Verformung und Schädigung von Werkstoffen der Aufbau- und Verbindungstechnik
Steffen Wiese
Verformung und Schädigung von Werkstoffen der Aufbauund Verbindungstechnik Das Verhalten im Mikrobereich
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Dr.-Ing. Steffen Wiese Fraunhofer-Center für Silizium-Photovoltaik CSP Walter-Hülse-Str. 1 06120 Halle Deutschland
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ISBN 978-3-642-05462-4 e-ISBN 978-3-642-05463-1 DOI 10.1007/978-3-642-05463-1 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort
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Vorwort Dieses Buch ist aus den Bedürfnissen universitärer Forschung und Lehre entstanden. Der Autor beschäftigt sich seit ca. 15 Jahren mit den Fragen des werkstoff- und bruchmechanischen Verhaltens von Weichloten in kleinstvolumigen Kontakten der Mikroverbindungstechnik in der Elektronik. In dieser Zeit erreichte ihn eine große Anzahl von Anfragen - vor allem von Doktoranden, aber auch von Ingenieuren aus der Industrie - aus welchen die grundsätzlichen Verständnisprobleme bei der Behandlung von Schadensfällen bzw. der Beurteilung der Zuverlässigkeit (mikro-)elektronischer Aufbauten offensichtlich wurden. Ausgehend von diesem konkreten Beratungsbedarf entstand die Idee, wesentliche Grundlagen dieses interdiziplinären Gebietes in einem Buch zusammenzufassen. Im Mittelpunkt des Buches stehen Zuverlässigkeits- und Lebensdauerfragen in Zusammenhang mit mikroskopisch kleinen Bauteilstrukturen, wie sie für die Mikroelektronik und Mikrosystemtechnik typisch sind. Diesem zentralen Thema nähert sich das Buch über eine systematische und detaillierte Darstellung des mikrostrukturellen Aufbaus von Werkstoffen, der Werkstoffverformung sowie des Verlaufes von Materialschädigungen, die letztlich den Ausfall von Bauteilstrukturen herbeiführen. Hierbei werden besonders die Beziehungen zwischen diesen drei Säulen der thermomechanischen Zuverlässigkeit aufgezeigt, um so zu einer verständlichen und übersichtlichen Darstellung von Ursache-Wirkung-Beziehungen zu gelangen, welche Voraussetzung für ein rationales Verständnis der Auswirkung der Miniaturisierung von Bauteilstrukturen ist. Eine konkrete Vorstellung des abstrakten Begriffes der miniaturisierten Bauteilstrukturen als auch das Verständnis für die Besonderheiten einer technologisch bedingten Zuverlässigkeitsproblematik werden dabei zunächst in einem vorangestellten Kapitel durch eine Beschreibung des Gebietes der Aufbau- und Verbindungstechnik der Mikroelektronik vermittelt. Abschließend widmet sich das Buch in mehreren Kapiteln konkreten auf die Werkstoffforschung im Mikrobereich bezogenen Themen, in denen spezielle experimentelle Untersuchungsmethoden, konkrete Versuchsergebnisse als auch sich daraus ergebende Schlussfolgerungen bezüglich der Werkstoffmodellierung und der entwicklungsbegleitenden Werkstoffuntersuchung dargestellt werden. Dabei wird besonders der Werkstoffuntersuchung im Mikrobereich viel Platz eingeräumt und an vielen konkreten Beispielen werden ihre methodischen Besonderheiten gegenüber der klassischen Werkstoffprüfung erläutert. Das Buch hat das Ziel, einer breiten Gruppe von Nichtexperten (Studenten, Doktoranden, Entwicklungsingenieure, Quereinsteiger) den Einstieg in die Problematik der Schadensfälle und Zuverlässigkeit elektronischer Aufbauten zu ermöglichen und so viel Hintergrundwissen an Grundlagen- und Spezialkenntnissen zu vermitteln, dass der Leser in die Lage versetzt wird, Projekte zu planen und zu leiten, Fachartikel zu verstehen und ihre Ergebnisse in Bezug auf die eigenen Zuverlässigkeitsprobleme richtig einzuordnen. Ein großer Teil des Buches widmet sich der Thematik der Prüfmaschinen (klassisch und im Mikrobereich). Zu diesem Thema existiert kaum (klassische Werk-
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Vorwort
stoffprüfung) bzw. keine Literatur (Werkstoffprüfung im Mikrobereich). Der Nutzen für den Leser besteht darin, dass er einen tiefen Einblick in die spezielle Problematik der Werkstoffprüfung im Mikrobereich bekommt. Besonders für Entwicklungsingenieure in der Industrie, die über die Anschaffung von Prüftechnik entscheiden müssen, als auch für Doktoranden/Wissenschaftler, die spezielle Messungen vornehmen wollen, sind diese kritischen und gegenüber Firmenprospekten neutralen Darstellungen hilfreich. Die Art der Darstellung ist so gehalten, dass eine unnötige Mathematisierung bei der Erläuterung der verschiedenen Sachverhalte vermieden wurde. Mathematische Terme wurden nur an solchen Stellen eingesetzt, an denen die Komplexität eines Sachverhaltes eine entsprechende Abstraktion verlangt. Dies soll die Zugänglichkeit auch für Leser aus mathematikfremden Studienrichtungen (z.B. Chemie, Materialkunde, Wirtschaftsingenieurwesen) erleichtern. Gleichzeitig wurden für die Erläuterung allgemeiner Sachverhalte stets solche Beispiele ausgewählt, die im konkreten Anwendungsfeld elektronischer Aufbauten in der Mikroelektronik zu finden sind, um so die zu vermittelnden Sachverhalte für Praktiker in der Industrie fassbar zu machen. Das Buch, welches aus einer Habilitationsschrift hervorgegangen ist, entstand am Institut für Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik an der Technischen Universität Dresden, Fakultät Elektrotechnik und Informationstechnik. Besonders möchte ich mich bei Prof. Dr.-Ing. habil. K.-J. Wolter für seine Bereitschaft bedanken, mich an seinem Institut aufzunehmen und mir dort Bedingungen einzuräumen, welche ich für meine wissenschaftliche Forschung benötigte. Herrn Prof. Dr. rer. nat. habil. B. Michel vom Fraunhofer Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration, Berlin und Herrn Prof. Dr. rer. nat. habil. W. H. Müller von der Technischen Universität Berlin danke ich für ihre gutachterliche Tätigkeit sowie für die vielen kritischen, aber immer fruchtbaren wissenschaftlichen Diskussionen, die wir in den vergangenen Jahren geführt haben. Ohne die Unterstützung durch die Mitarbeiter des Institutes wären die sehr umfangreichen experimentellen Untersuchungen nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang vor allem den Doktoranden meiner Arbeitsgruppe Herrn Dr.