene, innerhalb der einzelnen Abschnitte, als Hervorhebungsmittel benützt: Unterstreichungen und Rubrizierungen in Form von Zierstrichen oder Vollrubrizierungen von Anfangsbuchstaben, ja sogar von Interpungierungssymbolen, auf die später noch näher einzugehen sein wird. Im Gegensatz zu arbeitsteiligen Schreibprozessen, in denen derlei Farbakzente nachträglich vom Rubrikator hinzugefügt wurden, zu welchem Zweck der Grundtextschreiber die nötigen Flächen für Überschriften und Initialen freizulassen hatte, besteht kein Zweifel, dass Veit Feichter sämtliche Arbeitsgänge der Niederschrift persönlich verantwortet. Seine roten Überschriften fügen sich ohne Platznot und nahtlos in den Text ein, sind also offensichtlich linear geschrieben worden, indem er zwei Tintenfässchen und zwei Federn abwechselnd benützte. Alle anderen Rubrizierungen sind aufgrund der Strichfolge als 2. Schreibschicht zu identifizieren. Zur Feingliederung des schwarz geschriebenen Grundtextes werden ferner folgende Mittel eingesetzt: 3. ‚Orthographische‘ Mittel: Hierher gehört die Hervorhebung von Graphwörtern mittels Markierung ihres ersten Buchstabens durch Majuskeln und Initialen, wobei allerdings in kursiven Schriften der frühen Neuzeit häufig das Problem auftritt, dass bei manchen Buchstaben nicht eindeutig zwischen Minuskel- und Majuskelformen unterschieden werden kann, weil sie aus denselben Grundmustern hergeleitet sind und sich nicht oder kaum formal, sondern hauptsächlich durch Größenabstufungen unterscheiden; das gilt analog auch für die Grenzziehung zwischen Majuskeln und Initialen (Paläographen sprechen von litterae notabiliores, ich nenne sie ‚relative Majuskeln / Initialen‘). Ungeachtet dieser Schwierigkeit bei der formalen Klassifizierung von Groß- und Kleinbuchstaben erhebt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß die verschiedenen Größengrade funktionalisiert sind, also eine graduelle Skala der semantischen Gewichtung von solcherart ausgezeichneten Graphwörtern abbilden. 4. Eine weitere Kategorie von Gliederungsmitteln sind verbale und nonverbale Grenzmarken ohne lexikalisch-semantischen Wert: Diese treten zwar ganz unauffällig in Gestalt von wortwertigen Elementen auf, haben sich aber im Lauf der Zeit so weit verselbstständigt, dass diese nicht mehr ‚wörtlich‘ gemeint sind. Es handelt sich einer-
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seits um das lateinische Wort Item, das als Anfangssignal von größeren oder kleineren Abschnitten funktional einem ‚Aufzählungspunkt‘ entspricht, zumal, wenn es seriell eingesetzt wird; andererseits haben wir es mit einem traditionellen Kürzungssymbol zu tun, das für die lateinische Phrase et cetera steht, einem Morphogramm16 sozusagen, welches das Ende von Sinnabschnitten kennzeichnet und zumindest im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit immer seltener als ‚Auslassungszeichen‘ zu interpretieren ist. In der Paläographie werden solche deverbalisierten Schriftsymbole, die oft auch zur optischen Füllung der restlichen Zeile dienten, als Terminatoren (‚Schlusssignale‘) bezeichnet.17 5. Doch nun zu den Interpungierungsmitteln: An ‚echten‘ IP-Mitteln, also graphischen Elementen, die ausschließlich oder zumindest teilweise textgliedernde Funktionen übernehmen, sind bei Veit Feichter (nach abnehmender Häufigkeit gereiht) Virgel, Punkt, Kolon und runde Klammern vertreten. Semikola verwendet Feichter nicht, Rufzeichen und Fragezeichen, obwohl in mittelalterlichen Handschriften bereits verwendet, kommen bei ihm textsortenbedingt nicht vor.18 Der Punkt (in kursiven Schriften selten kreisrund, sondern oft mit erkennbarem ‚Abstrich‘ in Schreibrichtung) und die Virgel (von rechts oben nach links unten geführter Strich im Mittelbandbereich, ungefähr parallel zur Schriftneigung) stehen einander besonders in kursiven Schriften mitunter formal so nahe, dass die Gefahr der graphischen Konvergenz droht.19 Die formale Abgrenzung zwischen diesen beiden Graphtypen ist daher in Einzelfällen schwierig und mitunter nur willkürlich zu treffen. Beide IP-Symbole werden von Feichter außer zur Textgliederung auch zur Markierung von Zahlenangaben eingesetzt, indem sie arabische und römische Zahlen zu beiden Seiten rahmen. In dieser Funktion sind Punkt und _____________ 16
17 18
19
Insofern das Morphogramm ‚etc.‘ nicht auf eine spezielle Lautform, sondern unabhängig von der (in diesem Fall lateinischen) Einzelsprache auf lexikalische Bedeutungen referiert, handelt es sich eigentlich um ein Logo- oder Ideogramm; vgl. analog dazu die arabischen Ziffernsymbole oder konventionale Abkürzungen für Maßeinheiten. Vgl. HofmeisterWinter (2003, 181f.). Vgl. Mazal (1986, 145). Nicht zu den IP-Mitteln zu zählen sind also Trennzeichen und Einfügungszeichen sowie Kürzungspunkte, Apostroph, Bindestriche etc., eine Zwischenstellung haben Ausgrenzungsmittel wie Klammern und Anführungszeichen. Vgl. Hofmeister-Winter (2003, 210f.).
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Virgel als Ausgrenzungsmittel zu verstehen, weil sie Zahlensymbole von alphabetischen Schriftelementen sondern.20 Doppelpunkt (Kolon) kommt bei Feichter zwar gelegentlich als Textgliederungsmittel vor, häufiger aber als Suspensionskürzungszeichen, und zwar speziell bei Initien lateinischer Texte oder Gesänge der Liturgie; außerdem wird das Kolon in seltenen Ausnahmefällen als platzsparende Variante des paarigen Trennungszeichens verwendet. Für meine nachfolgende Untersuchung wäre das Kolon nur in der ersten Funktion relevant, doch liegt im ausgewählten Textmaterial ein einziger Beleg für diese Kategorie vor, sodass dieses Symbol vorläufig nicht berücksichtigt werden kann. Klammern – bei Feichter kommen praktisch ausschließlich runde Klammern vor – werden paarweise zur Kennzeichnung von Parenthesen verwendet, sind also genau genommen ebenfalls Ausgrenzungssignale;21 als solche wären sie in unserer konkreten Untersuchung sehr wohl von Belang, müssen aber hier ebenfalls beiseite gelassen werden, weil sie bei Feichter insgesamt äußerst selten und in den repräsentativen Textausschnitten überhaupt nicht auftreten. Alle genannten Gliederungsmittel sind in der Basistransliteration elementgetreu festgehalten und ihre Auszeichnungen mit speziellen Codes annotiert (vgl. Abb. 2 und 4, die als repräsentative Auszüge fol. 1v und 92r wiedergeben; Abb. 1 und 3 bieten ein Schwarzweiß-Faksimile der entsprechenden Handschriftenseiten zur Kontrolle): Fettdruck bezeichnet rote Textteile, Unterstreichungen sind im Text generell rot. Vergrößerte Buchstaben sind nach Größenkategorien bezeichnet: Gradzeichen (‚°‘) steht für vergrößerte Minuskel, Paragraphenzeichen bezeichnen Initialen in zwei Vergrößerungsstufen (‚§1‘ und ‚§2‘); Interpunktionszeichen sind phänomengetreu nach ihrer Tintenfarbe differenziert mit Hilfe folgender (jeweils nachgestellter) Indizierungen: 0 = schwarze Tinte 1 = rote Tinte 2 = schwarzes IP-Symbol, mit identischem Symbol rot überschrieben (ganz oder teilweise überdeckend) 3 = schwarzes IP-Symbol, durch identisches Symbol rot verdoppelt (nebeneinander). Nur bei Virgeln kommen vor: _____________ 20 21
Palmer (1991, 241) spricht in diesem Zusammenhang von ‚Isolierungspunkten‘. Vgl. Gallmann (1985, 29).
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4 = schwarzer Punkt mit roter Virgel überschrieben (ganz oder teilweise deckend) 5 = rote Virgel neben schwarzem Punkt. Dadurch wird in der Transliteration der Textaufzeichnungsprozess abgebildet, der in der Regel in mindestens zwei Phasen ablief, aber unterschiedlich dicht ausgeprägt ist: 1. Die Grundschicht ist prinzipiell schwarz geschrieben inkl. IPZ, lediglich rote Überschriften sind durch kurzfristigen Tintenwechsel linear eingefügt worden. 22 2. In einer oder mehreren Überarbeitungsphasen wurden nachträglich (das ist durch die Untersuchung der Strichfolge am Original gesichert) mit Rot Auszeichnungen in Form von roten Zierstrichen und Unterstreichungen vorgenommen sowie die erwähnten Rubriken an den linken Seitenrand gesetzt, um besonders wichtige Wörter / Textstellen hervorzuheben, explizit auf inhaltliche Schwerpunkte hinzuweisen oder die durch die roten Überschriften und Absatzgrenzen in der Grundschicht bereits angelegten Abschnitte weiter zu untergliedern. Im Zuge dieser Revisionsphase(n) erfolgten auch Nachträge (Ergänzungen) und Korrekturen, 23 die Einzelgraphe, Wörter oder IP-Symbole betreffen. Ausschnitt I enthält außer dem schwarzen Grundtext und den linear aufgezeichneten roten Überschriften der Grundschicht nur die üblichen Auszeichnungen durch Unterstreichungen, Rubrizierungen und Marginalien. Ausschnitt II hingegen weist darüber hinaus besonders viele Rubrizierungen von IP-Mitteln auf, die einer näheren Untersuchung wert sind. Hier wurden zum einen fast alle IPZ der Grundschicht rot übermalt (bis auf wenige Ausnahmen, die vermutlich übersehen wurden). In einigen Fällen wurde zum anderen das schwarze IPZ der Grundschicht revidiert, _____________ 22
23
Zumindest gibt es kaum graphische Indizien für die nachträgliche Einfügung von Überschriften. Eine seltene Ausnahme ist die erste Überschrift auf fol. 1v, Zeile 1, die mit einem Verweis am Ende des Codex korrespondiert, wo sich der Jahreskreis schließt: Am Ersten Súntag Im adúent / Súech Im anfang / disses púech. (zit. nach der gedruckten Edition von Hofmeister-Winter 2001, 425). Graphische Indizien dafür sind ein anderer Federschnitt und eine kleinere Schrift, die wohl durch drohenden Platzmangel bedingt ist, denn der Nachtrag erfolgte knapp am oberen Seitenrand. Nachträge dienen der Beseitigung von Unvollständigkeiten und Unvollkommenheiten der Ausführungshandlung auf der Textoberfläche; Korrekturen werden dort notwendig, wo schreibsprachliche Normen verletzt wurden. Voraussetzung ist in beiden Fällen, dass sich der Schreiber seiner Fehlleistung unmittelbar während des Schreibakts oder bei einer nachträglichen ‚Korrekturlesung‘ bewusst wird. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn es sich um Performanzfehler handelt und nicht um Kompetenzfehler, die der Schreiber weder erkennen noch von sich aus korrigieren kann. Vgl. Hofmeister-Winter (2003, 191).
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also durch ein anderes ersetzt. Eine dritte Gruppe von roten IPZ ist jedoch überhaupt erst in der Revisionsphase in den Text gelangt: Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine Art Korrektur, nämlich um die Ergänzung von (aus Sicht des Autors) Fehlendem.24 Auf diese Weise wurde die Zahl der IP-Mittel in Ausschnitt II gegenüber Ausschnitt I erheblich vermehrt, und zwar in weit höherem Maße, als durch den um ca. 16 % größeren Textumfang dieses Ausschnitts erklärbar wäre!25 Das lässt sich statistisch nachweisen: Stellt man die Zahl der IPZeichen im jeweiligen Textausschnitt zur Gesamtanzahl der Graphwörter in Beziehung, so kommen in Textausschnitt I auf 100 Graphwörter 13 IPZ, in Ausschnitt II 18, also fast um die Hälfte mehr! Die genauere statistische Auswertung der Basistransliteration nach den Repräsentationstypen der IPZ fördert folgenden Befund zutage: /0 /1 /2 /3 /4 /5
Ausschnitt I 307 4 0 0 2 0 313
Ausschnitt II 7 228 317 16 2 5 575
.0 .1 .2
Ausschnitt I 83 1 0 84
Ausschnitt II 7 37 10 54
Tabelle 1: Statistik über Repräsentationsformen der Virgeln und Punkte in den untersuchten Textausschnitten des DMB
58 % (333) aller Virgeln der Grundschicht wurden in Ausschnitt II mit Rot nachgezogen, also quasi bestätigt, wobei die ursprüngliche Virgel der Grundschicht entweder ganz oder teilweise überdeckt wurde (Kodierung ‚/2‘) oder – seltener – die rote Virgel neben der schwarzen zu liegen kam (Kodierung ‚/3‘); nur sieben Virgeln der Grundschicht sind schwarz geblieben. Für die historische Syntaxforschung besonders interessant sind aber jene 228 Virgeln (= 40 %), die in Ausschnitt II überhaupt erst nachträglich in Rot ergänzt, also vom Schreiber als Desiderat empfunden wurden (Kodierung ‚/1‘)! Solche ‚Autokorrekturen‘ finden sich im Vergleich dazu in Ausschnitt I sehr selten: Von den vier monochrom roten Virgeln _____________ 24
25
Um das deutlicher sichtbar zu machen, habe ich in den beiden Ausschnitten (Abb. 2 und 4) die verschiedenen Repräsentationstypen aller IPZ wie folgt hervorgehoben: IPZ in schwarzer oder roter Grundschrift und solche ‚Revisionen‘, die den Stand der Grundschicht nur bestätigen, sind grau eingerahmt. Echte Korrekturen jedoch wurden zur Verdeutlichung grau unterlegt. Ausschnitt I enthält 3010 Graphwörter, Ausschnitt II 3478, was hier auf eine etwas höhere Zeilenzahl pro Seite zurückzuführen ist.
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stehen dort drei innerhalb von roten Überschriften, gehören also zur Grundschicht und sind nicht als Revisionsmaßnahme zu werten; nur in einem einzigen Fall handelt es sich hier um eine nachträgliche Ergänzung. Ebenfalls interessant für die Syntaxforschung sind die revidierten IPSymbole (Kodierung ‚/4‘ und ‚/5‘), aber solche Fälle sind in beiden Ausschnitten eher selten. Diese Beobachtungen eröffnen uns die nicht alltägliche Gelegenheit, direkt in die Schreibwerkstatt eines Autors zu blicken, indem wir etwa die Unterschiede zwischen den beiden Passagen feststellen und fragen, was den Autor dazu bewogen haben mag, im Lauf eines relativ kontinuierlichen Schreibprozesses seine IP-Gewohnheiten so gravierend zu verändern. Dazu müsste man die Textausschnitte detailliert nach speziell festzulegenden Gesichtspunkten analysieren und annotieren. Die Schwierigkeit ist zu entscheiden, nach welchen Kriterien wir dabei vorgehen sollen, die der Intention des Autors am besten gerecht werden. Ich muss gestehen, dass ich hierin über einen ersten oberflächlichen Versuch noch nicht hinausgekommen bin: Um die Strukturen des Textes in der Basistransliteration deutlicher sichtbar zu machen, habe ich die Grenzen zwischen Perioden durch visuelle Markierungen hervorgehoben (vgl. Abb. 2 und 4): Alle Periodenanfänge wurden mit vorangestelltem ‚►‘ markiert, und zwar dort, wo der Autor selbst durch eindeutige graphische Mittel eine Markierung gesetzt hat (vergrößerte Majuskel, Unterstreichung, Rubrizierung – oft in Kombination). Periodenenden (egal, ob durch graphische Mittel symbolisiert oder als Leerstelle vorhanden) habe ich durch nachgestelltes ‚◄‘ gekennzeichnet. Innerhalb dieser größeren Abschnitte habe ich weiter segmentiert in satzwertige (auch hypotaktische) Abschnitte, die jeweils eine geschlossene Aussage umfassen (z.B. eine Anweisung, die isoliert einen vollständigen Sinn ergäbe). Die Grenze zwischen solchen Abschnitten habe ich durch ‚■‘ bezeichnet. In derselben Weise könnte man nun auch noch Gliedsätze markieren, um zu sehen, ob und durch welche IPZ diese vom Autor gekennzeichnet sind. Diese visuelle Segmentierung zeigt folgenden Befund: •
Die beiden Passagen unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer makrostukturellen Gliederung (in Überschriften und Absätze), sondern hauptsächlich im mikrostrukturellen Bereich unterhalb des Niveaus von Ganz- und Teilsätzen.
•
Eine Hierarchie der beiden IP-Symbole Virgel und Punkt ist vorläufig nicht festzulegen. Zwar scheint der Punkt tendenziell häufiger am Zeilenende aufzutreten, falls an dieser Stelle überhaupt ein IPZ gesetzt wird, doch müsste dieser Eindruck erst quantitativ
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überprüft werden. Grundsätzlich ist kein funktioneller Unterschied zwischen Virgel und Punkt ersichtlich.26 •
In Ausschnitt I fehlt oftmals am Ende eines Ganzsatzes ein satzschließendes Zeichen, wenn das Periodenende mit dem Ende einer Zeile oder eines Absatzes zusammenfällt. In dieser Position sind satzschließende IPZ offenbar fakultativ, zumal Zeilenwechsel und Majuskel am Beginn der nächsten Zeile den Anfang eines neuen Abschnitts ausreichend kennzeichnen. In Abschnitt II ist dies signifikant seltener der Fall, denn hier sind zahlreiche satzschließende IPZ nachträglich ergänzt worden.
Damit ist unsere Frage nach der rätselhaften Vermehrung von IPZ aber noch nicht ausreichend geklärt, denn es bleibt immer noch ein beachtlicher Überhang an IPZ in Ausschnitt II. Diese verteilen sich auf den Text zwischen den mehr oder weniger deutlich bezeichneten Satzgrenzen in einer Weise, die sich mit syntaktischen Begriffen oft nur unzureichend beschreiben lässt. Segmentiert wird hier großteils nach Satzgliedern (oft sind es Objekte oder Adverbialbestimmungen), aber nicht durchwegs im streng grammatischen Sinn. Das Anliegen des Autors scheint eher die Kennzeichnung essentieller inhaltlicher Informationen zu sein, die mit jedem weiteren Redeglied hinzukommen und erst in vollständiger Aneinanderreihung die gewünschte Wirkung seiner Anweisungen entfalten.27 Auch das lässt sich im Vergleich der beiden Textausschnitte deutlich erkennen: In Ausschnitt II fallen tatsächlich zahlreiche nachträglich hinzugefügte IPZ in diese Kategorie.
4.
Schlussfolgerungen und Zusammenfassung
Über die Gründe für ein Abweichen von der ursprünglich gewählten Textgliederungsstrategie im Lauf des Textproduktionsprozesses kann hier nur spekuliert werden: Sie reichen von der Tagesverfassung über einen sich ändernden ästhetischen Geschmack (immerhin hat sich der Schreibakt zumindest über ein Jahr erstreckt) bis hin zum permanenten Ringen um eine Optimierung der Verschriftlichungsstrategie. Es wäre ein lohnendes Unterfangen, beide Aufzeichnungstypen, wie wir sie in Ausschnitt I und II vor uns haben, nicht nur von ihrem Endergebnis her miteinander zu vergleichen, sondern in mehrschichtigen Textpassagen die Phasen der _____________ 26 27
In diesen Grobbefund ist der in dieser Untersuchung mangels ausreichender Belege nicht berücksichtigte Doppelpunkt in der Funktion als IPZ einzuschließen. Vgl. Fiebig (2000, 100f.).
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Niederschrift jeweils gesondert zu analysieren und deren IP-Grundsätze getrennt zu beurteilen. Es gälte aber auch, über die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Textgliederungsstrategien nachzudenken. Das wichtigste Ziel des Autors war es ohne Frage, eine störungsfreie Kommunikation zu sichern. Durch Hervorhebungen aller Art hat er ihm wichtig erscheinende Wörter / Wortgruppen dem Leser zur besonderen Beachtung anempfohlen. Seine farbige Auszeichnung und Ergänzung von IPZ unterteilt die Anweisungen in klare Einzelinformationen: Wer, was, wo, wie, wann, wozu – jeder Redeteil scheint unverzichtbar, um dem Rezipienten klare Anweisungen zu erteilen. Doch es besteht die Gefahr, dass durch die überbordende Auszeichnungsflut im mikrostrukturellen Bereich die Abgrenzung von größeren Sinneinheiten in Gestalt geschlossener Handlungsanweisungen (wie sie durch Satzeinheiten repräsentiert werden) unterlaufen, wenn nicht gar vollends aufgelöst wird, erst recht, wenn syntaktisch motivierte IPSymbole mit Markierungen von Sinneinheiten zusammenfallen. Es scheint, dass wir anstelle der gesuchten Syntax-Marker in Feichters Text hauptsächlich Sinn-Marker finden. Ist eine solche Textgliederungsstrategie für den Kommunikationsprozess nicht eher hinderlich? Ich habe den Verdacht, dass die im Zuge des Überarbeitungsprozesses angebrachten Farbmarkierungen an IP-Symbolen nicht so sehr als Lesehilfe für den Rezipienten dienen, sondern zunächst einmal dem Autor selbst: Stellen wir uns bildhaft vor, wie der Autor seinen soeben fertig gestellten Tagesabschnitt zur abschließenden Kontrolle mit höchster Konzentration durchliest. Er mag dies laut oder halblaut tun, eventuell sogar „gekoppelt […] mit begleitenden rhythmischen Hand- oder Kopfbewegungen“28. Die (Sub-)Vokalisierung des Textes bei der Korrekturlesung unterstützt ihn in diesem Fall, wo es nicht um rhetorische Qualitäten des Textes geht, nicht so sehr dabei, die Formulierungen hinsichtlich ihrer Klangstruktur aufeinander abzustimmen,29 sondern die einzelnen Informationseinheiten zu validieren. Die Hervorhebung mit graphischen Mitteln, die den Text optisch in kleinere Einheiten zergliedert, könnte somit einer Art ‚Bestätigung der Richtigkeit‘ der einzelnen Informationen gleichkommen, wobei der Autor gewissermaßen jeden einzelnen Gedankenbaustein seines Textkonzepts auf einer imaginä_____________ 28
29
Wrobel (1992, 377). In diesem Zusammenhang sei auf das in der Sprachpsychologie bekannte Phänomen der motorischen Unterstützung verschiedener sprachlicher Aktivitäten beim überwiegend motorischen Typ hingewiesen, der sich z.B. Wissen durch eigenhändiges Abschreiben aneignet oder Unterstreichungen und Randbemerkungen in Büchern setzt, die nicht nur dazu dienen, das Wichtigste hervorzuheben; vgl. Kainz (1967, 94ff. u. 195f.). Vgl. Keseling (1988, 233).
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ren Liste als erledigt ‚abhakt‘. Diese Informationsverarbeitungsstrategie Feichters erinnert entfernt an die Techniken von neuerdings hoch im Kurs stehenden Methoden zur Beschleunigung des Lesevorgangs bei gleichzeitig verbesserter Aufnahme der gelesenen Informationen ins Kurzzeitgedächtnis (beworben z.B. unter den Bezeichnungen Speed Reading® oder Power Reading®),30 die in Anlehnung an neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung und der Sprachpsychologie entwickelt wurden und die sich trainieren lassen, indem man mit dem Stift in der Hand liest und zentrale Informationen unmittelbar durch Unterstreichung markiert. Der Stift hat dabei die Aufgabe, das Auge beim Durcheilen der Textzeilen zu führen und die Konzentration zu unterstützen. Analog dazu könnte man Feichters Markierungstechnik, semantischen Einheiten Nachdruck zu verleihen, als ‚Power Writing‘ bezeichnen, nur dass hier die Rollen vertauscht sind: Der Autor bevormundet den intendierten Rezipienten gewissermaßen, indem er ihm die Beurteilung der Einzelinformationen nach ihrem Grad der Wichtigkeit abnimmt. Damit wird dem Leser allerdings die Chance vorenthalten, sich den Text selbst anzueignen (wer von uns empfindet Unterstreichungen und Marginalien, die schon ein anderer Rezipient in einem Text vorgenommen hat, nicht als störend)! Wenn dieser Eindruck stimmt, liegt die Funktion der Rubrizierungen in Feichters Codex wenigstens zu einem Teil in der Selbstkontrolle des Autors / Schreibers und nicht so sehr in einer optischen Lesehilfe für sein Publikum. Spätestens an diesem Punkt drängt sich noch einmal die Frage nach dem intendierten Publikum31 und dem Zweck des Textes auf: Wer innerhalb des Domstifts brauchte derart detaillierte Informationen und Anweisungen überhaupt? Feichter selbst und sein Lehrling sicher nicht – ihnen hätten stichwortartige Notizen als Gedächtnisstütze genügt. Offenbar dachte Feichter in seinem akribischen Bemühen um Traditionsbewahrung tatsächlich in größeren Dimensionen: Damit ain Nachkomender Thúemesner sich aúch wise zú halten, schreibt er im Vorwort seines Urbars32 und meint mit dieser indefiniten Formulierung wohl nicht nur seinen unmittelbaren Amtsnachfolger,33 sondern ‚alle künftigen Dommesner‘, die sich aber – Ironie des Schicksals! – nicht allzu intensiv auf die Lektüre des Wälzers eingelassen haben dürften. Die Abnützungsspuren sind eher schwach und die Schriftspuren, die spätere Rezipienten in Form von Randnotizen hinterlassen haben, stammen großteils aus dem 17. Jh., als die Umsetzung der _____________ 30 31 32 33
Vgl. einschlägige Literatur, z.B. Buzan (2005). Vgl. Hofmeister-Winter (2001, 25f.). DMU *4v/17-19. Aufgrund der internen Gesetzmäßigkeit, nach der im Brixner Domkapitel nach dem Tod des Lehrherrn stets der mesner knecht in dessen Position aufrückte, dürfen wir uns Gallus Pacher als primären Adressaten vorstellen.
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Tridentinischen Liturgiereform längst vollzogen war und wohl nur mehr ein historisches Interesse an dem Text bestanden haben dürfte.34 Angesichts dieser Umstände wäre über die Kategorie ‚Gebrauchsschrifttum‘ neu nachzudenken, denn von einem gelungenen Kommunikationsakt kann erst die Rede sein, wenn auch die Perlokution in dem vom Sender beabsichtigten Ausmaß geglückt ist.35 Feichter selbst scheint an deren Gelingen zum Zeitpunkt der Entstehung seines Textes nicht gezweifelt zu haben. Immerhin konnte er sich des Rückhalts durch das Domkapitel sicher sein, das sein Bemühen um Traditionssicherung noch kurz vor seinem Tod mit einer Gratifikation in Höhe von 20 Gulden würdigte.36 Aus Feichters Sicht ist das Vorhaben bereits im Prozess der Textproduktion als geglückt zu betrachten, insofern es ihm gelungen ist, alle Informationen über die überkommenen liturgischen Riten zu einem umfassenden Handbuch zu verarbeiten. Es mag ihn trösten, dass sein Werk heute zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen als in vieler Hinsicht reiche Quelle immer noch zur Verfügung steht.
Literatur Buzan, Tony (2005), Speed Reading. Schneller lesen – mehr verstehen – besser behalten, 10. Aufl., Frankfurt a. M. Fiebig, Annegret (2000), Urkundentext. Computergestützte Auswertung deutschsprachiger Urkunden der Kuenringer auf Basis der eXtensible Markup Language (XML), (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 33), Leinfelden-Echterdingen. Gallmann, Peter (1985), Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Grundlagen für eine Reform der Orthographie, (RGL 60), Tübingen. Hofmeister-Winter, Andrea (1997), „Quelle und Macht. Bewußte Quellenberufungen als Mittel rechtlicher Sicherung beim Brixner Dommesner Veit Feichter (Mitte 16. Jh.)“, in: Anton Schwob / Erwin Streitfeld / Karin Kranich-Hofbauer (Hrsg.), Quelle – Text – Edition. Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996, Tübingen, 63-72. Hofmeister-Winter, Andrea (Hrsg.) (2001), Die Schriften des Brixner Dommesners Veit Feichter (ca. 1510-1560), Bd. 1: Das Brixner Dommesnerbuch. Mit elektronischer Rohtextversion und digitalem Vollfaksimile auf CD-ROM, (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 63), Innsbruck.
_____________ 34 35 36
Vgl. Hofmeister-Winter (2001, 26ff.). Vgl. Rachoinig (2009). Vgl. Hofmeister-Winter (2001, 19).
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Abkürzungsverzeichnis BT DMB DMI DMU IP IPZ
Basistransliteration Brixner Dommesnerbuch Inventar der Brixner Domsakristei Brixner Dommesner-Urbar Interpungierung Interpungierungszeichen
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Anhang
Abbildung 1: Faksimile DMB, fol. 1v
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Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ DMB001v,01 DMB001v,02 DMB001v,03 DMB001v,04 DMB001v,05 DMB001v,06 DMB001v,07 DMB001v,08 DMB001v,09 DMB001v,10 DMB001v,11 DMB001v,12 DMB001v,13 DMB001v,14 DMB001v,15 DMB001v,16 DMB001v,17 DMB001v,18 DMB001v,19 DMB001v,20 DMB001v,21 DMB001v,22 DMB001v,23 DMB001v,24 DMB001v,25 DMB001v,26 DMB001v,27 DMB001v,28 DMB001v,29 DMB001v,30 DMB001v,31
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►§1Am Er$ten Su3ntag Im adu3ent ►§2Am Samb$tag °zu3 der ve$per Im anfang des adu3ents §1Singt man die ve$per von der zey2t /0 ■ Ley2t ve$per mit vier gloggen zu3nander /0 ■ thu3e die tafl au3ff dem kor altar zu3e /0 $ou3er vorhin offen wa3r gewe$t /0 ■ vndder °dem ve$per Ley2tten leg die zwen gro$$e antiffona= ri /0 die wintter tay2l /0 au3ff bay2den ko4r au3ff /0 wo die monather $iczen /0 ■ die Ligen Im Ca$ten In des Schu3el= mai$ters pu3lpreth /0 ■ vnd die zway2 Su3mertay2l leg darneben au3ff den andern $tu3el hinu6ber /0 ■ dan die manater mu3e$$en zu3 der metten die Su3ffragia dar= au3ß $ingen /0 de Sancta Catherina @1(etc.)◄ ►§2darnach °zu3 der metten /0 Leg au3ch das Leczen pu3ech au3ff /0 ■ das winter tay2l /0 ligt zu3 vnderi$t In des $chu3elmai$ters gro$$en pu3lpret /0 wo die gro$$en antiffonari vnd gradu3al ligen x◄ ►§2Item au3ff des herren °dechants kor vor den drey2 korherrn °zu3 vn$er fraw3en /0 au3ff das $elb pu3lpreth leg au3ch /0 den gro$$en antiffonari /0 das winter tay2l au3ff /0 ■ das finde$tu3 Im alten Ca$ten bey2 der Le$er=0 panckh .0 ■ °das !1Su3mer tay2l las noch ain wey1l ligen /0 < au3ff der panckh /0 > biß vn$er Lieben frawen tag fu3r I$t Conceptionis @3(etc.) darnach thu3eß In den $elbig#1(en) alt#1(en) Ca$t#1(en) /0 an $tat des winter tay2ls .0 ◄ ►§2Item °zu3 der ve$per /0 °deckh das Leder au3ff den kor altar ab /0 biß au3ff halbs /0 ■ zint ‘2’ kerczen au3ff /0 ■ vnd zint die Cronen an /0 ■ Mach ain glu3et au3ff .0 ■ gib den $chwarcz Samathen mantl /0 oder den $chwarcz atla$en mantl zu3 dem Rau3chen .0 ◄ ►§2Item °zu3 dem !1Salu3e Ley2t wan die Complet gar i$t au3ß ge,$u3ngen /0 das der Schu3elmai$ter mit den $chu4e=
Abbildung 2: Ausschnitt I: Basistransliteration DMB, fol. 1v
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Abbildung 3: Faksimile DMB, fol. 92r
Andrea Hofmeister-Winter
Auf der Suche nach dem ‚Satz‘ DMB092r,01 DMB092r,02 DMB092r,03 DMB092r,04 DMB092r,05 DMB092r,06 DMB092r,07 DMB092r,08 DMB092r,09 DMB092r,10 DMB092r,11 DMB092r,12 DMB092r,13 DMB092r,14 DMB092r,15 DMB092r,16 DMB092r,17 DMB092r,18 DMB092r,19 DMB092r,20 DMB092r,21 DMB092r,22 DMB092r,23 DMB092r,24 DMB092r,25 DMB092r,26 DMB092r,27 DMB092r,28 DMB092r,29 DMB092r,30 DMB092r,31 DMB092r,32 DMB092r,33 DMB092r,34 DMB092r,35
895
►§2Am Samb$tag /1 den °hey2li0gen o$ter abent ►§1des °morgens In aller fru3e /2 las holcz !2@4(i.e.) gehackte $cheiter In das !1Schu3eler ga4rtl hinab tragen /1 In Creu3cz gang /2 ange= u3erlich bey2 fu3nff armen vol /2 nit gar zu3 gro$$e $cheit#6(er) .1 ■ nit mer als zway2 $cheiter /2 die mie$$en groß $ein /2 die man er$tlich zu3 vnderi$t anlegt /2 ■ darnach Ca$t#1(en) die $cheiter au3ff .1 ■ °vnnd dar,neben am $eitt#1(en) /1 lain au3ch etlich $cheiter vmher /1 ■ °darnach Nim von dem kirchen ti$chler /2 ain $cho$$en vo= ler hobl $chait#1(en) /2 die leg zu3 vnderi$t vnder die $cheiter .2 damit es palt fahen mo4g /2 ►§1darnach Schaw3 das du3 ain feu3r zeu3g bey2 dier Im !1Sagrer ha$t /2 vnnd vnder der !1Tercz /2 oder !1Sext /3 $o $chlach baczeit#1(en) ain feu3r /2 ■ dan man mu3eß das feu3r /2 oder den Scheiter hau3ffen /1 mit ainem New3 ge$chla= gen liecht an zinten /4◄ ►§2darnach vber zeu3ch den kor altar /1 mit altar tu4echer /1 ■ °vnnd leg das Rott !1Samat altar tu3ech au3ff /1 mit den gu3lden $ternen /2 ■ $ecz die zwen hohern fe$t leichter au3ff den altar /1 ■ !1Trag die Creu3cz hinau3ß /2 vnnd thu3e den !1Sarch au3ff /2 ■ fu3r den altar zeu3ch den !1Gro$$en tebich /2 vnnd den klainern tebich /1 vnder die gro$$en leichter /4 au3ff /2 ■ die zwen gro$$en fe$t leichter /1 die $ten vorhin da /2 ■ dar,nach au3ff die vier fe$t leichter /1 $teckh gar New3e fe$t kerczn .1 au3ff /2 ■ In den kor zeu3ch au3ch allend halben die Tebich au3ff /2 ■ Trag die ta4ff kerczen /0 hinau3ß In kor /2 vnnd pints mit ainer gu3rtl /2 wie manß In me$,gewant prau3cht /1 an das !1Groß pu3lpret /3 wo der Iu3nckhmai$ter $tet /3 ■ da $elbs hat das pu3lpret $cho4n $eine lo4cher /3 dar,du3rch man die Gu4rtl zeu3cht /2 ■ °pren den °zachen an der ta4ff kerczen nit ab /2 aber an den vier fe$t kerczen mag$tu3 die zachen wol ab,prennen /2 ►§1darnach Nim das lang $ta4ngl /2 damit man die fe$t kerczen alle,mal an zint ■ °vnnd pint zu3 voderi$t drey2 !2Claine kerczen an /2 die alle droy2 au3$ nander $ten /2 ■ zint die nit an /2 !1Su3nder lain das [**] $ta4ngl mit den drey2 kerczen /1 an die ta4ff kerczen .2 ◄
Abbildung 4: Ausschnitt II: Basistransliteration DMB, fol. 92r
Neuhochdeutsch
Explizite Junktion Theorie und Operationalisierung
Vilmos Ágel (Kassel)
1. Gegenstand und Ziele1 1.1. Gegenstand: explizite Junktion in der Grammatik des Nhd. Unter Junktion wird in Anlehnung an Wolfgang Raible (1992) die universale Dimension der sprachlichen Darstellung von Inhaltsrelationen zwischen zwei Sachverhalten verstanden: (1)
Peter liegt mit Grippe im Bett. Er geht nicht zur Schule.
(2)
Peter liegt mit Grippe im Bett und geht nicht zur Schule.
(3)
Weil Peter mit Grippe im Bett liegt, geht er nicht zur Schule.
In (1) wird die Relation zwischen den beiden Sachverhaltsdarstellungen durch bloße Juxtaposition indiziert. Die Erschließung der Art der Relation wird dem Leser überlassen. Die Junktionstechnik ist aggregativ. In (2) wird die Relation zwischen den beiden Sachverhaltsdarstellungen zusätzlich zur Juxtaposition durch eine Vorwärtsellipse markiert. Die Relation ist grammatisch fester, aber die Erschließung der Art der Relation wird weiterhin dem Leser überlassen. Die Junktionstechnik ist integrativer als in (1). In (3) wird die Relation zwischen den beiden Sachverhaltsdarstellungen durch Einbettung eines vorangestellten Kausalsatzes in den Hauptsatz indiziert. Die Relation wird durch Subordination indiziert. Die Art der _____________ 1
Der Theorieteil des vorliegenden Beitrags stellt eine gekürzte Fassung von Ágel / Diegelmann (im Druck) dar. Entsprechend werden zahlreiche Details, weiterführende Begründungen im Fließtext und Bemerkungen in Fußnoten bzw. mögliche kritische Punkte der Theorie hier nicht mehr angesprochen. Eine abgespeckte Vorstellung der Theorie ist notwendig, weil sonst die Operationalisierung und die Anwendung der Methode auf einen historischen Text (Abschnitt 4) nicht verständlich wären. Für die Junktionsanalyse des historischen Textes danke ich Carmen Diegelmann.
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Relation wird durch den Subjunktor weil eindeutig ausgedrückt. Die Junktionstechnik ist stark integrativ. Die satzsemantisch − durch Inhaltsrelationen − begründete Junktionstheorie von Raible sieht insgesamt acht Techniken vor, die der Junktionsdimension zuzuordnen sind. Diese Junktionstechniken werden zwischen maximaler Aggregation und maximaler Integration verortet und drücken diverse Inhaltsrelationen aus. Raibles Theorie ist zwar der Ausgangspunkt der vorzustellenden Theorie, aber keine Endstation. Aus drei Gründen nicht:
Erstens, weil Raibles Modell ausgehend von den strukturellen Eigenschaften romanischer Sprachen entwickelt wurde. Die sich aus der deutschen Felderstruktur ergebenden zusätzlichen Junktionstechniken und weitere Merkmale der Junktion im Deutschen konnten also nicht berücksichtigt werden. Da diese im Handbuch der deutschen Konnektoren (= HdK) ausführlich beschrieben werden, konnten die Theorien von Raible und des HdK mit eigenen Überlegungen verbunden werden. Den Phänomenbereich, der mit dieser Theorie abgedeckt werden soll, nennen wir im Projekt „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pilotprojekt zu einer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“, explizite Junktion, da er im Sinne von Peter von Polenz der sog. „expliziten Sprache“ (von Polenz 1985, 24f.) zuzurechnen ist. 2
Der zweite Grund ist, dass wir im Projekt meinen, dass eine Junktionstheorie nicht nur diejenigen Verknüpfungen von Sachverhaltsdarstellungen zu modellieren hat, die explizit sind, d.h. durch eine reguläre Realisierung von Sprachzeichen erfolgen, sondern auch diejenigen, die elliptisch sind, d. h. durch eine reguläre Nichtrealisierung von Sprachzeichen erfolgen (vgl. Beispiel (2) oben). Dies ist der Phänomenbereich, den man in den Ellipsentheorien Koordinationsellipsen (Klein 1993) oder Ana- bzw. Katalepsen (Hoffmann in der IDS-Grammatik 1997, 409ff.) nennt. Diesen Phänomenbereich, um den wir die Theorie der expliziten Junktion ergänzen wollen, nennen wir elliptische Junktion, da er im Sinne von Peter von Polenz der sog. elliptischen Weise des Ausdrucks (von Polenz 1985, 25f.) zuzurechnen ist. Überlegungen zu einer Theorie der elliptischen Junktion und zur Integration der expliziten und elliptischen Junktion wurden von Mathilde Hennig angestellt (Hennig 2008 und Hennig 2009).
_____________ 2
Zum Projekt vgl. Ágel / Hennig 2007 und die Projekthomepage online im Internet: http://www.uni-kassel.de/%7Ehennig/junktion.html.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung •
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Drittens stehen unsere Theorien der expliziten und elliptischen Junktion nicht in einem sprachtypologischen Zusammenhang, sondern in einem spezifischen variationslinguistischen Kontext. Die theoretischen Überlegungen sind Teil des Langfristprojekts „Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“. Konzeptionelles Leitprinzip der geplanten Grammatik ist die besondere Fokussierung auf die grammatischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit. Der variationslinguistischen Begründung dieses konzeptionellen Leitprinzips dient das Nähe-Distanz-Modell, das eine Theorie des Nähe- und Distanzsprechens und deren an historischen Texten erprobte Operationalisierung umfasst (Ágel / Hennig 2006a und 2006b bzw. Ágel / Hennig 2006). Mit Hilfe des Modells kann der Grad der Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit (auf Mikro- wie Makroebene) bestimmt werden, sodass jedem Text ein prozentualer Nähe- bzw. Distanzwert zugeordnet werden kann. Da die Junktionsdimension eine zentrale Rolle im Modell des Nähe- und Distanzsprechens spielt, indem gemäß der Theorie des Nähe- und Distanzsprechens Nähe und Aggregation bzw. Distanz und Integration korrelieren sollen, müssen in unseren Junktionstheorien erwartungsgemäß auch solche aggregativen Strukturen berücksichtigt werden, die in den an modernen Schriftsprachen orientierten Grammatiktheorien bzw. grammatischen Beschreibungen nicht berücksichtigt werden.
Unsere Grundüberlegungen zur Junktionstheorie sollen am folgenden Beispiel erläutert werden:3 (4)
Beyn=ben hatte ich auch 12 fl., so ich zusamengelegt hab, waß mihr zu Zeitten von meinen Frindten ist vererdt worden undt mitt Zinstechen verdienet habe. (Güntzer I, 40v)
Der uns interessierende Teil ist die Koordination der ist-vererdt-wordenSachverhaltsdarstellung und der verdienet-habe-Sachverhaltsdarstellung. Indiziert man (durch eckige Klammern) die vorwärtselliptischen Teile in der zweiten Sachverhaltsdarstellung und die junktionsrelevanten grammati-
_____________ 3
Um das konzeptionelle Leitprinzip des Langfristprojekts umzusetzen, sind wir dabei, ein Nähekorpus des Nhd. aufzubauen und grammatisch zu erschließen. Dazu wurde der Zeitraum 1650-2000 in sieben Abschnitte à 50 Jahre (I = 1650-1700; II = 1700-1750 ... VII = 1950-2000) eingeteilt. Der jeweilige Entstehungsabschnitt ist den Zitierformen der Korpustexte zu entnehmen. „Güntzer I“ ist beispielsweise ein Nähetext aus der Zeit zwischen 1650 und 1700.
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Vilmos Ágel
schen Kategorien und Relationen in beiden Sachverhaltsdarstellungen, bekommt man folgendes Bild:4 (4a) Beyn=ben hatte ich auch 12 fl., so ich zusamengelegt hab, waßnom mihrdat zu Zeitten von meinen Frindten (ist vererdt worden)V1V3V2 undt [waßakk] [ichnom] mitt Zinstechen (verdienet habe) V2V1 Es ist ersichtlich, dass bei einer exhaustiven und angemessenen Beschreibung der Koordination insgesamt vier Faktoren berücksichtigt werden müssen: 1. der Konjunktor und (explizite Junktion); 2. die nichtparallele Serialisierung der Verbalkomplexe (explizite Junktion); 3. die Nichtrealisierung des Akkusativobjekts waß in der zweiten Sachverhaltsdarstellung, obwohl waß in der ersten Sachverhaltsdarstellung Subjekt ist (elliptische Junktion); 4. die Nichtrealisierung des Subjekts ich in der zweiten Sachverhaltsdarstellung, obwohl mihr in der ersten Sachverhaltsdarstellung Dativobjekt ist (elliptische Junktion). In einer Theorie der expliziten Junktion muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die und-Koordination durch eine aggregative Serialisierung geschwächt wird, während in einer Theorie der elliptischen Junktion die kategoriale Aggregativität der beiden Koordinationsellipsen (zweifacher Kasuswechsel) berücksichtigt werden muss (aggregative Koordinationsellipsen). 1.2. Ziele Vorliegender Beitrag setzt sich 1. zum Ziel, eine Theorie der expliziten Junktion vorzustellen (Kapitel 3). Diese soll nicht nur in der Lage sein, gegenwartsdeutsche und distanzsprachliche, sondern auch historische und nähesprachliche Strukturen zu erfassen. Eine Theorie der expliziten Junktion um_____________ 4
V1 = Verbum finitum, V2 = direktes Dependens von V1, V3 = direktes Dependens von V2. Die Serialisierung im dreigliedrigen Verbalkomplex ist vererdt worden folgt – im Gegensatz zu heute − nur im infiniten Bereich (V3V2) dem Dependenzprinzip ‚rechts determiniert links’, während die Abfolge des zweigliedrigen Komplexes verdienet habe ganz dem Prinzip entspricht. Ausführlich s. Ágel 2001.
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fasst drei Komponenten: (a) Junktionsklassen, (b) Junktionstechniken und (c) Inhaltsrelationen. 2. wird das Ziel verfolgt, die Theorie für die praktische Arbeit mit Texten zu erschließen. Analog zur Operationalisierung des Nähe-DistanzModells soll also auch das Junktionsmodell operationalisiert werden (Kapitel 4). So, wie die Operationalisierung des Nähe-DistanzModells eine Quantifizierung des Grades an Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit von Texten ermöglicht, so soll die Operationalisierung des Junktionsmodells eine Quantifizierung des Grades an Aggregativität bzw. Integrativität von Texten möglich machen. Jedem Text soll ein Junktionswert zugeordnet werden können.5 3. Im Zuge der theoretischen und praktischen Arbeit hat sich herausgestellt, dass es sinnvoll ist, nicht nur den Junktionswert eines Textes, sondern auch dessen Junktionsintensität zu analysieren (4.3.3.).
2. Die drei Extensionen von Aggregation und Integration Die der Theorie der expliziten (und auch der der elliptischen) Junktion zugrunde liegende Extension der Begriffe Aggregation und Integration (= Extension A) stellt nur eine von drei möglichen Extensionen der Junktionsdimension dar. Deshalb ist es notwendig, hier auf alle drei Extensionen, deren jede ihren analytischen Sinn und ihre theoretische Berechtigung hat, kurz einzugehen: •
Extension A: Die Gesamtheit der Junktionstechniken, die der Verknüpfung von Aussagen durch Inhaltsrelationen dienen. Im Sinne der Satzsemantik von Peter von Polenz (1985) können drei Erscheinungsformen von Aussagen unterschieden werden: Verknüpfung, Einbettung und Zusatz. Einbettung, die sich syntaktisch durch Subjekt- und Objektsätze bzw. durch Subjekts- und Objektsinfinitive manifestiert, und Zusatz, der appositiv oder attributiv syntaktifiziert wird, gehören nicht zur Extension A.
•
Extension B: Die Gesamtheit der Junktionstechniken, die der Verknüpfung von Aussagen durch Inhaltsrelationen, der Einbettung einer Aussage in eine andere Aussage und dem Hinzufügen einer Aussage zu einer anderen Aussage dienen. Im Sinne von Extension
_____________ 5
Komplementär wurde die Integration expliziter und elliptischer Junktion von Mathilde Hennig operationalisiert (Hennig 2008).
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B ist die (satzsemantische) Einbettung (5a) aggregativer als die Einbettung (5b) und der (satzsemantische) Zusatz (6a) aggregativer als der Zusatz (6b): (5a) Peter wird nicht kommen. Das ist mir jetzt schon klar. (5b) Dass Peter nicht kommen wird, ist mir jetzt schon klar. (6a) Ich suche ein Buch. Ich habe es erst gestern ins Regal zurückgestellt. (6b) Ich suche ein Buch, das ich erst gestern ins Regal zurückgestellt habe. Da die Typen (5a) bis (6b) keine Realisierungen von Aussagenverknüpfungen darstellen, gehören sie nicht zum Gegenstand unserer Theorie der expliziten Junktion. Extension A ist eine Teilmenge von Extension B. •
Extension C: Die kognitiv-kulturgeschichtlich motivierbaren Parameter Aggregation und Integration, die zwei grundverschiedene grammatische Organisationstypen darstellen, deren Relation je nach Varietät unterschiedlich und historisch einem steten Wandel unterworfen ist. Da Extension C an anderer Stelle ausführlich vorgestellt und begründet wurde (Ágel 2003 und 2007) und da Extension B eine Teilmenge von Extension C darstellt, sollen hier lediglich vier Beispieltypen genannt werden, die Junktionstechniken exemplifizieren, die über Extension B hinausgehen. Die jeweiligen a-Beispiele sind dem Aggregationsparameter, die b-Beispiele dem Integrationsparameter zuzuordnen:
(7a) Dan es ist verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tragen… (Güntzer I, 41r) (7b) Denn es ist verboten, in diesem Wald geladene Waffen zu tragen. (8a) meine Mutter mit ihren Kindern stehen an der Hausthüre...(Haniel IV, 19) (8b) Meine Mutter mit ihren Kindern steht an der Haustür. (9a) Da mach doch Gott geben da die Zeit nun endlich mahl komme des Wiedersehns (Briefwechsel V, 117) (9b) … die Zeit des Wiedersehens (10a) Das Hanaw war belägert von kaiserischem Volk und war besetzet mit Schweden. (Bauernleben I, 35)
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(10b)Hanau war von kaiserlichen Truppen belagert und von Schweden besetzt. Beim Typus (7) handelt es sich um syntaktische Subordination. Dieser entspricht im Falle von (7b) eine semantische Subordination, da die Proposition der Infinitivkonstruktion präsupponiert ist. Im Gegensatz dazu ist die Proposition der Infinitivkonstruktion von (7a) assertiert, da die Setzung des Negationsartikels unabhängig von der Realisierung der Direktivhandlung durch das negative Matrixverb verbieten erfolgt ist. Die Typen (8) und (9) − Sinn- vs. Formkongruenz bzw. diskontinuierlicher vs. kontinuierlicher Anschluss des Genitivattributs − müssen nicht näher erläutert werden. Typus (10) ist deshalb besonders aufschlussreich, weil er unauffällig ist. Aggregativer ist (10a) als (10b) deshalb, weil die Nichtrealisierung der Kopula, die zur Straffung der Koordination beitragen könnte, ausbleibt. Diese und-Koordination wird also im Gegensatz zum Typus (4) (vgl. 1.1.) nicht durch fehlende kategoriale und relationale Straffung, sondern durch − wohlgemerkt, aus heutiger Sicht − pleonastische Kategorienrealisierung geschwächt. Beides geht auf Kosten der syntaktischen Kohäsion.
3. Junktionsklassen und -techniken 3.1. Junktionsklassen Junktoren verbinden Sachverhaltsdarstellungen. Beteiligt an einer Junktion sind also zwei Konnekte und der Junktor, der eine Inhaltsrelation zwischen den Konnekten herstellt.6 In diesem Sinne ist die Juxtaposition (vgl. Beispiel (1) in 1.1.), die bei Raible die aggregativste Junktionstechnik darstellt, keine explizite Junktionstechnik, da kein Junktor vorhanden ist (vgl. auch Wegener 2001, 89). Aus einem anderen Grunde stellt die sog. Parajunktion (Verbindungen mit Diskursmarkern oder Parajunktoren) ebenfalls keine explizite Junktonstechnik dar. Sie dient nämlich nicht der syntaktischen Verbindung von zwei Konnekten, sondern der Diskursorganisation (Auer / Günthner 2005). Parajunktoren sind im Sinne der Theorie des Nähe- und Distanzsprechens dem Zeit- oder dem Situationsparameter zuzuordnen und fungieren als Zeit- bzw. Situations-Diskurszeichen, d.h. als Zeit- / Situations-Nähezeichen oder -Distanzzeichen (Ágel 2005). _____________ 6
In Anlehnung an das HdK spreche ich im technischen Sinne von Konnekten, d.h. von zu jungierenden oder jungierten syntaktischen Strukturen, die jeweils Sachverhaltsdarstellungen repräsentieren.
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Zu unterscheiden sind vier Junktionsklassen, die hinsichtlich der Aggregations- / Integrations-Skala von links nach rechts angeordnet sind:
Abbildung 1: Explizite Junktion
Folgende Strukturen sollen die einzelnen Klassen − von links nach rechts, also nach zunehmender Integrativität − einführend exemplifizieren: (11a) Peter geht nicht zur Schule. Er ist nämlich krank. (11b)Weil Peter krank ist, geht er nicht zur Schule. (11c) Wegen seiner Erkrankung kann Peter nicht zur Schule gehen. (11d) Seine Erkrankung ist der Grund dafür, dass Peter nicht zur Schule gehen kann. Da die einzelnen Klassen und die diesen zugeordneten Junktionstechniken weiter unten begründet werden, soll an dieser Stelle nur auf die Unterscheidungskriterien für die einzelnen Klassen eingegangen werden:
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Abbildung 2: Junktionsklassen7
Primäres Unterscheidungskriterium ist die Anzahl (0 bis 2) der vom Junktor regierten Konnekte. Je mehr Konnekte der Junktor regiert, desto stärker sind die Konnekte (über den Junktor) integriert. Während koordinierende Junktoren kein Konnekt regieren, regieren unifizierende Junktoren, die selber Prädikatsausdrücke sind (vgl. oben den Junktor ist der Grund dafür), beide Konnekte. Um die Klassen Subordination und Inkorporation, deren Junktoren jeweils ein Konnekt regieren, unterscheiden zu können, wird als sekundäres Kriterium die Art − verbal oder nominal (= nominalisiert) − des regierten Konnekts eingeführt. Denn hinsichtlich des Junktionsgrades (Aggregations- bzw. Integrationsgrades) besteht der Unterschied zwischen Subordination und Inkorporation darin, dass das regierte Konnekt der Subordination verbal und damit noch relativ selbstständig ist, während das regierte Konnekt der Inkorporation eine nominalisierte Sachverhaltsdarstellung reprä_____________ 7
R = Relator (Junktor), K = Konnekt. Die Großbuchstaben K, S und I stehen für die Klassen Koordination, Subordination und Inkorporation. Mit dem Terminus Inkorporation − im Unterschied zu Inkorporierung − soll sowohl die Familienähnlichkeit zwischen der Junktionsklasse und dem Wortbildungsverfahren als auch der Domänenunterschied (Syntax vs. Wortbildung) erfasst werden.
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sentiert und daher syntaktisch voll in das andere Konnekt eingegliedert ist. Inkorporierende Junktoren sind Adpositionen, die regierten Konnekte Nominalgruppen, die eine Sachverhaltsdarstellung komprimiert ausdrücken. Bei der Unifikation, deren regierte Konnekte verbal wie nominal sein können, spielt das sekundäre Unterscheidungskriterium keine Rolle, weil das Besondere an der Unifikation darin besteht, dass die beiden Konnekte über einen Prädikatsausdruck vereint werden. Unifizierende Junktoren unterscheiden sich also entscheidend von den Junktoren der drei anderen Klassen, die alle unflektierbaren Wortarten angehören. Dass unifizierende Junktoren Prädikatsausdrücke sind, ist der Grund dafür, dass sie, obwohl sie in der Regel weniger grammatikalisiert sind als koordinierende, subordinierende und inkorporierende Junktoren, die beiden Konnekte am stärksten integrieren. Im Folgenden sollen die den einzelnen Junktionsklassen zugeordneten Junktionstechniken vorgestellt werden. Junktionstechniken sind einzelsprachliche syntaktische Jungierungsoptionen, die ausschließlich nach der Aggregations- / Integrations-Skala begründet werden. In diesem Sinne stellen (12a) und (12b) zwei verschiedene Koordinationstechniken dar, obwohl sie mit demselben Junktor operieren: (12a) Die Suppe war gut. Dagegen war das Schnitzel nicht saftig genug. (12b)Die Suppe war gut. Das Schnitzel dagegen war nicht saftig genug. Doch ist die Gemeinsamkeit zwischen den Junktionstechniken in (12a) und (12b) nicht zu übersehen. Dieser Gemeinsamkeit trägt das HdK Rechnung, wenn es dagegen in beiden Fällen als Adverbkonnektor identifiziert.8 Deshalb ist es angebracht, einen Unterschied zwischen Junktionstechnik und (Junktions-)Grundtechnik zu machen. Die Grundtechnik − Koordination durch einen AP-Junktor − ist (12a) und (12b) gemeinsam, unterschiedlich sind die Junktionstechniken. Ein Junktionssystem, das auf der Unterscheidung zwischen Techniken und Grundtechniken basiert, soll ein zweidimensionales Junktionssystem genannt werden.
_____________ 8
Im Rahmen des Projekts „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen“ sprechen wir von AP-Junktoren (= Adverb- und Partikeljunktoren), da nicht alle Adverbkonnektoren Adverbien sind.
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3.2. Junktionstechniken 3.2.1. Koordinationstechniken Zu unterscheiden sind zwei Grundtechniken: 1. Konjunktion: Koordination durch Konjunktoren; 2. AP-Junktion: Koordination durch AP-Junktoren. Diese Grundtechniken werden in Abhängigkeit von zwei Kriterien zu sechs Junktionstechniken ausdifferenziert. Die Kriterien: •
Stellungsfeld (nur AP-Junktoren);
•
+ / − Paarigkeit (beide Grundtechniken).
Die sechs Koordinationstechniken:9
Abbildung 3: Koordination
_____________ 9
In Anlehnung an die Felderstruktur des HdK. NF / NS = Nachfeld- oder Nachsatzstelle, VF / MF = Vorfeld oder Mittelfeld, VE / NE = Vorerst- oder Nacherststelle.
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Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen einfachen und paarigen Konjunktoren und AP-Junktoren folge ich Diegelmann (2008, 22ff.), die auch den Terminus paariger AP-Junktor eingeführt hat:10 (13a) [Zwar werden … die Zielsetzungen der Betriebe unterschiedlich sein…]K1 [doch wird jede dieser Zielsetzungen … realisiert werden]K2 (Beleg nach Diegelmann 2008, 25) (13b)[die Zielsetzungen der Betriebe werden unterschiedlich sein]K1 [doch wird jede dieser Zielsetzungen realisiert werden]K2 (13c) [die Zielsetzungen der Betriebe werden zwar unterschiedlich sein]K1 doch [jede dieser Zielsetzungen wird realisiert werden]K2 (13d) [die Zielsetzungen der Betriebe werden unterschiedlich sein]K1 doch [jede dieser Zielsetzungen wird realisiert werden]K2 Ein Konjunktor steht zwischen den beiden Konnekten. Je nachdem, ob sich im ersten Konnekt zusätzlich eine Partikel befindet, mit der zusammen der Konjunktor eine Inhaltsrelation ausdrückt, werden paarige von einfachen Konjunktoren unterschieden ((13c) vs. (13d)). Ist dagegen der koordinierende Junktor in die Felderstruktur des zweiten Konnekts integriert, liegt ein AP-Junktor vor. Je nachdem, ob sich im ersten Konnekt zusätzlich eine Partikel befindet, mit der zusammen der AP-Junktor eine Inhaltsrelation ausdrückt, können auch hier paarige und einfache APJunktoren unterschieden werden ((13a) vs. (13b)). Generell lässt sich sagen, dass paarige Junktion immer integrativer ist als einfache. Auch dürfte es unumstritten sein, dass AP-Junktion im Allgemeinen integrativer ist als Konjunktion. Die einzige AP-Junktionstechnik, die aggregativer ist als die einfache Konjunktion, ist die seltene und grammatisch oft zweifelhafte Option, wenn der AP-Junktor das Nachfeld oder die Nachsatzstelle (des zweiten Konnekts) besetzt: (1a) ?Peter liegt mit Grippe im Bett. Er will zur Schule gehen allerdings. In solchen Fällen wird die Inhaltsrelation quasi nachgeschoben, ohne dass die Verbindung der beiden Konnekte syntaktisch kohäsiv wirken würde.
_____________ 10
K1 = erstes Konnekt, K2 = zweites Konnekt.
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3.2.2. Subordinationstechniken Die allermeisten Grundtechniken gibt es bei der Subordination, die als eine „radiale“, prototypische Kategorie zu verstehen ist (Fabricius-Hansen 1992 und 2007; Wegener 2001):
Abbildung 4: Subordination I11
Die wichtigste Unterscheidung ist die zwischen finiten und infiniten Techniken:12 (14) Auff der Tonaue halffe ich rudtern, darmit ich kein Schifflohn dirffte außgeben. (Güntzer I, 46r) (15) Als ich nacher Ambsterdam kam, ließe ich eine Dockaten w=xlen, darmit die Statt besichtigen. (Güntzer I, 84r) (16) Auff einen Dag pflegte ich in dem gesalzen Sewaßer baden, darmit Eitter und Pludt auß den Wunden und Plattern zu waschen, den Leib etwaß zu seiffern und reinigen. (Güntzer I, 102v) _____________ 11 12
PK = Partizipialkonstruktion, IK = Infinitivkonstruktion. Während die Aggregations- / Integrations-Skala von Raible (1992) infinite Techniken enthält (Technik V bei Raible), werden sie bei Fabricius-Hansen (1992, 458), die sich auf „Subordination im engeren Sinne“ beschränkt, explizit ausgeklammert.
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Der Vergleich der Belege (14) bis (16) zeigt, dass eine Unterscheidung zwischen finiter und infiniter Grundtechnik nicht ausreicht, da im Nhd. die infinite Junktionstechnik ohne zu noch präsent ist (s. (15) und die Infinitivkonstruktion mit reinigen in (16)). Wir betrachten − trotz Infinitheit − diese Grundtechnik als besonders aggregativ, weil der Infinitiv ohne zu normalerweise statusregiert ist und daher − als Teil eines Verbalkomplexes − keine neue Sachverhaltsdarstellung indiziert. Ähnlich aggregativ sind Partizipialkonstruktionen, aber aus einem anderen Grund: Die auszudrückende Inhaltsrelation lässt sich nur pragmatisch inferieren, was Partizipialkonstruktionen inhaltlich in die Nähe von Juxtapositionen rückt. Syntaktisch sind sie jedoch qua Infinitheit integriert. Bei den finiten Junktionstechniken unterscheiden wir in Anlehnung an das HdK je nach Rektum des internen − durch den Junktor eingeleiteten − Konnekts Verbzweitsatzeinbetter und Subjunktoren (die man auch Verbletztsatzeinbetter nennen könnte). Im Gegensatz zum HdK betrachten wir die Subordination durch Postponierer nicht als eine eigene Grundtechnik, da Postponierer (wie z.B. sodass, wobei) ebenfalls Verbletztsatzeinbetter sind. Dass sie weniger integrieren als die Subjunktoren, die auch anteponiert werden können, wird bei der Operationalisierung zu berücksichtigen sein. Hinsichtlich des Junktionsgrades nehmen wir noch eine Grundtechnik an, die Subordination durch Subjunktorersatz: (17) Kaum hatte ich die Arbeit beendet, klingelte das Telefon. (17a) Kaum dass ich die Arbeit beendet hatte, klingelte das Telefon. (18) Mir kam es vor, als hätte ich ewig gewartet. (18a) Mir kam es vor, als ob ich ewig gewartet hätte. (19) Ist es hier ungemütlich, können wir auch wo anders hingehen. (19a) Wenn es hier ungemütlich ist, können wir auch woanders hingehen. Unter Subjunktorersatz verstehen wir die Techniken (17) bis (19), die als Alternativen der subjungierenden Techniken (17a) bis (19a) dienen. Diesen Techniken gemeinsam ist die Subjunktor-Reduktion und deren Indizierung durch Nicht-Verbletzt. Durch die Subjunktor-Reduktion bleibt entweder nur die besondere Wortstellung – vgl. (19) – oder zusätzlich ein Restsubjunktor wie in (17) und (19) übrig.13 _____________ 13
Typ (19) sind auch uneingeleitete Konzessivsätze mit mag / möge + Inf. zuzuordnen (Baschewa 1983, 98ff.).
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Mit der Kategorie Subjunktorersatz, die eine paradigmatische Relation zur Kategorie Subjunktor präsupponiert, ist historisch vorsichtig umzugehen. In neuhochdeutschen Nähetexten gibt es eine Reihe von Strukturen, die ähnlich wie (17) aussehen, aber in keiner paradigmatischen Relation zu subjungierten Nebensätzen stehen (Hennig 2007, 264ff.). Diese Strukturen, deren internes Konnekt durch den AP-Junktor so eingeleitet wird und die nicht nur temporale, sondern auch adversative, kausale und konditionale Inhaltsrelationen ausdrücken können (Hennig 2007, 267), stellen möglicherweise die Grammatikalisierungsvorgänger des integrativeren Typus (17) dar. Bei der Operationalisierung werden die Techniken Subordination durch Verbzweitsatzeinbetter und Subordination durch Subjunktorersatz zu einer Gruppe zusammengefasst, da hier keine Kriterien für eine Differenzierung entlang der Aggregations- / Integrations-Skala angegeben werden können. Zusammenfassend seien die Grundtechniken der Subordination nach zunehmendem Integrationsgrad genannt:14 1. infinite Subordination ohne zu: Infinitivkonstruktion ohne zu; 2. infinite Subordination ohne zu: Partizipialkonstruktion; 3. Subordination durch Verbzweitsatzeinbetter; 4. Subordination durch Subjunktorersatz; 5. Subordination durch Subjunktor; 6. infinite Subordination mit zu.15 Diese Grundtechniken können in Abhängigkeit von zwei Kriterien zu einer Reihe von Junktionstechniken ausdifferenziert werden: •
Stellungsfeld: Position des internen Konnekts;
•
Korrelate: Vorhandensein und Position.
_____________ 14
15
Der „zunehmende Integrationsgrad“ gilt wie erwähnt für 1 und 2 bzw. für 3 und 4 nicht, die als gleich aggregativ / integrativ zu betrachten sind. Entsprechend wird bei der Operationalisierung (4.2.) von vier Grundtechniken der Subordination auszugehen sein. Die Unterscheidung zwischen infiniter Subordination mit zu ohne und mit Infinitivjunktor (z.B. ohne…zu) wird bei der Operationalisierung zu berücksichtigen sein.
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Vilmos Ágel
Abbildung 5: Subordination II16
Befindet sich das interne Konnekt außerhalb der Felderstruktur (in der sog. Nullstelle), ist die Verbindung besonders aggregativ:17 (20) Um meine Familie zu sehen, ich fahre nach Hause. Etwas integrativer sind diejenigen Techniken, bei denen sich das interne Konnekt im Nachfeld befindet. Hier unterscheiden wir drei Techniken: (21a) Ich fahre nach Hause dazu, um meine Familie zu sehen. (21b)Ich fahre nach Hause, um meine Familie zu sehen. (21c) Ich fahre dazu nach Hause, um meine Familie zu sehen. Entscheidend ist hinsichtlich der Aggregations- / Integrations-Skala, dass man zwei Typen von Korrelaten unterscheiden muss: resumptive (= resumptiv) und nichtresumptive (= +KORR).18 Resumptive Korrelate be_____________ 16
17 18
Zugunsten der Übersichtlichkeit wurde hier ein gewisser Grad an terminologischer Unpräzision in Kauf genommen, da sich (a) die Nullstelle nicht außerhalb der Felderstruktur, sondern nur außerhalb der Kernfelderstruktur befindet und (b) die internen Konnekte der resumptiven Techniken vor dem Vorfeld und nach dem Nachfeld zu positionieren sind. Die Vorstellung der verschiedenen Techniken basiert auf demselben Grundbeispiel, was zur Folge hat, dass im Gegenwartsdeutschen nicht jedes Beispiel einwandfrei ist. Zur Resumption im Allgemeinen vgl. König / van der Auwera (1988).
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
915
setzen die letzte Stelle im vorangestellten Hauptsatz (vgl. (21a)) und die erste Stelle im nachgestellten Hauptsatz (vgl. (23a)). Sie sind versetzend: rechtsresumptive Korrelate rechtsversetzend, linksresumptive linksversetzend. Nichtresumptive Korrelate befinden sich unabhängig von der Stellung des Hauptsatzes in dessen Mittelfeld (vgl. (21c) und (23c)). (21a) ist demnach rechtsresumptiv. Verglichen mit der korrelatlosen (= −KORR) Technik (21b) ist es aggregativ, weil das resumptive Korrelat einen direkten Anschluss an das erste (externe) Konnekt verhindert. Am integrativsten ist die Technik (21c) mit (nichtresumptivem) Korrelat, weil das nichtresumptive Korrelat den Anschluss des internen Konnekts nicht nur ermöglicht (wie −KORR), sondern auch antizipieren lässt. Im Mittelfeld besteht nur die Option − / +KORR: (22a) Ich fahre, um meine Familie zu sehen, nach Hause. (22b)Ich fahre dazu, um meine Familie zu sehen, nach Hause. Am besten untersucht sind die Techniken, bei denen das interne Konnekt im Vorfeld steht.19 Diese sind zu den Nachfeld-Techniken quasi spiegelbildlich (linksresumptiv, –KORR, +KORR): (23a) Um meine Familie zu sehen, dazu fahre ich nach Hause. (23b)Um meine Familie zu sehen, fahre ich nach Hause. (23c) Um meine Familie zu sehen, fahre ich dazu nach Hause. 3.2.3. Inkorporationstechniken Hier ist nur eine Grundtechnik anzunehmen: Die Sachverhaltsdarstellung des internen Konnekts wird als deverbale oder deadjektivische Adpositionalgruppe komprimiert und in das externe Konnekt eingegliedert:20 (24) Die Bauern verwundern sich, daß wihr mit dem Leben sindt darvonkomen w=gen der großen Unsicherheidt der Merdter (Güntzer I, 43v) Diese Grundtechnik kann in Abhängigkeit von der Stellung der Adpositionalgruppe in der Felderstruktur des externen Konnekts zu einer Reihe von Junktionstechniken ausdifferenziert werden: _____________ 19 20
Zur Integration linksperipherer Adverbialsätze in der Geschichte des Deutschen vgl. Axel (2002), Lötscher (2005) und Kappel (2008). Inkorporation ist bei Raible (1992) teils der Technik VI, teils der Technik VII (komplexe vs. einfache Präpositionen) zuzuordnen. Auch Breindl / Waßner (2006, 47) rechnen mit Präpositionen als konnexionsstiftenden formalen Mitteln.
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Vilmos Ágel
Abbildung 6: Inkorporation
Wie man sieht, gilt hier hinsichtlich der Aggregations- / Integrations-Skala dasselbe Schema wie bei der Subordination (vgl. Abbildung 5), sodass auf die Exemplifizierung der einzelnen Junktionstechniken verzichtet werden kann. 3.2.4. Unifikationstechniken So wie bei der Inkorporation ist auch hier nur eine Grundtechnik anzunehmen:21 beidseitige Integration der Konnekte durch einen Prädikatsausdruck, der den unifizierenden Junktor darstellt. Es ist diese Beidseitigkeit der Integration (= zwei regierte Konnekte), die die Annahme begründet, dass diese Grundtechnik am integrativsten ist. Beidseitigkeit hat die theoretische Konsequenz, dass die Unterscheidung zwischen externem und internem Konnekt entfallen muss. Wir unterscheiden drei Unifikationstechniken:
_____________ 21
Diese Technik fehlt bei Raible. Breindl / Waßner (2006, 47) rechnen dagegen mit „spezifische[n] Nomina und Verben“ (= LEX) als konnexionsstiftenden formalen Mitteln. LEX entsprechen den unifizierenden Junktoren.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
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Abbildung 7: Unifikation
Das Unterscheidungskriterium für die drei unifizierenden Junktionstechniken ist der Nominalisierungsgrad der Konnekte: Am aggregativsten ist diejenige Technik, bei der beide Konnekte verbal sind, am integrativsten diejenige, bei der beide Konnekte nominalisiert sind. Dazwischen liegt die verbonominale Mischtechnik. Da, wie in 3.1. erwähnt, unifizierende Junktoren in der Regel weniger grammatikalisiert sind als koordinierende, subordinierende und inkorporierende Junktoren, ist ihre Abgrenzung im Einzelfall nicht unproblematisch. Während etwa der Prädikatsausdruck ist der Grund dafür die GrundFolge-Relation in Reinkultur transportiert, ist die Kausalität von verdanken durch zusätzliche lexikalische Inhalte verdeckt. Der Unterschied soll bei der Operationalisierung berücksichtigt werden (vgl. 4.2.).
4. Operationalisierung 4.1. Methode Unter Operationalisierung ist die Ausarbeitung und theoretische Begründung eines Punktesystems für die Einordnung von Texten entlang der Aggrega-
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Vilmos Ágel
tions- / Integrations-Skala zu verstehen. Die Operationalisierung soll also eine Quantifizierung des Grades an Aggregativität bzw. Integrativität von Texten ermöglichen: Jedem Text soll ein Junktionswert zugeordnet werden können, der grob über die syntaktische Kohäsion der Texte qua Inhaltsrelationen orientiert. Die Berechnung des Junktionswertes beinhaltet drei Schritte: 1. Analyse des einzuordnenden Textes (Textausschnittes): Identifizierung der Junktionstechniken und Inhaltsrelationen. Dies setzt auch die Identifizierung der Konnekte (Sachverhaltsdarstellungen) voraus. 2. Punktgebung. 3. Berechnung des Junktionswertes: Inbeziehungsetzen der Punktzahl des einzuordnenden Textes zu den Punktzahlen der als Tertia Comparationis definierten proto-aggregativen und proto-integrativen Texte. Der erste Schritt muss nicht näher kommentiert werden. Im Folgenden soll zuerst auf die Punktgebung (4.2.), anschließend auf die Berechnung des Junktionswertes eingegangen werden (4.3.). Hierzu müssen zuerst die Proto-Texte analysiert werden (4.3.1.). Dann wird die Berechnung des Junktionswertes an einem historischen Nähetext (Bauerleben I) zu exemplifizieren sein (4.3.2.). Schließlich wird, wie in 1.2. angekündigt, die Junktionsintensität berechnet werden (4.3.3.). 4.2. Punktgebung Die Aufgabe scheint einfach: Man ordnet jeder Junktionstechnik eine bestimmte Anzahl von Punkten zu, sodass die aggregativste Technik die wenigsten und die integrativste die meisten Punkte erhält. Dann zählt man die Punkte zusammen. Diese „Methode“ wäre aus verschiedenen Gründen naiv: 1. Man kann zwar sagen, welche Junktionstechnik am aggregativsten (Koordination durch AP-JunktionNF / NS) und welche am integrativsten ist (nominale Unifikation), aber die in Texten vorfindliche empirische Variationsvielfalt im Zwischenbereich ist so groß, dass man die junktionsrelevanten Kombinationsmöglichkeiten nicht voraussagen kann. Jeder neu analysierte Text fördert Belege zutage, deren theoretische Verortung Kopfzerbrechen bereitet.
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
919
2. Während die Anzahl der Junktionstechniken bei Koordination (sechs Techniken), Inkorporation (vier) und Unifikation (drei) relativ leicht zu bestimmen ist, trauen wir uns eine Quantifizierung bei der Subordination erst gar nicht zu, da die genaue Anzahl der möglichen Kombinationen von finiten / infiniten (Tabelle 4) und stellungsfelderbezogenen Merkmalen (Tabelle 5) kaum anzugeben sein dürfte. Es handelt sich aber auf jeden Fall um mindestens 30 Techniken. 3. Gesetzt den Fall, dass wir genau wissen, wie viele Techniken der Subordination zuzuordnen sind − nehmen wir der Einfachheit halber an, es sind 30 Techniken −, müssten wir bei den vier Klassen mit insgesamt 43 Techniken rechnen. Würde nun die aggregativste Technik einen Punkt bekommen, müsste demnach die integrativste 43 Punkte bekommen. So ein Punktgebungsverfahren, dessen theoretische Implikation ja wäre, dass die nominale Unifikation 43-mal integrativer sei als Koordination durch AP-JunktionNF / NS, würde natürlich jedweder theoretischen Grundlage und jeglicher empirischen Realität entbehren. Die Aufgabe ist also nicht einfach. Eine Operationalisierungsmethode bedarf begründbarer theoretischer Entscheidungen, denen die Naivität der obigen „Methode“ nicht anhaftet. Ich gehe davon aus, dass Junktion ein syntaktisches Konzept im Dienste der Semantik ist (zur Begründung vgl. Ágel / Diegelmann im Druck). Aggregation und Integration beziehen sich also nicht nur auf Art und Grad der syntaktischen Kohäsion zwischen den jungierten Sachverhaltsdarstellungen, sondern auch auf deren Beitrag zur semantischen Interpretation. Diese Grundposition soll formuliert werden als LP1:22 Relationale Bilaterialität: Junktion ist eine Relation zwischen einer syntaktischen Relation zwischen Konnekten und einer semantischen Relation zwischen Sachverhaltsdarstellungen. Beim LP1 geht es einerseits darum, dass diagrammatische Ikonizität Auswirkungen auf die Junktionstechnik haben kann und dass dieser Umstand bei der Punktgebung berücksichtigt werden muss (vgl. P1). Andererseits geht es um die Wohlbestimmtheit oder Vagheit der Inhaltsrelationen, die durch die Junktoren ausgedrückt werden, was ebenfalls Konsequenzen für die Punktgebung haben muss (vgl. P2 und P3). P1: Nichtpropositionale Verknüpfung erhöht den Junktionsgrad derselben Technik. _____________ 22
LP = Leitprinzip, P = Prinzip.
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P1 bezieht sich auf diejenigen kausalen, konditionalen und konzessiven Verbindungen, deren ikonische Aggregation in der Fachliteratur ausführlich behandelt wurde. Ich verweise hier nur auf die „non-integration“-Fälle bei König / van der Auwera (1988, 111ff.) und illustriere das Problem an der Gegenüberstellung eines kanonischen Konditionals mit einem „nonintegration“-Typ: (25) Wenn du fleißig bist, wirst du dein Ziel erreichen. (26) Wenn du Durst hast, Bier ist im Kühlschrank. Im ersten Falle ist die Protasis, die das Vorfeld besetzt, in die Apodosis eingebettet. Der syntaktischen Einbettung entspricht eine semantische. Es handelt sich um eine „real-word“-Voraussetzung-Konsequenz-Relation („content conditional“ nach Sweetser 1990). Die Kodierung ist ikonisch. Die Kodierung ist auch bei (26) ikonisch, aber auf eine andere Weise. Hier stehen Protasis und Apodosis syntaktisch unintegriert nebeneinander, das Vorhandensein des Nebensatzes hat keine Auswirkungen auf die Wortstellung im Hauptsatz. Der syntaktischen Nichtintegration entspricht eine semantische. Ob Bier im Kühlschrank ist oder nicht, ist unabhängig davon, ob man Durst hat, aber die Information, dass Bier im Kühlschrank ist, wird relevant, sobald man Durst hat („speech-act conditional” nach Sweetser 1990). Bei einer rein formalen Betrachtung der Aggregations- / Integrationsproblematik würde man sagen, dass (25) integrativer ist als (26). Im Sinne von LP1 sind jedoch (25) und (26) gleich integrativ, weil sie beide ikonisch sind, weil in beiden Fällen die zur semantischen Relation passende Junktionstechnik gewählt wurde. Eine anti-ikonische Kodierung würde in beiden Fällen versagen: (25a) ??Wenn du fleißig bist, du wirst dein Ziel erreichen. (26a) ??Wenn du Durst hast, ist Bier im Kühlschrank. (25) und (26) sind also im Sinne von LP1 normale, prototypische Fälle und sollen auch als solche operationalisiert werden. Durch P1 soll bei der Punktgebung die aggregativere Junktionstechnik von (26) ausgeglichen werden. Ein analoger Fall ist das viel beachtete epistemische weil mit Verbzweit im gesprochenen Deutsch (Keller 1993): (27) Der See ist zugefroren, weil die Kinder spielen auf dem Eis. (27a) ??Der See ist zugefroren, weil die Kinder auf dem Eis spielen. Wir betrachten weil in (27) als einen Konjunktor. Die Junktionstechnik ist also identisch mit der in (28):
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
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(28) Der See ist zugefroren und die Kinder spielen auf dem Eis. Im Gegensatz zu der „real-word“-„content“-Verbindung in (28) ist jedoch (27) epistemisch. Die Subordination in (27a) versagt aus analogen Gründen wie die anti-ikonischen Kodierungen in (25a) und (26a). P1 besagt also, dass dieselbe Technik bei epistemischen und Sprechakt-Verknüpfungen, die wir der Einfachheit halber nichtpropositional nennen, höher zu bewerten ist als bei propositionalen Verknüpfungen. Die andere Konsequenz, die sich aus LP1 ergibt, ist P2: Vagheit der semantischen Relation reduziert den Junktionsgrad derselben Technik. P2 soll an drei Typen von Fällen exemplifiziert werden: (29) Schieß also meinen Busser loß, daß die Kugel in eine Eichen ging. (Güntzer I, 43r) (30) […] Zog mit mihr biß an das Landts zu Meren zu dem Ende, mich als ein junger Gesell um daz Gelt zu pringen. (Güntzer I, 45r) (31) Seinen Abgang verdankt er seinem Verhalten. In all diesen Fällen sind die durch die Junktoren ausgedrückten semantischen Relationen vage, die semantische Integration der Sachverhaltsdarstellungen bedarf zusätzlicher interpretativer Anstrengungen. Bei den wohlbestimmten Kontrastfällen greift P2 dagegen nicht: (29a) […] sodass die Kugel in eine Eiche einschlug. (30a) […], um mich um das Geld zu bringen. (31a) Sein Abgang folgt aus seinem Verhalten. Eine Art Bonus-Pendant von P2 ist P3: Emphatische Verstärkung der semantischen Relation erhöht den Junktionsgrad derselben Technik. Die Wirkung von P3 soll an einem Typus exemplifiziert werden, für den auch P2 einschlägig ist: (32) Dieser Hauptman Widmarckter, ob er nuhn gleich höchstgedachter Ihrer Majestät in vielen Occasionen sein tapferes, treues Gemüt […] bezeuget […] (Söldnerleben Widmarckters I, 70) Es handelt sich um einen diskontinuierlichen Subjunktor mit vagem Erstlexem, weshalb für das Erstlexem P2 gilt. Da jedoch die Vagheit durch das Zweitlexem, das in diesem noch nicht grammatikalisierten Stadium von
922
Vilmos Ágel
obwohl als emphatische Verstärkung des Erstlexems aufzufassen ist, aufgehoben wird, gilt auch P3. Die Wirkung von P3 gleicht hier die Wirkung von P2 aus. Natürlich bezieht sich P3 nicht nur auf diskontinuierliche Junktoren, sodass P3 auch unabhängig von P2 funktioniert. Zwei weitere Prinzipien ergeben sich nicht aus LP1: P4: Konterkarierende Wortstellung reduziert den Junktionsgrad derselben Technik. Konterkarierend sind Wortstellungsvarianten, die die jeweilige Grundtechnik unterminieren, indem sie gegen kanonische Merkmale der Grundtechnik arbeiten. Zur Illustration sollen drei Beispieltypen herangezogen werden: (4)
Beyn=ben hatte ich auch 12 fl., so ich zusamengelegt hab, waß mihr zu Zeitten von meinen Frindten ist vererdt worden undt mitt Zinstechen verdienet habe. (Güntzer I, 40v)
(33) […] zu diesen mal weil Ich bin aus gewesen Ist Meine frauw wieder mit // einer Iunge tochter erfreuwet […] (Söldnerleben I, 43) (34) In Anno 1648 da zogen die Völker nach dem Bayerland, das wir hier in diesem Land ein wenig Ruhe hatten, und baueten die zerrissene Bäuw wieder ein wenig […] (Bauernleben I, 71) Wie in 1.1. erwähnt, liegt in (4) − trotz Koordination − nichtparallele Serialisierung der Verbalkomplexe vor. Ein analoger Fall ist (33) mit dem Unterschied, dass hier die Wortstellung eine Subordinationstechnik konterkariert. (34) ist der Typus, den Otto Behaghel „Herstellung der syntaktischen Ruhelage“ nannte (Behaghel 1903). Hier werden nicht gleichrangige Strukturen − ein Nebensatz und ein Hauptsatz − durch den kopulativen Konjunktor und verknüpft. Während P4 nicht unumstritten sein dürfte (vgl. Ágel / Diegelmann im Druck), ist P5 relativ unproblematisch: P5: Eine Verknüpfung durch zwei Junktoren (und zwei Inhaltsrelationen) gilt als Verdichtung und bekommt die addierte Punktzahl der zwei Techniken (Prinzip der Additivität). Als Exempel soll die Modifikation des Belegs (34) dienen: (34a) […] das wir hier in diesem Land ein wenig Ruhe hatten, und baueten deshalb die zerrissene Bäuw wieder ein wenig […] Hier sind zwei Grundtechniken − Koordination durch Konjunktor und Koordination durch AP-Junktor − und zwei Inhaltsrelationen (kopulativ und kausal) beteiligt. Soweit die Vorstellung der Prinzipien P1 bis P5.
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Während LP1 meine theoretische Grundposition formuliert, exemplifizieren alle Prinzipien P1 bis P5 das methodische Leitprinzip, das generell dem Punktgebungsverfahren zugrunde liegt: LP2: Basis-Malus-Bonus-Prinzip. Die theoretische Grundlage für die Operationalisierung auf der Basis von LP2 ist das zweidimensionale Junktionssystem, das auf der Unterscheidung zwischen Techniken und Grundtechniken basiert (vgl. 3.1.). Die insgesamt acht Grundtechniken bilden die Grundlage der Punktgebung. Die aggregativste erhält einen Punkt, die integrativste acht Punkte. Die zahlreichen Variationen auf diese Grundtechniken, die Junktionstechniken, werden ausgehend von der jeweiligen Grundtechnik mit Hilfe des skizzierten Malus-Bonus-Verfahrens berechnet. Die Vorteile des zweidimensionalen Basis-Malus-Bonus-Systems sind gewissermaßen spiegelverkehrt zu den Nachteilen der eingangs erwähnten „naiven Methode“: 1. Die in Texten vorfindliche empirische Variationsvielfalt im Zwischenbereich zwischen maximaler Aggregation und maximaler Integration muss nicht verbindlich festgelegt werden, sondern das Modell ist flexibel genug, um neue Kombinationsmöglichkeiten abzubilden. 2. Gearbeitet wird nicht mit 43 Techniken, sondern nur mit acht Grundtechniken, sodass der zu modellierende Zwischenbereich zwischen maximaler Aggregation und maximaler Integration sechs Grundtechniken umfasst. Diese Anzahl ist übersichtlich, in der Analysearbeit handhabbar und theoretisch vertretbar. 3. Das Malus-Bonus-System hält das Basissystem in beiden Richtungen offen. Beispielsweise ist eine Subordinationstechnik nicht ein für alle Mal integrativer als eine Koordinationstechnik, da der Junktionsgrad von Koordinationstechniken durch Paarigkeit erhöht werden kann, während der Junktionsgrad von Subordinationstechniken durch eine Reihe von Merkmalen (internes Konnekt außerhalb der Felderstruktur oder im Nachfeld, Resumptivität, konterkarierende Wortstellung und vage semantische Relation) reduziert werden kann. Auch der Junktionsgrad der inkorporierenden und unifizierenden Grundtechniken ist soweit reduzierbar, dass inkorporierende und unifizierende Junktionstechniken dem Junktionsgrad von subordinierenden Techniken entsprechen können.
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resumptiv
KORR –
1
X
X X
X
X X
-1
X
-1
AP-Junktor
2
-1
1
1
X
X X
X
X X
-1
X
-1
3
X
1
1
-1
0
1
-1
0
1
-1
1
-1
V2-Einbetter / Subj.ersatz
4
X
1
1
-1
0
1
-1
0
1
-1
1
-1
Subjunktor
5
X
1
1
-1
0
1
-1
0
1
-1
1
-1
6
X
1
1
-1
0
1
-1
0
1
-1
1
-1
Inkorporation
7
X
X
X
-1
0
1
X
X X
X
X
-1
Unifikation
8
X
X
X
X
X X
-1
0
X
X
-1
Nichtpropositionalität vage semantische Relation
Internes Konnekt außerhalb der Felderstruktur oder NF
1
konterkarierende Wortstellung
emphatische Verstärkung
X
KORR +
Paarigkeit
1
Internes Konnekt im VF
Junktor außerhalb der Felderstruktur oder NF
Konjunktor
Grundtechniken
Internes Konnekt im MF
Basiswert
Vilmos Ágel
Koordination
Subordination PK/IK-zu
IK+zu
1
Tabelle 1: Punktgebungsverfahren
Im abschließenden Kapitel wenden wir uns nun der Berechnung des Junktionswertes auf der Grundlage des in Tabelle 1 zusammengefassten Punktgebungsverfahrens und der Junktionsintensität zu. 4.3. Junktionswert (und Junktionsintensität) 4.3.1. Analyse der Proto-Texte Die Proto-Texte im Bereich der expliziten Junktion sind mit denen des Nähe-Distanz-Modells identisch (zur Begründung vgl. Ágel / Diegelmann im Druck, zu den Proto-Texten vgl. Ágel / Hennig 2006b). Es handelt sich um den Proto-Nähetext Daniel Domian VII und den ProtoDistanztext Kant III. Die detaillierte Junktionsanalyse der Proto-Texte befindet sich in Ágel / Diegelmann (im Druck). Die für die Feststellung
925
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
des Junktionswertes relevanten Daten werden in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Wortformen Konnekte Basispunkte Gesamtpunkte
Kant III 1.782 116 223 206
Daniel Domian VII 1.784 212 191 184
Tabelle 2: Proto-Texte: Daten
Wir sehen, dass − bezogen auf dieselbe Textlänge (1.782 bzw. 1.784 Wortformen) − der proto-aggregative Text nahezu doppelt so viele Konnekte hat wie der proto-integrative Text (212 bzw. 116). Dies bedeutet, dass eine durchschnittliche Sachverhaltsdarstellung bei Kant in etwa doppelt so lang ist wie bei Daniel Domian. Da per definitionem nur Sachverhaltsdarstellungen jungiert werden können, ist die Anzahl der Konnekte der entscheidende Bezugspunkt für die anderen Werte. In diesem Sinne sind die Basispunkte (= Punktzahl der eingesetzten Grundtechniken) und die Gesamtpunkte (= Basispunkte + Bonuspunkte − Maluspunkte) zu beurteilen. Diese liegen bei Kant deshalb nur unwesentlich höher, weil sie sich auf halb so viele Konnekte beziehen. Relativ zu der Anzahl der Konnekte hat Kant mehr als doppelt so viele Basispunkte (1,9 vs. 0,9 pro Konnekt) und doppelt so viele Gesamtpunkte (1,8 vs. 0,9) wie Daniel Domian. Die auf ein Konnekt bezogenen Werte werden in Tabelle 3 zusammengefasst: Q Basispunkte Q Gesamtpunkte
Kant III 1,9 1,8
Daniel Domian VII 0,9 0,9
Tabelle 3: Proto-Texte: Quotienten pro Konnekt (= Q)
Diese Werte für Daniel Domian VII und Kant III definieren die Endpunkte von zwei möglichen Aggregations- / Integrations-Skalen Q Basispunkte, und Q Gesamtpunkte. Der Abstand beträgt bei Q Basispunkte: 1,00 Daniel Domian VII 0,9 Der Abstand beträgt bei Q Gesamtpunkte: 0,9
Kant III 1,9
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Vilmos Ágel
Daniel Domian VII
Kant III
0,9
1,8
Nach der Vorstellung der operationalisierungsrelevanten Daten der ProtoTexte wenden wir uns der Berechnung des Junktionswertes eines Beispieltextes zu. 4.3.2. Berechnung des Junktionswertes Unser einzuordnender Text ist ein Nähetext aus dem 17. Jh. (Bauernleben I). Die detaillierte Junktionsanalyse von Bauernleben I befindet sich im Anhang. Der besseren Vergleichbarkeit halber werden die Daten von Bauernleben I in Tabelle 2 eingefügt. Wortformen Konnekte Basispunkte Gesamtpunkte
Bauernleben I 2.098 242 359 300
Kant III 1.782 116 223 206
Daniel Domian VII 1.784 212 191 188
Tabelle 4: Einzuordnender Text: absolute Daten
Da die analysierte Textlänge von Bauernleben I nicht mit der der ProtoTexte identisch ist, müssen die Zahlen von Bauernleben I an die Textlänge der Proto-Texte (= 1783) angeglichen werden. Die analysierte Textlänge der Proto-Texte macht 85 Prozent der analysierten Textlänge des einzuordnenden Textes aus, sodass die Werte von Bauernleben I um 15 Prozent reduziert werden müssen. Konnekte Basispunkte Gesamtpunkte
Bauernleben I 206 305 255
Tabelle 5: Einzuordnender Text: relative Daten
Kant III 116 223 206
Daniel Domian VII 212 191 188
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Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
Um den Junktionswert von Bauernleben I berechnen zu können, brauchen wir auch hier die zwei Quotienten. Q Basispunkte Q Gesamtpunkte
Bauernleben I 1,5 1,2
Kant III 1,9 1,8
Daniel Domian VII 0,9 0,9
Tabelle 6: einzuordnender Text: Quotienten pro Konnekt
Die Werte für Daniel Domian VII und Kant III wurden als Endpunkte der Skalen definiert. Der Abstand zwischen diesen beiden Endpunkten bildet den Ausgangspunkt für die Verortung des Textes. Q Basispunkte: Der Abstand zwischen den Proto-Texten beträgt bei Q Basispunkte: 1,00. Der Abstand des Textes Bauernleben I zu Daniel Domian VII beträgt 0,6. Auf der Grundlage dieser Werte kann die Verortung wie folgt berechnet werden: 1,00 ---100
=
0,6 ---x
x = 60 %
Das bedeutet, dass der Abstand des Textes Bauerleben I vom Aggregationspol 60 Prozent und vom Integrationspol 40 Prozent beträgt. Der Text Bauerleben I erhält in Bezug auf Q Basispunkte einen Aggregationswert von 40 Prozent und einen Integrationswert von 60 Prozent. Q Gesamtpunkte: Der Abstand zwischen den Proto-Texten beträgt bei Q Gesamtpunkte: 0,9. Der Abstand des Textes Bauernleben I zu Daniel Domian VII beträgt 0,3. Auf der Grundlage dieser Werte kann die Verortung wie folgt berechnet werden: 0,9 ---100
=
0,3 ---x
x = 33,3 %
Das bedeutet, dass der Abstand des Textes Bauerleben I vom Aggregationspol 33,3 % und vom Integrationspol 66,7 % beträgt. Der Text Bauerleben I erhält in Bezug auf Q Gesamtpunkte einen Aggregationswert von 66,7 % und einen Integrationswert von 33,3 %. Die unterschiedlichen Werte von Bauernleben I bezogen auf die Skalen Q Basispunkte, und Q Gesamtpunkte sind nicht überraschend, schließlich bildet die Skala Q Basispunkte nicht das zweidimensionale Junktionssystem
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Vilmos Ágel
mit Grundtechniken und Techniken, sondern nur das Basissystem ab. Die besonderen junktionstechnischen Variationen des Textes manifestieren sich in der Skala Q Gesamtpunkte. Dass Bauernleben I tatsächlich weit von der Integrativität von Kant III entfernt ist, davon zeugen folgende Daten: 1. Paarige Junktion kommt in Bauernleben I kein einziges Mal vor, in Kant III sieben Mal. 2. Das interne Konnekt ist in Bauernleben I 33-mal außerhalb der Felderstruktur oder im Nachfeld, in Kant III 13-mal. 3. 15 vagen semantischen Relationen in Bauernleben I stehen fünf in Kant III gegenüber.23 Von den zwei möglichen Aggregations- / Integrations-Skalen Q Basispunkte, und Q Gesamtpunkte definiert also die Skala Q Gesamtpunkte den Junktionswert des Textes. Da Aggregationswert und Integrationswert komplementär sind − bei Bauerleben I 66,7 % bzw. 33,3 % −, ist es − so wie auch bei den Nähe- oder Distanzwerten − egal, welchen Wert man angibt. Der Junktionswert wird wie folgt festgelegt: Der Junktionswert ist der Abstand vom Aggregationspol. Bauernleben I hat demnach einen relativ niedrigen Junktionswert: 33,3 %. 4.3.3. Junktionsintensität Vergleicht man in den drei untersuchten Texten den Anteil der Junktionen (= der Aussagenverknüpfungen) an der Gesamtzahl der Konnekte, bekommt man ein Bild darüber, wie intensiv in einem Text jungiert wird. Die entsprechenden Prozentwerte beziffern also die Junktionsintensität eines Textes in Bezug auf Extension A (zu den Junktionsextensionen vgl. Kapitel 2.). Konnekte Junktionen
Bauernleben I 100 % (= 242) 61 % (= 147)
Kant III 100 % (= 116) 72 % (= 84)
Daniel Domian VII 100 %(= 212) 42 % (= 88)
Tabelle 7: Proportion Junktionen / Konnekte
_____________ 23
Alle drei Daten von Bauernleben I beziehen sich auf die ursprüngliche Textmenge (2.098 Wortformen), sodass der relative Unterschied bei 1 etwas größer, bei 2 und 3 etwas kleiner ist (Kant III = 1.782 Wortformen).
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
929
Konnekte können jedoch nicht nur (im Sinne von Extension A) jungiert werden, sondern auch durch grammatische Relationen wie Subjekt, Objekt und Attribut verbunden werden. Es gibt also nicht nur syntaktische Techniken der Aussagenverknüpfung, sondern auch Techniken, die der Einbettung einer Aussage in eine andere Aussage und dem Hinzufügen einer Aussage zu einer anderen Aussage dienen (Extension B). Man muss also berücksichtigen, dass ein Konnekt, das nicht jungiert ist, durchaus verbunden sein kann. Und wenn es anderweitig, also nicht durch Junktion, verbunden ist, steht es für eine Junktionsrelation oft nicht mehr zur Verfügung: (35) Ich kenne ein gutes Lokal, das *deshalb / *trotzdem weit von der Uni ist. (36) Du gehst selten aus. Dass du ein gutes Lokal kennst, wundert mich trotzdem nicht. (37) Dass du ein gutes Lokal kennst, wundert mich deshalb nicht, weil du oft ausgehst. Beim Attributsatz wären gewiss nicht alle Inhaltsrelationen blockiert, aber kausal und konzessiv scheinen sie ausgeschlossen zu sein. Die Hauptsätze von (36) und (37) können zwar konzessiv und kausal jungiert werden, der jeweilige Hauptsatz ist jedoch nicht mit dem jeweiligen Subjektsatz, sondern mit vorangehenden und nachfolgenden Konnekten verbunden. Die Subjektsätze sind zwar verbunden mit ihren Hauptsätzen, sind aber ebenfalls schlecht jungierbar. Im Sinne von Extension B muss man also unverbundene und verbundene Konnekte unterscheiden. Unverbundene Konnekte gehen keinerlei syntaktische Beziehungen zu benachbarten Konnekten ein. Verbundene Konnekte sind alle Konnekte − inklusive natürlich der (im Sinne von Extension A) jungierten Konnekte −, die nicht unverbunden sind. Die Proportion von verbundenen und unverbundenen Konnekten in den drei Texten sieht wie folgt aus:
930
Konnekte Verbundene Konnekte Unverbundene Konnekte
Vilmos Ágel
Bauernleben I
Kant III
Daniel Domian VII
100 % (= 242)
100 % (= 116)
100 % (= 212)
85 % (= 206)
93 % (= 108)
66 % (= 140)
15 % (= 36)
7 % (= 8)
34 % (= 72)
Tabelle 8: Proportion verbundener / unverbundener Konnekte
Die Prozentwerte, die den Anteil verbundener Konnekte an der Gesamtzahl der Konnekte angeben, beziffern die Junktionsintensität in Bezug auf Extension B. Abschließend sollen die Werte aus Tabelle 7 und 8 gegenübergestellt werden. Junktionsintensität B (= bezogen auf Extension B) Junktionsintensität A (= bezogen auf Extension A)
Bauernleben I
Kant III
Daniel Domian VII
85%
93%
66%
61%
72%
42%
Tabelle 9: Junktionsintensitäten B vs. A
Wir sehen, dass die Junktionsintensität B in allen drei Fällen ca. um 20 % höher liegt als die Junktionsintensität A. Kant hat fast alle Möglichkeiten ausgeschöpft, bei Daniel Domian ist noch reichlich Luft nach oben. Bauernleben I ist trotz eines relativ niedrigen Junktionswertes, also relativer Aggregativität, ein relativ junktionsintensiver Text. Man könnte sagen, dass Bauernleben I flach jungiert: Die relativ hohe Anzahl von Junktionen und verbundenen Konnekten, also dichte Junktion, macht den Text syntaktisch und semantisch nicht tief. Junktionswert und Junktionsintensität müssen also nicht Hand in Hand gehen.
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Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
931
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Vilmos Ágel
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Abkürzungsverzeichnis APJ IK-zu IK+zu KORR MF NE NF PK S Subj.ersatz V2-Einbetter VE VF
Adverb- und Partikeljunktor Infinitivkonstruktion ohne zu Infinitivkonstruktion mit zu (nichtresumptives) Korrelat Mittelfeld Nacherstposition Nachfeld Partizipialkonstruktion Subjunktor Subjunktorersatz Verbzweitsatzeinbetter Vorerstposition Vorfeld
935
Explizite Junktion: Theorie und Operationalisierung
300 0
-2
0
-15
0
0 -12 0 0 -33 3 0
0
359 147
Unifikation
0
X
X X
X X X -1
X X
X 7
1
0
Inkorporation
X
X
2 X 35
5 IK+zu
S + APJ
X 185
37
X
-1
-31
X
X
X
-4
-6
-2 8
2
X
0
0
6
2 KJ + APJ
PK / IK-zu V2Einbetter / Subj.ersatz S
36
18 APJ
Subordination
82
Koordination
Grundtechniken und kombinierte Techniken
Anzahl an Belegen
82
Basiswert
KJ
X
Junktor außerhalb der Felderstruktur oder NF
X
Paarigkeit
Punktgebungstabelle: Bauernleben I
6
0
31 -1
X X 1
X
X
X
internes Konnekt im VF internes Konnekt im MF internes Konnekt außerhalb der Felderstruktur oder NF emphatische Verstärkung
X
resumptiv
X
X
KORR −
X
X
KORR +
X
X
-2
konterkarierende Wortstellung
X
X
Nichtpropositionalität
X
-14
vage semantische Relation
132
6
0
7
Summe
36
82
Anhang
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen∗ Mathilde Hennig (Kassel)
1. Einleitung Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen wie in den folgenden Beispielen:1 (1)
und blieb also die gantze gemeinde in der kirchen und […] höreten mit fleiß zu (Nehrlich II)2
(2)
und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwechsel V)
Aus heutiger Sicht wirken die Beispiele ungrammatisch, weil die nicht realisierte Konstituente im elliptischen Konjunkt und die als Bezugselement fungierende Konstituente im benachbarten Konjunkt nicht identisch sind: In Beispiel (1) steht das Subjekt im ersten Konjunkt im Singular, während das Prädikat höreten im zweiten Konjunkt ein pluralisches Subjekt nahe legt. In Beispiel (2) steht die angesprochene Person im ersten Konjunkt im Dativ und fungiert im zweiten Konjunkt als Subjekt, wäre also nominativisch zu realisieren. _____________ ∗ 1 2
Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Projekts „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pilotprojekt zur Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“. Der Beitrag beschränkt sich auf Koordinationsellipsen auf Satzebene. Koordinationsellipsen auf Phrasenebene (das alte und das neue Rathaus) werden nicht berücksichtigt. Bei der Wiedergabe der Beispiele werden die Auslassungen durch eckige Klammern und die Bezugselemente durch Kursivsetzung markiert. Wenn es keine Kursivsetzung gibt, heißt das, dass keine Konstituente des benachbarten Konjunkts als Bezugselement fungiert. Die römischen Ziffern hinter den Namen der Quellentexte bezeichnen Zeitabschnitte: I = 1650-1700, II = 1701-1750, III = 1751-1800 usw.