-Ing. M. Röllig, Herrn Dipl.-Ing. M. Müller, Herrn Dipl.-Ing. K. Meier, Herrn Dipl.-Ing. R. Metasch, Herrn Dipl.-Ing. S. Schindler. Im Zusammenhang mit der Erstellung des Manuskriptes gilt mein besonderer Dank Frau C. Hasenauer für die sorgfältige Anfertigung der Zeichnungen. Die Untersuchungen wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Förderkennzeichen WI 2030/1-1 und WI 2030/1-2) gefördert. Der DFG sei ausdrücklich für die von ihr gewährte finanzielle Unterstützung gedankt, ohne die die Anfertigung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
Leipzig, im Januar 2010
Steffen Wiese
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis 1 Problematik ........................................................................................................ 1 1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten ....................................................... 1 1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus ........................ 4 1.3 Werkstoffverhalten und Miniaturisierung .................................................. 8 1.4 Verformungsverhalten von Metallen ....................................................... 10 1.4.1 Bedeutung .......................................................................................... 10 1.4.2 Verformungsverhalten ....................................................................... 12 1.5 Untersuchungsmethoden .......................................................................... 15 1.6 Ziel der Arbeit .......................................................................................... 17 2 Untersuchungsgegenstand ................................................................................ 19 2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung 19 2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes ...................... 22 2.2.1 Begriff der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik .......... 22 2.2.2 Inhalt der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik ............ 23 2.2.3 Entwicklung der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik .. 24 2.3 Architektur elektronischer Aufbauten ...................................................... 27 2.3.1 Grundkonzept und Aufbauhierarchie................................................. 27 2.3.2 Erste Verbindungsebene .................................................................... 29 2.3.3 Zweite Verbindungsebene ................................................................. 41 2.3.4 Architekturentwicklung .................................................................... 55 2.3.5 Strukturabmessungen in elektronischen Aufbauten .......................... 59 2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten ............. 61 2.4.1 Ursachenherkunft .............................................................................. 61 2.4.2 Grundlegende physikalische Ursachen .............................................. 63 2.4.3 Aspekte der Architektur- und Entwicklungskonzeption .................... 65 2.4.4 Werkstoffphysikalische Seiteneffekte ............................................... 68 2.4.5 Belastungsszenarien ........................................................................... 68 3 Struktur metallischer Werkstoffe ..................................................................... 71 3.1 Zusammenhang zwischen Verformung und strukturellem Aufbau ......... 71 3.2 Struktureller Aufbau ................................................................................. 73 3.2.1 Strukturebenen ................................................................................... 73 3.2.2 Atomarer Aufbau ............................................................................... 78 3.2.3 Werkstoffgefüge ................................................................................ 83 3.3 Legierungen .............................................................................................. 94 3.3.1 Formen von Legierungen ................................................................... 94 3.3.2 Eutektische Systeme .......................................................................... 95 3.3.3 Systeme mit intermediären Phasen .................................................... 99 3.3.4 Andere Systeme ............................................................................... 100 3.3.5 Drei- und Vielstoffsysteme .............................................................. 103
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3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen ...............................104 3.4.1 Entstehung des Erstarrungsgefüges ..................................................104 3.4.2 Erstarrungsgefüge von Sn-Basis-Loten ............................................113 3.5 Gefügeveränderung .................................................................................134 3.5.1 Gefügeveränderung durch thermische Belastung .............................134 3.5.2 Gefügeveränderung durch thermisch-mechanische Belastung .........139 4 Elastische Verformung ....................................................................................143 4.1 Phänomenologie der elastischen Verformung ........................................143 4.2 Physikalischer Hintergrund der elastischen Verformung .......................144 4.2.1 Verzerrung des Kristallgitters ...........................................................144 4.2.2 Nichtlinearität der elastischen Verformungsreaktion .......................146 4.3 Beschreibung der elastischen Verformung .............................................147 4.3.1 Elastizitätsmodul ...............................................................................147 4.3.2 Die Querkontraktionszahl .................................................................151 4.3.3 Der Schubmodul ...............................................................................152 4.3.4 Der Bulkmodul .................................................................................152 4.3.5 Richtungsabhängigkeit der elastischen Konstanten ..........................153 4.3.6 Temperaturabhängigkeit der elastischen Konstanten .......................156 5 Plastische Verformung ....................................................................................157 5.1 Phänomenologie der plastischen Verformung ........................................157 5.1.1 Erscheinungsformen .........................................................................157 5.1.2 Verformungsmechanismenkarten .....................................................158 5.2 Kinetik der plastischen Verformung .......................................................160 5.2.1 Versetzungsbewegung ......................................................................160 5.2.2 Versetzungskinetik ............................................................................164 5.2.3 Bedeutung der Kinetik der Versetzungsbewegung für die Beschreibung und Charakterisierung der plastischen Verformung ................172 5.3 Niedertemperaturplastizität .....................................................................174 5.3.1 Merkmale ..........................................................................................174 5.4 Hochtemperaturplastizität .......................................................................179 5.4.1 Merkmale ..........................................................................................179 5.4.2 Beschreibung des zeitabhängigen Verformungsverhaltens ..............182 5.4.3 Grundmechanismen ..........................................................................185 5.5 Wechselverformung ................................................................................201 5.5.1 Merkmale ..........................................................................................201 5.5.2 Beschreibung der Wechselverformung .............................................203 5.5.3 Mechanismencharakteristik bei Wechselverformung .......................207 5.5.4 Materialgedächtniseffekte .................................................................211
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6 Schädigung ..................................................................................................... 213 6.1 Technische Ursachen von Ausfällen ...................................................... 213 6.2 Materialphysik der Schädigung .............................................................. 215 6.2.1 Problematik der Ursacheninterferenz ............................................... 215 6.2.2 Wichtige nichtmechanische Schädigungsmechanismen .................. 216 6.2.3 Mechanismen der mechanischen Schädigung von Werkstoffen ...... 219 6.3 Modellierung der Materialschädigung ................................................... 235 6.3.1 Problematik der Schädigungsmodellierung ..................................... 235 6.3.2 Bruchmechanische Konzepte ........................................................... 236 6.3.3 Empirische Ermüdungsmodelle ....................................................... 261 6.3.4 Kontinuums-Schadensmechanik ...................................................... 269 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden ....................................................... 273 7.1 Problematik der experimentellen Untersuchung .................................... 273 7.2 Entwicklung, Ziele und Verfahren der klassischen Werkstoffprüfung .. 275 7.2.1 Historische Entwicklung .................................................................. 275 7.2.2 Verfahren und Ziele ......................................................................... 276 7.2.3 Entwicklung miniaturisierter Versuche ........................................... 280 7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben ............................... 282 7.3.1 Grundproblematik ............................................................................ 282 7.3.2 Besonderheiten der Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben ....... 283 7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche .............................................. 306 7.4.1 Ziele der Probengestaltung .............................................................. 306 7.4.2 Idealisierte Bulkproben .................................................................... 309 7.4.3 Idealisierte Mikroproben .................................................................. 312 7.4.4 Reale Mikroproben .......................................................................... 318 7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben ............. 323 7.5.1 Prüfmaschinenkonzepte ................................................................... 323 7.5.2 Kleinlastprüfmaschinen ................................................................... 325 7.5.3 Prüfmaschinen für Scherversuche an kleinvolumigen Kontakten ... 333 7.5.4 Ring-Pin-Prüfmaschinen für Lot in Durchkontaktierungen ............ 346 8 Experimentelle Ergebnisse ............................................................................. 