938
Mathilde Hennig
Koordinationsellipsen dieser Art möchte ich im Folgenden aggregativ nennen und damit von integrativen Koordinationsellipsen abgrenzen.3 Beispiele für integrative Koordinationsellipsen sind etwa die folgenden: (3)
Peter stand vor […] und Maria lag unter dem Sofa. (Klein 1993, 772)
(4)
Fritz kaufte ein Auto und Hans […] ein Haus. (Klein 1993, 777)
Im Gegensatz zu den aggregativen Beispielen (1) und (2) stimmen hier realisierte und nicht realisierte Konstituente genau überein. Ich vertrete mit vorliegendem Beitrag die folgenden Thesen: •
These 1: Aggregative Formen von Koordinationsellipsen werden von der gegenwartsgrammatisch orientierten Ellipsentheorie fast ausnahmslos nicht erfasst. In der Sprachgeschichtsforschung finden sich zwar vereinzelte Hinweise auf aggregative Formen, diese werden aber nicht systematisch aufgearbeitet.
•
These 2: Das Auftreten aggregativer Formen von Koordinationsellipsen steht im Zusammenhang mit dem nähesprachlichen Charakter der Quellentexte, in denen sie vorkommen.4
In Kapitel 2 werde ich der ersten These nachgehen. Dabei geht es nicht um eine exhaustive Aufarbeitung der Ellipsentheorie und der Beschäftigung mit Ellipsen in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung, sondern darum, aggregative Koordinationsellipsen als Desiderat auszuweisen. Kapitel 3 dient der Gegenstandsbestimmung aggregativer Koordinationsellipsen. Aus einer empirischen Analyse von ausgewählten Quellentexten aus dem Zeitraum 1650-1900 werden Überlegungen zur Subtypisierung aggregativer Koordinationsellipsen abgeleitet werden. Abschließend (Kapitel 4) möchte ich auf mögliche Konsequenzen der hier vorgestellten Überlegungen für die Ellipsentheorie, die Sprachgeschichtsforschung und die Nähe-Distanz-Theorie eingehen. _____________ 3
4
Das Begriffspaar ‚Aggregation vs. Integration‘ bildet im Rahmen der Nähe-DistanzTheorie (Ágel / Hennig 2006a) einen Erklärungshintergrund für zahlreiche nähesprachliche Merkmale. Vgl. Ágel / Hennig 2006a, 26ff. sowie Ágel 2007. Mit Ágel / Hennig 2006b liegt eine Operationalisierung der Nähe-Distanz-Theorie (Ágel / Hennig 2006a) vor, die es erlaubt, über die Bestimmung von Nähemerkmalen Quellentexte auf dem Kontinuum zwischen Nähe und Distanz zu verorten. Den Texten werden dabei auf der Grundlage der Anzahl der Nähemerkmale im Verhältnis zur Länge des Textes Prozentwerte zugewiesen, die Auskunft über ihre Nähesprachlichkeit geben. ‚Nähesprachliche Texte‘ (im Folgenden: Nähetexte) sind im Sinne dieses Verfahrens solche Texte, die einen deutlich höheren Grad an Nähesprachlichkeit aufweisen als andere Texte ihrer Zeit. Umgekehrt werden Texte mit geringem Grad an Nähesprachlichkeit als ‚Distanztexte‘ bezeichnet.
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen
939
2. Koordinationsellipsen in Ellipsentheorie und Sprachgeschichtsforschung 2.1. Ellipsentheorie Koordinationsellipsen werden in der gegenwartsgrammatischen Ellipsentheorie als kontextkontrollierte Ellipsen eingeordnet. Damit ist Folgendes gemeint: Kontextkontrollierte [Ellipsen, M.H.] verlangen einen expliziten sprachlichen Kontext, d.h. eine vorausgehende oder folgende Struktur, von der jene der elliptischen Äußerung abhängt. (Klein 1993, 768)
Neben den Koordinationsellipsen, also solchen Ellipsen, bei denen „der elliptische Ausdruck mit dem kontrollierenden innerhalb eines Satzes durch Koordination (im weitesten Sinne) verbunden“ ist (Klein ebd.), gelten Adjazenzellipsen als weiterer Subtyp kontextkontrollierter Ellipsen. Bei diesen „bilden kontrollierender Ausdruck und elliptischer zwei selbständige aber eng zusammengehörende Äußerungen“ (Klein ebd.), wie etwa in Frage-Antwort-Folgen: „Wer schlug wen wo? – Alexander die Perser bei Issos.“ (Klein ebd). Alle anderen Ellipsentypen, wie etwa Textsortenellipsen, Aufschriften und feste Ausdrücke ordnet Klein als nichtkontextkontrollierte Ellipsen ein. Eine solche dichotomische Sichtweise, die zwei Grundtypen von Ellipsen gegenüberstellt und keine Zwischenformen einräumt, zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte germanistische Ellipsenforschung. Die folgenden (keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden) Beispiele sollen dies verdeutlichen: 1. In der Gesprochene-Sprache-Forschung hat sich die Unterscheidung von Konstruktionsübernahmen und Eigenkonstruktionen durch Rainer Rath (1979) etabliert. Rath spricht von einer Klassifizierung der Ellipsen „nach Art ihres Kontextbezugs“ (1979, 142) und bestimmt auf diese Weise den Kontextbezug bei ‚Konstruktionsübernahmen‘ als darin bestehend, „daß sich die Ellipse syntaktisch (und auch semantisch) an die vorangehende Äußerungseinheit anschließt. Die Ellipse ‚paßt‘ syntaktisch in die vorhergehende Konstruktion […]“ (1979, 143). Bei ‚Eigenkonstruktionen‘ dagegen wird „die so entstehende Äußerungseinheit […] nicht unbedingt von der vorhergehenden Äußerungseinheit erschlossen, sondern vom engeren semantischen Zusammenhang“ (1979, 146). Der Rath’schen Unterscheidung schließt sich bspw. Margret Selting an (1997, 121). Zwar können die beiden Unterscheidungen ‚kontextkontrolliert vs. nicht-kontextkontrolliert‘ und ‚Eigenkonstruktionen vs. Konstruktionsübernahmen‘ nicht als synonym betrachtet werden, da beim Rath’schen Verständnis von Eigenkonstruktionen ja eine mögliche semantische Kon-
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Mathilde Hennig
textkontrolliertheit eingeräumt wird, gemeinsam ist beiden Ansätzen jedoch der dichotomische Zugriff auf die Bestimmung von Grundtypen von Ellipsen. 2. Als eine unmittelbare Folge der vermehrten Beschäftigung mit Ellipsen in den letzten 30 Jahren kann die zunehmende Berücksichtigung von Ellipsen in der Grammatikschreibung betrachtet werden. Höhepunkt dieser Entwicklung ist zweifelsohne die IDS-Grammatik, die den Ellipsen insgesamt ca. 50 Seiten widmet. Dabei gilt dort keineswegs alles als Ellipse, was i.d.R. als Ellipse verstanden wird: Lothar Hoffmann, der Autor des Kapitels „Zur Grammatik von Text und Diskurs“, gliedert – in Anlehnung an Friedrich Blatz (1896, 138ff., 714ff.) – die ‚Analepse‘ aus dem Teilbereich der Ellipse aus. Die Analepse beruht laut Hoffmann „auf vorgängiger Verbalisierung, die unter bestimmten Bedingungen in Geltung bleibt, so daß das, was folgt, unmittelbar angeschlossen oder koordinativ integriert werden kann“ (1997, 569). Ellipsen dagegen setzen das voraus, „was aufgrund gemeinsamer Orientierung in der Sprechsituation, im aktuellen Handlungszusammenhang oder auf der Basis sprachlichen Wissens in den Hintergrund eingehen und mitverstanden werden kann“ (1997, 413). Die Annahme von zwei Grundtypen ist hier somit schon in der Begriffsbestimmung – Ellipse vs. Analepse – verankert. Ich gehe davon aus, dass die hier angedeutete Dichotomisierung der Ellipsentypisierung einer der wesentlichen Gründe dafür ist, dass aggregative Formen von Koordinationsellipsen kaum Berücksichtigung in der Ellipsenforschung finden. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Albrecht Plewnia (2003). Diese Arbeit stützt sich auf ein Korpus der Ermländer Mundart5 und ist somit m.W. die einzige dialektbezogene Untersuchung zu Ellipsen. Plewnia unterscheidet zunächst zwischen Sätzen mit syntaktischem Kontextbezug, mit semantischem Kontextbezug, mit situativem Kontextbezug sowie mit offenem Kontextbezug. Einschlägig für die Erfassung aggregativer Koordinationsellipsen sind seine Beobachtungen und Überlegungen zu Sätzen mit syntaktischem Kontextbezug. Sätze, die sich auf ein Element eines benachbarten Satzes beziehen, nennt Plewnia ‚Fortsetzungssätze‘. Bei der Beschreibung der Fortsetzungssätze macht Plewnia die folgende Beobachtung: Nun gibt es allerdings auch Belege im Korpus, bei denen offenbar eine Fortsetzungskonstruktion vorliegt, die auch auf der Übernahme einzelner Elemente aus einem Vorgängersatz beruht, bei denen auch durchaus die lexikalische Integrität der für die Fortsetzungskonstruktion aktivierten Einheit gewahrt bleibt, bei de-
_____________ 5
Das Ermland ist ein ehemaliges ostpreußisches Mundartgebiet. Plewnia stützt sich auf Tonbandaufnahmen von in Ahrbrück in der Eifel neu angesiedelten ermländischen Bauern aus den Jahren 1963 / 64. Dabei hat er ausschließlich Sprecher mitteldeutscher Dialekte berücksichtigt.
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen
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nen aber die grammatischen Verhältnisse in der betreffenden Fortsetzungskonstruktion anders organisiert sind als im Vorgängersatz, dessen Teil doch die syntaktische Bezugsgröße darstellt. (Plewnia 2003, 50)
Plewnia illustriert diese Einschätzung mit folgendem Beispiel: (5a) On wea Kinger, wea graute ons joa doa vor dem schwarze Zaig doa. (5b) Hoa wea nu ooch nich jenomme. (ebd.) Die Präpositionalergänzung vor dem schwarze Zaig „wird im Rahmen einer Fortsetzungskonstruktion auf den folgenden Satz […] übertragen. […] Das Verb nehmen […] verlangt aber […] keine Präpositional-, sondern eine Akkusativergänzung“ (ebd.). Mit den folgenden Konsequenzen: Allein die syntaktische Fortsetzungserwartung des zweiten Satzes erzwingt eine rückwirkende Uminterpretation einer im ersten Satz verbalisierten Einheit, die allerdings – und das ist zentral – damit in der alten Form für diesen ersten Satz weiterhin volle Geltung behält, der also eine Doppelfunktion aufgebürdet wird, weil sie in beide Sequenzen grammatisch voll eingebunden wird. Der erste Satz hat dabei lediglich den Vorteil der linearen Priorität. Fortsetzungskonstruktionen dieses Typs, also mit grammatischer Umfunktionalisierung unter weitgehender Bewahrung lexikalischer Identität, heißen hier Konversionen. (ebd., 50f.)
Des Weiteren beschreibt Plewnia den Fall, dass der Vorgängersatz als ganze Einheit syntaktisch eingebunden wird: „Der syntaktische Bezug, der von der Fortsetzungskonstruktion rückgreift, ist dann auf den gesamten Vorgängersatz fokussiert als eigene syntaktische Größe […]“ (ebd., 53). Plewnia nennt diesen Fall ‚Anschluss-Sätze‘. Folgendes Beispiel dient der Illustration: (6a) Oaberso wurd doa jebro:te wurd doa wohl kaum. (6b) Kann eh mech nich besinne. Wesentlich ist nun, dass Plewnia mit der Erfassung dieser Typen von Fortsetzungssätzen die dichotomische Sichtweise aufbricht: Die Tatsache allerdings, dass die syntaktische Anknüpfung sowohl bei Konversionen als auch bei Anschluss-Sätzen nicht völlig bruchlos erfolgt, weist darauf hin, dass es sich hier um einen Übergangsbereich handelt. Das eine Ende der Skala würden die Fortsetzungssätze darstellen, die sich diszipliniert in einen Rahmen einfügen, und das andere Ende die Sätze mit sehr offener semantischer oder gar keiner kontextuellen Einbettung mehr. (ebd., 56, meine Hervorhebung, M.H.)
Nicht nur bezüglich der Auffassung von einem Übergangsbereich zwischen strukturgestützten und völlig kontextfreien Formen von Ellipsen stellt die Arbeit von Plewnia eine Innovation gegenüber anderen Ellipsenbestimmungen dar, sondern auch darin, dass überhaupt solche Fälle, bei
942
Mathilde Hennig
denen die syntaktische Anknüpfung „nicht völlig bruchlos“ erfolgt, in die Klassifikation von Ellipsen aufgenommen werden. Andere Ellipsenbestimmungen zeichnen sich dagegen durch ein für die Grammatikforschung erstaunliches Maß an Präskriptivität aus, wie etwa die in Anlehnung an Chomsky formulierte Tilgungsregel Kleins: ihm zufolge „[…] müssen zwei bis auf eine Konstituente gleichen Typs identische Sätze koordiniert sein; die identischen Teile werden bei einem der beiden Vorkommen weggelassen“ (Klein 1993, 770, meine Hervorhebung, M.H.). Auch Hoffmann spricht von „Bedingungen“ für das Auslassen von Elementen und benennt als solche „die Identität des Redegegenstandes“, „die Parallelität der Position“ sowie „die Kasusidentität als Markierung einer kongruenten Argumentstelle“ (Hoffmann 1997, 574). Die Folge ist, dass aggregative Koordinationsellipsen nur als mit Sternchen versehene und somit als zu vermeiden markierte Fälle Eingang in die Ellipsenforschung sowie die einschlägigen Darstellungen in Grammatiken finden, wie etwa das folgende Beispiel Hoffmanns: (7)
Mich dürstete, und ich goß mir einen Schnaps ein. *Mich dürstete und [ ] goß mir einen Schnaps ein. (Hoffmann 1997, 574)
Der von Hoffmann offenbar konstruierte Fall lässt sich durchaus in älteren Nähetexten belegen, wie etwa in folgendem Beispiel: (8)
der minch wahr gudt man mit mihr […] hatte bey ime gudt Reißen (Güntzer I)
Hierbei handelt es sich genau um den von Hoffmann konstruierten Fall des Wechsels von einem obliquen Kasus zu Nominativ, also um eine „grammatische Umfunktionalisierung“ im Sinne Plewnias. Dass Beispiele dieser Art in der Ellipsenforschung mit Ausnahme von Plewnia als mögliche Koordinationsellipsen ausgeschlossen werden, zeugt m.E. vom skriptizistischen und synchronizistischen Charakter der Ellipsenforschung. Die Ellipsenforschung kann somit als Beispiel für Vilmos Ágels Diagnose des synchronizistischen und skriptizistischen Erbes der Grammatikforschung gelten: 1. Synchronizistisches Erbe: „synchron angelegte Theorien, jedoch synchrone wie diachrone grammatische Beschreibungen und Grammatikschreibung“ (Ágel 2003, 4). 2. Skriptizistisches Erbe: Dieses besteht darin, „dass die Grammatikforschung per declarationem logozentrisch, in praxi hingegen doppelt schriftbezogen ist.“ Somit ist nicht nur „das ‚mot écrit‘ der eigentliche Hauptdarsteller grammatischer Beschreibungen“, son-
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen
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dern „auch die Grammatiktheorie [stellt] eher eine Theorie des ‚mot écrit‘ dar“ (ebd., 10). Mit vorliegendem Aufsatz soll – die Innovationen Plewnias aufgreifend – ein Beitrag zum Abbau dieser doppelten Altlast geleistet werden, indem nicht-gegenwartssprachliche Nähetexte zum Gegenstand der Untersuchungen gemacht werden. Bevor mit Kapitel 3 dieser Aufgabe nachgegangen wird, soll aber zunächst auch aus der Perspektive der Sprachgeschichtsforschung die Hinwendung zu aggregativen Koordinationsellipsen als Desiderat begründet werden. 2.2. Sprachgeschichtsforschung Von einer systematischen sprachhistorisch ausgerichteten Ellipsenforschung kann keine Rede sein. Zwar findet das Phänomen ‚Ellipse‘ Eingang in historische Grammatiken, dabei werden Ausführungen zu einzelnen elliptischen Formen in der Regel aber anderen Fragestellungen untergeordnet, wie die folgenden beiden Beispiele illustrieren sollen: 1. Otto Behaghel (1928): Deutsche Syntax. Bd III: Die Satzgebilde. In das Kapitel ‚zweigliedriger Satz‘ (= aus Subjekt und Prädikat bestehender Satz) ist ein Abschnitt zum „Fehlen des Verbum finitum im zweigliedrigen Satz“ eingeordnet (1928, 480ff.). Dieses Kapitel enthält Ausführungen zu den verschiedensten historischen elliptischen Phänomenen wie Nichtrealisierung der Kopula, afiniten Konstruktionen sowie eher stilistisch motivierten Auslassungen des Verbum finitum. Im Kapitel ‚Asyndese‘ als Unterkapitel von ‚Satzverknüpfung‘ finden sich Ausführungen zu „Asyndese bei grammatischen Unvollständigkeiten des neuen Satzes, d.h. bei Ersparung des zweiten Subjekts“ (497ff.). Dabei unterscheidet Behaghel zwischen solchen Sätzen, die inhaltlich auf gleicher Stufe stehen und solchen, die inhaltlich auf verschiedener Stufe stehen. Das Fehlen des Subjekts bei syndetischer Verknüpfung hingegen ist in das Kapitel „Verknüpfung durch Unvollständigkeit eines Satzes“ (509ff.) eingegliedert, in dem auch das Fehlen des Objekts thematisiert wird. Dieser kurze Überblick sollte illustrieren, dass Behaghel zwar punktuell auf einzelne Ellipsentypen eingeht, die Zusammenhänge dieser Typen aber nicht durch den Zusammenschluss in einem eigenständigen Ellipsenkapitel erkennbar macht. 2. Robert Peter Ebert (1993): „Syntax“, in: Reichmann / Wegera (Hrsg.): Frühneuhochdeutsche Grammatik. Das gleiche Prinzip der Verteilung elliptischer Formen auf übergeordnete Themenbereiche lässt sich auch bei Ebert beobachten. So ist etwa dem attributiven Genitiv ein kurzer Abschnitt zur Ersparung des Kernsubstantivs untergeordnet (1993, 339) und im Kapitel „Nominativ als Subjekt“ finden sich Ausführungen zur „Er-
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sparung eines Subjektpronomens“ (1993, 345f.). Afinite Konstruktionen und Auxiliarellipsen werden im Kapitel „Wortstellung im Einfachsatz“ behandelt (1993, 440ff.). Insgesamt erfolgt hier die Behandlung der Ellipsenproblematik auf knapp vier Seiten. Dementsprechend spärlich sind auch die Angaben zu aggregativen Formen von Koordinationsellipsen. Behaghel spricht bei „inhaltlich auf verschiedener Stufe“ stehenden Sätzen davon, dass „die bei Ersparung des Subjekts asyndetisch gebundenen Sätze von ungleichem Werte sein [können]; der zweite Satz ist sachlich eine Erläuterung zu einem einzelnen Glied des ersten Satzes“ (1928, 503f.). Gemeint sind Fälle wie (9)
das sach auf einem wasen vier starcker ochsen grasen, […] hetten gar schöne horen (Hans Sachs, in Behaghel 1928, 504)
(10) machte mir meine Mutter ein schönes Hofkleid, […] war rosenfarb (Reuter, in Behaghel 1928, 504) Fälle dieser Art finden sich auch in der von Peter Wiehl und Siegfried Grosse bearbeiteten Mittelhochdeutschen Grammatik Hermann Pauls (1989): „Auch bei Wechsel des Subjekts – in parataktisch aneinandergereihten Sätzen, im Satzgefüge, in der Periode – kann ein pronominales Subjekt unbezeichnet bleiben“ (1989, 366): (11) daz duhte die gelieben guot und […] wurden in ir herzen vor (Gottfried von Straßburg in Paul / Wiehl / Grosse 1989, 366) Auch Ebert verweist in Anlehnung an Behaghel darauf, dass „in asyndetischen Sätzen das zweite Subjekt fehlen [kann], auch wenn kein besonders enger Zusammenhang zwischen den Sätzen besteht“ (1993, 346). Während hier ein Zusammenhang mit der asyndetischen Form der Satzverknüpfung hergestellt wird, nimmt Ebert in Bezug auf Subjektwechsel sowohl die Möglichkeit der syndetischen als auch die der asyndetischen Satzverknüpfung an. Gemeint sind Fälle wie: (12) so werden ewre augen auff gethan /vnd […] werdet sein wie Gott (1. Mos. 3,5, in Ebert 1993, 346) Da aber auch hier solche Fälle zitiert werden, bei denen ein Wechsel von einer Objekt- zur Subjektfunktion vorliegt (wie Behaghels Beispiele 9 und 10), bleibt Eberts Unterscheidung vage. Dennoch wird die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der Art der Satzverknüpfung und der aggregativen Realisierung von Koordinationsellipsen besteht, bei der in Kapitel 3 vorzustellenden empirischen Untersuchung berücksichtigt werden. Bei Ebert finden sich auch im Kapitel zu afiniten Konstruktionen und Auxiliar-Ellipsen Hinweise auf aggregative Formen:
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1. „Das ersparte Hilfsverb ist von dem nicht ersparten Hilfsverb im Numerus oder in der Person unterschieden“ (1993, 440). (13) dz die laster vßgetribē werden vnd das fleisch gezempt […] (Geiler von Kaysersberg in Ebert 1993, 440) 2. „Die Ellipse begegnet bei zwei koordinierten Perfektperiphrasen von denen die eine haben, die andere sein verlangt“ (1993, 440). (14) wan christus hat üwer fleisch die menscheit an sich genomen […] darin gelitten […] gestorben vnd […] begrabē […] für üch vnd erstanden vnd […] uvffgefaren zu den hymelen (Geiler von Kaysersberg in Ebert 1993, 440) 3. „Das ersparte Hilfsverb ist mit einem koordinierten Vollverb identisch“ (1993, 441). (15) nachdem daz von althers herkomen recht und gewonheit gewesen […] und noch ist (Deutsche Reichstagsakten und Kaiser Friedrich III. in Ebert 1993, 441) Mit den Hinweisen auf diese Typen der Auxiliar-Ellipse bezieht Ebert sich auf die Arbeit von Werner Schröder zu Auxiliar-Ellipsen bei Geiler von Kasyersberg und bei Luther (1985). Schröders Arbeit enthält ein Kapitel „‚Ungrammatische‘ Auxiliar-Ellipsen in der ‚Christenlich bilgerschafft‘“ (19ff.). Schröder spricht hier davon, dass diese „sprachlich zu beanstanden“ seien (ebd., 19). Er verweist auf die Duden-Grammatik von 1959, in der bereits als falsch gilt, wenn „von zwei Hilfsverben eines ausgelassen [wird], obwohl die beiden Hilfsverben im Numerus unterschieden sind“ (Grebe 1959, 563) und bezeichnet den Fall „daß das ausgelassene Auxiliar von dem nicht ausgelassenen verschieden ist“ als „weit anstößiger“ (Schröder 1985, 19). Schröder sucht nach einer Erklärung für die „mangelnde Grammatikalität“ und meint, sie in der Tatsache zu finden, dass „der predigende und schreibende Übersetzer […] die einprägsamen lateinischen Participia im Ohr“ hatte und schlussfolgert: „Er [Geiler, M.H.] weiß, was seine Muttersprache gebietet, möchte aber der Prägnanz des lateinischen Musters keinen Eintrag tun und nahm lieber den grammatischen Verstoß in Kauf“ (ebd., 20). Durch eine solche Perspektive, die – in synchronizistischer und skriptizistischer Manier – davon ausgeht, dass es sich um ungrammatische Formen handelt, wird die Frage nach einer sprachsystematischen Erklärung des Phänomens von Vornherein ausgeblendet. Die Suche nach pragmatischen Beweggründen des Autors kann diese Erklärungslücke nicht schließen. Aus dem kurzen Überblick über die spärliche Berücksich-
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tigung von Ellipsen in der Sprachgeschichtsforschung lassen sich die folgenden beiden Desiderata ableiten: 1. Es fehlt eine auf die Verhältnisse in älteren Sprachstufen bezogene Ellipsentheorie, die die Bedingungen von Auslassungen systematisiert und daraus Erklärungsansätze für diesbezügliche Grammatikalisierungsvorgänge ableitet. 2. Es fehlt eine systematische Aufarbeitung von Formen aggregativer Koordination. Der vorliegende Beitrag wird nicht beide Desiderata beheben können. Der Schwerpunkt wird vielmehr auf dem zweiten Desiderat liegen. Da, wie in Bezug auf die Ellipsentheorie und die Sprachgeschichtsforschung gezeigt wurde, insgesamt nur sehr wenige Beobachtungen zu aggregativen Koordinationsellipsen vorliegen, können auch nur in sehr eingeschränktem Maße Hypothesen aus diesen Beobachtungen abgeleitet werden: •
Hypothese 1: Als Typen aggregativer Koordinationen kommen etwa bestimmte Auxiliarellipsen sowie Subjektellipsen in Frage. Dabei wird die Möglichkeit aggregativer Koordination offenbar durch bestimmte grammatische Eigenschaften der jeweiligen Sprachstufen wie die Möglichkeit der Bildung afiniter Konstruktionen oder der Mikrorealisierung des Subjekts begünstigt.
•
Hypothese 2: Als Bedingung für das Auftreten aggregativer Formen kommt die Art der Verknüpfung (syndetisch vs. asyndetisch) in Frage.
3. Aggregative Koordinationsellipsen in Nähetexten des Neuhochdeutschen 3.1. Untersuchungsgrundlage Die in diesem Kapitel vorzustellende empirische Analyse zu aggregativen Koordinationsellipsen in Nähetexten des Neuhochdeutschen hat – wie in Kapitel 2.1. bereits angedeutet wurde – zum Ziel, einen Beitrag zum Abbau des synchronizistischen und skriptizistischen Blicks auf Ellipsen zu leisten. Deshalb liegt der Schwerpunkt der Analyse auf Nähetexten aus dem Zeitraum 1650-1900. Um Aussagen über die Historizität des Phänomens einerseits und seine Nähesprachlichkeit andererseits treffen zu können, werden dem Kernkorpus ein Distanztext aus dem 18. Jahrhundert sowie ein Nähetext aus dem 20. Jahrhundert gegenübergestellt. Diese
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beiden Texte haben eine Kontrollfunktion, d.h., mit ihnen soll überprüft werden, ob aggregative Koordinationen auch in Distanztexten und in gegenwartssprachlichen Nähetexten nachweisbar sind. Das Korpus setzt sich aus den folgenden Texten zusammen:6 Zeit 17. Jh. 18. Jh. 18. Jh. 19. Jh. 20. Jh.
Text Güntzer I SchuhmacherChronik II Kant II Briefwechsel V Sprachbiographien VII
Funktion Nähetext – Kernkorpus Nähetext – Kernkorpus Distanztext – Kontrollkorpus Nähetext – Kernkorpus Nähetext – Kontrollkorpus
Übersicht 1: Korpusgrundlage der empirischen Analyse zu aggregativer Koordination
Der Text Güntzer I ist eine Autobiographie eines Kannengießers aus dem Elsässischen. Augustin Güntzer ist viel gereist und berichtet vor allem von seinen diesbezüglichen Erlebnissen. SchuhmacherChronik II ist die Chronik eines Schuhmachers aus Reutlingen. Im Gegensatz zu Güntzer bemüht sich der Autor hier um eine möglichst neutrale Schilderung der Ereignisse in seinem Dorf. Bei Kant III handelt es sich um die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. Briefwechsel V ist der Briefwechsel eines Braunschweiger Ehepaares aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 / 1871. Bei Sprachbiographien VII schließlich handelt es sich um Interviews, die mit ehemaligen DDR-Bürgern in den 90er-Jahren durchgeführt worden sind. Wie man an der Verteilung der Texte auf verschiedene Sprachräume und verschiedene Textsorten erkennen kann, wurde keine Homogenität bezüglich dieser beiden Textparameter angestrebt. Auswahlkriterium war allein der Grad der Nähesprachlichkeit der Texte.7
_____________ 6 7
Alle Texte haben einen Umfang von ca. 12.000 Wortformen. Das Korpus des Projekts „Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“ befindet sich derzeit noch im Aufbau. Deshalb war es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, Kriterien der genannten Art in die Korpusbildung einzubeziehen.
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Mit einem Umfang von fünf Texten, wobei je ein Nähetext aus dem 17.-20. Jahrhundert vorliegt, ist das Korpus zu klein für valide Schlussfolgerungen. Das Korpus kann hier deshalb nur als Fundament für grundlegende Überlegungen zur Beschreibung und Typisierung aggregativer Koordinationsellipsen dienen. Aus den statistischen Angaben zur Belegverteilung lassen sich dagegen lediglich Tendenzen ableiten. Ausgangspunkt der Untersuchungen zur aggregativen Koordination ist die folgende, im Rahmen der Nähe-Distanz-Theorie entstandene Definition: Bei einer aggregativen Koordination ist die im zweiten Konjunkt implizit gebliebene Kategorie nicht identisch mit der expliziten Kategorie im ersten Konjunkt. (Ágel / Hennig 2006c, 388)
Im Rahmen der im Zusammenhang mit der empirischen Analyse erfolgenden Überlegungen zur Typisierung aggregativer Koordinationen wird zu überprüfen sein, ob diese Definition tatsächlich alle Typen aggregativer Koordination abdeckt. Deshalb kann sie hier zunächst nur als Ausgangsdefinition betrachtet werden. 3.2. Verteilung der Belege Im Korpus konnten insgesamt 167 Belege aggregativer Koordination identifiziert werden. Diese verteilen sich wie folgt auf die untersuchten Texte:
_____________ Zugrunde gelegt wurde die Berechnung der Mikronähesprachlichkeit (Ágel / Hennig 2006b, 35ff.). Da sich der vorliegende Beitrag nicht mit der Nähesprachlichkeit von Texten im allgemeinen Sinne beschäftigt, sondern ausschließlich mit aggregativen Merkmalen, wurde der alle Parameter des Nähesprechens berücksichtigende Mikrowert mit dem Mikrowert für den (für aggregative Strukturen verantwortlichen) Zeitparameter verrechnet. Auf der Basis dieser Analyse ergeben sich die folgenden Werte für die Nähetexte des Korpus: Güntzer I: Nähe Mikro allgemein = 28,8 %; Nähe Mikro + Zeitparameter (= Durchschnittswert des allgemeinen Mikrowertes und des den Zeitparameter betreffenden Mikrowertes): 38,4 %. SchuhmacherChronik II: Nähe Mikro allgemein = 17,8 %; Nähe Mikro + Zeitparameter = 53,6 %. Briefwechsel V: Nähe Mikro allgemein = 37,7 %; Nähe Mikro + Zeitparameter = 43,2 %. Sprachbiographien VII: Nähe Mikro allgemein = 29,6 %; Nähe Mikro + Zeitparameter = 34 %.
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Text Güntzer I SchuhmacherChronik II Kant III Briefwechsel V Sprachbiographien VII Gesamt
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Beleganzahl 57 34,1 % 90 53,9 % 0 20 12,0 % 0 167 100 %
Übersicht 2: Verteilung der Belege auf die Texte
Weder im Distanzkontrolltext noch im gegenwartssprachlichen Nähekontrolltext konnten aggregative Koordinationen nachgewiesen werden. Die Verteilung der Belege auf die übrigen Nähetexte lässt die Tendenz erkennen, dass aggregative Koordinationen in der ersten Hälfte des Neuhochdeutschen deutlich häufiger auftreten als in jüngerer Zeit. Dass der Text aus dem 18. Jahrhundert fast doppelt so viele Belege aufweist wie der Text aus dem 17. Jahrhundert, dürfte an der insgesamt starken aggregativen Ausprägung des Textes liegen (vgl. Fußnote 8). Eine gängige Typisierung von Koordinationsellipsen ist die Einteilung nach der Richtung der Ellipse in Vorwärts- und Rückwärtsellipse (vgl. Klein 1993, 772). Bei einer Vorwärtsellipse bezieht sich die Ellipse auf ein realisiertes Element im ersten Konjunkt (Beispiele 1, 2, 4 u.a.), bei einer Rückwärtsellipse auf ein realisiertes Element im zweiten Konjunkt (Beispiel 3). Vorwärts- und Rückwärtsellipse sind bei den aggregativen Koordinationen wie folgt verteilt: Text Güntzer I SchuhmacherChronik II Briefwechsel V Gesamt
Vorwärtsellipse 55 32,9 % 90 53,9 % 18 10,8 % 163 97,6 %
Rückwärtsellipse 2 1,2 % 0 2 1,2 % 4 2,4 %
Übersicht 3: Richtung der Ellipse
Insgesamt sind nur vier der Belege für aggregative Koordination rückwärtselliptisch, verteilt auf die Texte Güntzer I und Briefwechsel V. Dass offenbar eine Korrelation zwischen aggregativer Koordination und Vorwärtsellipse besteht, verwundert nicht, da Rückwärtsellipsen einen höheren Planungsaufwand erfordern: Wenn sich eine Ellipse auf ein Folgeelement bezieht, muss das folgende Konjunkt bereits mit geplant sein, um die Ellipse auf dieses abstimmen zu können. Aggregative Strukturen sind dagegen gerade ein Indiz für spontane Diskursgestaltung, bei der Planung und Produktion zeitgleich verlaufen. Diese Einschätzung führt zu der
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Schlussfolgerung, dass die in der gegenwartsgrammatisch orientierten Ellipsentheorie gängige Unterscheidung zwischen Vorwärts- und Rückwärtsellipse kein einschlägiges Typisierungskriterium für die Klassifizierung aggregativer Koordinationen sein kann. Gegenstand des folgenden Teilkapitels werden deshalb Überlegungen zu Typisierungsmöglichkeiten aggregativer Koordinationen sein. 3.3. Grundtypen aggregativer Koordinationen Bei den folgenden Überlegungen zur Typisierung beziehe ich mich auf die in 2.1. zitierten Tilgungsregeln integrativer Koordinationsellipsen (Klein 1993, 770; Hoffmann 1997, 574). Aggregative Koordinationen können ex negativo als solche Koordinationsellipsen bestimmt werden, die von diesen Tilgungsregeln abweichen. Auf diese Weise können die Tilgungsregeln den Ausgangspunkt für die Typisierung aggregativer Koordinationen bilden. Die Tilgungsregeln für integrative Koordinationsellipsen betreffen die folgenden Bereiche: •
Konstituenten gleichen Typs, Identität der Kategorien
•
Identische Sätze, Parallelität der Position
•
Identität des Redegegenstandes.
Aus diesen Bedingungen lassen sich nun Grundtypen aggregativer Koordination ableiten, indem sie als Abweichungen von je einer dieser Bedingungen bestimmt werden. Ich bezeichne die Abweichung von der Bedingung ‚Identität der Kategorien‘ als ‚kategoriale Aggregation‘, die Abweichung von der Bedingung ‚identische Sätze‘ als ‚strukturelle Aggregation‘ und die Abweichung von der ‚Identität des Redegegenstandes‘ als ‚referentielle Aggregation‘. Die folgenden Beispiele sollen dies illustrieren: (2)
und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwechsel V)
In Beispiel (2) liegt ein Wechsel im Bereich der Kasuskategorisierung vor, und zwar von Dativ zu Nominativ. Es handelt sich also um kategoriale Aggregation. (16) So hat Sie endlich bestanden, dem Elias Klein Statt-Diener daß Sie ein Kind gebohre[n], und […] habe im Tübinger Burckholtz begraben (SchumacherChronik II)
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Im Sinne der Behaghel’schen ‚Herstellung der syntaktischen Ruhelage‘ (1903) zeigt hier „die Satzform […] das Bestreben, nach einer selteneren Wendung, zu der sie sich aufgeschwungen hatte, wieder in vertrautere Bahnen einzulenken“ (1903, 438): Der Nebensatz fällt „in den Hauptsatz zurück“ (ebd., 442). Für die Koordinationsellipse ist diese Tatsache insofern relevant, als das Zurückfallen in den Hauptsatz dazu führt, dass es sich bei dem Konjunkt ohne realisiertes Subjekt um einen Hauptsatz handelt, während das Konjunkt mit dem realisierten Bezugskonjunkt ein Nebensatz ist. Die in der Tilgungsregel Kleins formulierte Forderung nach identischen Sätzen ist somit nicht erfüllt. Von der Abweichung ist hier also die Struktur betroffen, sodass wir diese Form der aggregativen Koordination als strukturelle Aggregation einordnen können. (17) die grosse Som[m]erhitz cont. fort, u. […] alle Tag gedonnert (SchuhmacherChronik II) Nicht die Sommerhitze donnerte alle Tage, sondern grammatisches Subjekt im zweiten Konjunkt müsste es sein. Das Subjekt kann also nicht einfach aus dem ersten Teilsatz übernommen werden, obwohl die Strukturparallelität dies nahe legt. Die beiden Subjekte sind nicht referenzidentisch, deshalb spreche ich hier von ‚referentieller Aggregation‘. Die auf diese Weise bestimmten Grundtypen aggregativer Koordination sind im Korpus wie folgt verteilt: Text
kategorial
strukturell
Güntzer I
47 47 18 112
5 39 1 45
SchuhmacherChronik II
Briefwechsel V Gesamt
28,1 % 28,1 % 10,8 % 67,1 %
3,0 % 23,4 % 0,6 % 26,9 %
referentiell 5 3,0 % 4 2,4 % 1 0,6 % 10 6,0 %
Übersicht 4: Grundtypen aggregativer Koordination8
Eine deutliche Präferenz für den Typ der kategorialen Aggregation ist klar erkennbar. Allerdings gibt es Unterschiede in den einzelnen Texten: Formen struktureller Aggregation kommen vor allem in der SchuhmacherChronik II vor. Bei Güntzer I ist die Bevorzugung der kategorialen Aggregation noch deutlicher als in der Gesamtwertung. Der text Briefwechsel V weist fast nur kategoriale Aggregationen auf. Bezugnehmend auf Hypothese 2 soll nun der Einfluss der Art der Satzverbindung auf die aggregative Koordination untersucht werden: _____________ 8
Die Prozentzahlen kennzeichnen den Anteil an den aggregativen Koordinationen insgesamt (167).
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Mathilde Hennig
Verknüpfung
syndetisch asyndetisch Gesamt
kategorial 66 39,5 % 46 27,5 % 112 67,1 %
strukturell 42 25,1 % 3 1,8 % 45 26,9 %
referentiell 5 3,0 % 5 3,0 % 10 6,0 %
Gesamt 113 67,7 % 54 32,3 % 167 100 %
Übersicht 5: Verknüpfung der Konjunkte
Als ‚syndetische‘ Verknüpfungen wurden hier Verknüpfungen mit Konund Subjunktoren angesehen. Verknüpfungen durch andere Konnektoren (Adverb- und Partikelkonnektoren) wurden nicht berücksichtigt. Aufschlussreich sind die Korrelationen zwischen den Typen aggregativer Koordination und der Verknüpfung der Konjunkte. Die syndetische Verknüpfung scheint bei struktureller Aggregation fast obligatorisch zu sein, während bei kategorialer und referentieller Aggregation offenbar sowohl die Möglichkeit besteht, die Konjunkte durch einen Junktor zu verbinden als auch darauf zu verzichten. Insgesamt überwiegt die Syndese aber deutlich gegenüber der Asyndese, sodass der von Behaghel hergestellte Zusammenhang zwischen asyndetischer Satzverknüpfung und aggregativer Koordination nicht bestätigt werden kann. Wenn man nun die drei Grundtypen aggregativer Koordination zu der in 3.1. zitierten Definition aggregativer Koordination (Ágel / Hennig 2006c, 388) in Beziehung setzt, stellt man fest, dass sich diese Definition nur auf einen Grundtyp bezieht, und zwar die kategoriale Aggregation. Die anderen beiden Grundtypen werden durch diese Definition nicht erfasst. Aus diesem Grunde möchte ich nun folgende erweiterte Definition vorschlagen: ‚Aggregative Koordination‘ bezeichnet solche elliptischen Satzverknüpfungen, bei denen im Konjunkt mit implizit gebliebenen Elementen Abweichungen vom Bezugskonjunkt zu verzeichnen sind. Diese Abweichungen können kategorialer, struktureller oder referentieller Natur sein. In den folgenden beiden Teilkapiteln werde ich Vorschläge zur weiteren Subtypisierung der Typen ‚kategoriale Aggregation‘ und ‚strukturelle Aggregation‘ erarbeiten. Eine Subtypisierung der referentiellen Aggregation kann hier aufgrund der dünnen Beleglage nicht vorgenommen werden. 3.4. Subtypen kategorialer Aggregation Für eine Subtypisierung kategorialer Aggregation scheinen mir in erster Linie die folgenden Informationen wichtig zu sein:
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1. Art der kategorialen Aggregation: Was für ein Kategorientyp ist betroffen? Hier berufe ich mich auf die Unterscheidung zwischen Wort- und Einheitenkategorien durch Peter Eisenberg (2006, 16ff.). 2. Ort der kategorialen Aggregation: Was für Bestandteile des Satzes sind betroffen? Hier unterscheide ich zunächst zwischen Nominalgruppen und Verbalgruppen betreffenden kategorialen Aggregationen. In einem weiteren Schritt kann spezifiziert werden, um was für Formen von Nominal- und Verbalgruppen es sich handelt. Auf eine solche weitere Spezifizierung verzichte ich aus Platzgründen. Die folgenden Beispiele sollen die Unterscheidung illustrieren: (2)
und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwechsel V)
Hier ist – wie bereits in Kapitel 3.3. besprochen – die nominale Kategorie Kasus von der aggregativen Koordination betroffen. Art der Kategorisierung ist die Einheitenkategorie Kasus, Ort ist die Nominalgruppe. (18) unßer fornemen, wahr weidt zu Reißen vnd […] kondten Nicht alen tag bey vnßern eltern, gelt vnd gleider abhollen, (Güntzer I) Wie in Beispiel (2) bleibt auch in (18) der Wechsel innerhalb der Nominalgruppe. Während hier Kasus, Person und Numerus konstant bleiben, wird der Bezug zur 1. Person Singular Nominativ im Bezugskonjunkt durch einen Possessivartikel hergestellt, während er im elliptischen Konjunkt als Personalpronomen zu realisieren wäre. Somit ist die Wortkategorie Wortart betroffen. (19) ich und Meine geferdten hatten Noch wol gelt ieweder […] bey 20 Gulden (Güntzer I) In diesem Beispiel finden mehrere Wechsel im Bereich verbaler Einheitenkategorien statt: Das realisierte finite Verb hatten im ersten Konjunkt ist in Bezug auf die Kategorisierungen Person und Numerus als 1. Person und Plural kategorisiert. Im zweiten Konjunkt wäre das finite Verb als 3. Person und Singular zu kategorisieren. (20) Den anderen Tag wie man die Huldigungs Gnad hat angenomen ist man vor umb 8 Uhr morgens in die Kirch gegangen […] dem Keyser umb glickliche Regierung gebetten (SchuhmacherChronik II) Von kategorialer Aggregation ist hier das Perfektauxiliar betroffen: Das Verb gehen des Bezugskonjunkts verlangt eine Perfektbildung mit sein,
954
Mathilde Hennig
während Perfektauxiliar des Verbs bitten des elliptischen Konjunkts haben ist. Es handelt sich dabei um den von Schröder stigmatisierten Fall. Die Subtypisierung kategorialer Aggregation bezüglich dieser beiden Perspektiven führt zu folgendem Bild:9
Nominalgruppe
Verbalgruppe Gesamt
Einheitenkategorie 49 43,7 % 27 24,1 % 76 67,9 %
Wortkategorie 3 2,7 % 33 29,5 % 36 32,1 %
Gesamt 52 46,4 % 60 53,6 % 112 100 %
Übersicht 6: Subtypisierung kategorialer Aggregation
Ingesamt sind Einheitenkategorien häufiger betroffen als Wortkategorien, wobei es diesbezüglich einen deutlichen Unterschied zwischen Nominalund Verbalgruppen gibt: Während bei Nominalgruppen fasst ausschließlich Einheitenkategorien betroffen sind, halten sich Einheiten- und Wortkategorien bei den Verbalgruppen die Waage. Dieses Ergebnis wird durch das recht häufige Auftreten aggregativer Koordinationen bei Auxiliarellipsen geprägt, das für die größere Häufigkeit von Wortkategorien betreffenden kategorialen Aggregationen im verbalen gegenüber dem nominalen Bereich verantwortlich ist. Die hohe Anzahl an kategorialen Aggregationen des Perfektauxiliars – 27 der 33 der Korrelation Wortkategorie / Verbalgruppe zugeordneten Fälle, von denen die meisten dem stark aggregativen Text SchuhmacherChronik II entstammen – führt nun Schröders Rückführung des Phänomens auf die Situation des Übersetzens aus dem Lateinischen ad absurdum. 3.5. Subtypen struktureller Aggregation Bei der Subtypisierung struktureller Aggregation geht es um die Frage, was für Strukturen von der Aggregation betroffen sind. Als Bedingungen für Auslassungen führt Hoffmann – wie in 2.1. bereits zitiert – u.a. die Parallelität der Position an (1997, 574). Da Hoffmann diese Bedingung einschränkt, indem er darauf verweist, dass „Strukturabweichungen […] am ehesten beim Subjekt geduldet“ werden (ebd., 576), die Bedingung der Strukturparalleliät also nicht für das Subjekt gilt (ebd., 577), nehme ich Fälle wie den folgenden nicht in die Analyse aggregativer Koordinationen auf: _____________ 9
Die Prozentzahlen bezeichnen hier den Anteil an den insgesamt 98 kategorialen Aggregationen.
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(21) vnder solche Beße Buben vndt Merdter bin ich auch gevallen vndt […] Nahe ermordtet worden so Mich Mein gott Nicht erhalten hette (Güntzer I) Der folgende Überblick über mögliche Formen struktureller Aggregation erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern spiegelt lediglich die Situation im Korpus wider. 1. Nebensatz – Hauptsatz (16) So hat Sie endlich bestanden, dem Elias Klein Statt-Diener daß Sie ein Kind gebohre[n], und […] habe im Tübinger Burckholtz begraben (SchumacherChronik II) Dieses Beispiel wurde bereits in 3.3. zur Illustration des Grundtyps ‚strukturelle Aggregation‘ zitiert und kommentiert. Im Korpus ist nur der hier illustrierte Fall des Wechsels von Nebensatz zu Hauptsatz belegt. Der umgekehrte Fall des Wechsels von Haupt- zu Nebensatz kommt nicht vor. 2. Verbalsatz – verbloser Satz (22) den 6ten ein Schne gefallen und […] kalt darauff (SchuhmacherChronik II) Wie im Fall der referentiellen Aggregation (Beispiel 17) behält das Subjekt des ersten Konjunkts nicht seine Geltung für das zweite Konjunkt. Der Unterschied besteht darin, dass hier keine Strukturparallelität vorliegt, sondern ein Wechsel von einer verbalen in eine verblose Struktur. Die Bindung des zweiten Konjunkts an das erste wird dadurch loser als in den anderen bisher besprochenen Fällen. 3. Konjunkt – Satzglied (23) den 20igsten war es wider Schön u. recht warm u. […] cont. zum End deß Monats (SchuhmacherChronik II) In diesem Beispiel bezieht sich das elliptische Subjekt im zweiten Konjunkt auf das gesamte erste Konjunkt, das erste Konjunkt ist also referenzidentisch mit dem elliptischen Subjekt des zweiten Konjunkts.
10
0
15
SchuhmacherChronik II
Briefwechsel V
Gesamt
33,3 %
-
22,7 %
11,1 %
Übersicht 7: Subtypen struktureller Aggregation
5
Güntzer I
Nebensatz – Hauptsatz
9
0
9
0
20,0 %
-
20,0 %
-
Verbalsatz – Verbloser Satz
20
0
20
0
44,4 %
-
44,4 %
-
Konjunkt – Satzglied
1
1
0
0
2,2 %
2,2 %
-
-
(IK mit zu – IK ohne zu)
45
1
39
5
100 %
2,2 %
86,7 %
11,1 %
Gesamt
956 Mathilde Hennig
Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen
957
4. Infinitivkonstruktion mit zu – Infinitivkonstruktion ohne zu (24) Ich denke alle Tage an Dich Dier doch erst Wiederzusehn und Dich in meine Arme […] nehmen (Briefwechsel V) Hier ist die Infinitivmarkierung mit zu im zweiten Konjunkt elliptisch. Für diesen Fall gibt es im Korpus nur einen Beleg, sodass auf dieser Grundlage noch nicht von einem eigenständigen Typ struktureller Aggregation die Rede sein kann. Ich führe den Beleg hier dennoch auf, um ein statistisch vollständiges Bild erhalten zu können. Die statistische Verteilung der Typen struktureller Aggregation gestaltet sich wie auf der gegenüberliegenden Seite in Übersicht 7 dargestellt:10
4. Konsequenzen Abschließend sollen Konsequenzen des hier vorgestellten Ansatzes •
für die Ellipsentheorie,
•
für die Sprachgeschichtsforschung
•
und für die Nähe-Distanz-Theorie
erörtert werden. 4.1. Konsequenzen für die Ellipsentheorie Mit vorliegendem Beitrag habe ich zu zeigen versucht, dass eine ausschließlich an integrativen Formen von Koordinationsellipsen ausgerichtete Ellipsentheorie kein vollständiges Bild von Koordinationsellipsen zu zeichnen vermag. Eine gegenwartsgrammatisch perspektivierte und schriftzentrierte Ellipsentheorie wird nicht nur nicht dem Prinzip der sprachhistorischen Adäquatheit (= Viabilitätsprinzip, vgl. Ágel 2001) gerecht, sondern ist auch zwangsläufig präskriptiv orientiert, weil sie die nicht ihren Tilgungsregeln entsprechenden Ellipsen als mögliche Formen von Koordinationsellipsen ausschließt. Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Typen aggregativer Koordination schlage ich vor, die bisher vorrangig dichotomisch orientierte _____________ 10
Die Prozentzahlen bezeichnen hier den Anteil an den insgesamt 44 strukturellen Aggregationen.
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Mathilde Hennig
Ellipsentypologisierung durch ein skalares Verständnis (im Sinne von Plewnia, vgl. Kapitel 2.1.) zu ersetzen. Dabei bilden die kontextkontrollierten Ellipsen den einen Pol und nicht-kontextkontrollierte Ellipsen den anderen Pol. Aggregative Koordinationsellipsen sind weder im strengen Sinne kontextkontrolliert (also im Sinne der Befolgung aller Tilgungsregeln) noch sind sie völlig unabhängig vom sprachlichen Kontext. Sie stehen vielmehr als weniger kontextkontrollierte Ellipsen zwischen den Polen: kontextkontrollierte Ellipsen
nicht-kontextkontrollierte Ellipsen weniger kontextkontrollierte Ellipsen: aggregative Koordinationen
Aber nicht nur die Ellipsentypen sind skalar zu modellieren, sondern auch aggregative und integrative Koordinationen: aggregative Koordination
integrative Koordination
Dabei gilt: Bei integrativer Koordination weisen die Konjunkte einen geringeren Grad an Selbständigkeit in der Organisation auf. Die Konjunkte sind in höherem Maße voneinander abhängig. Bei aggregativer Koordination ist der Grad an Selbständigkeit in der Organisation höher, der Zusammenschluss der beiden Konjunkte wird dadurch schwächer. Relativ einfach sind Abstufungen der Aggregativität im Bereich der kategorialen Aggregation festzulegen, indem die Anzahl der Aggregationen berücksichtigt wird. So ist bspw. von dem bereits mehrfach zitierten Beispiel (2) nur eine Kategorisierung betroffen: (2)
und Gott geben mach das Dier bei der Entbindung nichts weiter paßiert und […] glücklich die sache verleben machst (Briefwechsel V)
Die Aggregation betrifft hier nur die Kategorisierung Kasus, alle anderen Kategorisierungen bleiben gleich. Folgendes Beispiel weist dagegen zwei Kategorisierungswechsel auf: (25) fanden aber keine als die bloße Erde und dicken Dreck wo man immer drin fest saß und […] nicht aus der stelle kommen konnten (Briefwechsel V)
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Betroffen sind hier die Kategorisierungen Person und Numerus, es findet ein Wechsel von der dritten zur ersten Person sowie vom Singular zum Plural statt. Von der Anzahl der betroffenen Kategorisierungen ausgehend ist Beispiel (25) als aggregativer zu betrachten als Beispiel (2). Schwieriger gestaltet sich die Frage nach Abstufungen der Aggregativität im Bereich der strukturellen Aggregation. Hier lässt sich diese Frage nicht einfach über die Anzahl der Aggregationen lösen, da es sich um sehr unterschiedliche betroffene Strukturen handelt. Dabei gilt auch hier, dass als aggregativere Formen solche Koordinationen gelten, deren Grad an Selbständigkeit höher ist. In 3.5. wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Bindung elliptischer Konjunkte beim Wechsel von Verbalsätzen in verblose Sätze loser ist als bei anderen Fällen aggregativer Koordination, da hier keinerlei Strukturparallelität mehr vorliegt. Diese Fälle wären einerseits auf der Aggregation-Integration-Skala als besonders aggregativ einzuordnen, andererseits auf der kontextkontrolliert-nichtkontextkontrolliert-Skala als dem nicht-kontextkontrolliert-Pol nahe stehend zu verorten. Es ergibt sich außerdem die Frage, ob auch die drei Grundtypen aggregativer Koordination unterschiedliche Aggregationsgrade aufweisen. Ein mögliches Indiz für unterschiedliches Aggregationsverhalten könnte die in 3.3. vorgestellte Beobachtung, dass strukturelle und referentielle Aggregationen offenbar eine syndetische Verknüpfung verlangen, sein. Die Tatsache, dass bei kategorialen Aggregationen auch Asyndese möglich ist, scheint mir ein Indiz dafür zu sein, dass von kategorialer Aggregation betroffene elliptische Konjunkte durch die Struktur- und Referenzparallelität noch sehr eng an ihre Bezugskonjunkte gebunden sind, sodass es nicht unbedingt erforderlich ist, die Verbindung zwischen den Konjunkten durch einen Junktor zu markieren. Bei struktureller und referentieller Aggregation dagegen ist der Grad an Selbständigkeit höher, sodass die Verbindung zwischen den Konjunkten zusätzlich markiert werden muss. Diese Einschätzungen zu Graden an Aggregativität verstehen sich nur als erste Überlegungen, die erst auf der Basis umfangreicherer Daten genauer ausbuchstabiert werden können. Hilfreich wäre hierfür auch eine vergleichende Untersuchung aggregativer und integrativer Koordinationsellipsen. 4.2. Konsequenzen für die Sprachgeschichtsforschung Auch wenn die gegenwartsgrammatisch orientierte Ellipsentheorie nicht dem Prinzip der Viabilität gerecht wird und deshalb nicht ohne Weiteres auf sprachhistorische Verhältnisse übertragen werden kann, so kann zu-
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mindest der damit verbundene Systematisierungsgedanke für die sprachhistorische Forschung fruchtbar gemacht werden. Denn erst, wenn verschiedene grammatische Kategorien und Strukturen betreffende Ellipsen in einem übergreifenden Ansatz betrachtet werden, können Zusammenhänge zwischen diesen Ellipsen offen gelegt werden. Als ein solcher Zusammenhang wurde hier die Neigung zu aggregativeren Formen herausgearbeitet. Verschiedene Typen von aggregativen Koordinationsellipsen – wie etwa nominale Kategorien betreffende Ellipsen, Auxiliarellipsen oder durch die Herstellung der syntaktischen Ruhelage bedingte strukturelle Aggregationen – können somit dem allgemeineren Zusammenhang eines möglichen Übergangs von aggregativeren zu integrativeren Formen zugeordnet werden. Ein weiterer Vorteil einer solchen Systematisierung besteht darin, dass dadurch ein sprachsystematisch begründeter Erklärungszusammenhang gewonnen wird, der am gegenwartssprachlichen Grammatikalitätsurteil ausgerichtete Einordnungsversuche ersetzen kann. Aufschlussreich für sowohl Sprachgeschichtsforschung als auch Ellipsentheorie ist die Beobachtung, dass offenbar bestimmte sprachhistorische Phänomene aggregative Koordinationen begünstigen. Dazu gehören die Mikrorealisierung des Subjektpronomens, afinite Konstruktionen und auch die Herstellung der syntaktischen Ruhelage. Im Sinne der Auer’schen Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Verbspitzenstellung (1993)11 könnte man auch zwischen eigentlicher und uneigentlicher aggregativer Koordination unterscheiden: Aggregative Koordination, die sozusagen ein Nebeneffekt anderer sprachhistorischer grammatischer Erscheinungen ist, ist keine eigentliche aggregative Koordination. Als ‚eigentlich‘ wäre eine aggregative Koordination nur dann zu bezeichnen, wenn sie das eigentliche Phänomen der betroffenen Struktur ist. Betrachtet man die in vorliegendem Beitrag aufgeführten Belege, so zeigt sich aber, dass es relativ schwierig sein dürfte, Fälle für eigentliche aggregative Koordination zu finden. Die Frage, ob es eigentliche aggregative Koordination überhaupt gibt, muss also der Untersuchung umfangreicheren Datenmaterials vorbehalten bleiben. Die Tatsache, dass aggregative Koordinationen offenbar vorrangig im Zusammenhang mit anderen sprachhistorischen grammatischen Phänomenen auftreten, hilft zu verstehen, warum aggregative Koordinationen für das Gegenwartsdeutsche – mit Ausnahme der dialektbezogenen Studie von Plewnia – nicht beschrieben sind. _____________ 11
Als ‚eigentlich‘ betrachtet Auer die Verbspitzenstellung dann, wenn keine klaren Gründe für die Verbspitzenstellung erkennbar sind, d.h., wenn der Satz sämtliche obligatorische Ergänzungen enthält. Kommt die Verbspitzenstellung dagegen durch das Fehlen einer obligatorischen Ergänzung zustande, handelt es sich um eine Ellipse, die Auer als ‚uneigentliche Verbspitzenstellung‘ bezeichnet (1993, 195).
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4.3. Konsequenzen für die Nähe-Distanz-Theorie In der Nähe-Distanz-Theorie (Ágel / Hennig 2006a) geht es darum, Nähe und Distanz als Pole eines Kontinuums zu bestimmen und diesen Ansatz durch eine Operationalisierung auch für die Analyse historischer Texte nutzbar zu machen (Ágel / Hennig 2006b). Bei der Ermittlung der Nähesprachlichkeit eines historischen Textes spielt der Parameter ‚Aggregation vs. Integration‘ eine zentrale Rolle. Mit Hilfe von Erkenntnissen über mögliche Ausprägungen dieses Parameters kann deshalb auch die NäheDistanz-Theorie verfeinert werden. In diesem Sinne wäre es denkbar, die bisherigen Verfahren zur Ermittlung der Nähesprachlichkeit (Ágel / Hennig 2006b) durch einen Wert zum Aggregationsgrad in Bezug auf das Ellipsenverhalten von Texten zu ergänzen. Texte mit einer stark ausgeprägten Neigung zu aggregativen Koordinationsellipsen bzw. zu besonders aggregativen Formen von Koordinationsellipsen könnten auf diese Weise als besonders nähesprachlich ausgewiesen werden. Auch hier gilt, dass es weiterführender Korpusuntersuchungen – insbesondere vergleichender Untersuchungen zu aggregativer und integrativer Koordination – bedarf, um einen solchen Ansatz ausarbeiten zu können. Wenn der vorliegende Beitrag mit einigen Desideratsbestimmungen schließen muss, so ist das der Tatsache geschuldet, dass ich mit dem Versuch, aggregative Koordinationen sowohl sprachhistorisch als auch ellipsentheoretisch zu verorten, völliges Neuland betreten habe. Es konnten deshalb hier nur erste Überlegungen zum Verständnis aggregativer Koordinationen präsentiert werden, die durch weitere Studien zu präzisieren sind.
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Im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Populare Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit
Anja Voeste (Gießen)
1. Fragestellung Die Sprachgeschichtsschreibung verweist immer wieder auf ein zentrales Ereignis, das die sprachliche Entwicklung in der Frühen Neuzeit entscheidend beeinflusst hat: die Dissoziierung von gesprochener und geschriebener Sprache.1 Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist von einer „Schriftsprache der Gebildeten“ auszugehen, die sich strukturell im Laufe der Zeit immer stärker von der gesprochenen Sprache unterschied. Gleichzeitig übte diese Schriftsprache aber auch einen so starken Einfluss als Leitvarietät aus, dass sich nach und nach eine sekundäre, schriftsprachlich geprägte Oralität auszubilden begann. Mündlichkeit und Schriftlichkeit standen somit in einem Abstoßungs-, aber auch in einem Anziehungsverhältnis zueinander, unterlagen also zwei divergierenden Trends. Beide Entwicklungen wurden bekanntlich von der Elite der ständischen Gesellschaft getragen, besonders vom städtischen Patriziat und den Akademikern. Verhältnismäßig wenig bekannt ist dagegen, wie sich populare Schreiber, also jene, die nicht zur Elite der ständischen Gesellschaft zählten,2 in diesem Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhielten. War ihnen die Dissoziierung, die Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, bekannt und bewusst? In diesem Fall müsste sich nachweisen lassen, dass auch populare Autoren gezielt prototypisch schriftsprachliche Strukturen wählten – sei es, um sich den Prestigezugewinn zu sichern, oder einfach, um die andersartigen medialen Anforderungen zu bedienen. Oder war ihnen die Differenz zwischen Mündlichkeit und _____________ 1 2
Vgl. etwa Reichmann (2003). Vgl. zur Definition Brändle (2001, 441).
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Schriftlichkeit nicht bekannt bzw. nicht bewusst? Haben sie sie – auch das ist theoretisch möglich – gar absichtlich nicht berücksichtigt, um „Nähe“ zum potenziellen Leser herzustellen? Dann dürften sich Strukturen, die prototypisch schriftsprachlich sind, gerade nicht finden lassen, sondern stattdessen solche, die der gesprochenen Sprache näher stehen. Oder muss man als dritte Möglichkeit sogar mit einer Mischung von beidem innerhalb eines Textes rechnen? Daten zur Verwendung von Vergleichspartikeln aus dem 19. Jahrhundert zeigen z.B., dass es die Schreiber mit Elementarschulbildung waren, die in Privatbriefen sowohl die „schriftsprachlichste“ und somit wohl prestigereichste Variante ([größer] denn) als auch die stigmatisierteste Variante ([größer] als wie) nutzten, während sich die Schreiber mit Sekundarschulbildung auf die Varianten [größer] als und [größer] wie beschränkten.3 Muss man sich auch für die Frühe Neuzeit auf ein solches Nebeneinander geschrieben- und gesprochensprachlicher Muster innerhalb eines Textes einstellen? Wie wären solche theoretisch möglichen Fälle überhaupt zu interpretieren? Wären, um bei diesem Beispiel zu bleiben, etwa alle [größer] als wie per se als unbewusst gewählte „Alltagsvarianten“ zu klassifizieren, wenn daneben ein sicherlich strategisch platziertes [größer] denn im Sonntagsanzug auftaucht? Oder kann es so etwas wie eine „Zwitterorientierung“ an geschriebensprachlichen Distanz- und gesprochensprachlichen Nähemustern gleichermaßen geben – nach dem Motto: „Ich bin zwar gebildet, aber trotzdem einer von euch“? Um einen kleinen Schritt in Richtung auf die Beantwortung dieser Fragen zu gehen, möchte ich im Folgenden drei autobiographische Texte von Handwerkern der Frühen Neuzeit in den Blick nehmen. Die Abfassung der Texte ist dem Umstand zu verdanken, dass die Autoren aufgrund ihres religiösen Familienhintergrunds schon früh mit Lesen und Schreiben vertraut waren und dass Schriftlichkeit, insbesondere die religiöse Lektüre, zeitlebens eine besondere Bedeutung für sie hatte, denn alle drei Autobiographen wurden aus religiösen oder ökonomischen Gründen aus ihren angestammten Sozialverbänden ausgeschlossen. Lesen und Schreiben waren für sie Rückzugstechniken, mit denen sie sich von ihrem feindlich gesinnten Umfeld abkapseln konnten. Erst ihre soziale Außenseiterrolle hat den Impuls für die Abfassung der Texte geliefert – und uns somit seltene, vormodern-individuelle Zeugnisse beschert. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass weder die Verfasser noch ihre Texte als typisch für populares Schreiben gelten können und letztlich nur faute de mieux herangezogen werden. Typisch für populares Schreiben wären allenfalls berufsspezifische Notizen, Bestell- und Inventarlisten, Rechnungen und _____________ 3
Vgl. Elspaß (2005, 35).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit
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Rechnungsbücher oder rudimentäre Aufzeichnungen von familiären Eckdaten. Der älteste der ausgewählten Texte stammt aus den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts und wurde vom Buchbinder und Täufer Georg Frell aus Chur verfasst.4 Frell schildert seine Lehrjahre, die er fern der Familie in äußerster ökonomischer Not verbrachte, und berichtet von seiner Ausgrenzung und anschließenden Verbannung aus religiösen Gründen. Der zweite Text wurde ca. 1650 vom Zinngießer und Calvinisten Augustin Güntzer aus dem Elsaß geschrieben.5 Es handelt sich um die retrospektive Geschichte eines steten Abstiegs aus guten Verhältnissen in eine so prekäre finanzielle Lage, dass sich der Autor, wie die Herausgeber betonen, am Ende seines Lebens „kaum mehr eine anständige Mahlzeit leisten“6 konnte. Güntzer musste Zuflucht im Hause seines Schwiegersohns suchen, wo er verhöhnt und nur mehr als Arbeitshilfe geduldet wurde. Der jüngste Text stammt vom Böttcher und Pietisten Hans Ludwig Nehrlich aus Thüringen und wurde 1722 / 23 auf Anregung August Hermann Franckes niedergeschrieben.7 Nehrlich, als Pietist in seinem Heimatdorf angefeindet, wurde mehrfach vor das orthodoxe lutherische Konsistorium zitiert. Man beschlagnahmte seine Bücher, bezichtigte ihn der Häresie und nahm ihn in Beugehaft, um ihn zum Widerruf zu bewegen. Nehrlich berichtet wie Frell und Güntzer von seiner ökonomischen Not, von seiner religiösen Standhaftigkeit und von sozialer Deprivation, da sogar seine Familie gegen ihn agierte. Alle drei Quellen sind in Editionen zugänglich.8 Die Texte wurden, wenn auch in geringem Maße, normalisiert, können also nur zur Analyse ausgewählter Phänomene herangezogen werden.9
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9
Vgl. „Die Autobiographie des Täufers Georg Frell von Chur“, in Rageth (1942). Vgl. Güntzer (2002). Herangezogen wurde das erste Buch „Mein Kindtheitt undt Lehrjahren betr=ffent“, 80-113. Ebd., 68. Vgl. Nehrlich (1997). Ausgewählt wurde der zweite Teil des Lebenslaufs, 72ff. Die Originaltexte von Güntzer und Nehrlich sind über die Universitätsbibliothek Basel bzw. das Archiv der Franckeschen Stiftungen (Halle) zugänglich, der Text von Frell befindet sich in Privatbesitz. Es ist davon auszugehen, dass die Editoren im Bereich der hier interessierenden syntaktischen Konstruktionen nicht eingegriffen haben. Das betrifft jedoch nicht die – im Folgenden außer Acht gelassene – Interpunktion, die besonders bei Frell dem späteren Gebrauch angepasst wurde. Zu Fragen der Markierung der direkten Rede vgl. Simmler (1998).
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2. Untersuchungsgegenstand Als Untersuchungsgegenstand wurde die syntaktische Bearbeitung wörtlicher Rede, genauer: die Verbindung von Redeeinleitung10 und Redewiedergabe, gewählt. Die Fokussierung auf syntaktische Konstruktionen der Redewiedergabe war von folgenden Annahmen geleitet: 1. Bei der Dissoziierung von gesprochener und geschriebener Sprache mögen den popularen Schreibern zunächst die „großen“, die syntaktischen Unterschiede ins Auge gefallen sein, die durch die neuen Strukturmuster der Schriftsprache entstanden: Die Klammerstrukturen wurden hier (weiter) ausgebaut, die Satztypen differenzierten sich durch Verbzweit- und Verbletztstellung, die Hypotaxe nahm zu.11 Eine Fokussierung der Analyse auf syntaktische Phänomene erschien auch deshalb angeraten, weil sie nicht nur beim aktiven Lesen, sondern auch beim Vorlesen mittransportiert wurden: Die popularen Schreiber mögen sich die neuen syntaktischen Muster so – durch Lesen und durch Zuhören – auch vergleichsweise leichter angeeignet haben – im Gegensatz etwa zu (ortho)graphischen. 2. Es musste gewährleistet sein, dass den Autoren eine „freie“ Wahloption zwischen alten und neuen, d.h. gesprochen- und geschriebensprachlichen Mustern zur Verfügung stand. Für die Frühe Neuzeit muss ja berücksichtigt werden, dass viele der neuen grammatischen Strukturen durch die beginnende Standardisierung der Schriftsprache festzementiert wurden. Wenn ältere Muster – etwa durch Grammatikalisierung – verdrängt oder in den Grammatiken negativ etikettiert wurden,12 verwendete man sie gemeinhin auch nicht mehr alternativ zu den neuen Mustern – es sei denn, man nahm einen Prestigeverlust in Kauf. Deshalb musste ein Gegenstand gewählt werden, bei dem die alten schriftsprachlichen Muster nicht durch neue verdrängt wurden. Die Einbettung der Redewiedergabe in den syntaktischen Kontext erfüllt diese Voraussetzung: Bis heute existiert ein Spektrum an Möglichkeiten, Gesprochensprachliches wiederzugeben, z.B. durch direkte Rede, indirekte Rede oder durch einen dass-Satz. 3. Es sollte ein Thema gewählt werden, bei dem ein besonderes Spannungspotenzial zwischen gesprochen- und geschriebensprachlichen Mustern zu erwarten war. Auch das ist bei der Redewiedergabe der _____________ 10 11 12
Zur Terminologie vgl. Wilke (2006, 281, FN 71). Vgl. dazu im Einzelnen und im systematischen Zusammenhang: Ágel (2000). Vgl. dazu generell Knoop (1987) und speziell Davies / Langer (2006).
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Fall: Bei der Schilderung ihrer intensiven persönlichen Erlebnisse mögen die Autoren in hohem Maße versucht gewesen sein, Äußerungen als wörtliche Rede wiederzugeben, während sie andererseits an der Verwendung der neuen, schriftsprachlichen Muster als Bildungsausweis interessiert gewesen sein dürften.
3. Redewiedergabe – mündlich und schriftlich geprägte Techniken Eine mündlich geprägte Technik der Redewiedergabe verlangt vom Sprecher oder Schreiber verhältnismäßig wenig. Er muss sich an den Wortlaut der Rede erinnern und diesen dann ohne eine aufwendige Weiterbearbeitung wiedergeben. Die „Bürde“, wie Frans Plank es nennt, „daraus den richtigen Sinn zu entnehmen“,13 trägt der Zuhörer oder der Leser. In einer face-to-face-Situation ist dies unproblematisch: Mit performativen Mitteln wie Intonation, Mimik und Gestik können Sachverhalte und deren Bezüge leicht vereindeutigt werden. Anders in der Schriftsprache: Der Zusammenhang zweier Sachverhalte muss (syntaktisch gesprochen) deutlicher markiert werden als in der Mündlichkeit, weil die performativen Mittel fehlen. Eine literate Technik verlangt daher vom Schreiber sehr viel mehr: Er muss die deiktischen Angaben transponieren und durch Moduswechsel, die Verwendung von Junktoren oder die Veränderung der Verbstellung Abhängigkeiten syntaktisch anzeigen. So wird aus einer mündlich geprägten, aggregierenden Reihung von Redeeinleitung und -wiedergabe wie Christoph hat gesagt: „Ich habe die Katze nicht gesehen“ eine syntaktisch integrierende, hierarchische Unterordnung wie Christoph sagt, dass er die Katze nicht gesehen habe. Bei einer schriftlich geprägten Technik greift der Schreiber interpretierend ein und gibt dem Leser so Hilfestellung bei der Dekodierung, erleichtert ihm also seine „Bürde“. Doch das muss nicht sein: Je weiter der Pfad der Dissoziierung beschritten wird, desto stärker werden integrierende syntaktische (im Gegensatz zu aggregierenden pragmatischen) Techniken eingesetzt. Aber je integrierter und komprimierter eine syntaktische Konstruktion ist, desto mehr Informationsträger – deiktische Mittel, verbale Kategorien oder Ergänzungen – können verloren gehen, vgl. Christoph beklagt das Nichtsehen der Katze. Wenn sich die literaten Techniken auf diese Weise „verselbständigen“, dienen sie nicht mehr der Ver-
_____________ 13
Plank (1986, 298).
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ständnissicherung. Die Dekodierung wird keineswegs erleichtert, sondern vielmehr erschwert.14 Bei der Redewiedergabe existiert, wie die wenigen Beispiele bereits gezeigt haben, ein ganzes Spektrum an solchen mehr oder weniger mündlich bzw. schriftlich geprägten Konstruktionsmöglichkeiten, so dass man von einem Kontinuum von aggregativ-pragmatischen und integrativ-syntaktischen Kodierungsverfahren sprechen kann. Im Folgenden unterscheide ich in Anlehnung an Plank fünf Typen der Verschränkung von Redeeinleitung und Redewiedergabe,15 die das Kontinuum von Aggregation zu Integration verdeutlichen sollen. Typ 1a: (1) (2) (3)
Ich gedacht hin und här: „Du bist nu yetz zimlich alt und hast noch nüt rechts gelernet, damit du dich erneeren mögist.“ [Frell, 462] Dem bössen Geist ich ich [sic] balt Antwordt gab mit dißen Wordten: Ich gehe nicht hinab, mache dich fordt von mihr … [Güntzer, 94] … so will ich ihm die ursache sagen: Es kombt mir oft vor in meinem GeMüth, das… [Nehrlich, 76]
Typ 1a ist der aggregativste Typ der Redewiedergabe: Die wiedergegebene Rede ist der Redeeinleitung neben-, nicht untergeordnet. Einleitungs- wie Redeteil sind als zwei syntaktisch autonome Sätze realisiert; zwischen beiden liegt eine Satzgrenze. Die Autonomie und die unhierarchische Reihung der beiden beteiligten Sachverhaltsdarstellungen kann dabei einen Nachteil für die Dekodierung mit sich bringen: Wenn die Redeeinleitung nicht klar genug als Bezugsrahmen hervortritt, kann das Verständnis erschwert werden, weil der Zusammenhang der Sachverhalte syntaktisch nicht markiert ist. In Texten der Frühen Neuzeit kommt erschwerend hinzu, dass die Textkohäsion gering sein kann, z.B. durch fehlende Koreferenz, wenn das Subjektpronomen nicht realisiert wird (vgl. Gab Antwort: Gehe nicht hinab vs. Ich / Er gab Antwort: Ich / ØIMP gehe nicht hinab). Typ 1b: (4)
Unnd bättet mit mier unnd sprach: „Ä, min liebs kindt, ich pitten dich thrülich, biß [sei] allwägen from unnd gottsförchtig die wil [dieweil] du lebst …“ [Frell, 458]
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Vgl. Raible (1992, 221): „Generell gilt freilich, daß ein Diskurs in dem Maße integrierter wird, in dem er vom Produzenten vorkonzipiert und reflektiert wurde, also Bühlers Sprachwerk entspricht; daß mit dem zunehmenden Grad an konzeptioneller Schriftlichkeit der Grad an Integrativität zunimmt, daß ein zu hohes Maß an Integrativität jedoch die Verständlichkeit nicht unbedingt fördert.“ Plank unterscheidet acht Typen der Redewiedergabe, vgl. Plank (1986, 304).
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(5) (6)
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Mein Vatter sprach: Es ist ein Man da … [Güntzer, 94] … sie wird sagen, je, das Gott erbarm, was seit ihr vor ein Man … [Nehrlich, 80]
Dieser Typ ist insofern weniger aggregativ, als das Verb sprechen als Redeeinleitung hier eine Ergänzung verlangt und der Einleitungssatz daher weniger autonom ist als bei Typ 1a. Das unhierarchische Verhältnis zwischen den beiden Teilen bleibt nicht gewahrt, der Redeteil ist dem Einleitungsteil – wenn auch nur in geringem Maße – durch die Eingliederung in den Valenzrahmen von sprechen untergeordnet. Obwohl die Unterordnung „nur“ über die Valenz und nicht über syntaktische Marker wie Junktoren oder die Verbendstellung erfolgt, können Redeeinleitung und Redeteil dennoch vom Leser leichter als zusammengehörend interpretiert werden als bei Typ 1a. Typ 2: (7) (8) (9)
Unnd verhieß mir der fromme herr Apiariuss, sin bGchbinder mFße mich das hantwerckh leeren [lehren]. [Frell, 461] Der Man sprach, er sey da. [Güntzer, 94] der redet mir Nun zu, ich sollte Ja nicht zagen … [Nehrlich, 83]
Bei Typ 2 liegt ein höherer Integrationsgrad vor, bei dem eine aufwendigere Planung durch den Schreibenden erforderlich ist. Der Wechsel von direkter zu indirekter Rede ist hier durch einen Wechsel der Personendeixis (mein > sin bGchbinder, dich > mich) und auch des Modus (von Indikativ zu Konjunktiv) bedingt. Die nötigen Transpositionen betreffen zunächst die Personenreferenz – im nominalen wie im verbalen Bereich (Sie sagt: „Du lügst.“ > Sie sagt, ich lüge.) – und parallel dazu die adverbiale Raumund Zeitdeixis (hier > da, jetzt > zu diesem Zeitpunkt o.ä.). Neben der personalen morphosyntaktischen Transposition kann der Schreibende zudem einen Moduswechsel durchführen und die Consecutio temporum16 einhalten. Das ist in den untersuchten Texten keineswegs immer gegeben. Die Trennung von direkter und indirekter Rede wird bei Güntzer und Nehrlich mitunter nur von den deiktischen Transpositionen getragen, die dann durch den Kontext erst vereindeutigt werden müssen (vgl. die kontextgestützten Lesarten a und b im Vergleich zu c):
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Diese wird jedoch diachron und diatopisch unterschiedlich realisiert und hier nicht berücksichtigt. Vgl. dazu zuletzt ausführlich Wilke (2006, 71ff.).
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(10) Er sprach: Es muß sein, mit ime muß ich ein Kampff außstehen. [Güntzer, 94] Lesart a: Er1 sprach, es müsse sein, mit ihm1 müsse ich2 einen Kampf ausstehen. Lesart b: Er1 sprach: „Es muss sein.“ Mit ihm1 müsse ich2 einen Kampf ausstehen. Lesart c: Er1 sprach: „Es muss sein. Mit ihm2 muss ich1 einen Kampf ausstehen.“ Erst wenn der Schreibende den größeren Aufwand auf sich nimmt und auch den Moduswechsel durchführt, kann der Dekodierungsprozess erleichtert werden. Die stärkere Integration der Redewiedergabe vereindeutigt das Verhältnis der Redeteile zueinander. Doch selbst wenn alle deiktischen und morphosyntaktischen Transpositionen durchgeführt sind, kann diese Wiedergabetechnik trotz ihres höheren Integrationsgrades noch aggregative Züge tragen – in semantischer Hinsicht. Das sieht man an inkohärenten Belegen wie: … so giengend sy ab der arbeyt zum win [Wein] unnd verthädend das gelt und verpaten mir by erstechen, ich sölte dem meyster nüt sagen [Frell, 462]. Hier ist das redeeinleitende Verb verbieten per se schon negativ, wird aber mit einem indirekt wiedergegebenen Verbot, der negativen sollen-Konstruktion (sölte nüt), gekoppelt, sodass der Leser die integrativ dargebotenen, semantisch aber aggregativ organisierten Sachverhalte erst in ihrer Beziehung zueinander interpretieren muss. (Man vergleiche dagegen die Realisierung mit direkter Rede: und verpaten mir by erstechen, du darfst dem meyster nüt sagen.) Es bleibt zu diskutieren, wie solche Beispiele zu interpretieren sind: Einerseits vermittelt die Konstruktion den Eindruck einer spontanen Realisierung, bei der der Planungsgrad gering ist.17 Das würde für eine mündliche Technik sprechen. Andererseits legt die mechanische Einhaltung der Consecutio temporum (auf einleitendes Präteritum folgt Konjunktiv Präteritum) einen höheren Planungsgrad und somit eher eine literate Technik nahe. Es könnte daher zu kurz greifen, einen solchen Beleg mechanisch als mündlich induziert zu werten: Ebenso gut mag die syntaktische Konstruktion ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich gezogen und so den semantischen Kohäsionsbruch – also die Aggregation – erst bewirkt haben. Typ 3: (11) Der hats innen ouch in gen [eingegeben] und befolhen, das sy söliche große barmhertzickheyt an mir bewysind … [Frell, 462] _____________ 17
Solche Inkongruenzen oder Kohäsionsbrüche werden von der Gesprochenen-SpracheForschung als on-line-Phänomene beschrieben, vgl. Auer (2000).
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit
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(12) Diße 2 Pfaffen setzten … an mich, daß ich die evanielische Religion, meinen Glauben, verleignen soll … [Güntzer, 97] (13) … bitte aber, das mir es nicht übel möchte geteutet werden … [Nehrlich, 88] In Beispielen dieses Typs bleibt zwar nach wie vor die Satzgrenze erhalten, aber der Redeteil hat seine syntaktische Autonomie an die Redeeinleitung verloren. Die Verbletztstellung (bewysind, soll) und der einleitende Junktor (im Allgemeinen dass)18 sind Kennzeichen einer stärkeren syntaktischen Integration als die Verbzweitstellung19 und der „Nulljunktor“20 in Typ 2. Obwohl der Konjunktiv zur Markierung der Redewiedergabe hier nicht erforderlich ist, bevorzugen ihn Frell und Nehrlich. Sie nehmen somit eine Übercharakterisierung der indirekten Rede vor. Belege mit Verbzweitstellung sind bei allen drei Texten in der Minderzahl. Die Autoren realisieren Typ 3 mehrheitlich mit Verbalklammer, sei es mit Verbspäter- oder mit Verbletztstellung. Innerhalb der zwei- und mehrgliedrigen Verbalkomplexe wird die Serialisierung nicht einheitlich gehandhabt. Das kanzleisprachliche Prestigemuster21 infinit-finit konkurriert hier mit der weniger papierenen, vermutlich durch die Mündlichkeit gestützten Reihenfolge finit-infinit, vgl. gon welte vs. welte schaffen: (14) … und seyt [sagt] mier nüt, das er gon welte. [Frell, 464] (15) Aber jederman gab mir ein bösen trost, was ich hie welte schaffen … [Ebd., 466]. Während sich das Verhältnis von Verbspäter- zu Verbletztstellung bei Güntzer bereits stark zugunsten der Verbletztstellung verschoben hat (vgl. Übersicht 1),22 tritt bei Nehrlich eine neue Konkurrenzvariante auf den Plan, nämlich die afinite Konstruktion: … so erzehlt er mir das sein Herr schwiger vatter gar nicht mit ihm zufriden [Nehrlich, 40].
_____________ 18 19 20 21 22
Bei Fragen fungieren Interrogativpronomen oder -adverbien als Junktor, bei Entscheidungsfragen ob. Oder die Verberststellung bei Nichtrealisierung des Subjektpronomens. So Weinrich (2003, 903). Vgl. Ebert (1986, 105); Härd (1981, 123f.); Voeste (2000). Die absoluten Zahlen sind hier jedoch gering (Zweitstellung / Späterstellung / Letztstellung / afinit): Frell 0 / 4 / 5 / 0, Güntzer 3 / 2 / 12 / 0, Nehrlich 3 / 8 / 24 / 13.
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Anja Voeste
Übersicht 1: Verbstellung in der abhängigen Redewiedergabe (Typ 3) in Prozent
Die afinite Konstruktion ist wie die Verbletztstellung als schriftinduziert zu bewerten und erhält ihr Prestige durch die häufige Verwendung in der Kanzleisprache des 17. Jahrhunderts. Die Afinitheit verdeutlicht alternativ zur Verbletztstellung die strukturelle Abhängigkeit der Redewiedergabe von der Redeeinleitung.23 Aus den Belegen für Typ 3 ergibt sich somit ein Spektrum an Fällen mit geringerer und stärkerer Integration. Am wenigsten integriert sind Redewiedergaben, bei denen lediglich der Junktor und die deiktischen Transpositionen die Abhängigkeit markieren (…das es sol ein unglück mit Feuer beteuten [Nehrlich, 85]), am stärksten sind es solche, bei denen die Klammerstruktur und der Moduswechsel hinzutreten (vgl. Tabelle 1). Eine mehrfach durchgeführte Abhängigkeitsmarkierung der Redewiedergabe bedeutet einen hohen Planungsaufwand. Das Ergebnis gewährleistet aber auch, dass dem Leser die „Bürde“ der Dekodierung entscheidend erleichtert wird. Beispielsatz Er sagt, dass er ist
Integrationsindikatoren Junktor
von mir enttäuscht. Er sagt, dass er sei von mir enttäuscht.
+ deikt. Transposition
Junktor
+ deikt.
+ Moduswech-
Transposition
sel
_____________ 23
Vgl. dagegen Wilke (2006, 312ff.), die die afinite Konstruktion nicht als syntaktischen Marker der Einbettung (alternativ zur Verbletztstellung), sondern als Möglichkeit der Redundanzvermeidung (alternativ zum Indikativ) interpretiert.
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Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit
Er sagt, dass er von
Junktor
mir ist enttäuscht. Er sagt, dass er von
Junktor
mir enttäuscht ist. Er sagt, dass er von
Junktor
mir enttäuscht. Er sagt, dass er von
mir enttäuscht sei.
+ Späterstel-
Transposition
lung
+ deikt.
+ Letztstel-
Transposition
lung
+ deikt.
+ Afinitheit
Transposition Junktor
mir sei enttäuscht. Er sagt, dass er von
+ deikt.
Junktor
+ deikt.
+ Moduswech-
+ Späterstel-
Transposition
sel
lung
+ deikt.
+ Moduswech-
+ Letztstel-
Transposition
sel
lung
Tabelle 1: Spektrum von geringerer und stärkerer Integration (Typ 3)
Typ 4: (16) Unnd verhieß mir, mich in sinen costen zG leeren [lehren] … [Frell, 460] (17) Gieng in ein kFche … und hieß mir zessen drum [um einen halben Batzen] geben. [Frell, 463] (18) Mein Vatter befilcht dem Schreiner, mihr einen Dodtenbaum [Sarg] zu machen. [Güntzer, 105] (19) … so wurde ich rahtes, dem Herrn PfarHer in Apfelstet es zu verstehen zu geben. [Nehrlich, 85] Bei Typ 4 ist die Redewiedergabe mit einem Infinitiv realisiert. Dadurch gehen wesentliche Eigenschaften verloren, die für Sätze typisch sind. Es „fehlt“ nun einerseits das Subjekt im Nominativ, andererseits die verbalen Kategorien Person, Numerus und Modus,24 die mit Finitheit einhergehen (vgl. im Kontrast dazu Und verhieß mir, er wolle mich auf seine Kosten lehren). Dadurch ist ein höherer Grad an Integration erreicht als bei Typ 3. Aber im Gegensatz zu Typ 3 stützt die Integration nun nicht mehr die Dekodierung. Im Gegenteil: Durch das Fehlen der Finitheitsmarker büßt Typ 4 wesentliche Informationsträger ein, die die Dekodierung stützen. Typ 5: (20) … unnd begert ein fründtlichen abscheydt von im [ihm] … [Frell, 462f.] (21) Er … treyet [droht] mihr meinen Undergang undt schandlichn Dodt … [Güntzer, 101] _____________ 24
Tempus und Genus verbi sind auch beim Infinitiv gegeben, vgl. Inf. Präs. Aktiv / Passiv und Inf. Perf. Aktiv / Passiv.
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(22) … wird meine liebe dochter … dem lieben Herrn professor schon meinen letzten abschied laßen wissen … [Nehrlich, 92] Der integrativste Typ der Redewiedergabe liegt bei Nominalisierungen vor. Der Satzstatus des Redeteils geht verloren, und die Verben der Redewiedergabe werden als Objekte oder Attribute paraphrasiert. Im Vergleich zu einer weniger integrativen Technik wie Typ 2 (Ich sagte, ich wolle mich freundlich ['in Güte'] von ihm verabschieden) oder Typ 3 (Ich bat ihn, dass er mich freundlich verabschiede) wird der Unterschied offenbar: Die Nominalisierung bedeutet einen weiteren Verlust an Explizitheit, die durch das Verb (insbesondere das finite Verb) transportiert wird. Auch im Vergleich zur Realisierung mit Infinitiv in Typ 4 (Ich begerte, mich freundlich von ihm zu verabschieden oder Ich begerte von ihm, mich freundlich zu verabschieden) gehen somit noch einmal wesentliche Informationen verloren, die im ungünstigsten Fall – wie hier bei Frell – zu Ambiguität führen können. Aus dieser kurzen Zusammenschau möglicher Techniken der Redewiedergabe (vgl. auch Tabelle 2) wird deutlich, dass integrative Verfahren nicht unbedingt effektiver zur Verständnissicherung beitragen als aggregative Verfahren. Vergleicht man die Typen 1 bis 5 hinsichtlich ihrer semantischen Dekodierbarkeit, sind es die Typen 2 und 3, die das Verhältnis der Sachverhaltsdarstellungen (Redeeinleitung und Redewiedergabe) zueinander am deutlichsten abbilden können, da sie alle vereindeutigenden Informationsträger (deiktische Transposition, Moduswechsel, Junktor, Verbalklammer / Afinitheit) enthalten. Bei ihnen ist der Planungsaufwand am höchsten; dafür tragen sie aber auch am besten zur Verständnissicherung bei. Typ 1a
Beispielsatz
Integrationsindikatoren
Er verheimlicht
keine
seine Missbilligung nicht: „Ich bin enttäuscht.“ 1b
Er sagt: „Ich bin
Redeteil ist abhängiger Verbzweitsatz
enttäuscht.“ 2
Er sagt, er ist
deikt.
enttäuscht.
Transposition
Er sagt, er sei
deikt.
+ Modus-
enttäuscht.
Transposition
wechsel
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Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit
3
Er sagt, dass er
deikt.
ist von mir
Transposition
+ Junktor
enttäuscht. Er sagt, dass er
deikt.
+ Modus-
sei von mir
Transposition
wechsel
+ Junktor
enttäuscht. Er sagt, dass er
deikt.
von mir ist
Transposition
+ Junktor
+ Späterstellung
enttäuscht. Er sagt, dass er
deikt.
von mir ent-
Transposition
+ Junktor
+ Letztstellung
täuscht ist. Er sagt, dass er
deikt.
von mir ent-
Transposition
+ Junktor
+ Afinitheit
+ Junktor
+ Späterstel-
täuscht. Er sagt, dass er
deikt.
+ Modus-
von mir sei
Transposition
wechsel
Er sagt, dass er
deikt.
+ Modus-
von mir ent-
Transposition
wechsel
lung
enttäuscht. + Junktor
+ Letztstellung
täuscht sei. 4
Er gibt an, von
(deikt.
+ Infinitiv
mir enttäuscht zu
Transposition)
(Verlust des
sein.
Subjekts und verbaler Kategorien)
5
Er äußert seine
(deikt.
+ Nominali-
Enttäuschtheit.
Transposition)
sierung (Verlust aller verbalen Kategorien)
Tabelle 2: Redewiedergabe im Spektrum von Aggregation und Integration
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4. Ergebnisse und Schlussfolgerungen Bei der Gesamtverteilung der einzelnen Typen in den Autobiographien (vgl. Übersicht 2),25 fallen zunächst zwei Dinge ins Auge: Am häufigsten wird die direkte Redewiedergabe (Typ 1a / b) gewählt, aber die Autoren kennen und nutzen daneben auch alle anderen, integrativeren Typen. Überraschend ist, dass selbst der älteste Text von 1571 (?) Belege mit Infinitiv (Typ 4) und Belege mit Nominalisierung (Typ 5) aufweist.
Übersicht 2: Die Typen der Redewiedergabe im Vergleich (Angaben in Prozent)
Daraus lässt sich schließen, dass die Autoren mit den literaten Techniken durchaus vertraut waren. Sie kannten die andersartigen Anforderungen, die ein schriftlicher Text stellte, – die Dissoziierung von gesprochener und geschriebener Sprache war ihnen also bewusst. Dass sie in hohem Maße die direkte Rede wählten, mag durch ihre Bildungssituation oder auch durch die Emotionalität des Themas bedingt sein: Alle drei Autoren schildern intensive, z.T. traumatische persönliche Erlebnisse. Vergleicht man die Typenverteilung bei den einzelnen Autoren miteinander, fällt die Ähnlichkeit bei Frell und Nehrlich auf: Ihre Belegverteilung unterscheidet sich nur bei Typ 2 und Typ 3. Beide Autoren präferieren die direkte Redewiedergabe und nutzen Typ 4 und 5 nur wenig. Ihr Schwerpunkt liegt auf den aufwendigen, verständnissichernden Verfahren (Typ 2 und 3), die gemeinsam jeweils einen Anteil von mehr als 50 % _____________ 25
Die absoluten Zahlen sind (1a / 1b / 2 / 3 / 4 / 5): Frell 4 / 13 / 15 / 9 / 3 / 2, Güntzer 3 / 21 / 19 / 21 / 17 / 11, Nehrlich 22 / 41 / 21 / 48 / 7 / 9.
Techniken der Redewiedergabe in der Frühen Neuzeit
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ausmachen. Dazu passt auch ein anderer Befund: Wie wir oben gesehen haben (vgl. Übersicht 1), vermeidet Frell bei Typ 2 die Verbzweitstellung ganz und nutzt stattdessen klammernde Verfahren; Nehrlich präferiert Verbletztstellung und wählt in fast einem Drittel der Fälle afinite Konstruktionen. Beide entscheiden sich damit für verständnissichernde, aber gleichzeitig auch typisch schriftsprachliche und prestigeträchtige Konstruktionen. Sehr viel ausgeglichener ist dagegen die Verteilung der Typen bei Güntzer. Bei ihm nimmt der Anteil der wörtlichen Rede nur etwa 25 % ein und die Typen 4 und 5, also jene, die für besonders literate Techniken stehen, werden weitaus häufiger angewandt als bei Frell und Nehrlich. Dieser Unterschied ist vermutlich kein diachronischer, denn Frell und Nehrlich verhalten sich in dieser Hinsicht gleich. Er könnte hingegen mit sozialen Unterschieden zusammenhängen: Güntzer stammte aus einer angesehenen zünftischen Handwerkermeisterfamilie, erhielt mehrere Jahre Schulunterricht und wurde, wie viele andere Kinder bessergestellter Elsässer Familien, für ein Jahr zum Französischunterricht ins frankophone Lothringen geschickt. Güntzer mag somit bessere Bildungsvoraussetzungen besessen haben als Frell und Nehrlich, in sprachlichen Dingen sensibler und in literaten Techniken bewanderter gewesen sein. Dennoch bleibt eine wesentliche Frage zu beantworten: Warum haben sich die Autoren die literaten Techniken zu eigen gemacht und prestigeträchtige Formen gewählt, wenn es sich um eine private, und zudem so persönliche, erzählende Textsorte handelte? Wie wäre eine zielgerichtete, prestigeheischende Schreiberstrategie hier überhaupt zu erklären? Die Wahl der sprachlichen Mittel, könnte man argumentieren, wurde entscheidend von der Schreibintention beeinflusst. Die Autoren nutzten das autobiographische Erzählen, um ihre Deprivation aus persönlichen (Güntzer hatte einen entstellenden Hautausschlag), religiösen (alle drei wurden in ihrer Gemeinde zu religiösen und sozialen Außenseitern) oder politischen Krisen (Dreißigjähriger Krieg) abzuleiten und so zu rechtfertigen. Prestigeträchtige sprachliche Mittel halfen, diese Selbststilisierung zu unterstützen, und konnten zur intendierten Sozialpositionierung beitragen. 26 Das gilt vielleicht in besonderem Maße für Güntzer: Er besaß das städtische Bürgerrecht in Colmar, verfügte über ein stattliches Vermögen und gehörte nach seiner Heirat mit einer angesehenen Witwe zur protestantischen Elite der Stadt. Die Rekatholisierung Colmars, die Emigration, der Kauf des Straßburger Bürgerrechts, Steuern, Inflation, die zweite Emigration und der Verlust des Bürger- und Berufsrechts haben zu einem Sturz von „weit oben“ nach „ganz unten“ geführt. Doch in der statusbe_____________ 26
Vgl. dazu ausführlicher Müller / Voeste [im Druck].
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wussten frühneuzeitlichen Gesellschaft stieß der soziale Ruin, auch innerhalb der eigenen Familie, auf Unverständnis. Um sich gegen die Schande des Abstiegs und den Ausschluss aus allen Sozialverbänden zu verteidigen, suchte Güntzer, ebenso wie Frell und Nehrlich, sich durch prestigeträchtiges literates Schreiben sozial zu positionieren und so die erlebte Deprivation zu kompensieren.
Literatur Ágel, Vilmos (2000), „Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts“, in: Werner Besch u.a. (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Aufl., Tbd. 2, Berlin, New York, 18551903. Auer, Peter (2000), „On-line-Syntax – oder: was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen“, in: Sprache und Literatur, 85 / 2000, 43-56. Brändle, Fabian (2001), „‚Darmit ich aber auch etwaß freide hab auff erden, so thue ich schreiben undt Leßen.‘ Populare soziale Aussenseiter des 17. Jahrhunderts als Selbstzeugnisautoren“, in: Kaspar von Greyerz u.a. (Hrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850), Köln u.a., 439-457. Davies, Winifred V. / Langer, Nils (2006), The Making of Bad Language. Lay Linguistic Stigmatisations in German: Past and Present, Frankfurt a. M. u.a. Ebert, Robert Peter (1986), Historische Syntax des Deutschen II: 1300-1750, Bern u.a. Elspaß, Stephan (2005), „Language norm and language reality. Effectiveness and limits of prescriptivism in New High German“, in: Nils Langer / Winifred V. Davies (Hrsg.), Linguistic Purism in the Germanic Languages, Berlin, New York, 2045. Güntzer, Augustin (2002), Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert, ediert u. kommentiert v. Fabian Brändle / Dominik Sieber, Köln u.a. Härd, John Evert (1981), Studien zur Struktur mehrgliedriger deutscher Nebensatzprädikate. Diachronie und Synchronie, Göteborg. Knoop, Ulrich (1987), „Beschreibungsprinzipien der neueren Sprachgeschichte. Eine kritische Sichtung der sprachwissenschaftlichen, soziologischen, sozialhistorischen und geschichtswissenschaftlichen Begrifflichkeit“, in: Ders. (Hrsg.), Studien zur Dialektologie I, (Germanistische Linguistik 91-92 / 1987), Hildesheim, 13-48.
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Müller, Folke / Voeste, Anja, „Gesellschaftlicher Abstieg als Schreibanlass. Zur Problematik der Untersuchung von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Texten der Frühen Neuzeit“, in: Gisela Brandt / Rainer Hünecke (Hrsg.), Historische Soziolinguistik des Deutschen IX, Stuttgart. [im Druck] Nehrlich, Hans Ludwig (1997), Erlebnisse eines frommen Handwerkers im späten 17. Jahrhundert, Rainer Lächele (Hrsg.), Tübingen. Plank, Frans (1986), „Über den Personenwechsel und den anderer deiktischer Kategorien in der wiedergegebenen Rede“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 14 / 1986, 284-308. Rageth, Simon (Hrsg.) (1942), „Die Autobiographie des Täufers Georg Frell von Chur“, in: Zwingliana. Beiträge zur Geschichte Zwinglis, der Reformation und des Protestantismus in der Schweiz, VII / 1942, 444-469. Raible, Wolfgang (1992), Junktion. Eine Dimension der Sprache und ihre Realisierungsformen zwischen Aggregation und Integration, Heidelberg. Reichmann, Oskar (2003), „Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache: Wo bleiben die Regionen?“, in: Raphael Berthele u.a. (Hrsg.), Die deutsche Schriftsprache und die Regionen. Entstehungsgeschichtliche Fragen in neuer Sicht, Berlin, New York, 29-56. Simmler, Franz (1998), „Zur Geschichte der direkten Rede und ihrer Interpungierungen in Romantraditionen vom 16. bis 20. Jahrhundert“, in: Peter Ernst / Franz Patocka (Hrsg.), Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag, Wien, 651-674. Voeste, Anja (2000), „Variantenwahl und Sozialpositionierung im 18. Jahrhundert am Beispiel der Syntax bei Dorothea Leporin-Erxleben“, in: Gisela Brandt (Hrsg.), Bausteine zu einer Geschichte des weiblichen Sprachgebrauchs IV, Stuttgart, 85-96. Weinrich, Harald (2003), Textgrammatik der deutschen Sprache, 2. Aufl., Hildesheim u.a. Wilke, Anja (2006), Redewiedergabe in frühneuzeitlichen Hexenprozessakten. Ein Beitrag zur Geschichte der Modusverwendung im Deutschen, Berlin, New York.
Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert Józef Wiktorowicz (Warschau)
1. Einleitung In meinem Beitrag will ich zeigen, wie die Themenentfaltung in einem Textausschnitt aus einem Ratgeber für junge Leserinnen erfolgt. Der behandelte Ratgeber ist Ende des 18. Jahrhunderts entstanden und wurde von einem bekannten Autor geschrieben, der vor allem als Lexikograph bekannt ist, und zwar von Joachim Heinrich Campe (1789). Dabei möchte ich auch auf die mentalitätsgeschichtlichen Aspekte eingehen, die die Themenentfaltung in besonderer Weise beeinflussen. Bekanntlich war Fritz Herrmanns (1995) einer der ersten Linguisten, die auf den Zusammenhang der Sprachgeschichte mit der Mentalitätsgeschichte hingewiesen haben. Durch die Analyse des Sprachgebrauchs einer Sprachgemeinschaft können interessante Erkenntnisse über das kollektive Denken und Fühlen einer Sprachgemeinschaft gewonnen werden. Die Analyse von Texten aus früheren Epochen kann uns wertvolle Erkenntnisse über die Mentalität von sozialen Gruppen liefern. Unter Mentalität versteht man die Gesamtheit von Gewohnheiten bzw. Dispositionen des Denkens und Fühlens in sozialen Gruppen. Fritz Herrmanns betrachtet die Mentalitätsgeschichte als einen Teil der Sprachgeschichte, wobei er mentalitätsgeschichtlich relevante Aspekte der Sprachgeschichte in der historischen Semantik sieht, die unter dem mentalitätsgeschichtlichen Aspekt relevante Wörter untersucht. Die semantische Analyse mentalitätsgeschichtlich wichtiger Wörter kann in der Tat einen interessanten Einblick in den Wandel der Mentalität sozialer Gruppen liefern, aber auch eine textlinguistische Analyse von Texten, die bestimmte Aspekte der sozialen Relationen in den früheren Epochen behandeln, kann wichtige Erkenntnisse über die Mentalität von sozialen Gruppen zutage fördern.
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Die Mentalität und die Denkstrukturen der sozialen Gruppen beeinflussen unmittelbar die argumentative Struktur von Texten und damit die Themenentfaltung. Meines Erachtens ist es wichtig, die mentalitätsgeschichtlichen Betrachtungen über den Rahmen der historischen Semantik auch auf die historische textlinguistische Analyse auszudehnen. Im Folgenden will ich zeigen, wie die Mentalität der sozialen Gruppen im 18. Jahrhundert die Argumentationsweise und damit die Themenentfaltung beeinflusste.
2. Analyse von Themenentfaltung und Textstruktur unter mentalitätsgeschichtlicher Perspektive Das Textthema wird in der Überschrift angekündigt: Über die ungünstigen Verhältnisse des Weibes zur menschlichen Gesellschaft, d.h. der Verfasser kündigt mit dem Textthema an, dass er die ungünstige Lage der Frauen im nachfolgenden Text explizieren will. Die heutige junge Leserin würde hier erwarten, dass der Autor vermutlich über die Diskriminierung der Frauen schreiben wird, dass der Autor die negativen Aspekte der sozialen Lage der Frauen einer Kritik unterzieht. Solch eine Erwartung entspricht der Denkweise in der heutigen Gesellschaft. Im ersten Satz, der auf das Textthema Bezug nimmt, teilt der Autor aber mit, dass die Frauen in einem abhängigen Zustand leben und notwendig leben müssen. Diese Feststellung war auch für die damalige junge Leserin keine erfreuliche Information, deshalb entschuldigt sich der Autor für diese Antwort; der folgende Satz beginnt mit dem anaphorischen das: Das ist freilich keine angenehme, aber eine nötige Nachricht. (Campe, 4453)
Dieser enttäuschenden Feststellung folgt aber eine Aufforderung, den Kopf nicht sinken zu lassen. Die Aufforderung wird mit einer adversativen Konjunktion aber eingeleitet: Aber laß dich dadurch nur nicht niederschlagen, mein Kind! (Campe, 4453)
Es ist interessant, dass die erwachsene Leserin mit dem Wort Kind angesprochen wird. Der genannten Aufforderung folgt gleich ein Versprechen, dass die Leserin ihre Position in der Gesellschaft etwas verbessern kann. Denn wisse, daß es nichts desto weniger, bei einiger Seelenstärke und Selbstverläugnung, ganz bei dir stehen wird, in manchem Betracht eine glückliche Ausnahme von dem Schicksale deiner Schwestern zu machen, und dir einen so würdigen, ehrenvollen und glücklichen Wirkungskreis zu eröffnen (Campe, 4453)
Im weiteren Textabschnitt kommt es zum Wechsel des Themas, der Autor erklärt nicht, wie die Leserin ihre Position in der Gesellschaft verbes-
Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber
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sern kann, sondern kommt zum anfangs genannten Textthema zurück, das durch die Aufforderung eingeleitet wird: Vernimm nur erst, worin jene abhängige, für eure gesammte Ausbildung so ungünstige Lage besteht. (Campe, 4453)
Zugleich wird angekündigt, dass nach der Beantwortung der Frage, worin die ungünstige Lager der Frauen besteht, Mittel genannt werden, wie die negativen Folgen der ungünstigen Lage etwas abgemildert werden können. Die Erklärung der ungünstigen Lage der Frauen entspricht mentalgeschichtlich der damaligen Denkweise, dass es eben eine göttliche Ordnung ist, die der Mensch nicht ändern kann. Daher ist es auch selbstverständlich, dass die Frauen in einem abhängigen Zustand leben müssen, weil der Mensch nicht wagen darf, die göttliche Ordnung zu verändern. Die angekündigte Erklärung der ungünstigen Lage der Frauen erfolgt in Form der Beschreibung der kleinsten sozialen Struktur, und zwar der Familie. Der Autor erläutert die behandelte soziale Struktur mit Hilfe einer Metapher. Die Familie sei ein Körper, der aus einem Haupt und Gliedern besteht. Kraft der göttlichen Ordnung ist der Mann das Haupt, nicht das Weib. Die Themenentfaltung erfolgt durch eine Explizierung der genannten Proposition: Das Weib [sei] schwach, klein, zart, empfindlich, furchtsam, kleingeistig – der Mann hingegen stark, fest, kühn, ausdauernd, groß, hehr und kraftvoll an Leib und Seele. (Campe, 4454)
Der antithetischen Aufzählung der Eigenschaften des Weibes und des Mannes folgt ein deskriptiver Satz, in dem ebenfalls antithetisch die sozialen Rollen des Weibes und die des Mannes, ihre Erziehung und Beschäftigungen und sogar die Kleidung genannt werden; diese Deskription dient ebenfalls der Begründung der im vorangehenden Text genannten metaphorischen Rollenverteilung: der Mann ist das Haupt, das Weib – das Glied. Daraus leitet der Autor nun die folgende Behauptung, die durch den begründenden Konnektor also verstärkt wird, ab: Es ist also der übereinstimmende Wille der Natur und der menschlichen Gesellschaft, daß der Mann des Weibes Beschützer und Oberhaupt, das Weib hingegen die sich ihm anschmiegende, sich an ihm haltende und stützende treue, dankbare und folgsame Gefährtinn und Gehülfinn seines Lebens sein sollte […] (Campe, 4455)
Diese polare soziale Struktur – der Mann als Beschützer und Oberhaupt auf der einen Seite und das Weib als Gefährtin und Gehilfin auf der anderen Seite – wird veranschaulicht durch die organische Metapher: er die Eiche, sie der Efeu. Der Autor scheint sich wohl dessen bewusst zu sein, dass diese polare Darstellung des Textthemas keine Zustimmung seitens der Leserin finden
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kann, daher versucht er, den potenziellen Einwand der Leserin zu entkräften. Die folgende Proposition beginnt mit dem anaphorischen hierin: Hierin nun ist an sich gar nichts Böses; nichts, was deinem Geschlechte auch nur im geringsten zur Unehre oder zum Nachtheile gereichen kann (Campe, 4455)
Diese Behauptung wird wiederum mit dem generellen Argument begründet: Abhängig zu sein, ist ja im Grunde das Loos aller Menschen, so viel ihrer auf Erden leben, des Mannes so gut als des Weibes, des Fürsten so gut wie des niedrigsten seiner Unterthanen. (Campe, 4455)
Diese generelle Aussage wird mit dem nachfolgenden Satz begründet, der mit dem konnektierenden auch eingeleitet wird: Auch kann ein auf Vernunft und Gesetze gegründeter Grad von Abhängigkeit, mit menschlicher Zufriedenheit und Glückseligkeit nicht nur gar wohl bestehn, sondern die Natur des Menschen und einer jeden menschlichen Gesellschaft machen es auch durchaus nothwendig, daß immer Einer dem Andern, und Alle dem Gesetze untergeordnet sein müssen. (Campe, 4456)
Um die Analyse übersichtlich zu gestalten, werden die Propositionen des Textes in knapper Form gefasst: 1. Behauptung: Die Verhältnisse des Weibes in der Gesellschaft sind ungünstig. 2. Explikation: Die Weiber (Frauen) leben und müssen notwendig in einem abhängigen Zustand leben. 3. Behauptung: Das ist keine angenehme, aber eine nötige Nachricht. 4. Begründung der 2. Behauptung: Der Autor will die Leserin nicht täuschen, er will die bittere Wahrheit nicht verbergen. 5. Aufforderung: Trotz der negativen Lage soll die Leserin nicht den Kopf sinken lassen. 6. Versprechen: Eine Verbesserung der Lage ist möglich. 7. Aufforderung: Die Leserin soll erfahren, warum ihre Lage ungünstig ist. 8. Versprechen: Die Leserin wird die Mittel kennen lernen, ihre Position zu verbessern. 9. Explikation: Mit Hilfe der Körpermetapher wird die Relation Mann-Weib erläutert. 10. Explikation: Eigenschaften des Weibes: schwach, klein, zart, empfindlich, furchtsam, kleingeistig; Eigenschaften des Mannes: stark, fest, kühn, ausdauernd, groß, hehr, kraftvoll.
Themenentfaltung und Textstruktur in einem Ratgeber
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11. Begründung: antithetisch: der Mann – Beschützer und Oberhaupt, das Weib – Gefährtin und Gehilfin; metaphorische Begründung: er die Eiche, sie der Efeu. 12. Generelle Behauptung: Abhängigkeit gehört zur Natur der Menschen. Wenn wir nun die Entstehung dieses Textes betrachten, so muss man zunächst feststellen, dass das Textthema (die ungünstigen Verhältnisse des Weibes) für die damalige Zeit ein völlig neues Thema war. Unter dem Gesichtspunkt der Denkmuster und überhaupt unter dem Gesichtspunkt der Mentalität der sozialen Gruppen im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit hätte solch ein Text gar nicht entstehen können. Die Themenentfaltung entspricht den allgemeinen Regeln der Rhemafortführung. Zunächst wird das Textthema expliziert, dann wird begründet, worauf die ungünstigen Verhältnisse des Weibes zurückzuführen sind und schließlich wird vom Autor angekündigt, dass er Mittel angeben wird, wie die ungünstige Lage des Weibes verbessert werden kann. Die allgemeine Textstruktur entspricht den Regularitäten, die für die Themenentfaltung von deskriptiv-argumentativen Texten charakteristisch sind. Man geht zunächst von der Faktendarstellung aus, dann werden kausale Argumente genannt, die die Fakten begründen sollen. Da der behandelte Text ein Ratgeber ist, folgen der Faktendarstellung und Faktenbegründung Ratschläge, wie die geschilderte Lage verändert werden kann. Aber die Themenentfaltung folgt den Denkmustern des 18. Jahrhunderts. Aus der heutigen Sicht würden wir zustimmen, dass das Textthema wahrheitsgetreu wiedergegeben wurde: Die Lage des Weibes war ungünstig. Die Begründung des Textthemas entspricht aber der Denkweise der Menschen aus dem 18. Jahrhundert, denn der Autor führt zur Begründung an, dass die untergeordnete Position des Weibes auf die göttliche Ordnung zurückgeht (Gott selbst hat gewollt, […] dass nicht das Weib, sondern der Mann das Haupt sein sollte (Campe, 4454)). Die antithetische Darstellung der geistigen Fähigkeiten des Mannes und des Weibes entspricht ebenfalls den Denkmustern der gebildeten sozialen Gruppen aus dem 18. Jahrhundert. Stellvertretend kann man hier auf die Texte von Knigge (1788), Schiller (Gedicht „Würde der Frauen“) und Wieland (in Maurer 1983, 78) verweisen. Vom Standpunkt der heutigen Denkmuster aus sind wir geneigt zu behaupten, dass die Wirklichkeit falsch wiedergegeben worden sei, dass der Autor die Fakten subjektiv interpretiert hätte. Aber hier stellt sich die Frage, ob man die Wirklichkeit objektiv darstellen kann. Die Wirklichkeitsdarstellung erfolgt durch den Filter unserer Denkmuster, deshalb kann man Campe nicht den Vorwurf machen, dass er die Wirklichkeit subjektiv interpretiert hätte.
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Józef Wiktorowicz
3. Resümee Ich hoffe gezeigt zu haben, dass die Themenentfaltung nicht nur von den individuellen Besonderheiten des Stils des Autors, sondern in hohem Grad von den Denkstrukturen und Denkmustern der jeweiligen sozialen Gruppen abhängig ist. Diese Abhängigkeit von den Denkmustern zeigt sich besonders deutlich in den explikativ-argumentativen Texten, in denen sozial relevante Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehungen erläutert werden und daher die Argumentationsstränge durch die in den sozialen Gruppen geltenden Denkmuster beeinflusst werden. Unsere Ablehnung der Argumentationsweise von Campe resultiert aus der Tatsache, dass wir das Textthema (die ungünstige Lage der Frauen) akzeptieren, aber unsere Argumentationsweise – entsprechend den im 21. Jahrhundert geltenden Denkmustern – anders verlaufen würde. Ich hoffe auch gezeigt zu haben, dass es sich lohnt, die Themenentfaltung und Textstruktur unter dem Gesichtspunkt der jeweiligen Denkmuster und der Mentalität der sozialen Gruppen zu betrachten.
Literatur Adelung, Johann Christoph (1793), Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, (Digitale Bibliothek 40), Berlin. Campe, Joachim Heinrich (1789), „Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet“, in: Gutes Benehmen, CD-ROM (Digitale Bibliothek 108), Berlin. Herrmanns, Fritz (1995), „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte“, in: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen, Gegenstände, Methoden, Theorien, Tübingen, 69-101. Maurer, Michael (1983), „Ich bin mehr Herz als Kopf“. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen, München. Schiller, Friedrich, Werke, (Digitale Bibliothek 103), Berlin. von Knigge, Adolph Freiherr (1788), „Über den Umgang mit Menschen“, in: Gutes Benehmen, CD-ROM (Digitale Bibliothek 108), Berlin.
Möglichkeiten und Grenzen einer diskursbasierten Syntaxforschung – dargestellt an einer Studie zur Syntax des 18. Jahrhunderts Rainer Hünecke (Dresden)
1. Einführung Eine zentrale Fragestellung historisch soziolinguistischer Forschung ist die nach den Möglichkeiten, sprachliches Agieren von Individuen allgemein, in historischen Zusammenhängen und mit Rekurs auf die soziale Schichtung herauszuarbeiten. Eine Möglichkeit bieten institutionell geprägte Situationen. Jede Gesellschaft verfügt auf jeder ihrer Entwicklungsstufen über ein dieser Entwicklungsstufe entsprechendes Spektrum von Institutionen und entsprechenden sozialen Objektivationen – Organisationen. Diese bestehen aus Personen und Personengruppen, die formal miteinander verbunden und denen gewöhnlich spezifische Funktionen zugeordnet sind (vgl. Acham 1992, 36). Die in Organisationen interagierenden Personen und Personengruppen sind durch soziale, funktionale und geschlechtliche Merkmale geprägt. Ihr sprachliches Handeln in diesen Organisationen ist durch wiederkehrende Diskurse geprägt. Der Diskurs wird hier verstanden als Textensemble oder Textgeflecht (vgl. Hermanns 1995, 88). Die Einheit eines Diskurses wird durch thematische und intertextuelle Zusammenhänge gewährleistet. Direkt oder zumindest indirekt beziehen sich die Texte eines Diskurses aufeinander und auf das übergeordnete Thema. Diskurse besitzen nicht nur – wie man aus den Forschungen der historischen Semantik vermuten könnte – einen singulären Charakter, sondern werden als Typen von Handlungen latent wiederholt und weisen eine entsprechende soziale Zusammensetzung auf. Die in diesen Diskursen interagierenden Personen und / oder Personengruppen handeln beruflich, berufsbegleitend oder gelegentlich. Sie gehen graduell unterschiedliche Diskursbeziehungen ein.
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Rainer Hünecke
Der Umfang dieser Beziehungen ergibt sich aus dem Charakter, den Absichten und Anforderungen des Diskurses. In der Realisierung dieser Beziehung bilden sich nach und nach feste Handlungsmuster heraus, die den Charakter von Ritualen annehmen können. In den Diskursen ist „weitgehend festgelegt, wer mit wem worüber und auf welche Art“ (Hartung 1983, 358) sprachlich handelt. Das sprachliche Handeln der interagierenden Personen und Personengruppen wird hier sowohl durch die Leistungsanforderungen der Institution als auch durch die agierenden sozi(ofunktion)alen Gruppen als Leistungsträger geprägt. Die sprachlich Handelnden können im Rahmen der konkreten Sprachhandlung aus dem gesellschaftlich approbierten und konventionalisierten Repertoire von Textmustern auswählen und variieren. Bei der Wahl einer Formulierung spielen soziale Faktoren eine wichtige Rolle. Mit diesen Formulierungsmustern kann innovativ oder durch Traditionen gesteuert umgegangen werden. Die Aufarbeitung historischer Diskurse macht es möglich, von einem historischen Einzeltext zu einem historischen Diskurs vorzudringen. Lücken in der Überlieferung können virtuell gefüllt werden. Im Rekonstrukt des historischen Diskurses werden neben den Texten auch die funktionalen Beziehungen zwischen den Texten und die sozialen Beziehungen zwischen den Textproduzenten erkennbar. Selbst bei dürftiger Textüberlieferung kann über dieses Rekonstrukt ein repräsentatives Korpus für die Sprachdatenerhebung formiert werden. Im Rahmen einer umfangreicheren Studie (Hünecke 2008) wurden von mir mit dieser Methode am Beispiel der kursächsischen Bergverwaltung des 18. Jahrhunderts Bedingungen, Formen, Möglichkeiten und Grenzen individuellen sprachlichen Handelns aufgedeckt. Es kann gezeigt werden, welche soziale Breite und Tiefe sprachliches Handeln in diesem institutionellen Ausschnitt hatte, dass nicht nur Berufsschreiber schriftlich handelten, sondern auch Personenkreise, von denen das bisher nicht belegt war. Zu den primären Aufgaben der Bergverwaltung gehörte die Leitung der Bergwerksbetriebe und der Aufbereitungsanlagen des Reviers (Betriebsführung, Finanzwesen), dazu kamen das Personal- und Sozialwesen (Bestallung, Fürsorge) und die Gerichtsorganisation (freiwillige, zivile und Strafgerichtsbarkeit). Den Referenzrahmen für diese Studie bildet der „Betriebsführungsdiskurs“ in der Verwaltung des kursächsischen Bergbaus im 18. Jahrhundert. Die von den interagierenden soziofunktionalen Gruppen produzierten Textexemplare bilden die Grundlage für die Analyse der Oberflächensyntax. Auf diese Weise wird es möglich sein, gruppenspezifisches Sprachhandeln, bezogen auf die jeweilige Textsorte, in einem abgrenzbaren Diskurs zu erschließen. In der Auswertung des Untersu-
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chungsbefundes wird sichtbar, welche Position der sprachlich Handelnde als Gruppenmitglied innerhalb des Diskurses einnahm und welche Faktoren das sprachliche Handeln in Stabilität und Variation beeinflussten.
wertschöpfend wertverwaltend …
Institution Organisationen
Interagierende Personen(gruppen)
beruflich berufsbegleitend gelegentlich
Sprachliches Handeln „Diskurse“
Textsorten
tradiert innovativ
sozial funktional geschlechtlich
steuern informieren drücken aus …
Vertextungs- und Formulierungsmuster
Abbildung 1: Modell sprachlichen Handelns in Institutionen / Organisationen
2. Sprachliches Handeln soziofunktionaler Gruppen im Betriebsführungsdiskurs des kursächsischen Bergbaus im 18. Jahrhundert Der Diskurs Betriebsführung im kursächsischen Bergbau des 18. Jahrhunderts setzte sich aus den inhaltlichen Elementen Planung, Leitung und Kontrolle zusammen, deren Ausführung in jedem Fall rechenschaftspflichtig waren. Die sprachlichen Grundhandlungen dieses Diskurses bildeten die Befehlshandlung, die der Durchsetzung von Planung und Leitung diente, und die Bestätigungshandlung des Befehlsvollzugs, mit der eine Kontrolle des Befehlsvollzugs erfolgte. An jede Befehlshandlung war eine Kontrollhandlung geknüpft, mit der der Befehlsvollzug überprüft wurde. Die Bestätigungshandlung erfolgte als Rechenschaft des Befehlsausfüh-
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renden, der den Vollzug des Befehls meldete. Die Initiative für diesen Diskurs lag auf Seiten des Befehlsgebers, der den Diskurs initiierte. Auf der Verwaltungsebene des Bergamtes wurde für die Kontrolle der Befehlsausführung die soziofunktionale Gruppe der Geschwornen rekrutiert, die mit niederer Befehlsgewalt ausgestattet war und somit unmittelbar vor Ort im Zusammenwirken mit der Leitung der Gruben und Aufbereitungsanlagen Planungs- und Leitungsaufgaben erfüllte, gleichzeitig damit die Arbeit vor Ort kontrollierte und der übergeordneten Leitungsebene, dem Bergamt, rechenschaftspflichtig war. Auf der Verwaltungsebene der Gruben und Aufbereitungsanlagen wurde diese Kontrolltätigkeit von der Gruppe der Schichtmeister, die für die ökonomischen Belange zuständig waren, und von der Gruppe der Steiger, die für die technischen Belange zuständig waren, ausgeführt. Alle drei Gruppen waren dem kollegialen Bergamt mit dem Bergmeister an der Spitze rechenschaftspflichtig. Das kollegiale Bergamt war der nächstübergeordneten Verwaltungsebene, dem Oberbergamt, rechenschaftspflichtig. Die Kontrollhandlungen vollzogen sich in Form von Inspektionen vor Ort und von Befragungen, die im Anschluss daran in entsprechenden Schriftsätzen schriftlich niedergelegt werden mussten. In der vorliegenden Studie werde ich mich auf die Bestätigungs- oder Rechenschaftshandlung der vier soziofunktionalen Gruppen kollegiales Bergamt (Bergmeister / Bergschreiber), Geschworne, Schichtmeister und Steiger beschränken. Die sprachliche Umsetzung dieser Handlung erfolgte in Form von unterschiedlich umfangreichen Berichtshandlungen. Die Rechenschaftspflicht des Bergamtes gegenüber dem Oberbergamt erfolgte in Form der quartalsmäßigen Haushaltsextracte. Diese Texte bildeten eine Art Zwischenbilanz in der Haushaltsführung des Bergamtes. Hier wurden alle Aktivitäten des Bergamtes im verflossenen Quartal festgehalten. Durch das Kollegium des Bergamtes wurden jährlich einmal sog. Generalbefahrungen durchgeführt. An diesen Grubenbefahrungen nahmen alle Mitglieder des Bergamtes teil. Die Generalbefahrungen hatten das Ziel, den Bergmeister und sein sitzendes Bergamt vom Bergamtstisch vor Ort zu bringen, um so die Bergarbeit vor Ort persönlich in Augenschein zu nehmen. Über jede Generalbefahrung wurde ein Bericht verfertigt, der sog. Generalbefahrungsbericht. Die Geschwornen inspizierten ihr Revier täglich. Der Vollzug dieser Inspektion musste zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Berichtsformen gemeldet werden. Wöchentlich wurde den Geschwornen ein sog. Fahrbogen, quartalsmäßig das sog. Fahrbuch als Kontrollbericht abverlangt. In beiden Fällen war der Bericht nach Wochentagen gegliedert. Zu jedem Wochentag wurden mehr oder weniger lange Eintragungen vorgenommen. Neben den Fahrbüchern wurde den Geschwornen
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quartalsmäßig ein Bericht über die Beschaffenheit des Berggebäudes abverlangt, der sog. Aufstand. Im Gegensatz zum Fahrbogen wurde beim Aufstand mehr Wert auf den bergbaulichen Ertrag gelegt. Am Ende eines jeden Jahres hatten die Geschwornen sog. Jahresberichte anzufertigen. Es handelt sich dabei um Berichte, die die bergbaulichen Aktivitäten und Erträge im verflossenen Jahr in den einzelnen Berggebäuden zusammenfassten. Die Überlieferungslage dieser Textsorte (Ende des 18. Jahrhunderts) lässt darauf schließen, dass diese Textsorte erst am Ende des Jahrhunderts im Rahmen der Verwaltungsreform aufkam und zur Anwendung gebracht wurde. Die Schichtmeister als ökonomische Leiter einer Bergwerksanlage hatten dem Bergamt gegenüber quartalsmäßig über die Wirtschaftlichkeit der Bergwerksanlage Auskunft zu geben. Dazu hatte sie sog. Zechenregister zu führen. Sie dienten der Dokumentation der Geschäftstätigkeit des Grubenbetriebes. Da der Schichtmeister aber dem Bergamt gegenüber rechenschaftspflichtig war, dienten diese Schriftstücke gleichzeitig als Berichte, indem sie quartalsweise dem Bergamt eingereicht (eingelegt) wurden. Neben diesen periodischen Berichten wurden den Schichtmeistern zu bestimmten Anlässen weitere Berichte abverlangt. Diese bezogen sich zumeist auf eine singuläre Handlung der Schichtmeister. Den Steigern oblag die technische Leitung einer Bergwerksanlage – vor allem unter Tage –, aber auch der Nebenanlagen (Pochwerke, Röschen usw.). Sie waren „vor Ort“ tätig. Kenntnisse des Rechnens und Schreibens waren aber auch für diese soziofunktionale Gruppe im 18. Jahrhundert bereits erforderlich. Denn auch sie waren dem Bergamt gegenüber rechenschaftspflichtig. Dieser Pflicht kamen sie in der Ausfertigung von nicht-periodischen Berichten unterschiedlichster Art nach. soziofunktionale Gruppe Bergmeister / Bergschreiber Geschworne Schichtmeister Steiger
Textsorte(n) Generalbefahrungsbericht, Haushaltsextract Aufstand, Fahrbogen, Fahrbuch, Jahresbericht Bericht, Zechenregister Bericht
Tabelle 1: Akteure und Textsorten im Diskurs Betriebsführung
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3. Variation im Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster 3.1. Zur Stabilität im Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster im 18. Jahrhundert In der einschlägigen Fachliteratur wird mehr oder weniger übereinstimmend hervorgehoben, dass im 17. Jahrhundert eine Zunahme in der Verwendung des Satzgefüges zu beobachten sei und im Verlauf des 18. Jahrhunderts diese beobachtete Tendenz rückläufig sei (vgl. Admoni 1967, 1980, 1990; Scaglione 1981). Aussagen darüber, wie umfangreich die Zuoder Abnahme in der Verwendung der Satzgefüge in diesem Zeitraum anzunehmen ist, werden nicht gegeben. In der Untersuchung von Admoni (1980) werden syntaktische Konstruktionen in Rechts- und publizistischen Texten aus der Zeit um 1500 und um 1700 beschrieben. Eine Quantifizierung dieser Aussagen erfolgte nicht bzw. wurde nur in der o.g. Art vage umschrieben. Das gilt auch für Admoni (1990), Betten (1987) und von Polenz (1994). Konopka (1996) und Ebert (1999) verweisen nur auf die Aussagen von Admoni (1980). Die Bandbreite der möglichen Erklärungen für den Anstieg der Satzgefüge reichen von einem angenommenen Einfluss des Lateins (vgl. Scaglione 1981, Bd. 2, 12f.) über die angenommene Leistung der Kanzlei (vgl. Bach 1961, 278), die dann gleich den lateinischen Einfluss vermittelt haben soll (vgl. Admoni 1972, 255), bis hin zu kulturgeschichtlichen Erklärungen als Leistung des Barocks (Langen 1957, Bach 1961). Der Rückgang der Satzgefüge im 18. Jahrhundert wird auf den Einfluss der aufklärerischen Ideale von Natürlichkeit und Verständlichkeit (Scaglione 1981, Bd. 2, 10) zurückgeführt. Betten (1987, 75) verweist darauf, dass diese Ideale in der Syntax nicht von allen Aufklärern gleichermaßen umgesetzt wurden. Bereits Blackall (1966, 10f.) und Schildt (1976, 165f.) haben in diesem Zusammenhang auf das Vorhandensein unterschiedlicher, aber gleichberechtigter Schreibtraditionen im 18. Jahrhundert verwiesen, die einerseits einen in höherem Maße hypotaktischen, andererseits einen stärker parataktischen Satzbau favorisieren. Diese Aussagen beider Autoren stützen sich ausschließlich auf die Analyse literarischer Quellen, was eine idiolektale Interpretation dieses syntaktischen Phänomens nahe legt, die von beiden jedoch nicht ausgeführt wurde. Die Aussagen von Konopka (1996), die sich allerdings nicht auf das Verhältnis der Satzgefüge zu den Einfachsätzen beziehen, verweisen auf textsortenspezifische Unterschiede in der Wahl der syntaktischen Formulierungen. Die 203 von mir untersuchten Texte enthalten im Kerntext insgesamt 5.665 satzwertige Einheiten. Diese setzen sich zusammen aus 3.856 Ein-
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fachsätzen (68,1 %) und 1.809 Satzgefügen (31,9 %). Einfachsätze und Satzgefüge stehen sich in diesen Texten in einem Größenverhältnis von 2:1 gegenüber. Die exemplarische Analyse eines Textes der Erbauungsliteratur aus dem 17. Jahrhundert von Hünecke (2004) kann die in der Forschungsliteratur getätigte Beobachtung durch eine quantitative Angabe stützen. In dem untersuchten Text aus dem 17. Jahrhundert standen einem Einfachsatz sieben Satzgefüge gegenüber. Ob nun aber dieser beobachtbare Rückgang im Gebrauch der Satzgefüge auf aufklärerische Ideale zurückführbar ist, muss an dieser Stelle bereits angezweifelt werden. Die Schreiber der Texte aus dem 18. Jahrhundert werden diese Ideale wohl weder gekannt, geschweige denn nach ihnen gehandelt haben. Zunächst soll hier gezeigt werden, ob und wie in den von mir untersuchten Texten aus dem 18. Jahrhundert der ermittelte Wert stabil ist. Dazu wurde das gewählte Jahrhundert in drei Abschnitte unterteilt: Anfang 18. Jahrhundert (1685-1725 / 30), Mitte 18. Jahrhundert (1730-1770 / 75), Ende 18. Jahrhundert (1775-1815 / 20). Diese zeitliche Gliederung reflektiert die Quellenlage. Wie zu erwarten war, schwankte der Gebrauch der syntaktischen Gestaltungsmittel im 18. Jahrhundert. Nicht zu erwarten war der Befund, wie er in Tabelle 2 dargestellt ist. Der Gebrauch hypotaktischer Gestaltungsmittel war nicht fallend, wie man vielleicht aus den Ergebnissen der Forschungsliteratur entnehmen könnte, sondern der Gebrauch der Satzgefüge stieg im 18. Jahrhundert an. Bis zur Jahrhundertmitte war mehr als eine Verdopplung im Gebrauch der Satzgefüge zu beobachten. Am Ende des 18. Jahrhunderts sank dann der Gebrauch etwas ab, verblieb aber im Vergleich zum Beginn des Jahrhunderts auf einem Wert in annähernd doppelter Höhe. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist aber auch der Ausgangswert. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts betrug das Verhältnis der Satzgefüge zu den Einfachsätzen 1:4. Einem Satzgefüge standen vier Einfachsätze gegenüber.
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Muster ES SG davon
SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Anfang 1685-1725 / 30
Mitte 1730-1770 / 75
Ende 17751815 / 20
80,2 % 19,8 % 11,8 % 2,2 % 3,4 % 1,7 % 0,6 %
56,6 % 43,4 % 28,7 % 4,1 % 3,8 % 5,0 % 1,8 %
63,5 % 36,5 % 19,0 % 3,3 % 8,7 % 2,4 % 3,2 %
Tabelle 2: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – 18. Jahrhundert
Nach Aussage der Fachliteratur und der exemplarischen Analyse von Hünecke (2004) war das so nicht zu erwarten. Einem Einfachsatz standen sieben Satzgefüge gegenüber (vgl. Hünecke 2004, 133). Bezieht man nun die Aussagen von Blackall (1966) und Schildt (1976) in die Interpretation mit ein, liegt die Schlussfolgerung nahe, im vorliegenden Fall eine Schreibtradition anzunehmen, die nicht in der Tradition der Rechtsliteratur oder der publizistischen Literatur und auch nicht der Wortkunstwerke stand. Gleichwohl muss aber darauf hingewiesen werden, dass die untersuchten Texte aus dem Funktionsbereich des kursächsischen Bergbaus wohl dem kanzelarischen Schrifttum zuzuordnen sind. 3.2. Zur soziofunktionalen Differenziertheit im Gebrauch der Satzgestaltungsmittel Aus der bisherigen Darstellung ist die Frage abzuleiten, ob denn nicht soziale Faktoren in die weitere Betrachtung einzubeziehen sind. Dabei ist zu fragen, ob und inwieweit im vorliegenden Fall eine gruppenspezifische Schreibtradition vorliegt. Als ein erstes Kriterium der Gruppenbildung hat sich hier der Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen bewährt (vgl. Hünecke 2006). Mit diesem soziofunktionalen Kriterium lassen sich in einem ersten Zugriff Gruppen bilden, die berufsmäßig mit schriftlichen Kommunikationsformen Umgang hatten (Berufsschreiber), die begleitend zu ihrer beruflichen Tätigkeit mit schriftlichen Kommunikationsformen Umgang hatten (berufsbegleitende Schreiber) und die gelegentlich (zu bestimmten Anlässen) mit schriftlichen Kommunikationsformen Umgang hatten (Gelegenheitsschreiber).
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Muster
Anfang 1685-1725/30
Mitte 1730-1770/75
Ende 1775-1815/20
21,1 % 78,9 % 48,9 % 13,3 % 6,1 % 5,5 % 5,0 %
30,5 % 69,5 % 30,5 % 8,3 % 11,1 % 2,8 % 16,6 %
59,0 % 41,0 % 22,0 % 3,9 % 7,9 % 1,3 % 5,8 %
85,2 % 14,8 % 10,2 % 1,5 % 3,7 % 1,6 % 0,3 %
57,6 % 42,4 % 28,6 % 3,9 % 3,5 % 5,0 % 1,2 %
65,0 % 35,0 % 17,9 % 3,0 % 9,0 % 2,8 % 2,3 %
80,2 % 19,8 %
56,6 % 43,4 %
63,5 % 36,5 %
Berufsschreiber ES SG davon
SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
berufsbegleitende Schreiber ES SG davon
SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
alle Schreiber ES SG
Tabelle 3: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – Schreibergruppen
Das vorliegende Untersuchungskorpus wurde nur durch die Schriftlichkeit der Gruppe der Berufsschreiber und die der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber gebildet. Die Gruppe der Gelegenheitschreiber ist nicht präsent. Die beiden Schreibergruppen verhielten sich völlig gegensätzlich (Tabelle 3). Während bei den Berufsschreibern der Anteil der Satzgefüge vom Anfang bis zum Ende des 18. Jahrhunderts um fast die Hälfte von 78,9 % auf 41,0 % kontinuierlich zurück ging, stieg der Anteil der Satzgefüge bei den berufsbegleitenden Schreibern im 18. Jahrhundert um mehr als das Doppelte von 14,8 % auf 35,0 % an. In der Mitte des 18. Jahrhunderts erreichte der Gebrauch der Satzgefüge bei den berufsbegleitenden Schreibern mit 42,4 % fast den dreifachen Anteil in Bezug zum Beginn des 18. Jahrhunderts. In der Gruppe der Berufsschreiber sank insbesondere der Gebrauch des abperlenden Satzgefüges von 48,9 % auf 22,0 %, des zentrierten Satzgefüges von 13,3 % auf 3,9 % und des geschlossenen Satzgefüges von 5,5 % auf 1,3 %. Bei der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber stieg der Anteil aller Satzgefügetypen (vgl. Tabelle 3).
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Vergleicht man nun den Gebrauch der Einfachsätze und der Satzgefüge in beiden Gruppen, so ist zu beobachten, dass beide Gruppen zu Beginn des 18. Jahrhunderts deutliche Unterschiede aufwiesen. In der Gruppe der Berufsschreiber war der Gebrauch der Satzgefüge zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit 78,9 % relativ hoch, wohingegen der Gebrauch der Satzgefüge in der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit 14,8 % relativ gering war. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich beide Schreibergruppen im Gebrauch der Satzgefüge stark angenähert. In der Gruppe der Berufsschreiber war der Anteil der Satzgefüge auf 41,0 % gesunken, in der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber auf 35,0 % angestiegen. Der Gebrauch dieser hypotaktischen Konstruktionen näherte sich in beiden Gruppen an. Die in der Forschungsliteratur beobachtete Tendenz der Abnahme des Gebrauchs der hypotaktischen Satzkonstruktionen war also nur für die Gruppe der Berufsschreiber zutreffend. Denn in der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber stieg hingegen der Gebrauch hypotaktischer Konstruktionen an. In der einschlägigen Forschungsliteratur wurden bisher auch nur die Berufsschreiber betrachtet. Das Phänomen berufsbegleitenden Schreibens wurde in der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung bisher so nicht thematisiert. Aus den Ergebnissen meiner bisherigen Untersuchungen kann ich schlussfolgern, dass berufsbegleitendes Schreiben überhaupt erst am Ende des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist. Die vorliegende Studie zeigt in diesem Sinne den Beginn berufsbegleitenden Schreibens an einem kleinen Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bezogen auf die oben dargestellten Untersuchungsergebnisse kann man mit aller Vorsicht schlussfolgern, dass berufsbegleitendes Schreiben nicht an den Traditionen und Konventionen beruflicher Schreibpraxis anknüpfte. Die Untersuchungsergebnisse zeigen zwei verschiedene Schreibtraditionen. Der Gebrauch der Satzgefüge ist also deutlich soziofunktional markiert. Die Aussagen der Forschungsliteratur sind in diesem Sinne zu ergänzen. Eine Zäsur scheint allerdings die Mitte des 18. Jahrhunderts darzustellen. In dieser Zeit ist eine deutliche Annäherung beider Traditionsstränge zu beobachten, wobei die Präferenz eines Traditionsstranges nicht sichtbar ist. 3.3. Funktionale Differenzierung im Gebrauch der Satzgestaltungsmittel in den Berufsgruppen Nach dem soziofunktionalen Kriterium des Aufgabenbereichs kann man die Großgruppen der Berufsschreiber und der berufsbegleitenden Schreiber weiter untergliedern. Im vorliegenden Fall ist das jedoch nur für die
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Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber möglich. Die Gruppe der Berufsschreiber besteht ausschließlich aus Berufsschreibern der unteren Verwaltung des Bergbaus, dem Bergamt. Es handelt sich dabei um die Gruppe Bergmeister / Bergschreiber. Beide sind in ihrem schriftsprachlichen Handlungsprofil kaum zu trennen. Die untersuchten Texte wurden vom Bergmeister initiiert und vom Bergschreiber produziert. An die Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber waren unterschiedliche Anforderungen im Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen gestellt. Danach können folgende Kleingruppen unterschieden werden: •
Berufsbegleitende Schreiber, die regelmäßig Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen hatten. Das betrifft die Gruppe der Geschwornen.
•
Berufsbegleitende Schreiber, die nicht regelmäßig Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen hatten. Das betrifft die Gruppe der Schichtmeister.
•
Berufsbegleitende Schreiber, die einen geringen Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen hatten. Das betrifft die Gruppe der Steiger.
Die Gruppen der Geschwornen und der Schichtmeister verhielten sich tendenziell ähnlich. In beiden Gruppen sank der Gebrauch der Einfachsätze zugunsten der Satzgefüge. Dieser Prozess war bei den Schichtmeistern als ein kontinuierliches Ansteigen der hypotaktischen Konstruktionen von 22,2 % zu Beginn der 18. Jahrhunderts auf über 43,6 % in der Mitte des 18. Jahrhunderts und dann langsamer auf 45,8 % zu beobachten. Die größte Zuwachsrate lag in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In der zweiten Jahrhunderthälfte stieg der Gebrauch der Satzgefüge nur noch langsam in dieser Gruppe (vgl. Tabelle 4). In der soziofunktionalen Gruppe der Geschwornen ist ebenfalls ein deutlicher Anstieg im Gebrauch der Satzgefüge bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zu beobachten von 14,7 % zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf 49,9 % in der Jahrhundertmitte. Die Zuwachsrate war in dieser Gruppe höher als in der Gruppe der Schichtmeister. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sank in der Gruppe der Geschwornen der Anteil der Satzgefüge dann auf 34,8 %. Dieser Anstieg und der dann folgende Abfall sind besonders auf den Gebrauch des abperlenden Satzgefüges zurückzuführen. Der Gebrauch des abperlenden Satzgefüges stieg in dieser soziofunktionalen Gruppe von 8,7 % zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf 34,6 % in der Jahrhundertmitte und fiel dann wieder auf 17,8 % am Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. Tabelle 4).
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Muster
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Anfang 1685-1725/30
Mitte 1730-1770/75
Ende 1775-1815/20
21,1 % 78,9 % 48,9 % 13,3 % 6,1 % 5,5 % 5,0 %
30,5 % 69,5 % 30,5 % 8,3 % 11,1 % 2,8 % 16,6 %
59,0 % 41,0 % 22,0 % 3,9 % 7,9 % 1,3 % 5,8 %
85,3 % 14,7 % 8,7 % 1,3 % 3,1 % 1,4 % 0,3 %
50,1 % 49,9 % 34,6 % 5,2 % 3,9 % 4,9 % 1,2 %
65,2 % 34,8 % 17,8 % 3,1 % 8,8 % 2,6 % 2,4 %
77,8 % 22,2 % 22,2 % -
56,4 % 43,6 % 23,8 % 3,2 % 6,0 % 7,8 % 2,7 %
54,2 % 45,8 % 20,8 % 16,7 % 8,3 % -
-
80,0 % 20,0 % 13,7 % 0,5 % 1,2 % 4,0 % 0,5 %
-
85,2 % 14,8 %
57,6 % 42,4 %
65,0 % 35,0 %
80,2 % 19,8 %
56,6 % 43,4 %
63,5 % 36,5 %
Bergmeister / Bergschreiber ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Geschworne ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Schichtmeister ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Steiger ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
alle berufsbegleitenden Schreiber ES SG
alle Schreiber ES SG
Tabelle 4: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – soziofunktionale Gruppen
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Bei den Schichtmeistern war der Anstieg im Gebrauch der Satzgefüge zwar kontinuierlicher, betraf jedoch nicht alle Satzgefügetypen (vgl. Tabelle 4). Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde von den Vertretern dieser Gruppe nur das gestreckte Satzgefüge bei der Textproduktion verwendet. In der Jahrhundertmitte waren dann alle Satzgefügetypen vertreten und am Ende des Jahrhunderts war das Repertoire wieder eingeschränkter. Die soziofunktionale Gruppe der Steiger ist im vorliegenden Untersuchungsmaterial nur mit Texten aus der Mitte des 18. Jahrhundert präsent. Auffallend an diesen Daten ist, dass sie fast genau den Daten der Schichtmeister und Geschwornen vom Anfang des Jahrhunderts entsprechen. Mit 20 % an Satzgefügen ordnet sich diese Gruppe genau zwischen der Gruppe der Schichtmeister und der Gruppe der Geschwornen am Beginn des 18. Jahrhunderts ein, als diese Gruppen mit der Produktion schriftlicher Texte begannen. Eine vorsichtige Schlussfolgerung könnte an dieser Stelle lauten: Wenn soziofunktionale Gruppen die Produktion schriftlicher Kommunikationsformen aufnahmen, wurden für die syntaktische Realisierung überwiegend Einfachsätze verwendet. Mit zunehmender Integration der jeweiligen Gruppe in schriftsprachliche Diskurse wurden Einfachsätze durch Satzgefüge ergänzt. Der Gebrauch von Einfachsätzen könnte dem entsprechend auf eine eher mündliche Diskurstradition und der Gebrauch von Satzgefügen auf eine eher schriftliche Diskurstradition verweisen. Für die weitere Interpretation der Daten ist nun die Einbeziehung der Textsorten notwendig. Nur die Textsorte Generalbefahrung ist in der soziofunktionalen Gruppe Bergmeister / Bergschreiber über den gesamten Zeitraum des 18. Jahrhunderts präsent. Deutlich wird aber an dieser Textsorte sichtbar, wie der Anteil der Satzgefüge im Verlauf des 18. Jahrhunderts kontinuierlich von 78,9 % auf 46,4 % zurückging (vgl. Tabelle 5). Dieser Rückgang betraf alle Typen der Satzgefüge. Die Überlieferung bzw. der Gebrauch der Textsorte Haushaltsextract setzte erst am Ende des 18. Jahrhunderts ein. Die syntaktische Realisierung dieser Textsorte erfolgte analog zur Textsorte Generalbefahrung am Ende des 18. Jahrhunderts. Daraus lässt sich vorsichtig die Schlussfolgerung ziehen, dass in dieser soziofunktionalen Gruppe am Ende des 18. Jahrhunderts die Konvention bestand, Texte syntaktisch in einer gemäßigten hypotaktischen Bauweise zu realisieren.
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Muster
Rainer Hünecke
Anfang 1685-1725/30
Mitte 1730-1770/75
Ende 1775-1815/20
21,1 % 78,9 % 48,9 % 13,3 % 6,1 % 5,5 % 5,0 %
30,5 % 69,5 % 30,5 % 8,3 % 11,1 % 2,8 % 16,6 %
53,6 % 46,4 % 32,1 % 3,6 % 7,1 % 3,6 % -
Bergmeister / Bergschreiber Generalbefahrung ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Haushaltsextract ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
59,5 % 40,5 % 21,2 % 4,0 % 7,9 % 1,1 % 6,2 %
Tabelle 5: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – Textsorten – Bergmeister
Die Geschwornen repräsentierten in den einzelnen Textsorten ein anderes Sprachhandeln. In der Textsorte Aufstand war ein deutlicher Trend im Anstieg hypotaktischer Konstruktionen zu beobachten. In der Textsorte Jahresbericht lag ein gemäßigter Gebrauch dieser Konstruktionen vor. Da aber beide Textsorten nicht im gesamten Untersuchungszeitraum überliefert sind, können hier nur Vermutungen angestellt werden. In der Textsorte Aufstand kann ein deutlicher Anstieg von 39,1 % zum Beginn des 18. Jahrhunderts auf 58,4 % in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Gebrauch von Satzgefügen beobachtet werden. Der Gebrauch dieser Konstruktionen in dieser Textsorte korrespondierte mit dem beobachteten Gebrauch in den Textsorten der Bergmeister / Bergschreiber in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In der Textsorte Jahresbericht am Ende des 18. Jahrhunderts war ein Gebrauch von Satzgefügen zu beobachten, der vergleichbar mit dem der Bergmeister / Bergschreiber am Ende des 18. Jahrhunderts ist (vgl. Tabelle 6).
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Muster
Anfang 1685-1725/30
Mitte 1730-1770/75
60,9 % 39,1 % 23,0 % 5,6 % 3,7 % 5,0 % 1.9 %
41,6 % 58,4 % 42,5 % 8,4 % 3,5 % 3,1 % 0,9 %
98,1 % 1,9 % 1,1 % 0,5 % 0,2 % 0,2 %
32,1 % 67,9 % 41,5 % 2,8 % 10,4 % 5,7 % 7,5 %
65,5 % 34,4 % 19,4 % 3,3 % 7,5 % 2,8 % 1,4 %
82,1 % 17,9 % 10,6 % 1,1 % 4,3 % 1,6 % 0,1 %
54,7 % 45,2 % 31,6 % 4,7 % 3,1 % 5,3 % 0,5 %
94,3 % 5,7 % 2,2 % 3,5 % -
Ende 1775-1815/20
Geschworne Aufstand ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Fahrbogen ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Fahrbuch ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Jahresbericht ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
52,0 % 48,0 % 49,4 % 4,3 % 12,0 % 3,7 % 4,1 %
Tabelle 6: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – Textsorten – Geschworne
Die Tradierung dieser Textsorte Jahresbericht begann im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Möglicherweise orientierten sich die Schreiber dieser Textsorte sowohl in der textualen Ausgestaltung als auch in der syntaktischen Formulierung dieser Textsorte an der zeitgenössischen Realisierung der Textsorte Generalbefahrung. Anders sind die Ähnlichkeiten nicht zu
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Rainer Hünecke
erklären. Man übernahm das Textmuster und die syntaktische Formulierung. Ganz anders verhielten sich die Geschwornen im Umgang mit der Textsorte Fahrbuch (vgl. Tabelle 6). In dieser Textsorte wurden das tradierte Textmuster und die tradierte syntaktische Formulierung beibehalten. Die Textsorte Fahrbuch ist seit dem 17. Jahrhundert überliefert. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wichen die Schreiber etwas von diesem Sprachhandeln ab, kehrten dann aber zum tradierten Muster zurück. Die Textsorte war sowohl in ihrer textualen Gestaltung wie auch in ihrer Formulierung stabil. In der Textsorte Fahrbogen zeigte sich ein anderes Bild (vgl. Tabelle 6). Der Gebrauch der Satzgefüge stieg in der Mitte des 18. Jahrhunderts von 1,9 % auf 67,9 % stark an, pegelte sich am Ende des 18. Jahrhunderts auf einen Wert von 34,4 % ein. Das ist ein durchschnittlicher Gebrauch von Satzgefügen, der nicht weit entfernt ist vom Gebrauch in der Gruppe der Bergmeister / Bergschreiber am Ende des 18. Jahrhunderts. Der Gebrauch dieser Textsorte ist seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu beobachten. Möglicherweise stand diese Veränderung in der Formulierung dieser Textsorte in Verbindung mit dem Aufkommen der Textsorte Jahresbericht in Anlehnung an die von den Berufsschreibern gebrauchte Textsorte Generalbefahrung. Die deutliche Zweiteilung in den Textsorten der Geschwornen ist ursächlich in der Funktion der Textsorte zu suchen. Während die Textsorten Aufstand und Jahresbericht neben der Sachverhaltsdarstellung eine Erläuterung dieses Zustandes bzw. auch einen Vorschlag zu dessen Veränderung darzubringen hatten, waren die Textsorten Fahrbuch und Fahrbogen reine Tätigkeitsberichte, die den sukzessiven Ablauf der Aufsichtstätigkeit darstellten. Allerdings ist in diesen beiden Textsorten eine Veränderung zu beobachten, die in einer Zunahme des erläuternden Anteils bestand. Das trifft besonders für die Textsorte Fahrbogen zu, weniger oder gar nicht für die Textsorte Fahrbuch. Für die Gruppe der Schichtmeister trifft das zu, was für die Geschwornen bereits dargestellt wurde. In den Textsorten Bericht und Zechenregister lag der Gebrauch der Satzgefüge annähernd auf dem Niveau der Geschwornen in den Textsorten Jahresbericht und eventuell Aufstand. Das ist ursächlich einerseits natürlich aus dem Charakter dieser Textsorten zu erklären, es ist aber auch ein Spiegel des Sprachhandelns dieser soziofunktionalen Gruppe. An beide Gruppen (Geschworne und Schichtmeister) wurden im 18. Jahrhundert ähnliche kommunikative Anforderungen gestellt. Sie gehörten als soziofunktionale Gruppen dem mittleren Aufsichtspersonal an. Die Geschwornen hatten dabei einen größeren Aufgabenbereich als die
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Schichtmeister. Beide Gruppen unterschieden sich jedoch deutlich in ihrem Bildungsgang und auch in ihrer sozialen Herkunft. Die Geschwornen sind durch Qualifikation aus anderen Bergbauberufen (insbesondere aus vor Ort tätigen Berufen) hervorgegangen, während die Schichtmeister in der Regel nicht aus dem Bergbau kamen und eher eine ökonomische Ausbildung hatten. Muster
Anfang 1685-1725/30
Mitte 1730-1770/75
Ende 1775-1815/20
77,8 % 22,2 % 22,2 % -
57,5 % 42,5 % 28,8 % 4,1 % 2,7 % 2,7 % 4,1 %
54,2 % 45,8 % 20,8 % 16,6 % 8,3 % -
Schichtmeister Bericht ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
Zechenregister ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
55,9 % 44,1 % 21,4 % 2,7 % 7,6 % 10,3 % 2,1 %
Tabelle 7: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – Textsorten – Schichtmeister
Für beide Gruppen wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Anforderungen zum Umgang mit schriftlichen Kommunikationsformen deutlich höher. Noch am Ende des 17. Jahrhunderts finden sich in den Akten des Bergarchivs Freiberg nur sporadisch Texte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hingegen ist die Überlieferungzahl deutlich höher. Daraus kann man schlussfolgern, dass an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert neue kommunikative Anforderungen an diese Gruppen gestellt wurden, die von diesen nur noch in schriftlicher Form realisiert werden konnten. Mit dem Einstieg in die Schriftlichkeit wurden von beiden Gruppen zunächst parataktische Formulierungsmuster (Einfachsätze) verwendet. Das bedeutet nicht, dass diese Gruppen nur über diese Muster verfügten. Es bedeutet aber, dass das Verschriftlichen von den Schreibern als ein Prozess verstanden wurde, in dem zunächst sukzessive eine vollzogene Handlung nachvollzogen wurde. Die Abfolge von Handlungen stand
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Rainer Hünecke
dabei im Mittelpunkt. Diese wurden symbolisch abgebildet. Mit zunehmendem Umfang an Schriftlichkeit konnte man sich einerseits an vorhandenen Texten (auch von Berufsschreibern) orientieren und deren Formulierungsmuster adaptieren, andererseits konnten aber auch Konventionen herausgebildet werden, die eine optimale Erfüllung kommunikativer Anforderungen sicherten. Das führte dazu, dass in Abhängigkeit von der Funktion (Textfunktion) entsprechende Formulierungsmuster konventionalisiert wurden. Es bildeten sich dabei textsortenspezifische und auch gruppenspezifische Konventionen heraus. Muster
Anfang 1685-1725/30
Mitte 1730-1770/75
Ende 1775-1815/20
Steiger Bericht ES SG davon SGab SGzentr SGgestr SGgeschl SGkomb
80,0 % 20,0 % 13,7 % 0,5 % 1,2 % 4,0 % 0,5 %
Tabelle 8: Durchschnittlicher Gebrauch syntaktischer Formulierungsmuster – Textsorten – Steiger
Die soziofunktionale Gruppe der Steiger war als Produzent schriftlicher Kommunikationsformen nur in der Mitte des 18. Jahrhunderts präsent. In dieser Situation handelten die Steiger wie die Geschwornen und Schichtmeister zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In ihrem Sprachhandeln dominierte der parataktische Satzbau (Reihung von Einfachsätzen) mit 80 %. Satzgefüge spielten eine untergeordnete Rolle (20 %). Im Vergleich zu den Geschwornen und den Schichtmeistern wurden dieser soziofunktionalen Gruppe zeitlich betrachtet später Anforderungen im Umgang mit Schriftsprache abverlangt und dies nicht periodisch, sondern nur zu bestimmten Anlässen. In dieser Gruppe waren zeitverzögert ähnliche Verhaltensmuster zu beobachten, wie es für die Geschwornen und für die Schichtmeister oben beschrieben wurde. Der Übergang zur Schriftlichkeit begann in dieser Gruppe in Form sukzessiven Formulierens von vergangenen Handlungssequenzen.
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4. Fazit In institutionellen Situationen treffen für diese konstitutive Individuen aufeinander, die dafür charakteristische Rollen zu erfüllen haben, die aus spezifischen (gesellschaftlichen) Anforderungen erwachsen. Das sprachliche Handeln der Individuen wird geprägt von diesen Anforderungen und den Erwartungen der Organisation, durch die sprachlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Individuen und von den Möglichkeiten des sprachlichen Systems. Es findet seinen Niederschlag in einer für die Situation typischen Textproduktion nach entsprechenden Text- und Formulierungsmustern bzw. in der Abwandlung und Anpassung dieser an eine sich wandelnde und / oder gewandelte Situation. An den produzierten Texten ist ablesbar, wer unter Anpassungsdruck steht / stand und in welche Richtung diese Anpassung verläuft / verlief. Darin wird ein Zusammenhang zwischen der historischen Situation, der sozialen Situation und der sprachlichen Situation deutlich. Im Ergebnis der Rekonstruktion entsteht ein Ensemble von Diskursen mit den für diese Diskurse typischen Produkten sprachlichen Handelns, den Textsorten sowie den sprachhandelnden Individuen und deren kommunikativen / diskursiven Beziehungen. Bezogen auf das untersuchte Korpus konnte an der Verwendungsweise von Einfachsätzen und Satzgefügen gezeigt werden, dass der Gebrauch hypotaktischer Formulierungsmuster im 18. Jahrhundert variierte. Die in der Fachliteratur verankerte Auffassung, dass im 18. Jahrhundert der Gebrauch hypotaktischer Formulierungsmuster rückläufig sei, ist zu modifizieren. Die Aussage ist für die Berufsschreiber zutreffend, nicht jedoch für die im 18. Jahrhundert greifbaren berufsbegleitenden Schreiber. Die berufsbegleitenden Schreiber verfügten über ein deutlich anderes Sprachhandeln als die Berufsschreiber. Der Einstieg dieser Schreibergruppe war geprägt durch ein relativ niedriges Niveau im Gebrauch der Satzgefüge. Deutlich wird dieser Unterschied zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In der Mitte des 18. Jahrhunderts veränderte sich das Sprachhandeln und näherte sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an die Konvention der Berufsschreiber an, wobei diese Annäherung ein gegenseitiger Prozess war. Innerhalb der Gruppe der berufsbegleitenden Schreiber ist eine deutliche Stufung erkennbar. Je geringer die kommunikativen Anforderungen an die jeweilige Gruppe sind, desto niedriger ist das Niveau im Gebrauch der Satzgefüge. Vorsichtig interpretiert verbirgt sich dahinter auch das Niveau der sprachlichen Bildung. Am Beispiel des Sprachhandelns der Steiger kann eine solche Vermutung angestellt werden. Neben einer gruppenspezifischen Variation im Sprachhandeln war aber auch eine funktionale Variation beobachtbar. Es gibt Textsorten, in
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Rainer Hünecke
denen der Gebrauch der Formulierungsmuster im 18. Jahrhundert relativ stabil blieb (vgl. Fahrbuch). In anderen Textsorten waren Veränderungen zu beobachten, so weit das die Überlieferungslage sichtbar werden ließ. Die relative Stabilität in der Textsorte Fahrbuch kann auf das Alter dieser Textsorte (seit dem 17. Jahrhundert belegt) und damit auf feste Konventionen zurückgeführt werden, sich aber auch aus der Funktion dieser Textsorte erklären lassen. Es geht schlicht und einfach nur darum, vollzogene Handlungen sukzessive nachvollziehbar zu machen. In allen anderen Textsorten – mit Ausnahme des Steigerberichtes – setzten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend hypotaktische Formulierungsmuster – also primär schriftsprachliche Muster – durch. Dieser Sprachgebrauch gipfelte in einer allgemeinen Konvention im gemäßigten Umgang mit diesen Mitteln am Ende des 18. Jahrhunderts. Diesem Trend folgten auch die Berufsschreiber, so dass man am Ende des 18. Jahrhunderts von einem gruppenübergreifenden allgemeinen Trend im gemäßigten Gebrauch der Satzgefüge sprechen kann. Es handelt sich dabei um einen Prozess, in dem die Berufsschreiber im Sinne kommunikativer Kooperativität (vgl. Grice 1968, 1975) die Qualität ihrer schriftsprachlichen Handlungen in der Art modifizierten, dass ohne kommunikative Einbußen eine optimale Informationsübermittlung gesichert wurde. Die berufsbegleitenden Schreiber modifizierten ihr sprachliches Handeln ebenfalls im Sinne kommunikativer Kooperativität, indem sie die Qualität ihres Handelns dieser optimalen Informationsübermittlung anglichen. Es handelte sich also um einen Prozess, an dem beide Schreibergruppen beteiligt waren. Wie aus diesen Äußerungen zu vernehmen ist, eröffnet diese diskursbasierte Herangehensweise neue Möglichkeiten zu einer differenzierteren Betrachtung nicht nur syntaktischer Veränderungen. Gleichzeitig aber ist auch darauf zu verweisen, dass eine solche Herangehensweise nicht ganz unproblematisch ist. Denn nicht nur die Sichtung der überlieferten Quellen, sondern auch die Rekonstruktion sind mit einem relativ hohen Arbeitsaufwand verbunden. Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist die Bewertung des virtuellen und des konkreten Untersuchungskorpus. Der Sprachhistoriker steht hier vor dem „Wagnis […] des Behauptens oder Wahrscheinlichmachens kausaler Zusammenhänge zwischen Sprache und außersprachlichen Faktoren“ (von Polenz 2000, 10), dem er sich jedoch stellen sollte.
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Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Ein Plädoyer für die Verknüpfung von historischer und Gegenwartsgrammatik
Stephan Elspaß (Augsburg)
1. Einleitung In jüngster Zeit ist der Gegenstandsbereich der sprachhistorischen Forschung erheblich erweitert worden. Untersuchenswert erscheinen nicht mehr nur Entwicklungen, die geradewegs auf der Hauptstraße zu unserer heutigen geschriebenen Standardsprache zuliefen, sondern auch sprachhistorische Umwege, Nebenpfade und auch Sackgassen. Entscheidend für die Erweiterung des Blickfelds war wohl das aufgekommene Interesse zum einen an historischer Regionalität und zum anderen an historischer Mündlichkeit, deren quantitative Ausprägungen übrigens durchaus in einem Zusammenhang zu stehen scheinen (vgl. Denkler / Elspaß 2007). Die neuen Interessenlagen brachten es mit sich, dass sich Forscherinnen und Forscher heute Texte anschauen, die man früher keines Blickes gewürdigt hätte, oder dass man überhaupt nach Texten sucht, von denen man lange glaubte, dass sie gar nicht existieren. Ich meine etwa Texte wie Tagebücher, private Chroniken und Privatbriefe, gerade auch vom nichtgelehrten Teil der Bevölkerung. Den Bereich der historischen Mündlichkeit hätte man früher meist mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit seiner Erforschung (da eben das gesprochene Wort nicht überliefert ist) oder den Verweis auf die Dialekte – und damit den Untersuchungsgegenstand der historischen Dialektologie – abgetan. Es bedurfte der Einsicht, dass Mündlichkeit nicht mit dem gesprochenen Wort und somit auch historische Mündlichkeit nicht mit dem gesprochenen historischen Wort gleichzusetzen ist. Dahingehend am überzeugendsten wirkten in der jüngeren Sprach(geschichts)forschung die Modelle der Romanisten Ludwig Söll, Peter Koch und Wulf Oesterreicher, die zwischen der Dichotomie des gesprochenen und geschriebenen Mediums einerseits und der kontinual zu
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Stephan Elspaß
denkenden Unterscheidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit differenzieren (vgl. dazu zuletzt den Aufsatz von Koch / Oesterreicher 2007). Diese Konzeptualisierung von Sprache – das kann man nicht oft genug hervorheben – eröffnet für die Sprachhistoriographie neue Perspektiven in Bezug auf die Erforschung historischer Mündlichkeit.
2. Das Problem Mit solchen Texten historischer Mündlichkeit des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts habe ich mich in den letzten Jahren im Zuge einer Untersuchung von Hunderten von Briefen deutschsprachiger Schreiberinnen und Schreibern aus dem Kontext der Massenauswanderung nach Amerika intensiv befasst. Dass solche Texte in einer solchen Masse und einer solchen regionalen und sozialen Distribution erhalten sind, ist ein Glücksfall. Nun lässt sich der Grad der Mündlichkeit derartiger Texte tatsächlich messen. Nach dem Verfahren, das Vilmos Ágel und Mathilde Hennig entwickelt haben, weisen diese Briefe aus der Hand unroutinierter Schreiber einen Nähegrad zwischen 34 % (vgl. Elspaß 2008, 159) und 41 % (vgl. Ágel / Hennig 2006, 278) auf – und das gehört schon zu den Spitzenwerten für Texte aus dem 19. Jahrhundert; der bisher ermittelte höchste Wert für einen einzelnen historischen Text (ein Hexenverhörprotokoll) liegt bei gut 50 % – nicht mehr (vgl. ebd., 140). Wenn man sich diese Texte vornimmt und etwa auf grammatische Strukturen historischer Mündlichkeit hin durchsuchen will, steht man zunächst vor einem Problem: Die historischen Grammatiken haben sich meist nicht um die Mündlichkeit gekümmert und präsentieren eine Grammatik der Schriftsprache. Die Grammatiken und die Forschungsarbeiten, die die Grammatik des Mündlichen beschreiben, konzentrieren sich auf die Gegenwartssprache, und da im Wesentlichen auf die gesprochene Sprache (ich betone ,im Wesentlichen‘, da man mit dem Aufkommen der neuen Medien nun auch massenhaft Texte im graphischen Bereich zur Verfügung hat, die starke Merkmale von Mündlichkeit haben, vgl. Koch / Oesterreicher 2007, 358f.). Ein gewisses Dilemma bei der grammatischen Beschreibung von Texten wie etwa Privatbriefen des 19. Jahrhunderts lag lange Zeit darin, dass die in ihnen sichtbar werdenden Merkmale historischer Nähesprachlichkeit zunächst einmal nur mit Kategorien beschrieben werden konnten, die für gesprochene Texte der Gegenwart entwickelt wurden. Anders ausgedrückt: Als ich mir diese Texte vor etwa 10 Jahren zum ersten Mal vornahm, hätte ich sie weder im Ge-
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
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genstandsbereich der Sprachgeschichtsforschung noch in dem der Gesprochenen-Sprache-Forschung verorten können. Das hat sich inzwischen gründlich geändert, vor allem seit den bahnbrechenden Arbeiten von Vilmos Ágel und Mathilde Hennig und ihrem Konzept der Nähegrammatik, das u.a. ihrer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen zugrunde liegen soll (vgl. v.a. Ágel / Hennig 2006). Am Beispiel von drei syntaktischen Phänomenen sei im Folgenden illustriert, wie nicht zuletzt die Forschung zur Gegenwartsgrammatik von der Untersuchung solcher Texte profitieren kann. Alle drei Phänomene haben mit den Klammerstrukturen des Deutschen zu tun – stellen aber eigentlich Ausnahmen von der Klammerbildung dar.
3. Durchbrechungen des Klammerprinzips in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 3.1. Ausklammerung Die Klammerstrukturen im Deutschen mit der Verbalklammer (mit auxiliarem linken Klammerteil), der Lexikalklammer (mit nichtauxiliarem linken Klammerteil) und der Nebensatzklammer (mit einleitender Subjunktion oder Relativwort) sind bekanntlich nicht etwas, das für das Deutsche spezifisch ist, noch etwas, das für alle Sprachstufen des Deutschen beschreibbar wäre, denn sie waren erst zu Beginn der mittelneuhochdeutschen Zeit, also im 17. / 18. Jh., voll grammatikalisiert (vgl. von Polenz 1994, 268). Auf ihre Entstehung gehe ich hier nicht näher ein; ich verweise auf den HSK-Artikel von Vilmos Ágel (2000, 1873ff.). Das erste anzusprechende Phänomen ist die Ausklammerung im Deutschen. Die bisher umfassendste Untersuchung zur Ausklammerung im geschriebenen und gesprochenen Deutsch stammt von Günther Zahn (1991); für das 19. Jahrhundert sind die Arbeiten von Wladimir Admoni (1987 u. 1990) einschlägig. ,Einschlägig‘ heißt aber nicht, dass sie auch direkt vergleichbar wären. Denn die Hauptprobleme von Untersuchungen zu Ausklammerungen im Deutschen bestehen darin, dass 1. geschriebene Texte verschiedenen Mündlichkeits- bzw. Schriftlichkeitsgrads zur Unter-
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Stephan Elspaß
suchung herangezogen werden1 und dass 2. den Untersuchungen ganz unterschiedliche Auffassungen von ,Ausklammerung‘ zugrundeliegen.2 Ausklammerung von Satzelementen im Hauptsatz liegt bekanntlich nur dann vor, wenn dieselben Elemente in unmarkierter Stellung zwischen dem auxiliaren oder nichtauxiliaren linken und dem rechten Verbal3 klammerteil ‚eingeklammert‘ stehen können, wie in Bsp. (1): (1)
Er hat uns ein Brief geschrieben den 1 Januar [Trienke Margaretha Rahmann, 05.04.1855]4
Während Ausklammerungen noch Elemente des Satzes darstellen (von dem eben ausgeklammert wurde), wird bei Nachträgen „von einer Art Neuansatz ausgegangen“ (Schoenthal in MLS 2005, 430). Typischerweise werden Nachträge durch und zwar eingeleitet bzw. kann ein und zwar eingefügt werden, wie in Bsp. (2): (2)
Ich habe kürzlich einen Brief von zu Hause erhalten worin die Mutter mir mittheilt, daß Eure Familie wieder um ein Mitglied vermehrt wurde, und zwar in Person eines munteren Jungen, welches mich sehr freut. [Anton Baur, 09.12.1877]
Zu unterscheiden ist die Ausklammerung ebenso von den grammatikalisierten Nachfeldbesetzungen. Dazu zählen z.B. Aufzählungen, freistehende Appositionen oder Vergleiche, die eben nicht mehr (oder nicht mehr unmarkiert) „einklammerbar“ sind (Schoenthal in MLS 2005, 72, nach Zahn 1991), wie die Vergleichskonstruktion mit als wie [...] in Beleg (3): (3)
Aber man muß auch strenger Arbeiten als wie in Deutschland. [Christoph Barthel, 15.08.1847]
Ich orientiere mich im Folgenden an den Ergebnissen von Zahn (1991), der Ausklammerungen im „gesprochenen Deutsch“ untersuchte und sie _____________ 1
2
3 4
So untersuchte etwa Admoni Artikel aus Konversations-Lexika, Zeitungen und Romanauszüge (vgl. Admoni 1987, 100ff.). Die Texte aus den Konversationslexika weisen gar keine Ausklammerungen auf, die Romanauszüge zeigen – wenig überraschend – verschieden hohe Anteile an Ausklammerungen. Es kommt das merkwürdige Ergebnis heraus, dass Ausklammerungen zu Beginn und zum Ende des 19. Jahrhunderts besonders häufig waren, in der Mitte des 19. Jahrhunderts weniger häufig (vgl. ebd., 111 u. 114). So zuletzt noch in dem Aufsatz von Ewa śebrowska (2007), die zwar ausdrücklich auf den Unterschied zwischen Nachtrag und Ausklammerung hinweist, am Ende aber doch wieder in ihrem schmalen Korpus von 44 Belegen beides zusammenwirft. Zahn (1991, 96ff.), Hoberg in der IDS-Grammatik (1997, 1649). Bei diesem und den folgenden Beispielen sind in eckigen Klammern die Namen der Briefschreiberinnen und -schreiber sowie das Datum des Briefes angegeben. Angaben zu den Schreiberinnen und Schreibern sowie Quellennachweise finden sich in Elspaß (2005, 539ff.).
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
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mit einer Arbeit von Emilija Grubačič aus dem Jahre 1965 zu Ausklammerungen in der Prosadichtung des 20. Jahrhunderts verglich. Es geht mir im Folgenden nicht so sehr um die Frage, welche dieser Textgruppen mehr oder weniger zur Ausklammerung neigt. Zahn jedenfalls kann die These von der Ausklammerungsfreundlichkeit der „gesprochenen Sprache“ nicht bestätigen. Vielmehr interessiert mich der Befund Zahns (ebd., 122f.), dass es in qualitativer Hinsicht „beachtliche“ Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener Sprache geben soll, dass nämlich „in gesprochener Sprache [...] mehr Stellungselemente ausgeklammert [würden], von denen man dies bislang nicht erwartet hätte“. Genannt werden insbesondere Nominativ-, Akkusativ- und Prädikativergänzungen.5 Wie sieht nun diesbezüglich das Ausklammerungsprofil geschriebener alltagssprachlichter Texte des 19. Jahrhunderts aus (vgl. Tabelle 1)? ausgeklammerte Stellungselemente
Prosadichtung (Grubačič 19656)
Gesprochene Sprache (Zahn 1991)
Subjekt
51
3,5 %
124
9,0 %
3
1,6 %
Akkusativobjekt
47
3,2 %
143
10,3 %
12
6,5 %
Dativobjekt
11
0,8 %
12
0,9 %
1
0,5 %
2
0,1 %
0
0,0 %
0
0,0 %
10
0,7 %
52
3,8 %
5
2,7 %
Genitivobjekt Prädikativ Infinitiv
10
0,7 %
6
0,4 %
0
0,0 %
Präpositionalobjekt
404
27,8 %
317
22,9 %
56
30,1 %
lokales Adverbial
279
19,2 %
135
9,8 %
35
18,8 %
modales Adverbial
278
19,2 %
188
13,6 %
32
17,2 %
temporales Adverbial
129
8,9 %
163
11,8 %
27
14,5 %
kausales Adverbial
110
7,6 %
88
6,4 %
9
4,8 %
Genitivattribut Präpositionalattribut Sonstige Insgesamt
3
0,2 %
5
0,4 %
0
0,0 %
117
8,1 %
108
7,8 %
4
2,2 %
0
0,0 %
43
3,1 %
2
1,1 %
1451
100 %
1384
100 %
186
100 %
Tabelle 1: Ausklammerungen in Prosadichtung, gesprochener Sprache und geschriebener Alltagssprache
_____________ 5 6
geschriebene Alltagssprache 19. Jh.
Ähnliches liest man in Auer (1991, 147). Die Angaben sind der Arbeit von Zahn (1991) entnommen.
1016
Stephan Elspaß
Obwohl meine Stichprobe,7 die 186 Belege umfasst, nicht so repräsentative Ergebnisse liefern kann wie die Untersuchungen von Grubačič und Zahn, die jeweils ca. 1.400 Ausklammerungen analysierten, ist der Blick auf die Auswertung in Tabelle 1 dennoch aufschlussreich: Man könnte nicht sagen, ob das Ausklammerungsprofil der geschriebenen Alltagssprache eher dem der gesprochenen Sprache oder eher dem der Prosadichtung ähnelt. Vielmehr zeichnet sich insgesamt die Tendenz ab, dass die Werte für die Brieftexte etwa dazwischen liegen. Darüber hinaus zeigt sich, dass es in den Briefen Satzglieder gibt, die in Texten konzeptioneller Schriftlichkeit selten ausgeklammert werden, z.B. Akkusativobjekte und Prädikative, wie in den Textauszügen (4) bis (7): • Akkusativobjekte: (4)
(5)
•
nun Stets beim guten Fleis kan einer vertienen 25 grochen bis einen Thaler am Tag eures gelts, nun ist die Kost und hausrmiten auch deuer, in einer Statt und gelegenem Zimmer wiert bezalt vür ein Monath fünf bis 6 Thalar rente [...] ferte Sint hier keine weil Sie heisen die ferte Keil8 [Wiemar Stommel, 24.06.1850] Lieber Bruder, wenn Du hier währest Du würdest Dich Wundern, über einen Farm, die Ställe, Du hast keinen Begriff davon; da graben sie 6 oder 8 Pfähle in die Erde, legen oben quer auf lange Bäume, bringe oben Stroh hinauf und der Seiten mit Bretter beschlagen, (viele auch nicht) und der Stall ist fertig [Philippe Lépine, 04.01.1885]
Prädikative:
(6)
Lieber Vater keine besondre Neuigkeiten weiß ich nicht als der fortwährende Krieg Blutvergießen und Landesschulden welche sind nach der letzten spezial Rechnung titto: 1.740.690.489 Dollars und 40 Cents also siebzehn hundert, vierzich Millionen sechs hundert neunzich tausend vier hundert achtzich und neun Dollars und 40 Cent und daß der Vater Abraham Linkoln der
_____________ 7
8
Für die Stichprobe wurden Ausklammerungen in drei Zeitabschnitten untersucht. Ich habe dafür zwischen 35 und 40 Briefe von Schreibenden der Geburtsjahrzehnte 1810-20, 1830-40 und 1850-60 ausgewählt; die Gesamttextmenge liegt für jede Gruppe bei ca. 20.000 Wortformen. Die ausgeklammerten Formen wurden nach verschiedenen Typen von Ergänzungen, adverbialen Angaben und Attributen getrennt ausgezählt. Heisen zu hessen 'die Hessen durchschneiden', Hessen: 'Kniebug an den Hinterfüßen, namentlich der Pferde' (Schiller / Lübben 1876, 259f.); Keil zu Keilbein, hier: 'Fußwurzelknochen'.
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
1017
Presetent wieder zu 4 Jahre erwählt worden ist am 8 November 64. [Anna Katharina (Barthel-) Odensass, 12.12.1864]9 (7)
Meine erste Arbeit ist gewesen Waschen, aber es geth viel leichter wie in Deutsland [Margarethe Winkelmeier, 11.04.1867]
Auer (1991, 147) ist zuzustimmen, wenn er gegen die These von der „Schwere“ der ausgeklammerten Konstituenten einwendet, dass viele ausgeklammerte Konstituenten in der gesprochenen Sprache relativ kurz sind. Allerdings gilt deswegen nicht umgekehrt, dass kurze Konstituenten ein Spezifikum der heutigen gesprochenen Sprache sind; dagegen stehen etwa die Auszüge (8) bis (10):10 (8)
Heinrich habe ich nachricht von gekriegen im Julei da war Er noch Gesund [Trienke Margaretha Rahmann, 20.01.1856]
(9)
Sie kränkelt noch i^er, ich kan aber nicht recht klug werden, was es ist mit ihr Sie sieht sonßt sehr gut aus [...] seine Eltern brauchen sich nicht zu grämen, daß es ihm schlecht geht hier, Wier alle haben uns, müßen nach Amerikanischen Sitten gewöhnen. [Carl Reinhardt, 02.12.1872]
(10) der Weizen weizen wird drauf gestält und mit der Dreschmaschin gedroschen in weiten Feld und hernach wird das Heu abgemäd mit 2 Pferden die werden an die Maschin gespant und Einer sitzt auf die Maschin und math a 4 Acker ab den Thag [Matthias Gamsjäger, 10.03.1896] 3.2. ,Linksversetzungen‘ Das zweite hier zu erwähnende Phänomen sind die so genannten ,Linksversetzungen‘. Diese Bezeichnung hat nur in symbolgrammatischer Sicht ihre Berechtigung, denn in Wirklichkeit wird ja nichts nach links – aus der Klammer heraus – versetzt. In kontextueller Hinsicht handelt es sich vielmehr, wie Andreas Lötscher (1994, 36f.) schrieb, um eine zeitlich und inhaltlich geordnete Abfolge eines „thematisierenden Fokussierungsakts“ und eines „problemlösenden Prädikationsakts“, also der Aufmerksamkeitssteuerung auf ein Thema, über das im folgenden Satz etwas ausgesagt wird. Insofern ist auch die Bezeichnung ,Herausstellung‘ irreführend, da _____________ 9 10
Für dieses Beispiel greift durchaus die sprachökonomische Erklärung, wonach durch Ausklammerung die Satzklammer nicht prinzipiell aufgegeben, sondern lediglich auf eine „handhabbare“ Länge zurückgeführt wird (vgl. Ronneberger-Sibold 1993, 215). Vgl. dazu auch Nittas (1996, 373) Beispiele aus frühneuhochdeutschen Texten.
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Stephan Elspaß
sie suggeriert, „daß das herausgestellte Element ‚ursprünglich‘ am Platz der Anapher (oder unter Umständen an einer entsprechenden Leerstelle) gestanden habe“ (ebd., 37). Die Anapher besteht meist – das sind die beiden üblichen Typen der Linksversetzung – •
aus einem Demonstrativpronomen als Personalpronomen (z.B. Der Kerl, der hat mich betrogen),
•
oder aus dem Pro-Adverb da (z.B. Voriges Jahr, da haben wir viel Schnee gehabt).
Die ersten beiden Fälle mit Demonstrativpronomen und da sind in der Alltagssprache sehr gebräuchlich (vgl. Behaghel 1932, 256; Baumgärtner 1959, 92ff.), aber in der geschriebenen Standardsprache normativ nicht zugelassen. Akzeptiert ist dagegen – nach belletristischem Vorbild – die Variante mit Wiederaufnahme durch Pronomen im „Moderatorenstil“ (von Polenz 1999, 361).11 ,Linksversetzungen‘ werden im Allgemeinen im Zusammenhang mit der topologischen Struktur des Deutschen behandelt – sie stehen nach dem Feldermodell im Vorvorfeld oder ,Außenfeld‘ –, obwohl sie im Grunde wenig mit der Klammerstruktur des Deutschen zu tun haben und natürlich sprachhistorisch auch schon verwendet wurden, als die Klammer im Deutschen noch gar nicht recht ausgebildet war: Linksversetzungen sind bereits für mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Texte gut beschrieben.12 Sie werden im Laufe des 15. Jahrhunderts immer weniger verwendet, im 16. Jahrhundert sind sie praktisch kaum noch zu finden (vgl. Lötscher 1994, 53). Lötschers Erklärung (vgl. ebd., 55) dafür lautet: Schon im Mittelhochdeutschen sei die Linksversetzung stilistisch markiert gewesen in Richtung auf sprechsprachenahe, volkstümliche, zuhörerorientierte Textsorten. Heute wird sie – wie gesagt, mit einer Ausnahme – zu den ‚pleonastischen Formen‘ gezählt, die in der neuhochdeutschen Schriftsprache normativ diskriminiert sind (vgl. Sandig 1973, 38ff.). Aufmerksam geworden auf diese Strukturen ist aber wieder die Gesprochene-Sprache-Forschung, deren Beschreibungsbereich freilich die Grenzen zwischen Standard und ‚Substandard’ nach Belieben überspringt. Zuweilen wird das Beispiel der Linksversetzungen aber auch herangezogen, wenn die Eigenständigkeit einer ‚Grammatik der gesprochenen Sprache’ betont werden soll. So hält Hannes Scheutz (1997, 44) es für _____________ 11 12
Das zeigt übrigens einmal mehr die Arbitrarität und Inkonsequenz normativer Setzungen in der Standardgrammatik. Vgl. Behaghel (1932, 256), Paul (1989, 334), Reichmann / Wegera (1993, 349, 433). Siegfried Grosse (in Paul 1989, 334) betont, dass Herausstellungen des Nominativs „besonders häufig in den Prosatexten der mhd. Predigtliteratur“ erscheinen. Dies bestätigen auch die Untersuchungen von Lötscher (1994, 47f.).
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
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„unbestreitbar“, dass die Linksversetzung „in erster Linie ein Phänomen der gesprochenen Sprache“ ist. Davon leitet Scheutz weitere Charakteristika der Linksversetzung (LV) ab. So müsse das wiederaufnehmende Element „ein Demonstrativum sein“ und dürfe „kein Personalpronomen sein“ (ebd.). Diese scharfe Eingrenzung auf die gesprochene Sprache ist allerdings angesichts Dutzender Belege aus meinem Briefkorpus in keiner Weise gerechtfertigt – als ein besonders deutliches Beispiel sei das Briefbeispiel Nr. (11) aufgeführt, das ich bewusst auf die Auszüge mit Linksversetzungen reduziert habe: (11) ich hätte nie und nimmer gedacht daß wir Amerika ge zu sehen krichten, als wir aber New-jork zu sehen krichten die Freude die war zu groß. [...] Wilhelm Hesse der ist bei seinen Meister geblieben [...] sein Meister der legt ihn immer Lohn zu wenn er blos bleiben will [...] Wilhelm Hesse der trägt alle Monaht 20 Dollar nach die Bank [...] Lieber Bruder Wilhelm Hesse der läßt dir fiel mal grüßen [...] Wilhelm Hesse der ist man 2 Meilen von Rochester ab [...] hier giebt es einen Tag Kuchen und alle Tage Butterkuchen, schwarz Brodt giebt es hier gar nicht, und die Kartoffel die wachsen, hier eben so als wie bei Euch, und die Schweine die laufen hier auf die Straße herum, und haben ein Messer auf dem Rücken stecken, wenn wir hunger haben den schneiden wir uns ein fetes Stück ab [Heinrich Greve, 1856 (2)] Ein anschauliches komplexes Beispiel für eine Linksversetzung ist schließlich Auszug (12): (12) dem Kreusrichter Peitz seiner Schwester sein StifSohn der von Holtausen der hat sich hir auch eine Farme gekauft [Caspar Geucke, 21.03.1882] Auch Scheutz’ Festlegung auf die „deiktische Funktion“ ist unhaltbar. Dass es nach Scheutz „ausgerechnet ein Demonstrativum sein muß und kein Personalpronomen sein darf“, mit dem das linksversetzte Element wieder aufgenommen wird, ist nicht einsichtig und lässt sich auch leicht mit Beispielen widerlegen: (13) du und meine Frau ir kontet das Schneiter hantwerck brauchen wegen Sie auch zimlich darin erfaren ist. und halten dabei ein kleines gasthaus welches auch ein guten gewin macht, ich habe mich zimlig davür Ein gerigt. [Wiemar Stommel, 24.06.1850] (14) Onkel Fritz Tochter Onkel Ludgerus Tochter und die Frau Lorenz mit ihre Tochter und Onkel Berning sohn und ich
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Stephan Elspaß
wir sind des Abends 2 Uhr in der Kutsche alle in die Stadt gefahren [...] Meine schwester Anna auch sie hatt mir nicht mal wissen lassen das sie einen jungen sohn empfangen haben [Ludger II (Große) Osterholt, 25.12.1877] (15) Käthe und ich auch wier denken Täglich ach hätten wier doch Groß Mutter hier. [Pauline (Rogosch-) Wendt, 15.05.1890] (16) Lieber Bruder, wenn Du hier währest Du würdest Dich Wundern, über einen Farm, die Ställe, Du hast keinen Begriff davon [Philippe Lépine, 04.01.1885] Die Rückbeziehung kann, wie schon Lötscher (1994, 34) für ältere Texte feststellte, auch durch Personalpronomina erfolgen – und sogar durch Pronominaladverbien, wie in Beispiel (16). In drei der vorgenannten Fälle (1. bzw. 2. Person) ist etwa die Wiederaufnahme durch ein Demonstrativpronomen gar nicht möglich. Im folgenden Beleg für eine doppelte Linksversetzung treten beide Formen der Rekurrenz nebeneinander auf: (17) Denn die Amerikaner Weiber Arbeiten daß können Sie nicht nur ein Schöner Garten halten und den Tag enweder Spazieren gehe oder auf dem Clavier hier Pieano genant spielen.13 [Balthasar Schmitz, 30.01.1866] Die häufige Realisierung der Linksversetzung in der geschriebenen Alltagssprache erklärt sich durch die Funktion der Thematisierung (vgl. Altmann 1981, 48) bzw. einer „Steigerungsmöglichkeit der thematischen Heraushebung“ (Eroms 2000, 353): Gerade in den nicht immer linear organisierten, d.h. auch thematisch wenig strukturierten Briefen der ungeübten Schreibenden, dem typischen „vom-Hölzchen-aufs-StöckchenKommen“ mit häufigem und oft abruptem Wechsel des Gegenstands oder der Personen, von denen aktuell die Rede ist, erscheint die entsprechend klare Kennzeichnung eines neuen Themas geradezu als Verstehensnotwendigkeit. Das zeigt in besonderer Deutlichkeit Beispiel (11). 3.3. weil + Verbzweitstellung Mein drittes und letztes Beispiel betrifft die Nebensatzklammer bzw. die Auflösung der Nebensatzklammer in einem speziellen Fall, der in der Gegenwartsgrammatik heftig diskutiert wird. Gemeint sind Verbzweitstellun_____________ 13
Linksversetzung 1: Denn die Amerikaner-Weiber, sie können nicht arbeiten. Linksversetzung 2: Arbeiten, das können sie nicht.
Klammerstrukturen in nähesprachlichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
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gen nach klassischen Nebensatzkonjunktionen wie weil, obwohl und während (von Polenz 1999, 357); ich greife den Fall weil + Verbzweit heraus. Zur Entstehung dieser Konstruktion zeichnet sich in der Forschung ein Übergewicht derjenigen Meinungen ab, die annehmen, dass sich hierbei nicht die Verbstellung in Nebensätzen ändert, sondern einfach nur eine funktionale Ausweitung des weil von einer subordinierenden zu einer auch koordinierenden Konjunktion stattfindet, indem weil als koordinierende Konjunktion das schriftsprachlichere denn ersetzt und von ihm die Hauptsatzstellung ererbt. Zunächst hat man die weil + Verbzweitstellungen als Entwicklungstendenz der Gegenwart aufgefasst. Aber wie bei so vielen gegenwärtigen Entwicklungstendenzen fragt man sich, woher sie kommen, ob sich ein plötzliches Auftauchen aus sprachwandeltheoretischer Sicht stichhaltig begründen lässt – oder ob es historische Vorläufer gibt. Insbesondere Margret Selting hat dafür argumentiert, dass im Fall der weil-Konstruktionen von einer historischen Kontinuität auszugehen sei, die sie bis auf ahd. (h)wanta-Konstruktionen zurückverfolgt. Ihr Hauptproblem ist eine „Beschreibungslücke“, die sich in Texten des 16.-20. Jahrhunderts auftue (Selting 1999, 196). Nun ist klar, dass auch diese Konstruktion eher in Texten historischer Mündlichkeit zu vermuten wären. Um es kurz zu machen: Es finden sich tatsächlich nicht viele, aber doch einige weil + Verbzweit-Belege in den Auswandererbriefen, allerdings verdienen die entsprechenden Textstellen eine genaue Betrachtung. Die ersten drei dieser Auszüge – (18) bis (20) – enthalten ganz eindeutige Belege für Verbzweitstellungen nach weil: (18) Auser Preusen Kunser der sate erst wir solten nichts mer geben als wir vorackediert warren wir solten uns nur fest halten den das schief müßte bald vord das dauerte biß den 30ten April und als den 30t. April da wurden wir gewar das der Kunsor und unser agend Wumberse Karusewick sich bestächen hatten und erst da glaubtten wir unser Kunler [...] sagte wir solte machen um etwas mer zu geben und als wir das getan hatten da war unser akord gebrochen Weil wir wusten nicht daß sei zusammen hielten unser akord ward gebrochen da sagtte die das akord gemacht Pfisknoick und Hiesel sie wolten geben was er haben wolten 25 Gulden per Mann [Heinrich Küpper (aus Loikum am Niederrhein), 1847ff.] (19) Ich habe schon gleich ums Heumachen um 12 Dollar Heu gekauft da habe Ich 2 Fuhren bekommen weil wir auf unsern Land auch nur zwei Fuhren bekamen Getroschen haben wir auch nicht viel weil man mußte schon den Hafer bald grün ver-
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füttern blos 62 Buschel Hafer 29 [Bräu] Gerste 15 Buschel Weitzen [Mathes Josef Windirsch (aus Müllestau bei Marienbad), 02.04.1896] (20) ich bin immer zu hause oder beim Rauhbauer und dehr ist nicht weit weg fon mihr ich fahre mit dehr Strasen Bahn hin zu ihm ich habe eine halbe Stunde zu fahren und das ist nicht fill. weil das ist nuhr meine freude der gaht Riedler komt auch ihmer zu mir aber das ist nicht so als wen der Rauhbauer komt mehr neues kan ich dir nicht schreiben weill hir wir machen nicht So fill [...] alls wi drausen [Johann Händler (aus dem Burgenland), Anf. 1924] Beim zuletzt aufgeführten Schreiber ist die Verbzweitstellung nach weil übrigens die Normalform! Auszug (19) ist insofern bemerkenswert, als genau für das böhmisch-nordbairische Dialektgebiet, aus dem der Schreiber stammt, die Hauptsatzstellung nach weil für die Mundart belegt ist (vgl. Schiepek 1899, 42). Vom selben Schreiber liegen allerdings auch zwei Textpassagen vor, die sich nicht eindeutig als Verbzweitstellungen einordnen lassen – s. Auszüge (21) und (22): (21) u nun dieser So^er, war bei uns sehr trocken, wir haben schon in Juli die Frucht abgemacht, u den 12 August habe Ich schon dreschen lassen, weil getroschen wird bei uns in Amerika, mit einer großen Maschin, wo ein Inschein [engine!] oder ein Lokomotif, wie ihr es auf der Eisenbahn seht, ein solches Lokomotif, fahrt sa^t Treschmaschin, von einen Farmer zum andern [Mathes Josef Windirsch, 04.01.1892] (22) im Herbst kauften wir uns noch für 8 Dolar Haferstroh wir haben uns jetzt noch 70 Buschel Hafer gekauft es kostet der Buschel Hafer 18 Cent weil wir hatten in Herbste zwei Küh u eine Kalbin dan haben wir die ältere Kuh geschlacht weil die Kalbin tragbar ist [Mathes Josef Windirsch, 02.04.1896] Denn hier könnten natürlich auch Ausklammerungen vorliegen (entsprechend ist dies in (21) und (22) auch graphisch markiert)! Auch das sind keine Einzel- bzw. für diesen Schreiber spezifischen Belege, vgl. Auszug (23): (23) das vieh ist Schoner hier wie in Deuchlanth, auch mit verschietene farben Weis und Schwartz Roth von dreierlei varben ist das merste. die Schweine werten auch bis 5 Huntert Pfund Schwer, ferte Sint hier keine weil Sie heisen die ferte Keil, die sind mit
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under schiet wie bei euch. ich haben Hensten gesehen die nicht under vier huntert Thaler zu kaufen waren. [Wiemar Stommel (aus Kurtsiefen, Siegkreis), 24.06.1850]14 Dann gibt es auch Fälle, in denen die Verbzweitstellung nach weil wieder anders erklärt werden könnte, nämlich durch Besonderheiten der Serialisierung im Verbalkomplex. In den Auszügen (24) bis (26) könnte es sein, dass die unterstrichenen finiten Formen der Hilfsverben in den zwei- bzw. dreigliedrigen Verbkomplexen vorgezogen wurden – das ist eine in den Briefen des 19. Jahrhunderts durchaus häufig zu findende Verbstellung: (24) diese 3 Mädle [wo ich von] Stuttgart auch nach Amerika sind hatte ich in Maintz getroffen, die hatten aber schon Geselschaft getroffen auf d[em] Wege, die hatten sich so Gemein aufgeführt auf dem Weg schon und auf der See es waren 2 Schneidergesellen mit diesen Madle habe ich Ver[druß] beko^en, weil ich hab die Lied[er]lichkeit nicht ansehen kö]en die eine ist nach Viladelfe15 u. die eine in New Jork. [Anna Maria Klinger (aus KorbSteinreinach bei Waiblingen), 18.03.1849] (25) Liebe Bruder du Schreibist mir das du wolltest im Herbst wieder kommen das muß du selber wissen wie es hir so ist das weiß du wohl von früher aber von verdinst ist es viel schlechter den das Weben ist ganz aus und das kömt von den amerikänischen Krig weil keine Baumwolle kan erhalten werden denn das Pfund Baumwollen Garn kostet 20 Sgr so das gar nicht mer hir gewebt wird [Heinrich Brandes (aus Ochtrup, Westfalen), 20.07.1863] (26) Lieber Freund 4½ Thaler bekom ich im Tag, für euch wäre es noch beser weil auch deine Frau könt verdinen, eine Frau sovil machen als der man wen sie wil. [Josef Schabl (aus dem Burgenland), 13.08.1922] Es ließen sich noch weitere mögliche Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Verbzweitstellung nach weil nennen, z.B. die afiniten Nebensatzkonstruktionen, die ja offen lassen, in welcher Stellung das finite Verb zu stehen käme, wie in Auszug (27): _____________ 14
15
Die Ausklammerung selbst nominaler Ergänzungen in weil-Sätzen war zumindest in der Lyrik des 19. Jahrhunderts aus Gründen der Metrik und des Reims eine akzeptierte Satzgliedstellung: Denn vor Gott ist alles herrlich, / Eben weil er ist der Beste; / Und so schläft nun aller Vogel / In dem groß und kleinen Neste. (Goethe: West-östlicher Divan) Philadelphia.
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(27) So bitte ich Euch liben Eltern nochmahls dringend, Laßt Euch ein Bild von das Orignal Bild abnehmen und schikt uns dan das Bild welches wir an Euch geschikt haben es wird Euch gewiß, nichts aus machen solte es nicht ganz genau so sein weil Ihr das Kind doch nicht gekant aber es i[ch] zu genau getroffen auf das Haubt Bild deshalb möchten wir es [um] jeden Preis wider haben. [Hermann Reibenstein, 05.06.1870] Hier breche ich ab. Ich hoffe, ich konnte Folgendes deutlich machen: Um diese Wortstellung, die uns heute als markiert erscheint, zu erklären, ist es nicht nur notwendig, die Geschichte der kausalen Konjunktionen zurückzuverfolgen, sondern man muss sich auch einen Überblick verschaffen über die historische Varianz und die Entwicklungen der Klammerstrukturen. Im vorliegenden Fall ist es m.E. mit dem Hinweis auf eine „lokale Umschichtung im Lexikon der deutschen Funktionswörter“ (Uhmann, nach Selting 1999, 180), also die Ersetzung des schriftsprachlichen denn durch das alltagssprachlichere weil nicht getan. Denn diese Übernahme traf auf bestimmte syntaktische Bedingungen: Ermöglicht wurde sie durch Stellungsvarianten bei mehrgliedrigen Verbalkomplexen, durch die zunehmend genutzte Möglichkeit der Ausklammerung und der auch noch verwendeten afiniten Nebensatzkonstruktionen. Diese verschiedenen Varianten können als Katalysatoren gewirkt und zusammen genommen die Funktionsübernahme des denn durch weil befördert haben.
4. Schluss Mein Schlussplädoyer ist kurz. Die Fallbeispiele aus dem weiteren Bereich der Klammerstrukturen des Deutschen sollten deutlich machen, dass die geschriebene historische Nähesprache – gerade diejenige, die unserer Gegenwartssprache unmittelbar vorausgeht, – nicht nur der Forschung zur historischen Grammatik wie auch der zur Gegenwartsgrammatik neue Erkenntnisse liefern kann, sondern dass sie auch (um im Bild zu bleiben) eine wichtige Klammer zwischen historischer und Gegenwartsgrammatik bildet: Die Ergebnisse haben gezeigt, dass Entwicklungen, die erst in der jüngeren Forschung zur gesprochenen Sprache (oder auch zur Sprache in informellen Texten der neuen Medien) als ‚auffällig‘ beschrieben und diskutiert werden, in gleicher Weise oder zumindest im Prinzip schon in der geschriebenen Alltagssprache des 19. Jahrhunderts zu beobachten waren. Um Tendenzen in der Gegenwartssprache adäquat erklären zu können, ist es notwendig, ihre unmittelbaren historischen Vorläufer bzw. Formen zu berücksichtigen, die offenbar während der ganzen Zeit unter der bereinig-
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ten Oberfläche der Schriftsprache existierten und sich weiter entwickelt haben.
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Grammatische Variation in der Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt Jörg Riecke (Heidelberg)
1. Einleitung Während viele Aspekte der ‚Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus‘ inzwischen gut erforscht sind, gibt es bisher kaum Untersuchungen dazu, ob und wie die Opfer des Nationalsozialismus ihre Entrechtung, Verfolgung und – in vielen Fällen – ihre Deportation in Gefängnisse, Gettos und Lager sprachlich bewältigt haben. Die Gründe für diese Zurückhaltung mögen vielfältig sein; es hat bis in die jüngere Vergangenheit jedoch vor allem an einer geeigneten Textgrundlage gefehlt, um diese Frage zumindest in Ansätzen beantworten zu können. Mit dem Erscheinen der Edition der Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt liegt nun aber eine umfangreiche Quelle vor, die einen tiefen Einblick in das ‚Schreiben im Holocaust‘ erlaubt.1 Es lassen sich nun Überlegungen zur Funktion der ‚Sprache unter erschwerten Lebensbedingungen‘ anstellen sowie textlinguistische und lexikologische Aussagen treffen. Bei der Vorbereitung der Edition sind die Herausgeber daneben vergleichsweise häufig auch auf grammatische Merkmale gestoßen, die nicht mit der Norm der deutschen Standardsprache übereinstimmen. Das war bei einem Text, der in den Jahren 1941 bis 1944 entstanden ist, nicht von vornherein in diesem Ausmaß zu erwarten. Vielfach war zunächst unklar, ob es sich bei diesen Auffälligkeiten um Fehler handelt, die in der Ausgabe korrigiert werden sollten oder ob doch in manchen Fällen bestimmte sprachliche Gesetzmäßigkeiten vorliegen, die es erlauben, die Abweichungen in der Edition stehen zu lassen. Es stellte sich dann darüber hinaus die Frage, warum der Text überhaupt so viele Abweichungen enthält. Eine Erklärungsmöglichkeit bietet sich dann, wenn man die grammatische Variation in der Chronik und auch in allen anderen, im Getto Lodz entstandenen Texten vor dem _____________ 1
Vgl. Leibfried / Feuchert / Riecke (2007).
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Hintergrund ihrer Schreibsituation unter die Lupe nimmt. In dieser Studie möchte ich daher im Folgenden eine Auswahl der grammatischen Merkmale vorstellen, die mir im Verlauf der Editionstätigkeit aufgefallen sind. Ihre Untersuchung soll zeigen, dass man – auch – grammatisches Wissen haben muss, um solche Texte in ihrer Vielschichtigkeit richtig zu erfassen. Der Text versteht sich daher nicht in erster Linie als Beitrag zur Erforschung von Syntax und Grammatik des Neuhochdeutschen selbst, sondern als Plädoyer für die Wichtigkeit von Syntax und Grammatik im Prozess der philologischen Erschließung von Texten überhaupt.2 Da Texte der Opfer des Nationalsozialismus, zumal sie von der germanistischen Forschung bisher erst ansatzweise untersucht worden sind, nicht völlig voraussetzungslos behandelt werden können, gebe ich zunächst – allerdings in sehr gedrängter Form – einen Überblick über die spezifische Schreibsituation im Getto und stelle die wichtigsten Textzeugen kurz vor.3 Dabei wird zum Vorschein kommen, dass es neben den üblichen, textsortenspezifischen Merkmalen fast immer grammatische Merkmale sind, die einen im Getto verfassten Vertreter einer Textsorte Tagebuch, Enzyklopädie oder Chronik von ihren Geschwistern unterscheiden, die unter sozusagen normalen Umständen entstehen oder entstanden sind. Mein besonderes Augenmerk möchte ich dann im zweiten Teil auf die grammatische Variation im Haupt-Textzeugen des Gettos, der Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt, legen. Unter grammatischer Variation möchte ich hier Merkmale subsumieren, die zum Zeitpunkt ihrer Verwendung bereits als unüblich und veraltet gelten oder selbst niemals Bestandteil der Norm der deutschen Standardsprache gewesen sind. Welche Funktionen diesen Merkmalen zukommen, erschließt sich am besten, wenn man sie im Kontrast zu der in der Chronik gleichfalls vorhandenen lexikalischen Variation betrachtet. Dahinter steckt die Überzeugung, dass sprachliche, also auch grammatische, Merkmale nicht isoliert, sondern stets im wechselseitigen Zusammenspiel ihre Bedeutung finden. Im Folgenden geht es mir daher nicht vorrangig um eine detaillierte Darstellung einzelner – seltener – grammatischer Merkmale, sondern um die Funktion, die sie in einem größeren Textzusammenhang bekommen.
_____________ 2 3
Vgl. Riecke (2009), bes. 107-114. Dazu ausführlicher Löw (2007, 145ff.); Feuchert (2007, 167ff.). Vgl. auch ders. (2004).
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2. Die Schreibsituation im Getto Lodz / Litzmannstadt Die Errichtung des Gettos Lodzer bzw. Litzmannstadt, so lautete der Name der Stadt nach der Umbenennung nach einem deutschen General, gehörte zu den ersten Maßnahmen der deutschen Besatzer in Polen. Auf engstem Raum vegetierten zeitweilig bis zu 160.000 Menschen. Das Getto bestand in den Jahren 1940 bis 1944. Dieses Leben war für die meisten Bewohner geprägt durch die völlige Abgeschlossenheit von der Außenwelt, die schlechte Versorgungslage und den Wechsel von erzwungener Untätigkeit und erzwungener Schwerstarbeit bei Arbeitseinsätzen. Die Menschen waren entkräftet und hungerten. Dazu kam die völlige Ungewissheit über das weitere Schicksal. Es fällt heute schwer zu glauben, dass Menschen unter diesen extremen Bedingungen überhaupt willens und in der Lage waren, Texte zu verfassen. Aber für viele war das Schreiben offensichtlich die einzige Möglichkeit, das täglich erlebte Grauen wenigstens ansatzweise zu verarbeiten. Neben der vor diesem Hintergrund entstandenen ‚privaten Schriftlichkeit‘, die sich vor allem in Tagebüchern und Essays niederschlägt, gibt es unter den Bedingungen des Gettos auch eine gewissermaßen ‚halböffentliche‘ Schriftlichkeit, deren Textzeugen das Schreiben unter dem Nationalsozialismus durch sonst bisher nicht bekannte Varianten bereichern. Um das Überleben, oder zumindest doch das Weiterleben einer größeren Gruppe der Gettoinsassen zu sichern, hat die jüdische Getto-Selbstverwaltung das Getto in Übereinstimmung mit den deutschen Behörden in eine Produktionsstätte für die Erzeugung ziviler und kriegswichtiger Erzeugnisse aller Art umgewandelt. Dies bedeutete aber nun zugleich, dass diejenigen, die ohne feste Arbeit waren, in höchstem Maße von der Deportation in das Vernichtungslager Kulmhof bedroht waren. Für die große Zahl der Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten und Künstler, die nicht ohne Weiteres in den Produktionsprozess eingegliedert werden konnten, wurden daher geeignete Arbeitsplätze in der Getto-Verwaltung geschaffen. So erklärt sich auch die Errichtung einer „Statistischen Abteilung“ und eines „Archivs“, deren ‚Beamte‘ maßgeblich mit der Abfassung von Texten über den Alltag im Getto befasst waren. Die spezifischen Lebensumstände des Gettos haben, anders als etwa in einem Konzentrationslager, trotz aller Beschränkung der persönlichen Freiheit den Menschen doch noch den Raum zur Verfertigung von Texten gelassen. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen:
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2.1. Das 1. Beispiel: Wozu noch Welt. Das Tagebuch des Oskar Rosenfeld Das Tagebuch des Wiener Germanisten, Schriftstellers und Journalisten Oskar Rosenfeld markiert einen extremen Punkt dessen, was mit Sprache zum Ausdruck gebracht werden kann. Seinen Versuch beschreibt er selbst so:4 Umschreibend sagen, ganz sachlich, kurze Sätze, alles Sentimentale beseitigen, fern von aller Welt sich selbst lesen, ohne an Umgebung denken, allein im Raum, nicht für die Menschen bestimmt, als Erinnerung für spätere Tage.
Hier wird thematisiert, was ich im Anschluss an Andreas Gardt als die sprecherorientierte Funktion der Sprache bezeichnen möchte.5 Die Texte sind nicht für andere Leser bestimmt, sondern sie dienen dazu, ‚sich selbst‘ zu lesen. Ein solcher Text nimmt zwar auf Sachverhalte und Gegenstände der Wirklichkeit Bezug, die Appellfunktion der Sprache rückt dagegen in den Hintergrund. Der monologische Sprachgebrauch verliert bei Rosenfeld jedweden rhetorischen Schmuck. Die tägliche Aussichtslosigkeit des Gettolebens wird in längeren Aufzählungen eingefangen: Manche Lager sind mit Stricken umspannt, an denen feuchte Wäsche hängt. Nur, daß die Freizügigkeit fehlt. Man rückt zusammen, soweit es eben geht. Kinder lallen, weinen, greinen, und viele Kranke geben die Laute ihrer Krankheit von sich. Husten, Zischen, Fauchen, Kratzen, Stöhnen, Ächzen, Schluchzen, Hin- und Herwälzen, Stöhnen, Knarren der Holzbretter und animalische Geräusche füllen die Leere der Nacht.6
Während zu Beginn der Aufzeichnungen trotz aller von Rosenfeld beabsichtigten Knappheit aber zumeist doch noch vollständige syntaktische Strukturen vorherrschen, werden mit fortschreitender Zeit die Eintragungen immer ungrammatischer: 8. Juni [1942]. Diebe, Diebe … Die grossen Ereignisse dringen über den Draht. Gesicht des Gettos. An den Straßenecken Kinder barfuß Sacharine original … Männer braun wie Hamals auf dem Balkan mit Stricken als Lastträger, Jude nicht zu erkennen … Zerbrochene Fensterscheiben … Hinten in der dunklen Stube trotz hellem Tageslicht liegt in einem alten zerbrochenen Bett (mit Kissen und Decke voller Fliegendreck und Wanzenblut) ein Sterbender. Picture. oj weh is mir. 5. August [1942] Angst im Getto. Graben überall seit der Zeit, wo Luftschutz vorbereitet worden war. Wache beim Graben. Wozu? Niemand weiß. Wer weiß wozu Gräber noch immer gehütet! Vielleicht uns ermorden und in Graben werfen oder gar lebendig hinein am Tag des Endes? Ähnliche Graben tote Soldaten
_____________ 4 5 6
Rosenfeld (1994, 36). Vgl. Gardt (1995, 153ff.). Rosenfeld (1994; 49).
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geworfen in Massen übereinander … Einer blickt den anderen stumm und furchtbar traurig an. 18.IV. [1943] Aschkenes am Draht. Langweilt sich, schießt auf Vorübergehende. Knall. knall. Manchen Tag bis 10 Personen … Aschkenes schießt mit Gewehr aus nächster Nähe, zweimal, tot … Niemand wagt auf die Gasse, Schwerkranke möchten Arzt. Arzt wagt nicht zu kommen …7
Die Tagebuchaufzeichnungen werden damit zu einem einzigartigen Versuch, das erlebte Grauen in sprachlicher Form möglichst unmittelbar wiederzugeben. Die so entstandenen Sprachtrümmer sind keine interpersonalen kommunikativen Handlungen, sondern introvertierte, nicht partnerbezogene Monologe. Den letzten Schritt, die völlige Zerstörung der Sprache vergleichbar einer globalen Aphasie bis hin zum Verstummen vollzieht Oskar Rosenfeld jedoch nicht. Dieser Schritt bleibt aus, solange selbst im Getto noch Hoffnung auf Überleben besteht. Solange sie besteht, dienen die Aufzeichnungen in erster Linie der seelischen Entlastung des Schreibers. Rosenfeld will mit seinem Tagebuch zeigen, dass es im Getto nur Angst, Demütigung und Entwürdigung gibt, aber keinerlei Vernunft, Logik und Kausalität. Beim Stichwort „Kausalität“, das Rosenfeld selbst mehrfach gibt, kann eine grammatisch geschulte Leserin oder ein grammatisch geschulter Leser nun beispielsweise überprüfen, ob und in welchem Maße das Tagebuch kausale Subjunktionen enthält, die dann im Widerspruch zu Rosenfelds Intention stehen müssten. Die Lektüre zeigt aber, dass über Dutzende von Seiten hinweg so gut wie überhaupt keine kausalen oder auch finalen Subjunktionen auftreten. Solche Subjunktionen begegnen überhaupt nur dann, wenn nationalsozialistische Befehle und Phrasen kommentiert werden. So etwa bei der Schilderung der Abnahme aller Wertgegenstände auf dem Prager Bahnhof: … Abgabe des ganzen Geldes und Goldes ohne Bestätigung. (Abliefern, weil Raub am deutschen Volk).8
Beim Versuch, die Lebensumstände im Getto so unmittelbar wie möglich wiederzugeben wird offensichtlich, dass bei der Beschreibung des GettoAlltags für kausale oder finale Verknüpfungen kein Platz ist. Das Getto ist ein Raum außerhalb jeder Kausalität, jeder zielgerichteten Normalität. Die alltägliche Aussichtslosigkeit wird vor allem mit Hilfe paralleler Konstruktionen und Aufzählungen versprachlicht.9
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Ebd., 206. Ebd., 44. Dazu ausführlicher Riecke (2006, 82ff.).
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2.2. Das 2. Beispiel: Die Lodzer Getto-Enzyklopädie Die Lodzer Getto-Enzyklopädie gehört – im Gegensatz zum privaten Tagebuch Rosenfelds – zu den großen Projekten der „Statistischen Abteilung“. Sie entsteht folglich in einem zumindest halb-öffentlichen Raum. ‚Halb-öffentlich‘ möchte ich ihn deshalb nennen, weil für die Verfasser unklar war, ob ihre Texte jemals würden gelesen werden. Das Ziel der Enzyklopädie, die auf Karteikarten angelegt wird, ist der Versuch einer Kulturgeschichte des Gettos. In Lexikonform enthält sie Einträge zu Personen, Institutionen und Bezeichnungen der Getto-Sondersprache. Sprachlich besonders markant ist in der Enzyklopädie der TempusGebrauch. Hier wird durch die Wahl des Präteritums das Leben im Getto als eine vergangene Episode der Geschichte dargestellt. Es handelt sich, um mit Harald Weinrich zu sprechen, um eine „erzählte Welt“. Ein Beispiel:10 Rojtes Hajzel. Das Gebäude, welches die deutsche Kriminalpolizei / Kripo im Getto beherbergte. Es lag gegenüber der Marienkirche, der Hauptkirche des Stadtteiles, der zum Wohngebiet der Juden gemacht wurde. Ein einstöckiger Bau in schlichtem gotischen Stil aus roten Backsteinziegeln, ursprünglich das zur Marienkirche gehörende katholische Pfarramt. O.R.
Nach Harald Weinrich besagen Sätze der „erzählten Welt“, daß nicht die Umwelt gemeint ist, in der sich Sprecher und Hörer befinden und unmittelbar betroffen sind. Sie besagen, daß die Redesituation, abgebildet im Kommunikationsmodell, nicht auch zugleich Schauplatz des Geschehens ist und daß Sprecher und Hörer für die Dauer der Erzählung mehr Zuschauer als agierende Personen im theatrum mundi sind.11
Die Autoren der Getto-Enzyklopädie befinden sich aber in eben genau der Redesituation, an genau dem Schauplatz des Geschehens, über den sie im Präteritum schreiben. Während Oskar Rosenfeld diesen Artikel schreibt, werden zur selben Zeit im „Rojten Hajzel“, also in unmittelbarer räumlicher Nähe, Menschen verhört, gefoltert und ermordet. Tatsächlich beherbergt das „Rojte Hajzel“ nach wie vor die deutsche Kripo. Das Präteritum beherbergte trifft auf die reale Schreibsituation nicht zu. Diese Schreibhaltung ist nur möglich, weil auch diese Texte nicht für Leser geschrieben sind. Sondern in erster Linie zur Bewältigung der eigenen, momentanen bedrohlichen Lebenssituation. Wird sie als bereits abgeschlossen beschrieben, kann sie leichter ertragen werden.12 _____________ 10
„Getto-Enzyklopädie“, zitiert nach Riecke (2006, 92). Eine Edition der Enzyklopädie ist in Vorbereitung. 11 Weinrich (1994, 47). 12 Dazu ausführlicher Riecke (2006, 91f.).
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3. Die Chronik des Gettos: Grammatische Variation und editorische Zweifelsfälle Das Hauptwerk der „Statistischen Abteilung“ ist die Getto-Chronik, die – einschließlich aller bisher gefundenen Varianten – mehr als 4.500 Maschinen-Seiten umfasst. Es handelt sich dabei um einen journalistischen, zunächst durch Überschriften wie Wetter, Sterbefälle, Festnahmen, Bevölkerungsstand und Approvisation gegliederten Text. Die Autoren Rosenfeld und Singer verfolgten das Ziel, die täglichen Nachrichten über das Leben im Getto durch eine feste journalistische Form berechenbar und ertragbar zu machen. Damit wird auch mit diesem Text eine neue, andere Wirklichkeit erzeugt. Auf die statistischen Angaben und Tagesnachrichten folgen ab 1943 dann aber auch Rubriken wie Man hört, man spricht, Kleiner Getto-Spiegel und Getto-Humor. Die Chronik wird damit wie eine Tageszeitung zu einem Textsortenensemble, das Raum für verschiedene, informierende wie auch – im weitesten Sinne – unterhaltende Textsorten lässt. Durch solche Rubriken wird die Getto-Chronik zugleich zu einer Textsortenvariante der Textsorte Chronik, in der nicht nur Ereignisse berichtet, sondern auch feuilletonistisch kommentiert und umgedeutet werden.13 Der einzigartige Charakter des Textes soll durch die Edition nicht geglättet, sondern hervorgehoben werden. Diese editorische Vorentscheidung wirft jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten auf, von denen einige wiederum mit der besonderen Schreibsituation verbunden sind. Da ein nicht eben geringer Teil der Einträge von den Chronisten diktiert und von „Sekretärinnen“ in die Maschine getippt wurde, sind die Texte anfällig für Hör- und Schreibfehler. Viele Einträge wurden später von Hand korrigiert, aber keineswegs alle. Eine unbekannte Zahl korrigierter Durchschläge dürfte zudem verloren gegangen sein. Offensichtliche Tippfehler wurden daher in der Edition stillschweigend korrigiert.14 Schwer fällt die Entscheidung dort, wo eine zeitweilig im Archiv beschäftigte „Sekretärin“ stark landschaftlich geprägte Schreibformen verwendet. So finden wir etwa Abschnitte mit vielen ostmitteldeutschen Besonderheiten wie etwa Entrundungen des Typs endgiltig. Solche Eigenheiten werden in der Edition bewahrt, um die Heterogenität des Textes nicht zu überdecken. An solchen Stellen zeigt sich, dass Überlieferungsgeschichte von Texten aus dem Holocaust immer zugleich auch Opfergeschichte ist. _____________ 13 14
Man vergleiche dazu ausführlicher die in Anm. 3 genannte Literatur. Zur Schreibsituation der Chronisten und weiteren editorischen Problemen vgl. Leibfried / Turvold (2007, Bd. 5, 205ff.).
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Aber nicht nur die Schreiberinnen, auch die Chronisten selbst bringen in nicht geringem Maße regionalen Sprachgebrauch in die Chronik ein. Das zeigt sich an vielen Lexemen, meist Fremdwörtern, die aus der österreichischen Amts- und Verwaltungssprache stammen. Sie gehören, da über Wörterbücher meist auch in ihren graphischen Variationen eindeutig identifizierbar, nicht zur Gruppe der editorischen Zweifelsfälle. Dazu zählen eher morphologische Abweichungen von der deutschen Standardsprache, etwa Pluralbildungen wie Läger statt Lager und Wägen statt Wagen oder das Wortbildungsmorphem -hältig statt -haltig, die für die oberdeutsche Herkunft der Chronisten kennzeichnend sind. Noch heute sind für das österreichische Deutsch unter anderem folgende Erscheinungen charakteristisch:
das grammatische Geschlecht der Substantive 15
die Aussprache bzw. Schreibung von Fremdwörtern 16
Fugenelemente in der Komposition. 17
Für all diese Merkmale lassen sich in der Chronik – in unterschiedlicher Dichte und Häufigkeit – Beispiele finden, etwa Fabrikszigarette statt Fabrikzigarette, der Kartoffel statt die Kartoffel oder Fremdwortschreibungen wie Brochen 'Broschen', Emmission, Plaidoyer, Restringtion und Strapazzen. Besonders auffällig sind die immer wiederkehrenden Schwankungen im Kasusgebrauch, insbesondere bei der Verwendung von Dativ und Akkusativ: Es verlautet, dass erst nach den 1. März derartige Bitten behandelt werden können (Chronik, 23.2.1943); 18 … bis in den späten Abendstunden hatte er nichts zu sich genommen (15.12.1943); Der Offizier stellte den Präses einige Fragen (3.1.1944); … und unbedingt vermeiden, dass jemand anders in dem Genuss dieser Wohltat gelangt (25.6.1943); Von diesem Gesichtspunkt aus interessiert ihm nicht die Familie der Arbeitenden (16.10.1943); im Einklang zu bringen (5.1.1944); im Umlauf gesetzt (22.2.1944); … wobei die unbeteiligten Zuschauer der Magen knurrte (19.4.1943).
Nur ganz selten sind diese Abweichungen in einem anderen Textzeugen korrigiert worden, so etwa „Küchenpersonal in frischer, sauberer Kleidung wartete bei vollen Kesseln, Pfannen sozusagen auf den [in einer anderen Fassung korrigiert: aus dem] Gongschlag“ (25.6.1943). Es gehören hierher auch die Adverbvarianten hieher, hiefür oder hiemit als Kurzformen statt der seit Adelung üblichen hierher, hierfür, hiermit. In _____________ 15 16 17 18
Vgl. Ammon (2004, LXIII-LXXI). Vgl. ebd., LIX-LXII. Vgl. ebd., LXXIIf. Hervorhebungen durch J.R. – Alle Belege aus der Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt (wie Anm. 1). Man vergleiche auch Riecke (2007, 191ff.).
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der Chronik sind sie annähernd der Regelfall. Solche Kürzungen finden sich durchaus schon im Althochdeutschen, sind bei Luther die Regel, bei Goethe noch – gegen Adelung – in der Überzahl. Typisch südost-deutsch ist auch die Verwendung von wieviel, soviel statt wieviele, soviele auch dann, wenn kein Adjektiv mit klarer Kasuskennzeichnung folgt. In den in Wien verfassten Tagebüchern Elias Canettis, der als gebürtiger Bulgare Deutsch nur aus einer Grammatik gelernt hat und daher ein exzellentes StandardDeutsch schreibt, ist dieser Gebrauch von wieviel nebenbei bemerkt das einzige regionalsprachliche Merkmal. Alle diese Merkmale prägen den Text nachdrücklich und sind deshalb nicht an die Normen des Gegenwartsdeutschen in Deutschland angepasst worden. Eine solche Entscheidung wäre auch deshalb nicht zu verantworten gewesen, weil zum Zeitpunkt der sprachlichen Sozialisation der Chronisten, also etwa im Zeitraum um das Jahr 1900, selbst die Grammatiken und Sprachratgeber in der Orthographie und Formenbildung zahlreicher Wörter schwanken. Und dies verstärkt sich umso mehr, je weiter man sich von den duden-geprägten orthographischen Zentren des ostmitteldeutschen Raumes entfernt. Die Durchsicht der Chronik gibt viele Hinweise darauf, dass die Art eines großen Teils der Abweichungen tendenziell dem entspricht, was sich beispielsweise auch für den Sprachgebrauch Franz Kafkas sagen lässt.19 Hier kommt hinzu, dass einzelne Formen – wie etwa in dem Satz „ich sende auch heute die Zeitung, Äpfel und paar Nüsse“ im so genannten Prager Deutsch unter dem Einfluss des Tschechischen entstanden sein dürften.20 Man vergleiche: „Das Gemüse / Kopfsalat / klein geschnitten mit paar Kartoffeln und wenig Wasser weichkochen“ (21.6.1943). Heutigen Kennern der deutschen Gegenwartssprache erscheinen solche Sätze ungrammatisch, sie sind jedoch nur Bestandteil eines anderen Schreibusus. In die Edition Eingang gefunden haben auch eine ganze Reihe weiterer Abweichungen, die jedoch beim derzeitigen Forschungsstand nicht ausschließlich als regionale Abweichungen gedeutet werden dürfen. Hier handelt es sich um einige syntaktische Besonderheiten, die heute in Deutschland und Österreich als ungewöhnlich empfunden werden. Dazu gehören die so genannte ‚Inversion nach und‘ sowie einige Auffälligkeiten bei der Kongruenz von Subjekt und Prädikat. Zunächst einige Beispiele für die Inversion nach und:21 _____________ 19 20 21
Vgl. dazu Bauer (2007, 42ff.); Blahak (2007, 79ff.). Julie Kafka an Franz, zitiert nach Bauer (2007, 59). Maßgeblich zur Inversion nach und ist noch immer Behaghel (1932, 30ff.), der die Konstruktion bereits 1932 als „veraltet“ einstuft. Vereinzelte Beispiele finden sich allerdings, abgesehen von den Buddenbrooks auch in Thomas Manns Josephs-Roman und im Dr. Faustus.
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Der Mann wurde den Behörden ausgeliefert und sind im Zusammenhang mit dieser Affäre schon 180 Personen im Getto verhaftet worden (15.2.1943); Der Transport hätte in den heutigen Morgenstunden abgehen sollen und stand die Gruppe bereits reisefertig im Hofe des Zentral-Gefängnissen (9.3.1944); Die Transporte fahren jeweils um 7 Uhr früh ab und muss mit dem Einladen um 6 Uhr früh begonnen werden (18.6.1944); Dortselbst werden die Möbel, Hausgeräte, Waren, Wäsche, Kleider u.s.w. geschätzt, und wird der Gegenwert bar ausgezahlt (20.6.1944).
Damit verwandt sind Sätze, in denen das Pronomen fehlt: Der Preis für den Talon beträgt Mk. 2,- und werden den Betrieben schon in den nächsten Tagen zugestellt (8.11.1943)
Vereinzelt erscheint die Inversion auch nach sondern: Ab nächster Woche werden diese Trauungen nicht mehr am Kirchplatz 4 stattfinden, da der hiezu gewählte Saal sich als zu klein erwies, sondern wird der Präses im Kulturhause die heiratslustigen Paare zusammenführen (27.12.1942).
Die Chronisten verwenden darüber hinaus immer wieder auch Konstruktionen, in denen keine Kongruenz von Subjekt und Prädikat besteht. Das findet sich fast immer in Verbindung mit Substantiven wie Teil oder Anzahl, auf die ein Prädikat im Plural folgt. Etwa in: … und referierte, so dass noch ein Teil dieser Personen eine Zuteilung erhielten“ (18.4.1943); Es verbreitete sich sofort das Gerücht, dass wieder eine grosse Anzahl von Maennern zur Arbeit ausserhalb des Gettos angefordert wurden (31.8.1943).
In anderen Fällen richtet sich das Prädikat nach dem Objekt, so in: Der bekannte Spezialarzt Dr. Mazur, den der Praeses seinerzeit aus Warschau ins Getto gebracht hat, ging gerade in der Richtung Siegfriedstrasse, als ein Auto mit zwei Herren der Getto-Verwaltung und A. Jakubowicz vorbei fuhren (7.10.1943).
oder Das Gebäude Hanseatenstrasse 63, wo sich die Privatwohnung des Praeses und der Familie Fuchs befinden (15.2.1944).
Man fühlt sich erinnert an eine veraltete Konstruktion des Englischen vom Typ „I and my colleges are discussing it“ bzw. „My colleges and I am discussing it“, wo Singular oder Plural nach dem Prinzip nearest to the predicate verteilt wird. Für das Beispiel „Das Feuer wurde erstickt und die Kamine gefegt“ (7.4.1944) gilt, dass sich das Prädikat nach dem ersten Substantiv richtet. Beim zweiten Beispiel „Aber hundert Fälle, die komplizierter liegen, weil Familie mit Familie zusammenleben, sind noch ungelöst“ (5.6.1944), ist ebenfalls das erste Substantiv maßgebend, aber hier könnte für weil Familie mit Familie zusammenleben auch an das Phänomen des Mengenplurals gedacht werden, das im Englischen etwa in Sätzen wie: „The police are coming“ auftritt.
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Auffällig ist schließlich auch die Flexion des Wortes Kartoffel, das nicht durchgängig, aber doch in gewisser Häufigkeit dann nicht flektiert wird, wenn eine unbestimmte Menge zum Ausdruck gebracht werden soll. Ein Beispiel für viele: „Das Getto atmet auf und mit jedem Wagen Kartoffel, das über den Baluter Ring ins Getto rollt […]“ (17.7.1943). An dieser Stelle wurde ein sogar zunächst getipptes n (Kartoffeln) nachträglich gestrichen. Abweichend ist die Pluralbildung im Akkusativ häufig auch bei den Lebensmittel statt Lebensmitteln oder Instruktore statt Instruktoren. Die große Zahl an systematisch wiederkehrenden Abweichungen von der Norm der deutschen Gegenwartssprache lässt – insbesondere im Hinblick auf das historische (Prager) Deutsch Franz Kafkas – auf die Existenz eines vermutlich süddeutsch-österreichisch-habsburgisch geprägten Schreibusus schließen, der allerdings erst in Ansätzen untersucht ist. Wenn es neben dem preußisch-norddeutsch geprägten Duden-Deutsch eine Varietät der deutschen Standardsprache gab, dann ist auch in editorischen Zweifelsfällen ein größtmögliches Maß an Zurückhaltung geboten. Deshalb ist auch bei der Großschreibung von adjektivischen Komposita mit einem Substantiv als Bestimmungswort (Betrachtkommend, Knochenentkalkt), der Wiedergabe von Tageszeiten („Mittag 5 Grad Wärme“, Inzwischen ist es spät abends geworden“), dem Gebrauch des Genitivs („wegen Diebstahl“, „wegen Wiederstand“) oder im Fall von bestimmten Formen der Kürzung wie etwa „3 Lungenentzündung“ oder „3 Tuberkul. Gehirnhautentzündung“ statt „3 Fälle von Lungenentzündung“ oder „3 Tuberkul. Gehirnhautentzündungen“ der Sprachgebrauch des Originals bewahrt worden, auch dann, wenn er wegen der komplizierten Schreibsituation selten einheitlich ist. In all diesen Fällen ist die Menge der gleichartigen Abweichungen dennoch so groß, dass nicht von Fehlern oder Irrtümern im herkömmlichen Sinne gesprochen werden kann.
4. Resümee Die Texte aus dem Getto Lodz / Litzmannstadt besitzen eine Reihe lexikalischer, besonders aber auch grammatischer Merkmale wie den spezifischen Gebrauch des Dativs statt des Akkusativs oder die anders gesteuerte Kongruenz von Substantiv und Prädikat, die zur Zeit der Abfassung der Chronik nicht Bestandteil der Standardsprache waren. Die Autoren haben selbst, soweit sich dies heute rekonstruieren lässt, vor ihrer Deportation diese Merkmale nicht verwendet, sondern sich exakt an die geltende Standardnorm gehalten. Ganz offensichtlich haben die Chronisten versucht, sich auch sprachlich von dem Deutsch ihrer nationalsozialistischen Zeitgenossen zu unterscheiden. Die sprachliche Variation insbesondere in der
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Jörg Riecke
Chronik des Gettos Lodz / Litzmannstadt kann daher als eine Art sprachlichen Widerstandes gedeutet werden. Die Getto-Chronik wäre dann der letzte Zeuge einer südlichen Varietät der deutschen Standardsprache, die von ihren Autoren, assimilierten modernen Juden des 20. Jahrhunderts, eigentlich schon aufgegeben war, aber noch einmal eingesetzt wurde, um sich vom nationalsozialistisch kontaminierten Deutsch der 40er-Jahre abzugrenzen. Es gehört zu den vordringlichen Aufgaben der Sprachgermanistik, diese verlorene Varietät genauer zu untersuchen.
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Grammatische Variation in einer Chronik
1039
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Das simulierende es Zur valenztheoretischen Beschreibung des nicht-phorischen
es am Beispiel eines neuhochdeutschen Textes
Dániel Czicza (Kassel)
1. Einleitung Im Untertitel ihres 1995 in der Deutschen Sprache erschienenen Aufsatzes bezeichnete Gisela Zifonun das nicht-phorische es als „Prüfstein grammatischer Theoriebildung“. Dies spiegelte die Tatsache wider, dass der eine „Zweig“ der einschlägigen Forschung sich intensiv mit dem syntaktischen Status von es und dessen theoretischer Beschreibung und Erklärung auseinandergesetzt hatte, was Konsequenzen für die jeweilige Grammatiktheorie nach sich gezogen hat.1 Ein anschauliches Beispiel hierfür war und ist die Behandlung von es in generativen Arbeiten, die dort einerseits zu der Annahme eines Wandels der strikten Subkategorisierung bzw. verschiedener Basisgenerierungsmöglichkeiten bei Verben führte (vgl. bspw. Pütz 1975, Lenerz 1985 und Cardinaletti 1990), andererseits die Etablierung leerer Kategorien („dummy“ oder „empty category“, vgl. Hoeing 1994) nach dem so genannten Leerstellenprinzip bewirkte, was wiederum bekanntlicherweise einen wesentlichen Beitrag zu der Diskussion über Position und Generierung des Subjekts in der X-bar-Theorie leistete (vgl. dazu Haider 1993, 132ff.). Mit Zifonun (1995, 59) wird an dieser Stelle die Ansicht vertreten, dass die vorfindlichen generativen Beschreibungen des nicht-phorischen es nicht im Stande sind, dessen oberflächensyntaktisch ermittelbares grammatisches Verhalten adäquat zu erfassen. Den eingangs erwähnten Gedanken Zifonuns aufgreifend ruft daher der vorliegende Beitrag eine andere Grammatiktheorie, nämlich die Valenztheorie, zu Hilfe und setzt sich zum Ziel, _____________ 1
Der andere „Zweig“ ist gekennzeichnet durch Versuche, die verschiedenen es-Gebrauchsweisen zu klassifizieren, vgl. u.a. Pütz (1975), Admoni (1976) und Askedal (1990).
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Dániel Czicza
1. den Begriff der „Valenzsimulation“ (Ágel 2000a, 229) auf die Beschreibung des nicht-phorischen es anzuwenden und daran anknüpfend 2. den Status des Korrelat-es zwischen phorischen und nichtphorischen es-Vorkommen zu bestimmen. Die folgenden Überlegungen bilden einen Teil einer größeren Arbeit, in der eine umfassende funktional-grammatische Beschreibung des esGesamtsystems2 im Neuhochdeutschen auf empirischer Basis unter Berücksichtigung neuester grammatiktheoretischer Ergebnisse angestrebt wird. Als Materialbasis für die kommende Darstellung dient ein neuhochdeutscher Text aus dem 18. Jh. (Nehrlich 1723 / 1997), der die Aufzeichnungen eines Handwerkers im Zusammenhang mit einem religiös motivierten Streit im späten 17. Jh. beinhaltet. Der Beitrag gliedert sich in vier Teile: Zunächst sollen die beiden Grundtypen, das phorische und das nicht-phorische es, kurz dargestellt werden. Im Anschluss daran wird der Begriff der Valenzsimulation erklärt, wobei zwei Typen der Simulation angenommen und beschrieben werden. Darauf folgt ein Kapitel zum Korrelat-es, in dem ein möglicher Weg der Integration dieser esGebrauchsweise ins es-Gesamtsystem und eine Erweiterung bzw. Präzisierung der Valenzsimulationstypologie vorgeschlagen werden. Schließlich werden die Ergebnisse zusammengefasst und Desiderata formuliert.
2. Phorisches und nicht-phorisches es In der Forschungsliteratur zu es wird von zwei Grundtypen ausgegangen, von einem phorischen und einem nicht-phorischen (vgl. u.a. Admoni 1976 und Askedal 1990): (1)
so zeigte ichs auch meiner Frau, die sagte je das schöne buch, wo habt ihr den das geld genommen darzu […] (145)
(2)
aber ich muste wartten biß es Tag war. (69)3
(1), der „systematische Normaltyp“ (Askedal 1990, 214), repräsentiert den phorischen Typus. Dieses es-Vorkommen verfügt über eine Referenzfunktion, während dies in (2), einem Beispiel mit impersonalem es, nicht der Fall ist. Diese Grobdifferenzierung wird funktional gerechtfertigt: Der phorische Typus ist textbezogen beschreibbar, erfüllt also wichtige Funk_____________ 2 3
Zu diesem Begriff und dem ihm zu Grunde liegenden Gedanken vgl. Admoni (1976, 225). In Klammern steht die jeweilige Zeilenzahl der Dateiversion des Textes.
Das simulierende es
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tionen im Text (Verweis auf vorerwähnte Einheiten unterschiedlichen Umfangs und verschiedener Art). Das nicht-phorische es ist grundsätzlich ein formales Element mit (in bestimmten Fällen auch semantisch motivierter)4 syntaktischer Funktion. Weitere phorische Gebrauchsweisen von es sind (3) und (4), als nicht-phorisch gelten neben (2) auch (6), (7) und (8), zu (5) s. weiter unten: (3)
Es war der Herr […] (412)
(4)
ach meine liebe Mutter hat grose liebe und sorge vor mich, ach ich kan es dem lieben Gott und ihr nicht gnug dancken. (189)
(5)
es trug sich aber einmal zu, das ich beÿ meiner tochter, welche noch durch Gottes gnade lebet, des Abends gantz alleine war [...] (1814)
(6)
es beschweret sich Ja nimand in der gantzen gemeinde über ihn […] (838)
(7)
So bitter herbe und grausam ist mirs hernach vom teuffel [...] (478)
(8)
und wie es mir noch beÿ meinen Kindern ergehen wird, sol mir Nun meine dochter in meinen seligen abschied die augen noch zu drücken […] (2143)
In Anlehnung an Admoni (1976) und Czicza (2003) können die oben stehenden es-Vorkommen als (auch grammatisch markierte) Stufen der Referenz angesehen werden, wobei zwischen (1) und (3) sowie (4)und (5) eine „Abnahme der konkreten Dinglichkeit“ (Admoni 1976, 222) erfolgt,5 die dann bei (2) bzw. (6) bis (8) in der semantischen Leere von es endet. An dieser Stelle soll die phorische Dimension nur insofern differenziert werden, als gegenüber dem in Grammatiken (vgl. etwa Eisenberg 2006, 173) und der Praxis üblichen Begriff des Pronomens in Anlehnung an Schmidt (1987, 107) von einem pro-phrasalen (1), (3) und einem propropositionalen es (4) gesprochen wird. Dadurch wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass das phorische es nicht Wortkategorien, sondern syntaktische Strukturen (vor allem Nominalphrasen) oder syntaktischkategoriell schwieriger erfassbare Propositionen wiederaufnimmt. Für die nicht-phorische Dimension werden im Weiteren die Termini Vorfeld-es (vgl. Eisenberg 2006, 175; Beispiel (6)), Experiencer-Impersonalia (von _____________ 4 5
Vgl. Eisenberg (2006, 174). Mit den beiden Stufen „Identifizierungs-/Charakterisierungskonstruktion“ (Askedal 1990, 214), repräsentiert durch (3), bzw. „verallgemeinernd-summierend“ (Admoni 1976, 219), repräsentiert durch (4).
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Dániel Czicza
Seefranz-Montag 1995, 1279; Beispiel (7)) sowie fixes es6 (vgl. Zifonun 1995; Beispiele (2) und (8)) verwendet. Während in der heutigen Forschungsliteratur größtenteils Konsens darüber herrscht, das es in Beispielen wie (1), (3) und (4) bzw. (2) und (6) bis (8) als phorisch bzw. nicht-phorisch einzustufen,7 scheiden sich die Köpfe beim Korrelat-es (5). Zifonun (1995 bzw. 2001, 76) betrachtet das Korrelat-es z.B. als einen Typus ohne Phorik und bezeichnet es als „rein strukturelle[n] Verweis innerhalb des Satzes“, für Askedal (1990, 217) ist es dagegen ein Typ mit (Kata-)Phorik. Wie in Kapitel 4 zu zeigen sein wird, ist es möglich, das Korrelat-es als Zwischenstufe zwischen phorischem und nicht-phorischem es zu sehen, um dadurch das dichotomische Verortungsproblem in grammatiktheoretischer Hinsicht auch historisch vertretbar zu überwinden. Dass eine dichotomische Herangehensweise hier zu kurz kommt, zeigen die Überlegungen in Czicza (2003, 39).
3. Das nicht-phorische es als Valenzsimulation Unter grammatiktheoretischem Gesichtspunkt ist die Berücksichtigung valenztheoretischer Überlegungen in der es-Forschung nicht neu. So finden sich vereinzelt valenzielle Informationen u.a. bei Erben (1979), Askedal (1990) und Helbig / Buscha (2001, Kapitel 6) bzw. dependenziellvalenzielle in Eroms (2000, 188ff.). Für die Darstellung hier sind in erster Linie die Überlegungen Ágels (2000a, 228 ff.) relevant, da diese eine detailliertere Analyse nicht-phorischer es-Vorkommen bieten. Daher sollen sie im Folgenden dargestellt und weiterentwickelt werden. Ágel bettet seine Ausführungen zum nicht-phorischen es in den Kontext der strukturellen Valenzrealisierung ein (2000a, 228). Unter struktureller Valenzrealisierung versteht er „Formen und Typen der grammatischen Realisierung der Valenz in verschiedenen Einzelsprachen bzw. verschiedenen Varietäten derselben Einzelsprache [...]“ (2000, 105).8 Bezogen auf nicht-phorische es-Vorkommen geht es darum, dass die in der herkömmlichen Terminologie formal (vgl. etwa Duden 2005, 830) oder expletiv (vgl. etwa Eisenberg 2006, 174) genannten es-Subjekte (bzw. _____________ 6 7
8
Gelegentlich wird auch formales Subjekt- bzw. Objekt-es benutzt. Abgesehen etwa von der Annahme einer übernatürlichen Größe als Referenzpunkt im Hintergrund bei Behaghel (1923, 318), die im fixen es bei Witterungsimpersonalia (Typ: es regnet) zum Ausdruck kommt. Es ist wichtig zu betonen, dass es hier nicht um die kontextuell-situative Realisierung der Valenz, also um das Verhältnis von Valenz und Text geht, sondern um Fragen der Sprachstruktur und deren Verhältnis zur Valenz (ebd.).
Das simulierende es
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gelegentlich -Objekte)9 oberflächlich betrachtet so aussehen wie normale Erst- oder Zweitaktanten, es in der Tat aber nicht sind, da sie die normale Erst- bzw. Zweitaktantenrealisierung nur „simulieren“ (Ágel 2000a, 229), ohne dass dabei die betroffenen Verben über die entsprechende Valenzpotenz10 verfügen würden: Valenzsimulationen sind „als Nachahmungen von Valenzrealisierungsstrukturen ohne realisierte Valenz(potenz) zu definieren“ (Ágel 2000a, 229, Fußnote 27). Dass der Erst- bzw. Zweitaktant nur nachgeahmt wird, erkennt man daran, dass die formalen es-Subjekte und -Objekte „nicht Träger einer semantischen Rolle und in diesem Sinn semantisch leer“ sind (Eisenberg 2006, 174). In valenztheoretischer Begrifflichkeit heißt dies, dass auch die inhaltliche Spezifizität (INSP) der betroffenen Verben nachgeahmt wird, dass das es also in diesen Fällen „(auch) semantische Rollen simuliert, d.h. pseudo-agentiv oder pseudo-patientiv ist. Unter simulierter Valenz ist hier also (auch) +Pseudo-INSP zu verstehen“ (Ágel 2000a, 230).11 Das Paradebeispiel von Valenzsimulation stellen Witterungsverben (Typus: es regnet) dar. Im Sinne der obigen Ausführungen sind diese Valenzträger mit Simulations-es nullwertig, haben also kein Subjekt: „Des Subjekts Habitus wird gemimt, auch dort, wo es keines gibt“ (Faucher 1996, 46). Ágel (2000a, 230) thematisiert zwar vor allem Witterungsimpersonalia wie es regnet / schneit / blitzt, geht aber in Anlehnung an Szatmári (1998) auch auf andere es-Typen wie das Vorfeld-es oder das es in passivisch interpretierbaren sich-lassen-Gefügen ein. Unter Rückgriff auf diese ersten Ansätze zur Ausdehnung des Valenzsimulationsbegriffes auf weitere esVorkommen sollen neben (6) bis (8) auch folgende Belege angeführt und als Beispiele für Valenzsimulation interpretiert werden: (9)
[...] als es nun rund in der stuben glimmete, so fingen hernach am ende rechte flammen /an zu brennen/, das es recht helle brande [...] (285f.)
(10) es gibt schon leute in unserer gemeinde [...] (535) (11) So waren Nun Meine eigene geschwistern (mit denen ichs doch ieder Zeit ohn falsch mit ihnen meinete) die ersten über mir, durch Gottes Verhencknis an gesporet [...] (2046) In all diesen Fällen liegt ein semantisch leeres, Agentien bzw. – in (11) – Patientien nachahmendes es vor, wobei diese Belege in semantischer Hin_____________ 9 10
11
Vgl. hierzu u.a. die Beispiele im Duden (2005, 831). Unter Valenzpotenz ist die Fähigkeit von relationalen Sprachzeichen, die der Kategorie Verb angehören, zu verstehen, „die semantische und syntaktische Organisation des Satzes zu prädeterminieren“ (Ágel 2000a, 105). Vgl. auch den Begriff „Pseudoaktant“ im Duden (2005, 830).
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sicht recht heterogen sind, man findet hier es-Vorkommen, die Naturerscheinungen, Zeitverhältnisse, Existenz usw. zum Ausdruck bringen (vgl. auch Helbig / Buscha 2001, 398ff.). Und obwohl sie in Anlehnung an Ágel (2000a, 229) alle Valenzsimulationen darstellen, sind sie nicht nur semantisch heterogen, sondern auch syntaktisch. Auch Ágel (ebd.) räumt ein, dass man hier „den teils differierenden Eigenschaften der nicht phorischen es-Typen Rechnung tragen [...]“ sollte. So stellt Szatmári (1998, 235ff.) bezogen auf die von ihr untersuchten sich-lassen-Fügungen und andere es-Vorkommen (s. o.) fest, dass verschiedene Stufen der Subjekthaftigkeit von es anzunehmen sind in Abhängigkeit von dessen obligatorischer oder fakultativer Setzung bzw. Nicht-Realisierung im Vor- und Mittelfeld. Tatsächlich gilt, dass das Vorfeld-es bei Besetzung des Vorfeldes durch ein anderes Element obligatorisch wegfällt, während das fixe es in jeder Position vorhanden sein muss12 und das es in sich-lassen-Gefügen unterschiedliche Verhaltensmuster zeigt (ebd.). An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass unter „Subjekt-“ in „Subjekthaftigkeit“ im Sinne der obigen Überlegungen simulierte Subjekte zu verstehen sind. Um dem heterogenen Wesen nicht-phorischer es-Typen Rechnung zu tragen, zieht Ágel (2000a, 230) die Grammatikalisierungstheorie heran und postuliert eine Skala mit zwei „Extremen“: Das eine Extrem stellen dabei primär nullwertige VT [Valenzträger, D.C.] dar, deren Valenzsimulation voll grammatikalisiert ist (Typ: es blitzt). [...] Das andere Extrem mit es nur im Vorfeld bilden Sätze, bei denen die Valenzsimulation keine INSP-Simulation beinhaltet.13
In der Übergangszone zwischen diesen beiden Polen befinden sich nach Ágel (ebd.) Mittelkonstruktionen, darunter auch die von Szatmári (1998) untersuchten sich-lassen-Konstruktionen mit optionalem es (Typus: Hier lässt es sich gut leben.) und Experiencer-Impersonalia mit (ebenfalls) optionalem es (Typus: mich friert (es) und (7)). Eine solche skalare Abbildung der Verhältnisse ist zwar einleuchtend, lässt sich aber historisch schwer untermauern, und zwar aus zwei Gründen: 1. Das funktionale Spektrum von es ist bereits zu althochdeutscher Zeit recht breit (s. Große 1991). 2. Es ist schwierig festzustellen, welcher Pol der von Ágel postulierten Skala den Anfang und welcher das Ende des das nicht-phorische es betreffenden Grammatikalisierungsprozesses darstellen soll. _____________ 12 13
Kritisch kann hier angemerkt werden, dass es Verbspitzenstellungsphänomene gibt, bei welchen dies nicht gilt, vgl. Auer (1993, 196f.). Für diesen letzteren Fall vgl. (6).
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Denn den Überlegungen Ágels entsprechend sollte das Vorfeld-es den Anfang und der voll grammatikalisierte Typ der Witterungsimpersonalia das Ende der Skala bilden, wobei u.a. die Experiencer-Impersonalia mit es eine Zwischenstellung einnehmen würden. Dies ließe sich jedoch mit dem in der Fachliteratur dokumentierten Aufkommen der betroffenen esTypen nicht in Einklang bringen. Denn einerseits steht dort, dass das fixe es bei Witterungsverben seit althochdeutscher Zeit belegt ist (vgl. etwa Behaghel 1923, 316f.), während die Experiencer-Impersonalia mit es erst seit mittelhochdeutscher Zeit präsent sind (vgl. Ebert 1978, 55) und dann in neuhochdeutscher Zeit im Rahmen der Generalisierung der Subjektskodierung umstrukturiert werden, sodass ein semantisch leeres es eingeführt wird (vgl. Ágel 2000b, 1872 und von Seefranz-Montag 1995, 1279). Andererseits wird in der einschlägigen Fachliteratur angenommen, dass das Vorfeld-es aus dem Korrelat-es abzuleiten ist (vgl. Brugmann 1917, 15ff., Große 1991, 31 und etwas differenzierter14 auch Vogel 2006, 190). Dabei ist das Vorfeld-es seit mittelhochdeutscher Zeit belegt (vgl. Ebert 1978, 57). Um die entsprechenden Grammatikalisierungswege und -stufen eindeutig bestimmen zu können, müsste das oben erörterte sprachhistorische Problem gelöst werden. Bevor dies geschieht, soll eine mögliche Präzisierung des Valenzsimulationsbegriffs bezüglich des nicht-phorischen es vorgenommen werden, um im Anschluss daran den chronologischen Einwand erneut aufzugreifen und eine Antwort auf die offenen Fragen zu bieten. Ausgehend von den oben kurz dargelegten differierenden syntaktischen Merkmalen nicht-phorischer es-Vorkommen werden in einem ersten Schritt zwei Valenzsimulationstypen angenommen: •
Valenzsimulationstyp 1: positional: (6), (12)
•
Valenzsimulationstyp 2: konstruktionell: (2) und (7) bis (11)
Gestützt wird diese Unterscheidung dadurch, dass gegenüber den Belegen (2) und (7) bis (11) im Falle des Vorfeld-es „nur“ die Position des Subjektes simuliert wird (keine INSP-Simulierung), nicht aber seine semantische Rolle. Zifonun (2001, 81) spricht hier von „rhematisierenden Präsentationskonstruktionen“, die nicht der Wiederauf- oder Vorwegnahme von Bezugsobjekten dienen, sondern die Subjektposition am Satzanfang simulieren, um dadurch das Subjekt zu rhematisieren: _____________ 14
Vogel nimmt an, dass heutigen Spaltsätzen (Es ist Peter, der heute nicht kommt.) ähnliche Fügungen mit textreferentiellem es, Kopula und Prädikatsnomen den Ausgangspunkt bildeten, wobei im Falle von Vollverben statt Kopula eine syntaktische Reanalyse stattfand, sodass das ehemals echte Subjekt-es zu einem reinen Vorfeldmarker wurde.
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(12) es filen mir wunderlige zerstreungen in meinen gedancken ein die lieffen dag und nacht um wie wie Mühlen [...] (1686) Vogel (2006, 238) geht weiter und bringt das Vorfeld-es mit (sekundärer) 15 Thetizität in Zusammenhang. Thetizität ist ein monolithisches Konzept, das durch eine reine Satzaussage charakterisiert ist (vgl. Vogel 2006, 114). Typische Beispiele hierfür sind Witterungsimpersonalia und in einem zweiten Schritt auch Passiva. Das Pendant hierzu stellt Kategorizität dar, das ein dichotomisches Konzept darstellt, „das sich funktional gesehen auf Satzgegenstand und -aussage gleichermaßen stützt [...]“ (ebd.). Typische Beispiele hierfür sind Aktivsätze mit transitivem Verb (und Agens und Patiens). Während Thetizität konzeptuell grundsätzlich mit „EventZentriertheit“ (reine Prädikation mithilfe eines Geschehensverbs) verbunden ist, sind kategorische Sätze grundsätzlich mit „Entity-Zentriertheit“ (Satzgegenstand) verknüpft (ebd.). 16 Vogel (2006, 237) führt zudem aus, dass die Markierung von sekundärer Thetizität durch ein es im Vorfeld auch kategorische Sätze wie (12) erfasst. In diesem Sinne wäre also die Funktion des Vorfeld-es eine doppelte, nämlich Rhematisierung und Markierung von (sekundärer) Thetizität. An (12) ist außerdem zu sehen, dass die Simulierung des Erstaktanten nur positional erfolgt, denn einerseits gibt es im Satz ein nicht-simuliertes, „echtes“ Subjekt im Mittelfeld („wunderlige zerstreungen“), andererseits korrespondiert dieses echte Subjekt mit dem finiten Verb („filen“) in Numerus, nicht das es am Satzanfang. Subjektlose Passivsätze mit Vorfeld-es stellen einen sozusagen noch perfekteren Fall der positionalen Valenzsimulation dar, da sie kein „echtes“ Subjekt enthalten. Sie haben trotzdem insofern einen anderen Status als (6) oder (12), als es mit dem Finitum bezüglich Numerus in der Tat korrespondiert: (13) Es wird gesungen. (14) Es wird gelächelt. 17 Dies ist allerdings nur eine „Scheinkorrespondenz“, denn bei anderer Vorfeldbesetzung muss das es verschwinden, was für „normale“ Subjekte nicht gilt. Daher wird hier in Anlehnung an Zifonun (1995, 44) von einem _____________ 15 16 17
In diesem Fall ist „sekundär“ sowohl strukturell als auch historisch zu verstehen; vgl. Vogel (2006). Vgl. hierzu auch die Unterscheidung von Geschehens- und Handlungsperspektive in Welke (2002). Die Belege wurden der Monografie von Vogel (2006, 234) entnommen. In dem der vorliegenden Arbeit zu Grunde liegenden Korpustext gibt es keine subjektlosen Passivsätze mit Vorfeld-es.
Das simulierende es
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Standardwert ausgegangen, der die 3.Ps.Sg. ist und der durch ein zusätzliches, (notgedrungen) korrespondierendes Vorfeld-es ergänzt werden kann, wenn das Vorfeld nicht anderswie besetzt wird. Subjektlose Passivsätze unterscheiden sich von subjekthaltigen, nicht impersonalen aktivischen (oder auch passivischen) Sätzen des Weiteren auch darin, dass sie „eventzentraler“ sind (vgl. dazu oben bzw. Vogel 2006, 226, 234). Dieses recht komplizierte, in Vogel (2006) aber auf ausgezeichnete Weise systematisierte Bild soll hier nicht weiter präzisiert werden,18 sondern es wird lediglich festgehalten, dass sich aktivische und passivische Sätze mit Vorfeld-es zwar in wesentlichen Merkmalen unterscheiden, aber unter dem Aspekt der Valenzsimulation doch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Im Falle von Sätzen wie (2) und (7)-(11) wird mit Ágel (2000a, 230) und entsprechend den Ausführungen oben davon ausgegangen, dass diese eine INSP-Simulation aufweisen. Auch diese Gruppe ist heterogen und muss weiter ausdifferenziert werden. Zunächst werden die einzelnen esVorkommen dargestellt, dann wird die Frage nach der Konstruktionalität und somit auch der Begriff konstruktionelle Valenzsimulation geklärt. Experiencer-Impersonalia (7) können mit oder ohne es stehen, vgl.: (15) [...] den ich wuste selber nicht, wie mir war, wen ich auff der gaßen gieng [...] (391)19 Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie primäre Thetizität darstellen (vgl. Vogel 2006, 225) und kein persönliches grammatisches Subjekt enthalten. Zunächst erscheint im Mittelhochdeutschen das Vorfeld-es in solchen Konstruktionen20 (vgl. ebd., 194), später, in der neuhochdeutschen Periode, in der dann der Prozess der Subjektivierung den ganzen Bereich der Thetizität erfasst, wird ein formales Subjekt-es eingefügt, das auch im Mittelfeld erscheinen kann, ja in bestimmten Fällen tendenziell zunehmend sogar muss (vgl. Wegener 1999, 192). Ágel (2000b, 1872) bezeichnet diesen Prozess als Umkodierung. Dabei können im Deutschen zwei Typen von Umkodierungen unterschieden werden (ebd.): 1. Der Zweitaktant wird nominativiert, vgl. mir fehlt + Gen → mir fehlt + Nom; 2. Der akkusativische / dativische Erstaktant wird nominativiert, vgl. mich friert → ich friere. Ein wichtiger Vorgang ist hierbei die Einführung von Formalsubjekten (vgl. von Seefranz-Montag 1995, 1279), was „die formale Anpassung des Satzmusters an den 1. Umkodierungstyp“ (Ágel 2000b, 1872) bedeu_____________ 18 19 20
Bspw. könnte man es ausgehend von der Valenz der beteiligten Verben in (13) und (14) hinsichtlich eines implizierten oder fehlenden Patienssubjekts weiter ausführen. Zu weiteren Beispielen mit anderen Verben (mich friert usw.) s. von Seefranz-Montag (1995) und Vogel (2006). Dies würde dort eine positionale Simulation bedeuten.
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tet. So erscheint es in diesen Experiencer-Konstruktionen. Zu seiner Reinterpretation als Nominativ trägt die Veränderung (Vereinfachung) in seiner Morphologie bei: der Genitivschwund in seiner Flexion. Es handelt sich dabei um „den Zusammenfall der mittelhochdeutschen Laute z und s und die damit erfolgte Neutralisierung von Gen. es und Nom. / Akk. ez“ (Ebert 1978, 55f., vgl. auch von Polenz 2000, 154). Im Gegensatz zum teils fakultativen es bei Experiencer-Impersonalia ist das es in (2) und (8) bis (11) obligatorisch. Die Obligatorik des esVorkommens in (2) und (8)-(9) entspricht der in der Fachliteratur bekannten sprachhistorischen Tendenz zur Zweigliedrigkeit bzw. (wenn auch scheinbaren) Subjekthaltigkeit deutscher Sätze. Die Zunahme im Gebrauch des fixen es zuerst in impersonalen Konstruktionen wie es regnet und (2) ist seit althochdeutscher Zeit festzustellen (vgl. Ebert 1978, 55). Den Grund dafür sieht man gewöhnlich in der Tendenz zur systematischen Zweiteilung des Satzes in Subjekt und Prädikat (vgl. ebd., 53). In Anlehnung an Faucher (1996, 38f.) wird in der vorliegenden Arbeit jedoch die Ansicht vertreten, dass nicht das Schema Verb-Subjekt ausschlaggebend ist. „Zwingend geworden ist vielmehr die Implikatur: wenn konjugiertes Verb, dann auch ein numerus-kompatibler Nominativ, (der u.U. eine Subjektfunktion markieren kann, aber nicht muss)“. Dafür spricht auch, dass bei Infinitiven es fehlen konnte (vgl. Behaghel 1928, 450). Den Gebrauch eines fix werdenden, simulierenden es auch bei anderen Valenzträgern, nämlich so genannten okkasionellen Ereignisverben (Näßl 1996), findet man in Ansätzen schon im Althochdeutschen (vgl. ebd., 233). Okkasionelle Ereignisverben sind Konstruktionen mit subjektgeneralisierendem es, die „im allgemeinen ein bestimmtes Subjekt bei sich haben, also habituell ‚persönlich‘ konstruiert werden, aber mit dem Scheinsubjekt es in unpersönlicher aktivischer Konstruktion erscheinen können“ (ebd. 36). Eine Ausdehnung dieser „Strategie“ auf Verben, die unterschiedlichen Wortfeldern zuzuordnen sind (ebd. 91; Beispiele (8) und (9)), erfolgt allerdings erst ab mittelhochdeutscher und setzt sich fort in neuhochdeutscher Zeit. Ein weiteres Beispiel hierfür ist (16): (16) [...] endlich hörede etwas gantz dunckel bochen, ich lag aber stille, es bocht noch 2 oder 3 mal, so dachte ich, es were ein gespenst, endlich als es nicht wolte auff hören, und recht starck anschlug, so kroch ich heraus [...] (753) Dabei ergeben sich Veränderungen hinsichtlich der von der Valenzsimulation betroffenen Verben, bspw. wird die im mittelhochdeutschen verbreitete Gruppe von Bewegungen, Lichterscheinungen und akustische Phänomene ausdrückenden Verben (ebd. 249) um weitere (u.a. Geruchsverben, Emotionsverben) ergänzt, ja sogar so weitergeführt, dass auch
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Valenzträger mit menschlichem Subjekt erfasst werden können (ebd. 253). Begünstigt wird dieser Prozess auch dadurch, dass selbst beim phorischen es grammatische Restriktionen im Genus- (17) und Numerusbereich (18), die die Korrespondenz zwischen es und dem jeweiligen Bezugsglied betreffen, abgebaut werden können (vgl. hierzu ausführlich Czicza 2003 und 2004): (17) [...] doch hörete ich diesen schönen tohn noch lange, aber es verlohr sich immer weitter [...] (991) (18) [...] giengen sie in der hitten eine, assen und druncken, und namen silber, gold, und kleider, und gingen hin und verborgen es [...] (1274) In (17) haben wir es unter funktionalem Gesichtspunkt mit dem phorischen „Normaltyp“ zu tun, aber in grammatischer Hinsicht wird die Genuskorrespondenz (tohn – Maskulinum) aufgehoben. Der Grund dafür dürfte sein, dass der Autor dadurch auch mit dem schönen thon verbundene Gefühle und Eindrücke zum Ausdruck bringen, mitmeinen kann. Diese Art von Generalisierung des Subjekts wird in der Fortführung der Textstelle durch die beiden dieses beibehalten: (17') [...] ich kans aber itzo nicht recht beschreiben wie dieses so wunderschön, mit meinen leibligen augen und ohren hörete ich dieses nicht, sondern nach dem inner geiste [...] (992f.) In (18) finden wir zwar kein Subjekt-, sondern ein Objekt-es, aber aus dem Beispiel ist ersichtlich, dass durch es (statt etwa sie) eine Generalisierung stattfinden kann. Bezüglich der Impersonalia und der okkasionellen Ereignisverben lässt sich zusammenfassend sagen, dass durch die es-Valenzsimulation die primäre Thetizität der Impersonalia ausgedehnt wird auf einen sekundär thetischen Bereich, wo (u.a.)21 okkasionelle Ereignisverben entstehen. Bevor wir auf den gemeinsamen Nenner (konstruktionelle Simulation) der Belege (2) und (7)-(11) eingehen, sollen (10) und (11) aus dieser Gruppe noch kurz kommentiert werden. (10) ist ein Beispiel für das „PräsentativSyntagma“ es gibt (Weinrich 1993, 398). Dieser Fall muss deswegen getrennt behandelt werden, weil er historisch später entsteht22 und weder zu den primären Impersonalia noch zu den okkasionellen Ereignisverben gehört. Es ist eine feste unpersönliche Wendung (vgl. Näßl 1996, 32), _____________ 21 22
Vgl. hierzu Vogel (2006, 224). Das früheste häufigere Auftreten von es gibt wird ins 16. Jh. datiert (Newmann 1998, 307), aber „erst in neuhochdeutscher Zeit ist die Bedeutung zur generischen Existenzaussage hin ausgeweitet“ (Lenz 2007, 63f.).
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deren Entstehen mit der Grammatikalisierung des Verbs geben in Zusammenhang gebracht wird (vgl. Lenz 2007). Trotzdem ist auch hier die oben bereits beschriebene Generalisierung von es sichtbar (vgl. das Beispiel bei Ebert 1993, 347): (19) wann man Pulver auf die Pfanne schüttet, und die Luft aufsetzt, so gibt es einen grossen Knall […] Im obigen Beispiel ist der phorische Charakter noch erkennbar: „geben wurde in seiner ursprünglichen Bedeutung erzeugen, hervorbringen verwendet, es bezog sich zuerst als reine Anapher auf den sprachlichen Kontext“ (Scheibl 2000, 376; vgl. auch das Beispiel ebd.). Der simulierte Zweitaktant in (11) ist insofern hier zu behandeln, als hier auch Generalisierung vorliegt, wie bei Subjekte simulierenden esVorkommen, die keine konkreten oder persönlichen Subjekte darstellen (vgl. Impersonalia und okkasionelle Ereignisverben oben). Das Verb meinen mit fixem Objekt-es ist laut Digitalem Grimm (Lemma meinen, Bedeutung 5a) „seit alters bis auf heute sehr gewöhnlich“, es wird dort ein althochdeutsches Beispiel von Notker angeführt. In der Fachliteratur findet sich allerdings kein Hinweis darauf, dass man es auch beim fixen Objekt-es etwa mit einem produktiven Muster wie bei okkasionellen Ereignisverben zu tun hätte. An dieser Stelle wird der Begriff der konstruktionellen Simulation evident. Wir haben gesehen, dass die Belege (2) bzw. (7) bis (11) sich hinsichtlich zahlreicher Merkmale (Syntax, Semantik, Geschichte) unterscheiden. Abgesehen von (11) haben sie aber einen gemeinsamen Nenner: die Verbform 3.Ps.Sg. Diese Kategorie wird teils fakultativ (Experiencer-Impersonalia, (7)), teils obligatorisch (vgl. (2) und (8) bis (10)) um ein (valenz-)simulierendes es erweitert. In Anlehnung an Ágel (2003, 21f.) kann man davon ausgehen, dass hier „sekundär paradigmatisierte Valenzträger“ entstehen. Das bedeutet, dass die betroffenen Verben zwar Flexionsformen der ursprünglichen Verben sind, aber zugleich eine Flexionsform haben, die obligatorisch die 3.Ps.Sg. ist, sich nicht ändern kann und daher hier ein sekundäres Paradigma zum jeweiligen Verb angenommen werden kann. Solche sekundären Paradigmen sind eindeutig an eine bestimmte Semantik gebunden, nämlich an eine Geschehenssemantik oder Thetizität. Die Fügung [3.Ps.Sg. + (es)]23 mit Thetizitätsmarkierung ist somit eine besondere Verbindung von Form und Bedeutung, wobei die morphosyntaktischen und semantischen Besonderheiten nicht aus den Eigenschaften der einzelnen Bestandteile der Fügung abzuleiten sind, die klassische Definition von constructions in der construction grammar, vgl. Fillmore (1989, 20) und _____________ 23
Die runden Klammern weisen auf die Fakultativität bei Experiencer-Impersonalia hin.
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Fillmore / Kay / O’Connor (1988, 504). In Czicza (2007) habe ich diese es-Vorkommen ausführlich besprochen. Unter Rückgriff auf die vorangehenden Überlegungen gehe ich davon aus, dass die Valenzsimulation dieser es-Typen konstruktionell bedingt ist, und spreche im Falle von (2) und (8) bis (10) von konstruktioneller Valenzsimulation. Da zum formalen Objektes (11) keine so detaillierten Forschungen wie zum formalen Subjekt-es bekannt sind, muss hier auf seine Analyse verzichtet werden. Zum historischen Einwand bezüglich der Grammatikalisierung der Valenzsimulation (s. oben bzw. Ágel 2000a, 230) lässt sich nun auf Grund der Fachliteratur (s. oben) Folgendes sagen: •
Primäre Impersonalia (es regnet) sind seit althochdeutscher Zeit belegt und sind am ältesten.
•
Okkasionelle Ereignisverben erscheinen zuerst im Althochdeutschen, kommen häufiger aber erst ab mittelhochdeutscher Zeit vor.
•
Das Vorfeld-es erscheint im Mittelhochdeutschen.
•
Experiencer-Impersonalia erscheinen zunächst mit Vorfeld-es im Mittelhochdeutschen, „bekommen“ ihr konstruktionelles es aber erst später und werden in der neuhochdeutschen Periode umstrukturiert.
Möglich ist eine Entwicklung, während der die primären Impersonalia als Muster dienen, zu denen analog okkasionelle Ereignisverben gebildet werden. Die Grammatikalisierung würde in diesem Sinne innerhalb der Gruppe der okkasionellen Ereignisverben stattfinden, indem immer mehr verbale Wortfelder an diesem Prozess beteiligt sind, also die Generalisierung durch es auf andere Kontexte ausgeweitet wird, ein typischer Zug von Grammatikalisierungsprozessen. Zu berücksichtigen wären hier dann so genannte „context types“ (Diewald 2006), insbesondere für den Anfang und die Verbreitung wichtige „untypical“ und „critical contexts“ (ebd. 4). Als parallele Entwicklung dazu lässt sich das Aufkommen des Vorfeld-es als sekundärer Thetizitätsmarker betrachten (vgl. dazu Vogel 2006). Die Experiencer-Impersonalia ließen sich auf diese Weise ins System integrieren, da sie als primär thetische Fügungen zuerst ein zusätzliches Vorfeld-es bekommen, das entsprechend der zunehmenden (formalen) Subjektivierung deutscher Sätze umgedeutet werden kann.
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4. Das Korrelat-es Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das Korrelat-es als ein Fall von Valenzsimulation interpretiert und somit in das in Kapitel 3 dargestellte System integriert werden kann und als Übergang vom phorischen zum simulierenden es anzusehen ist. In einem ersten Schritt soll die grammatische Argumentation erfolgen, im Anschluss daran wird auf die sprachhistorischen Aspekte eingegangen. Zunächst sollen hier die einschlägigen Beispiele wiederholt werden: (4) ach meine liebe Mutter hat grose liebe und sorge vor mich, ach ich kan es dem lieben Gott und ihr nicht gnug dancken. (189) (5) es trug sich aber einmal zu, das ich beÿ meiner tochter, welche noch durch Gottes gnade lebet, des Abends gantz alleine war [...] (1814) Der Unterschied zwischen (4) und (5) ist in erster Linie formaler Natur. Beide stellen zwar einen pro-propositionalen Bezug her (vgl. Kapitel 2), leisten dies jedoch in unterschiedlicher Weise. Das es in (4) ist anaphorisch, das in (5) kataphorisch, wobei die Bezugnahme in (5) – gegenüber (4) – in einer festen Hauptsatz-Nebensatz-Struktur erfolgt. Genau das ist der Grund dafür, dass Zifonun (1995 und 2001) hier nicht mehr von Phorik spricht. Hinzu kommt allerdings noch folgendes Problem: Ob wir von einem Korrelat und damit von einem strukturellen Verweis ausgehen oder ein phorisches, verallgemeinernd-summierendes es (vgl. Admoni 1976) annehmen, dürfte vielfach von der Integriertheit des Nebensatzes abhängen. Bekannt sind nämlich so genannte abhängige Hauptsätze und uneingeleitete Nebensätze, die in einem Kontinuum zwischen eindeutiger Hypotaxe und eindeutiger Parataxe stehen, da sie nicht alle, sondern nur einige Hauptsatz- oder Nebensatzmerkmale (oder sogar nur ein einziges Merkmal) aufweisen (vgl. Auer 1998, 298f.). Die folgenden Belege sollen dies verdeutlichen: (20) [...] hir beÿ habe ich auch zu beseufzen, das mir auch oft (wie ichs den mercklich gespirt) von Satan recht greulige und unflattige treume sind eingeraunet worden [...] (1104) (21) [...] da sold ihr zu mir kommen, auch aus der gantzen gemeinde wer da wil, wir wollens eben so machen, wollen aus Johann Arnds Christenthum lesen [...] (512) Korrelate werden funktional definiert, indem man sie als Bezugselemente bezeichnet, aber formale Gesichtspunkte spielen ebenfalls eine Rolle, indem man sie als Elemente beschreibt, die in einem Hauptsatz vorkom-
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men und den nachfolgenden Nebensatz vertreten. Will man sich am Formalen festhalten, so widerspricht das bei (20)-(21) dem funktionalen Kriterium. Es ist anzunehmen, dass das es hier in gleicher Weise funktioniert, unabhängig davon, ob die Bedingung Hauptsatz + Nebensatz besteht oder nicht. Unter formalem Gesichtspunkt haben wir es in (20) mit einem Einschub zu tun (wie ichs den mercklich gespirt), zu dem das Segment das mir auch oft […] die satzförmige Zweitaktantenrealisierung (Objekt) darstellt. Dieser Zweitaktant tritt im Einschub in Form eines klitisierten Korrelats auf. Zugleich ist aber dieses Segment auch Objektsatz zum Hauptsatz hir beÿ habe ich auch zu beseufzen. Wohlgemerkt, der Einschub, in dem das Korrelat steht, hat nicht die Form eines Hauptsatzes. In (21) liegt ebenfalls kein Nebensatz zum Korrelat-es vor, sondern Verberst. Man müsste also den Korrelat-Begriff weiter fassen und zwischen verallgemeinernd-summierendem, phorischem es und Korrelat-es ein Kontinuum ansetzen, das auf der Unterscheidung zwischen Hypo- und Parataxe basiert und mehrere Stufen postuliert24 (vgl. hierzu ausführlicher auch Czicza 2004). Damit im Zusammenhang könnte auch der Frage nach der Obligatorik und Fakultativität des Korrelats – einem sowohl grammatiktheoretisch als auch didaktisch relevanten Problemfeld25 – nachgegangen werden. Da dies jedoch den vorliegenden Rahmen sprengen würde, wird auf die Diskussion an dieser Stelle verzichtet. Die obigen Überlegungen haben gezeigt, dass das Korrelat-es als Übergang vom phorischen zum nicht-phorischen es angesehen werden kann, indem die Annahme eines Korrelat-es von der grammatischen Verfestigung der beteiligten Propositionen abhängt, also davon, ob die grammatikalisierte Hauptsatz-Nebensatz-Struktur vorliegt oder nicht. Als Übergangsfall lässt sich das Korrelat-es somit auch als ein Fall von Valenzsimulation betrachten. Nach Eisenberg (2006, 176) ist dieses es „nicht eine selbständige Ergänzung, sondern bildet gemeinsam mit dem extraponierten Ausdruck das Subjekt“. In Anlehnung an diese Auffassung soll hier folgende Ansicht vertreten werden: Das es ist kein selbständiger Aktant, sondern bildet zusammen mit dem Nebensatz ein Diskontinuum. Es simuliert die Erst- oder Zweitaktantenrealisierung sowohl syntaktisch – indem es die nebensatzförmige Ergänzung im Hauptsatz vertritt und auf sie strukturell verweist – als auch semantisch (Simulierung der semantischen Rolle); die semantische Rolle bekommt der korrespondierende Nebensatz zugeschrieben. Das Korrelat-es als rein struktureller Verweis und als Va_____________ 24 25
Hinzu kommt hier auch noch die Frage nach der Ersetzbarkeit des es durch das, denn die Substituierbarkeit durch das scheint umso wahrscheinlicher zu sein, je mehr Hauptsatzmerkmale die jeweilige Konstruktion besitzt, vgl. die Überlegungen bei Pütz (1975, 60ff.). Vgl. hierzu u.a. Zitterbart (2002) und Kemme (1979).
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lenzsimulation stellt somit eindeutig den Übergang vom phorischen zum nicht-phorischen es-Typ dar. Der Übergangscharakter des Korrelat-es und sein Status als Valenzsimulation kann auch durch Beispiele mit es gilt und es heißt bestätigt werden: (22) Nun gilt es, Zeit zu gewinnen.26 (23) [...] da war recht in mir wirklich und empfindlich, wen es heist In Weinstock Jesu stehen wir, gepfropft, und gantz mit Gott vereinet [...] (398) (24) [...] aber es hieß er ist itzo nicht zu hauß [...] (2012) Diese Konstruktionen erinnern an Korrelat-Fälle. Interessant ist dabei jedoch, dass das Korrelat-es fix (obligatorisch) geworden ist. Dies lässt sich nachweisen, wenn man den Nebensatz an den Anfang bewegt (die bekannte Umstellprobe bei Korrelaten) und dabei es nicht verschwinden darf. Das Auftreten dieses obligatorischen „Korrelats“ bzw. seine Verbindung mit gelten und heißen verursacht eine Bedeutungsänderung (sowie Lexikalisierung) und somit eine Umstrukturierung im syntaktischen Umfeld der Verben (vgl. Zitterbart 2002, 166): Die geforderten Ergänzungen sind Verbativergänzungen und keine Subjektsätze und wir haben es auch hier, wie z.B. bei okkasionellen Ereignisverben, mit einer sekundären Paradigmatisierung der beteiligten Verben (Valenzträger) zu tun. Ein wichtiges morphologisches Merkmal, das für eine Interpretation dieser Konstruktion als Valenzsimulation spricht, ist weiterhin, dass der verbale Teil bezüglich Numerus und Person unveränderlich, d.h. immer 3. Person Singular, bleibt, was ein Charakteristikum von impersonalen Konstruktionen (also von Valenzsimulationen) ist. Dies gilt für alle Subjekte simulierenden Korrelate, nicht nur für Sätze mit es gilt / heißt. Der Übergangsstatus wird auch historisch untermauert, indem man – wie oben bereits erwähnt – in der einschlägigen Fachliteratur davon ausgeht, dass das impersonale es, darunter auch das Vorfeld-es, auf das Korrelat-es zurückgeht: Die oberste Bedingung für das Aufkommen des Impersonalien-‚es‘ waren Sätze mit es, il, in denen dieses Pronomen als Subjektswort rededeiktisch einen Vorstellungsinhalt vertritt, der zunächst dem Bewußtsein nur vorschwebend, hinterdrein in der Form eines abhängigen Satzes (meistens eines konjunktionalen Nebensatzes) oder einer infinitivischen Wendung zur Aussprache kommt […]. (Brugmann 1917, 15)
Unter Rückgriff auf die eingangs eingeführte Unterscheidung zwischen pro-phrasalem und pro-propositionalem es kann das binäre Valenzsimula_____________ 26
Beispiel in Faucher (1996, 38).
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tionsbild so ausdifferenziert werden, dass unter Beibehaltung der positionalen Valenzsimulation entsprechend den Überlegungen zum Korrelat-es innerhalb des konstruktionellen Zweigs zwei Subtypen zu postulieren sind: Valenzsimulation
konstruktionell
positional (6) und (12) pro-phrasal (7)-(11)
pro-propositional (5)
Abbildung 1: Typen der Valenzsimulation
Die Valenzsimulation in (7) bis (11) wird pro-phrasal genannt, weil diese esVorkommen als simulierende Erst- bzw. Zweitaktanten Bezugnahmen auf Phrasen (in erster Linie Nominalphrasen) simulieren. Das Korrelat-es stellt eine pro-propositionale Valenzsimulation dar, indem hier die grammatikalisierte Version des pro-propositionalen Bezugs in (4) angenommen wird.
5. Zusammenfassung und Desiderata Im vorliegenden Beitrag wurde dafür argumentiert, dass es möglich ist, die Valenztheorie als theoretischen Hintergrund zur Beschreibung des nichtphorischen es heranzuziehen. Ausgehend von dem Begriff der Valenzsimulation bei Ágel (2000a) wurden zwei Grundtypen, ein positionaler und ein konstruktioneller, angenommen. Der konstruktionelle wurde dabei in zwei Subtypen untergliedert: einen pro-phrasalen und einen propropositionalen. Es konnte gezeigt werden, dass historisch miteinander zusammenhängende es-Vorkommen auch grammatiktheoretisch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Lückenhaft geblieben ist dabei allerdings der Grammatikalisierungsaspekt, bei dem an dieser Stelle im Hinblick auf künftige Forschungen Folgendes festgehalten werden soll:
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•
Es sollte der Frage nachgegangen werden, ob die in vielen Bereichen sprachhistorisch dokumentierten Entwicklungen bei es als ein Fall oder als Fälle von Grammatikalisierung zu beschreiben sind.
•
Dabei wäre zu klären, ob und wie die verschiedenen phorischen und nicht-phorischen es-Vorkommen angesichts ihrer komplexen Entwicklung systematisch dargestellt und erklärt werden können und welche Rolle dabei die Grammatikalisierungstheorie spielen kann oder soll. In erster Linie wäre hier auf kritische und typische Kontexte (vgl. Diewald 2006) beim nicht-phorischen es einzugehen, um eventuelle Grammatikalisierungswege aufzeigen zu können.
•
Damit im Zusammenhang könnte es möglich sein, neuere Entwicklungen in der Grammatikalisierungstheorie, welche die Grammatikalisierung von constructions thematisieren und dadurch einen engen Konnex zwischen construction grammar und Grammatikalisierungstheorie befürworten (s. u.a. Traugott 2003 und Diewald 2006), mit in die Untersuchungen einzubeziehen.
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Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeutschen – Standard oder Substandard? Michaela Negele (Augsburg)
1. Fragestellungen In meinem Beitrag werde ich eine Untersuchung zu diskontinuierlichen Pronominaladverbien in der Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeutschen vorstellen und der Frage nachgehen, ob sie eher als standardlich oder als substandardlich einzuordnen sind. Einleitend soll ein kurzer Überblick über Pronominaladverbien in der Standardsprache gegeben werden. Hier wird neben ihrer Bezeichnung vor allem ihr syntaktischer Status zur Sprache kommen. Den Schwerpunkt bildet ein Überblick über die Verwendung von diskontinuierlichen Pronominaladverbien in der Alltagssprache des jüngeren Neuhochdeutschen, wobei nach einer kurzen Verortung der Alltagssprache im Varietätenkontinuum des Deutschen die Ergebnisse einer Korpusuntersuchung zu Pronominaladverbien vorgestellt werden sollen. Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, ob diskontinuierliche Pronominaladverbien dem gesprochenen Standard angehören bzw. ob sich im Vergleich zum einfachen Pronominaladverb ein funktionaler ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Strukturen nachweisen lässt.
2. Pronominaladverbien in der Standardsprache des Neuhochdeutschen Zunächst soll ein kurzer Überblick über die Verwendung von Pronominaladverbien in der Standardsprache des Neuhochdeutschen gegeben werden.
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2.1. Bezeichnung: Präpositionaladverb vs. Pronominaladverb In der terminologischen Bezeichnung von Lexemen wie damit, hieran oder wozu existieren zwei konkurrierende Varianten: Präpositionaladverb und Pronominaladverb. Die Duden-Grammatik (2005, § 858), die Grammatiken von Engel (2004, 419f.) und Weinrich (2005, 568) sowie die IDS-Grammatik (1997, 54ff.) verwenden den Terminus Präpositionaladverb, der auch bereits von Behaghel (1932, 249) präferiert wird. Diese Bezeichnung trägt dem formalen Faktum Rechnung, dass sich die betreffenden Wortformen aus einem Adverb als erstem Bestandteil (da, hier, wo) und einer Präposition (an, bei, durch, von, etc.) als zweitem Bestandteil zusammensetzen. Der Terminus Pronominaladverb hingegen zielt weniger auf die Form als mehr auf die Funktion, nämlich für eine Präpositionalphrase oder einen ganzen Satz zu stehen, wobei sich hier Überschneidungen mit anderen Adverbien ergeben, denen ebenfalls ein Pro-Charakter eigen ist. Dies sind vor allem Interrogativadverbien, Relativadverbien und Konjunktionaladverbien.1 Je nachdem, ob also bei der ‚Namensgebung‘ eher die Form oder die Funktion im Vordergrund steht, können beide Verwendungen legitimiert werden. Da sich aber bei der überwiegenden Mehrheit der Grammatiken der Terminus Pronominaladverb durchgesetzt hat, werde ich mich im Folgenden auch dieser Bezeichnung anschließen. 2.2. Syntaktischer Status der Pronominaladverbien Als Nächstes soll der Frage nach dem syntaktischen Status von Pronominaladverbien nachgegangen werden. Da die Wortartzuordnung in den Grammatiken sehr heterogen ist, soll hier ein Vorschlag gemacht werden, der sowohl formale wie auch funktionale Aspekte berücksichtigt. Im Wesentlichen orientiert sich das folgende Klassifikationsschema an der Duden-Grammatik (2005).
_____________ 1
Zur genaueren Abgrenzung vgl. Kapitel 2.2.
Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache
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Abbildung 1: Schema zur Klassifikation von Pronominaladverbien in pronominaler Verwendung
In diesem Schema wird eine mögliche Klassifikation für pronominale Verwendungen von Pronominaladverbien geboten, sodass also nichtpronominale Verwendungen (als Verbpartikel oder Konjunktion) von vornherein ausgeschlossen sind.2 Die primäre Zuordnung zur Klasse der Pronominaladverbien spiegelt sich in der grau unterlegten Fläche wider. Diese vereint aufgrund formaler Kriterien alle Wortformen, die aus da / hier / wo + Präposition bestehen, weshalb man in diesem Schema konsequenterweise von Präpositionaladverbien sprechen müsste. Auf einer zweiten Klassifikationsebene können diese Wortformen in syntaktischer Hinsicht die Funktion eines Interrogativ- oder Relativadverbs (wo(r)- + Präp.), eines _____________ 2
Dies könnte natürlich als Kritikpunkt an diesem Schema vorgebracht werden, aber aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde hier die nichtpronominale Verwendung ausgespart, zumal bei der Verwendung als Konjunktion (damit) oder als Verbpartikel (draufkommen etc.) die formal als Präpositionaladverb zu klassifizierenden Formen keine Pro-Funktionen ausüben, was zumindest in funktionaler Hinsicht konstitutives Kriterium für die Bestimmung als Pronominaladverb ist.
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phorischen bzw. deiktischen Proadverbs oder eines Konjunktionaladverbs ausüben (da(r)- + Präp.). Diesen vier Wortklassen ist gemeinsam, dass in ihrem Formenbestand zum Teil Zusammensetzungen aus da / hier / wo + Präp. enthalten sind, sie aber nicht ausschließlich aus diesen Formen bestehen. Weitere Beispiele sind jeweils in den Kästen aufgeführt.
3. Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache des Neuhochdeutschen Bevor es an die konkrete Korpusuntersuchung geht, soll das doch ziemlich heterogene Korpus bezüglich seiner Zusammensetzung, seiner Möglichkeiten, aber auch seiner Grenzen vorgestellt werden. Eine notwendige Voraussetzung hierfür ist die Klärung des Begriffs der Alltagssprache, der diesen Analysen zugrunde liegt. 3.1. Verortung der Alltagssprache im Varietätenkontinuum Um diesen Begriff adäquater definieren zu können, ist es hilfreich, sich zunächst einen Überblick über das Varietätenspektrum des Deutschen zu verschaffen. Hierbei soll das von Koch / Oesterreicher (1990) vorgestellte Nähe-Distanz-Modell als Referenz dienen, das im Folgenden um 90 Grad gekippt wurde, ansonsten aber in seinen Aufbauprinzipien erhalten blieb, nämlich in der Unterscheidung zwischen Medium und Konzeption.
Abbildung 2: Modell nach Koch / Oesterreicher – angewendet auf das deutsche Varietätenkontinuum
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Die Vorstellung eines Kontinuums zwischen konzeptioneller Nähe- bzw. Distanzsprache wurde hier auf das Varietätenkontinuum des Deutschen projiziert, das sich zwischen der nhd. Standardsprache und den kleinräumig gebundenen Dialekten erstreckt. Da gerade der Bereich zwischen diesen Extremen im 19. Jahrhundert große Veränderungen erfahren hat, sei an dieser Stelle ein kurzer sprachhistorischer Exkurs erlaubt: Das 19. Jahrhundert ist einerseits geprägt von einem kontinuierlichen Rückgang der traditionellen Dialekte, andererseits von der Entstehung eines Spektrums verschiedener regionaler Umgangssprachen (vgl. Kettmann 1981, 1ff.).3 Dieser Prozess kann als „die wohl größte Umwälzung des Varietätengefüges im Deutschen seit der Frühen Neuzeit“ (Elspaß / Denkler 2003, 131) betrachtet werden. Der Übergang zwischen den einzelnen Varietäten ist dabei fließend und regional unterschiedlich ausgeprägt. Dieses Phänomen wird auch als Entdiglossierung bezeichnet, also als Prozess des Abbaus der Diglossie zwischen Standardsprache und Ortsmundart zugunsten eines Kontinuums mit teils dialektaleren, teils standardnäheren regionalen Umgangssprachen. Scharfe Trennlinien innerhalb der in einem ständigen gegenseitigen Austausch stehenden Varietäten zwischen Dialekt und Standardsprache zu ziehen, ist aufgrund der fließenden Übergänge gar nicht möglich – und auch nicht nötig, solange man „Variabilität und Heterogenität als natürliche Aggregatszustände von Sprachen“ (Mihm 2000, 2108) und nicht als Zeichen von Disfunktionalität versteht. Der Begriff der nhd. Alltagssprache soll nach Stephan Elspaß (2005a, 28) demzufolge verstanden werden als „der soziale und funktionale Kommunikationsbereich, in dem ‚Sprache der Nähe‘ stattfindet und […] – je nach sprachlicher Sozialisation der Sprachteilhaber – im gesamten Kontinuum der nationalsprachlichen Varietäten“, also sowohl in der gesprochenen Standardsprache als auch in regionalen Umgangssprachen oder im Dialekt realisiert werden kann. Die Texte, die den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellen, sind größtenteils einer eher standardnahen Variante der Alltagssprache zuzuordnen, wobei die Übergänge zwischen regionalen Umgangssprachen und regional differenzierter Standardsprache auch in diesem Korpus oft so fließend sind, dass ein Hinübergleiten vom einen zum anderen (und zurück) von den Sprecherinnen und Sprechern _____________ 3
Zur Diskussion verschiedener Erklärungsansätze regionaler Umgangssprachen vgl. Mihm (2000, 2111ff.); Bellmann (1983, 106ff.), Keller (1986, 495ff.) und Barbour / Stevenson (1998, 55f.) sehen das Entstehen regionaler Umgangssprachen im Wesentlichen als Resultat von Modernisierungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts (z.B. durch die Ausbreitung des Schulwesens). Protze (1969) und Schönfeld (1983) setzen die Entstehung regionaler Umgangssprachen bereits im 17. und 18. Jahrhundert im Zuge eines Bemühens um eine überregional verbindliche Hochsprache bei den mittleren und höheren Bürgerschichten an.
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gar nicht bewusst wahrgenommen wird und dass es auch problematisch ist, linguistische Grenzen festzulegen. Auch heute noch ist die Alltagssprache der allermeisten Sprecher und Sprecherinnen des Deutschen auf Grund irgendwelcher Merkmale der Aussprache, der Intonation, des Wortschatzes oder sogar der Grammatik einer Region zuzuordnen (vgl. Elspaß / Möller 2006, 144). 3.2. Korpusbeschreibung Nachfolgend sollen die drei verwendeten Teilkorpora kurz vorgestellt werden. 3.2.1. Korpus Auswandererbriefe (Elspaß) Im Vergleich zur Erforschung historischer Dialekte, zu denen für das 19. Jahrhundert umfangreiche Daten aus dem Deutschen Sprachatlas (DSA) von Georg Wenker zur Verfügung stehen, „fehlt vergleichbares historisches Material für die Sprachlagen zwischen den Dialekten und der sich herausbildenden Standardsprache im 19. Jahrhundert“ (Elspaß 2003, 132). Dieser „Mangel an Primärdaten“ (ebd.) führt dazu, dass neue Wege gefunden werden müssen, historische Umgangssprachen zu rekonstruieren. Als mögliches Quellenmaterial bieten sich Texte an, die zwar in schriftlicher Form überliefert sind, jedoch von Schreiberinnen und Schreibern verfasst wurden, die im Umgang mit schriftlichen Texten nicht vertraut waren und somit am ehesten konzeptionell mündliche Texte zu Papier brachten. Diesem Beitrag liegt ein solches Korpus für das 19. Jahrhundert zugrunde, das im Rahmen der Untersuchung „Sprachgeschichte von unten – Untersuchungen zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert“ (Elspaß 2005a) entstanden ist.4 Dieses Korpus bietet Texte, die gerade nicht von Angehörigen der gebildeten Sprachschicht (Literatursprache, Kanzleisprache, …), sondern von eher ungeübten und ungebildeteren Schreibern verfasst wurden, die im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert sind und mit den Zurückgebliebenen in Deutschland in teilweise regem Briefwechsel standen. Dieser Ansatz macht sich demnach die Tatsache zunutze, dass den Schreibern im Prinzip nichts anderes übrig blieb, als ihrer sprechsprachlichen Formulierung in Lautung, Syntax und Morphologie möglichst treu zu bleiben, da ihnen kaum schriftliche Texte zur _____________ 4
Dieses Korpus wurde für das 18. Jahrhundert – zumindest für den oberdeutschen Bereich – noch um Briefe von Schillers Mutter sowie um Mozarts Bäsle-Briefe erweitert.
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Verfügung standen. Die regionale Verteilung der Briefe über das deutsche Sprachgebiet ist aus Abbildung 3 ersichtlich:
Abbildung 3: Schematische Karte zur regionalen Verteilung des Korpus (absolute Zahlen)
3.2.2. Korpus Umgangssprachen (Pfeffer) Das 20. Jahrhundert bot schon aufgrund des technischen Fortschritts ganz andere Möglichkeiten zur Erforschung regionaler Alltagssprache, da man im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, zu dem entsprechendes Material fehlt, Sprachaufnahmen erstellen und diese anschließend durch eine Transkription ins schriftliche Medium überführen konnte, sodass heute prinzipiell wirklich gesprochene Alltagssprache des 20. Jahrhunderts erforscht werden kann. So dient dieser Untersuchung gerade ein solches Korpus als Datengrundlage für das 20. Jahrhundert. Das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim stellt eine Reihe solcher Korpora des gesprochenen Deutsch auf seinen Internetseiten kostenlos zur Verfügung, darunter auch das Pfeffer-Korpus,5 das innerhalb der Datenbank gesprochenes Deutsch (DGD) als Korpus zu den regionalen Umgangssprachen ausgewiesen ist. Ein großes Verdienst dieses Korpus ist es, dass es das momentan einzige öffentlich zugängliche Korpus zu den regionalen deutschen Umgangssprachen ist, allerdings sind unter den Interviews teilweise auch sog. _____________ 5
Auch als Textbände zugänglich: Pfeffer / Lohnes (Hrsg.), Grunddeutsch. Texte zur gesprochenen deutschen Gegenwartssprache.
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initiierte Erzählmonologe, die manchmal eher wie Fachvorträge zu einem bestimmten Thema anmuten, als dass sie an ein spontanes Gespräch erinnern würden. Ein weiteres Problem besteht sicherlich darin, dass für die betreffenden Regionen auch teilweise Personen interviewt wurden, die aus beruflichen (oder ähnlichen) Gründen erst im Erwachsenenalter an diesen Ort gezogen sind, was sich daraus erkennen lässt, dass in einigen Fällen Geburtsort, Schulort und Wohnort nicht miteinander übereinstimmen. Dies wurde dahingehend berücksichtigt, dass immer überprüft wurde, wie lange dieser vermeintliche Informant schon an diesem Ort wohnt, wenn unter den Suchergebnissen für eine bestimmte Region völlig untypische Konstruktionen auftraten. Nd.
Md.
Σ
Od.
(100 %)
141
35,4 %
Wnd. 110 Ond. 31
125
31,4 %
Wmd. 27,6 %
7,8 %
88 Omd. 37
22,1 %
9,3 %
132 Wod. 38 Nod. 32 Ood. 62
33,2 %
398
9,5 % 8,0 % 15,6 %
Tabelle 1: Korpus Umgangssprachen (Pfeffer)
Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden bei der Korpusauswertung der beiden Textkorpora jeweils extrapolierte Werte zur Auswertung verwendet, da für die verschiedenen Regionen des deutschen Sprachgebietes unterschiedlich viele Texte zur Verfügung stehen. 3.2.3. Atlas zur deutschen Alltagssprache (Elspaß / Möller) Neben den beiden eben vorgestellten Textkorpora wurde auch das von Stephan Elspaß und Robert Möller 2003 ins Leben gerufene Projekt Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) bei den Auswertungen berücksichtigt, vor allem, da es Auskunft über die aktuellsten Entwicklungen in der Alltagssprache zu geben vermag. Seit 2003 finden jährlich Interneterhebungen zum regionalen Sprachgebrauch in allen deutschsprachigen Ländern und den deutschsprachigen Gebieten der Nachbarländer statt, in denen primär Varianten des Wortschatzes abgefragt werden, aber auch phonologische und syntaktische Varianten ermittelt werden können. Ein Beispiel syntak-
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tischer Variation liegt insbesondere in den Untersuchungen zu den unterschiedlichen Konstruktionen der Pronominaladverbien vor – im Folgenden ein Beispiel für das Pronominaladverb davon.
Abbildung 4: Karte: davon (AdA, 2. Runde)
3.3. Diskontinuierliche Pronominaladverbien Ich habe das Korpus vor allem auf Konstruktionstypen diskontinuierlicher Pronominaladverbien hin befragt. Jürg Fleischer (2002) spricht in Anlehnung an Wilhelm Oppenrieder (1990) von einer „Spaltungskonstruktion“, wenn das ursprünglich zusammenstehende Pronominaladverb in seine zwei Bestandteile „aufgespalten“ wird (da halte ich nichts von) und von „Verdoppelungskonstruktion“, wenn die Präposition nicht alleine zurückbleibt, sondern wieder zu einem vollständigen Pronominaladverb ergänzt wird. Dabei gibt es einerseits die Möglichkeit der „Distanzverdoppelung“ (da halte ich nichts davon) und andererseits die so genannte „kurze Verdoppelung“ (da davon halte ich nichts), bei der die beiden Elemente in Kontaktstellung stehen.
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3.3.1. Behandlung in den Grammatiken Konstruktionen diskontinuierlicher Pronominaladverbien werden in den Grammatiken – sofern sie überhaupt Erwähnung finden6 – generell spärlich behandelt. Um einen adäquaten Vergleich zwischen den Beschreibungen in den Grammatiken und der tatsächlichen Verwendungsweise anstellen zu können, habe ich die Grammatiken gerade auf die Punkte hin befragt, die auch in den folgenden Korpusanalysen eine Rolle spielen werden, nämlich 1. die topologischen Stellungsmöglichkeiten, 2. ihre regionale und stilistische Zuordnung sowie 3. die phonologische Struktur der Präposition. Zu 1. Topologische Stellungsmöglichkeiten: Bezüglich der Stellung des adverbialen Teils (da, hier, wo) wird meist angegeben, dass dieser ins Vorfeld versetzt werden kann (vgl. IDS-Grammatik 1997; Eisenberg 2004): Da habe ich nichts von gehalten. Allein die DudenGrammatik (2005) gibt noch einen weiteren Platz für dieses Element an, nämlich nach den schwach betonten Pronomina am linken Rand des Mittelfeldes, also als letztes mögliches Glied der Wackernagel-Position (vgl. ebd., § 1360).7 (1a) weil [er] [sie] [auf keinen Fall] [mit dieser Sache] konfrontieren will (1b) weil [er] [sie] [da] [auf keinen Fall] [mit] konfrontieren will Gemeinhin wird also bei der Spaltungskonstruktion davon ausgegangen, dass der adverbiale Bestandteil derjenige ist, der verschoben wird. Die Präposition bleibt demnach in ihrer üblichen Stellung im rechten Teil des Mittelfeldes zurück. Die Grammatiken8 sprechen hier von so genannten gestrandeten Präpositionen (englisch: preposition stranding). Bei der Distanzverdoppelung werden prinzipiell dieselben topologischen Stellungsmöglichkeiten angegeben, jedoch komme nach Eisenberg (2004) eine Verdoppelungskonstruktion gerade dadurch zustande, dass zu dem verkürzten Pronominaladverb zusätzlich ein ‚neues‘ da hinzukommt, das seinen Platz _____________ 6 7
8
Keine Angaben über diskontinuierliche Konstruktionen: Engel (1996), Helbig / Buscha (2001), Hentschel / Weydt (2003), Weinrich (2005). Die Position zu Beginn des Mittelfeldes, also unmittelbar nach der linken Satzklammer, nennt man Wackernagel-Position. In dieser Position stehen vor allem schwach betonte Personal- und Reflexivpronomina. Benannt ist diese Position nach „dem Sprachhistoriker, der die Erscheinung als erster exakt beschrieben hat“ (vgl. Duden-Grammatik 2005, § 1356). Vgl. Duden-Grammatik (2005, § 1360); IDS-Grammatik (1997, 2085); Eisenberg (2004, 198).
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im Vorfeld habe. Dies ist insofern erwähnenswert, als dass man ja auch davon ausgehen könnte, dass der Verdoppelung eine Spaltungskonstruktion zugrunde liegt, bei der anschließend die ‚gestrandete‘ Präposition wieder zu einem Pronominaladverb vervollständigt wird. Das würde bedeuten, dass nicht das da im Vorfeld, sondern das bei der Präposition stehende da verdoppelt, also ‚neu‘ hinzugefügt wird. Zu 2. Regionale und stilistische Zuordnung: Sehen wir uns nun die Angaben der Grammatiken über die regionale und stilistische Zuordnung diskontinuierlicher Pronominaladverbien genauer an. Was die Spaltungskonstruktion angeht, so erfährt man aus der DudenGrammatik (2005, § 1360), dass „in vielen regionalen Varietäten des Deutschen“ Pronominaladverbien aufgespalten werden können, Admoni (1982, 206) ordnet diese Konstruktion ohne weitere Differenzierung der Umgangssprache zu. Nach Aussagen der IDS-Grammatik (1997, 2085) wird sie „überwiegend nur regionalsprachlich im Norden“ verwendet. In der Wahrig-Grammatik (Götze 2002, 301) werden Spaltungskonstruktionen generell als ungrammatisch eingestuft: Ein weiterer Fehler, wieder vor allem in der gesprochenen Sprache, ist die Aufsplitterung des Pronominaladverbs im Satz: *Da kann ich nichts für. (richtig: Dafür kann ich nichts.) *Hier sag’ ich nichts zu. (richtig: Hierzu sag ich nichts.)
Die Tatsache, dass die Verfasser einer Grammatik von 2002 im Falle von gesprochener Sprache ausschließlich mit den Kategorien falsch bzw. richtig operieren, macht deutlich, wie wenig regionale Variation in Standardgrammatiken bisher akzeptiert wird. Sofern es überhaupt Aussagen über die regionale Verteilung der Verdoppelungskonstruktion gibt, bleiben diese ziemlich vage, man finde sie laut Duden (2005, § 1360) „in vielen regionalen Varietäten des Deutschen“, laut Eisenberg (2004, 198) „in vielen Dialekten“. Verlässt man sich hier also auf die Informationen der Grammatiken, so steht man der Frage nach der diatopischen und diaphasischen Variation ziemlich ratlos gegenüber. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass die Aussagen darüber ziemlich willkürlich getroffen werden und somit kein realistisches Abbild der Sprachwirklichkeit zu geben vermögen. Zu 3. Phonologische Struktur der Präposition: Ob ein Pronominaladverb nun prinzipiell eher zur Spaltung oder zur Verdoppelung neigt, wird laut Aussagen der Grammatiken gemeinhin von der phonologischen Struktur der Präposition abhängig gemacht. Eisenberg (2004, 198) nimmt dabei eine komplementäre Verteilung an: Zur Spaltung käme es demnach bei Pronominaladverbien mit konsonantisch anlautender Präposition (da haben sie nichts von gelernt), bei vokalisch anlautender
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Präposition hingegen zu einer Verdoppelungskonstruktion (da freuen wir uns drauf ). 3.3.2. Korpusuntersuchung Diese aus den Grammatiken theoretisch gewonnenen Erkenntnisse gilt es nun auf ihr konkretes Vorkommen im Korpus hin zu überprüfen. An dieser Stelle können aus der detaillierten Korpusuntersuchung nur einige Ergebnisse zusammenfassend dargestellt werden. 1. Spaltungskonstruktion: Bei der Spaltung von da(r)-Pronominaladverbien ergeben sich aus dem Korpus klare Stellungspräferenzen: Das pronominale Element da befindet sich bevorzugt im Vorfeld (⅔ der Fälle), kann aber auch im Mittelfeld in Wackernagel-Position (⅓ der Fälle) stehen. Die Präposition drängt im Mittelfeld in die Nähe des Verbs, bei einteiligen Verbformen steht sie klammerbildend am Ende des Satzes. Spaltungskonstruktionen kommen vorwiegend im Niederdeutschen sowie im (West-)Mitteldeutschen vor. Insgesamt tendieren eher Pronominaladverbien mit konsonantisch anlautender Präposition zur Spaltung, was aber nicht heißt, dass sie bei vokalisch anlautender Präposition ausgeschlossen ist. Spaltungskonstruktionen bei wo(r)-Pronominaladverbien kommen im Korpus fast ausschließlich in relativer Verwendung vor, wobei wo stets die linke Satzklammer bildet und die Präposition vorwiegend an den rechten Rand des Mittelfeldes in Verbnähe bewegt wird. Die Suchergebnisse für hierPronominaladverbien waren vernachlässigbar gering. 2. Distanzverdoppelung: Die Distanzverdoppelung unterscheidet sich hinsichtlich der Stellungsmöglichkeiten des da prinzipiell nicht von der Spaltungskonstruktion. Das pronominale Element steht hier sogar in 75 % der Fälle im Vorfeld, ansonsten – wie zu erwarten – zu Beginn des Mittelfeldes in Wackernagel-Position. Der zweite Bestandteil steht gewöhnlich im Mittelfeld, bei zweiteiligem Prädikat unmittelbar vor der rechten Satzklammer, bei einteiligem Prädikat am Ende des Satzes. Fungiert das Pronominaladverb als Verbpartikel, bildet es die rechte Satzklammer. In der Verdoppelung wird im Allgemeinen
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die unsilbische Variante9 bevorzugt. Die Distanzverdoppelung hat einen großen Verbreitungsradius, sie wird im gesamten hochdeutschen Sprachgebiet verwendet, wobei die unsilbische Variante verdoppelter Pronominaladverbien ebenso im niederdeutschen Sprachgebiet üblich ist. Tendenziell neigen eher Pronominaladverbien mit vokalisch anlautender Präposition zur Verdoppelung, da aber im Süden die Spaltung generell unüblich ist, wird dort unabhängig von der phonologischen Struktur der Präposition verdoppelt. Mit wo(r)- gebildete Pronominaladverbien werden sehr selten verwendet, die Stellung der beiden Bestandteile unterscheidet sich nicht von der Spaltungskonstruktion. Zu den hier-Pronominaladverbien konnten erneut kaum Suchergebnisse gefunden werden. 3. Kurze Verdoppelung: Die Korpusuntersuchung zeigte deutlich, dass die Verwendung der kurzen Verdoppelung stark mit der phonologischen Struktur der Präposition zusammenhängt, sie wird nämlich fast ausschließlich bei vokalisch anlautender Präposition verwendet, bei der das pronominale Element zur unsilbischen Variante verkürzt werden kann, sodass eine deutliche Tendenz zur Vermeidung von zusammenstehenden dreisilbigen Konstruktionen erkennbar ist (wie z.B. da daran). Innerhalb der Korpora fanden sich insgesamt wenige, aber über das gesamte deutsche Sprachgebiet verteilte Belege für die kurze Verdoppelung, was allerdings etwas erstaunt, wenn man die AdAKarten zum Vergleich heranzieht, auf denen die kurze Verdoppelung auf das Gebiet südlich der Mainlinie beschränkt ist.
4. Diskontinuierliche Pronominaladverbien: Standard oder Substandard? 4.1. Funktionaler ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Strukturen Bei der Betrachtung der Aussagen der Grammatiken zu den Pronominaladverbien wurde deutlich, dass diese die Verwendung diskontinuierlicher Varianten, sofern sie überhaupt erwähnt werden, häufig kritisieren bzw. als dialektale Erscheinungsform abtun. Dennoch halten die Sprachbenutzer in der Alltagssprache offensichtlich an ihrer Benutzung fest. Somit _____________ 9
Unter unsilbischer Variante sollen in Anlehnung an Jürg Fleischer Formen wie da … dran / drüber / drauf verstanden werden, die ihren Vokal verloren haben, sodass ein reduziertes Pronominaladverb mit unsilbischem dr- zurückbleibt (vgl. Fleischer 2002, 17).
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kann man sich fragen, worin denn eigentlich im Vergleich zum einfachen Pronominaladverb der funktionale ‚Mehrwert‘ diskontinuierlicher Strukturen besteht, der ihre Verwendung gerade in der gesprochenen Sprache so ‚attraktiv‘ macht. 1. Erfüllung zweier Wortstellungstendenzen: Was die topologischen Stellungsmöglichkeiten betrifft, konnte die Korpusuntersuchung die theoretischen Aussagen der Grammatiken empirisch bestätigen. Das anaphorische pronominale Element befand sich meist in satzinitialer Position, wo es unmittelbar vorher Erwähntes wieder aufnehmen kann, die Präposition in nahezu allen Fällen in unmittelbarer Verbnähe. Aus diesen unterschiedlichen topologischen Präferenzen ergibt sich natürlich bei dem einfachen Pronominaladverb eine gewisse Spannung. Diese unterschiedlichen Wortstellungstendenzen können nun gerade durch eine diskontinuierliche Stellung des Pronominaladverbs beide erfüllt werden. 2. Klammerung als Prinzip der deutschen Satzstruktur Außerdem nützen diskontinuierliche Varianten eine weitere Eigenschaft des Deutschen, das eine Tendenz zur Klammerstruktur aufweist. Elke Ronneberger-Sibold (1994, 115) und Hans-Werner Eroms (2000) sprechen von einem „klammernden Verfahren“ als wesentliches Merkmal der Topologie der nhd. Standardsprache. Dieses besteht genau darin, dass bestimmte Bestandteile eines Satzes von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, um den Hörer bei der syntaktischen Dekodierung zu unterstützen. Im Falle getrennt stehender Pronominaladverbien, die eine so genannte Adverbialklammer bilden, kann der Hörer also im Normalfall davon ausgehen, dass ein am Anfang des Satzes geäußertes da im weiteren Verlauf noch durch eine passende Präposition ‚vervollständigt‘ werden wird. 4.2. Diskontinuierliche Pronominaladverbien gehören dem gesprochenen Standard an Aufgrund der bisherigen Ausführungen möchte ich abschließend nun die These aufstellen, dass man es bei diskontinuierlichen Pronominaladverbien schon mit gesprochener Standardsprache bzw. äußerst standardnaher Alltagssprache zu tun hat – wenn auch nicht mit einer kodifizierten, geschriebenen Standardsprache. Folgende Argumente können diese These stützen:
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Erstens die Verwendung diskontinuierlicher Konstruktionen im gesamten deutschen Sprachgebiet: Aus der Korpusuntersuchung wurde ersichtlich, dass gerade die Distanzverdoppelung bei der unsilbischen Variante über das gesamte deutsche Sprachgebiet verteilt ist. Auch die Spaltungskonstruktion breitet sich in der Alltagssprache immer weiter in den Süden aus, was die neuesten Erhebungen aus dem Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) deutlich zeigen – sie dringen also auch in Gebiete vor, in denen sie keine dialektale Basis haben – was deutlich wird, wenn man beispielsweise die unter 3.2. abgedruckte Karte (davon) mit den von Jürg Fleischer (2002) erstellten Karten zu diskontinuierlichen Pronominaladverbien in den Dialekten des Deutschen vergleicht – hier am Beispiel der Spaltungskonstruktion:
Abbildung 5: Spaltungskonstruktion bei da (Fleischer 2002, 430)
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Zweitens ihr bereits ausgeführter funktionaler Mehrwert: Gerade ihr Verdienst, die Satzplanung durch eine diskontinuierliche Stellung der beiden Elemente zu erleichtern, macht sie für die gesprochene Sprache an sich so attraktiv. Dieses Argument kann auch durch die Tatsache gestützt werden, dass innerhalb der Korpusuntersuchung jeweils kaum Belege für die kurze Verdoppelung gefunden werden konnten, bei der eine diskontinuierliche Stellung gerade nicht möglich ist.10 Außerdem scheinen diskontinuierliche Pronominaladverbien zunehmend auch in distanzsprachlichen Kontexten verwendet und sogar – und damit wäre ich bei meinem dritten Argument – in den Medien unmarkiert abgedruckt zu werden. Die folgenden Zitate aus der Wochenzeitung Die Zeit11 belegen dies exemplarisch: (2)
(3)
(4)
(5)
Und hinter all dem der Verlust des Glaubens, ‚ihre‘ Musik könne noch etwas zur Verbesserung der Welt beitragen. Da ließ man dann entweder die Finger davon oder ging den Weg ins (meist elektronische) Sektierertum; (Pesch, Martin, in: Die Zeit 33 / 2000) Es ist faszinierend zu hören, wie viel Vertrauen der Anwalt der Menschenrechte in sein eigenes Urteilsvermögen hat. Mit wie viel Leiden die medizinische Diagnose „Bauchspeicheldrüsenkrebs“ verbunden sei, das könne er ja wohl wissen: „Da brauche ich doch keinen Arzt dafür. Das kann ich selber entscheiden“; (Willmann, U., in: Die Zeit 36 / 2001) Egal, ob Pferde, Elefanten oder Tiger, sagt Susanne Matzenau, Sprecherin des Zirkus Krone, Sie können Seelöwen mit keinem anderen Zirkustier vergleichen. Da liegen Welten dazwischen. Die geistige Elite des Tierreichs; (Miersch, Michael, in: Die Zeit online 2003) Auf die Einführung des Dosenpfandes freut sich Richter, der in einer Behindertenwerkstatt arbeitet, schon heute. 1000 Dosen – da bekomme ich 250 Euro für, sagt er. 25 Cent soll es künftig für die Rückgabe von Getränkeblech geben, [...]. (Lehnen, Eva, in: Die Zeit online 2002)
Natürlich könnte man einwenden, dass es sich hier um ins schriftliche Medium übernommene mündliche Aussagen handelt. Dennoch ist es in Zeitungen und anderen Printmedien allgemein üblich, Zitate nicht völlig unverändert – ähnlich einer Transkription – abzudrucken, sondern sowohl in die Lautung als auch in die Morphologie redigierend einzugreifen und eben auch syntaktische Unebenheiten zu glätten. Wenn nun diskontinuierliche Pronominaladverbien immer weniger diesen Veränderungen zum _____________ 10 11
Ich danke Jürg Fleischer für diesen Hinweis. Korpus Die Zeit online im Internet unter http://www.dwds.de/.
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Opfer fallen, könnte ihnen das mittelfristig den Weg in den schriftlichen Standard ebnen und sie aus ihrem Dasein als dialektal stigmatisierte Erscheinungsform befreien.
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Diskontinuierliche Pronominaladverbien in der Alltagssprache
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