349 8.1 Bewertung des Datenmaterials ............................................................... 349 8.2 Einstoffsystem - Zinn ............................................................................. 350 8.2.1 Auswahl des Datenmaterials ............................................................ 350 8.2.2 Elastische Eigenschaften .................................................................. 351 8.2.3 Instantanplastische Verformung ...................................................... 353 8.2.4 Kriechverhalten ................................................................................ 355 8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei ......................... 356 8.3.1 Auswahl des Datenmaterials ............................................................ 356 8.3.2 Elastische Eigenschaften .................................................................. 359 8.3.3 Instantanplastische Verformung ...................................................... 361 8.3.4 Kriechverhalten ................................................................................ 369
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8.3.5 Rissausbreitungsverhalten ................................................................379 8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber ...............................386 8.4.1 Auswahl des Datenmaterials .............................................................386 8.4.2 Elastische Eigenschaften ...................................................................388 8.4.3 Instantanplastische Verformung .......................................................390 8.4.4 Kriechverhalten .................................................................................394 8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer ....................418 8.5.1 Auswahl des Datenmaterials .............................................................418 8.5.2 Elastische Eigenschaften ...................................................................419 8.5.3 Instantanplastische Verformung .......................................................422 8.5.4 Kriechverhalten .................................................................................425 8.5.5 Rissausbreitungsverhalten an Flip-Chip-Kontakten .........................445 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen .................................447 9.1 Mechanik und Werkstoffphysik für die Elektronik ................................447 9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten .....450 9.2.1 Ausgangspunkt ..................................................................................450 9.2.2 Auswertung des Datenmaterials an Sn-basierten Loten ...................452 9.2.3 Bezug zur Werkstoffstruktur der Lotlegierungen .............................458 9.2.4 Schlussfolgerungen bezüglich der Mikrofügetechnologien .............460 9.3 Modelle - Schnittstelle zwischen Experiment und Simulation ...............461 9.4 Gestaltung einer entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung .467 9.4.1 Erfordernisse .....................................................................................467 9.4.2 Retrospektive der eigenen Untersuchungen .....................................469 9.4.3 Ableitungen für die Zukunft einer entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung .................................................................471 Literaturverzeichnis ..............................................................................................475 Weiterführende Literatur zu den Kapiteln............................................................509 Sachverzeichnis ....................................................................................................511
1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten
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1 Problematik 1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten Ausfälle sind ein Phänomen, welches eng mit der technischen Entwicklung verbunden ist. Besonders bei der Einführung neuer Konstruktions- und Funktionsprinzipien oder bei Werkstoffsubstitutionen zur Gewichtseinsparung und Kostensenkung kommt es gehäuft zum Versagen bestimmter technischer Strukturen. In der Geschichte der Technik wurden diese Ausfallprobleme sehr oft durch eine iterative Weiterentwicklung überwunden, welche zum einen die Anwendung neuer Prinzipien oder Werkstoffe erlaubte, auf der anderen Seite jedoch einen hohen Grad der Zuverlässigkeit einer technischen Konstruktion gewährleistete. Die Zuverlässigkeit, d. h. die Aufrecherhaltung einer bestimmten technischen Funktion über einen definierten Zeitraum, war und ist ein die technische Entwicklung begrenzender Faktor. Aus diesem Grund ist die Beschäftigung mit Ausfällen und Versagen in technischen Strukturen ein wichtiger Baustein für die Konstruktion neuartiger technischer Anordnungen. Auch bei der Entwicklung der modernen Elektronik, welche nach der Erfindung des Transistors Ende der vierziger und mit der Entwicklung des Konzeptes der integrierten Schaltkreise während der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts mittlerweile in allen Bereichen der Technik und Gesellschaft Einzug gehalten hat, spielt das Auftreten von Ausfällen eine bedeutende Rolle. Die geradezu explosionsartige Entwicklung der Elektronikanwendungen wurde nur durch die ständige Veränderung des Aufbaus mikroelektronischer Bauelemente sowie der für ihre Herstellung notwendigen Technologien möglich. Diese Veränderungen waren verbunden mit einer exponentiellen Verkleinerung der Transistorabmessungen zur Erhöhung der Integrationsdichte, d. h. Transistoren pro Fläche, bei gleichzeitiger Vergrößerung der Chipflächen mit dem Ziel der Erhöhung des Gesamtintegrationsgrades, d. h. Transistoren pro integriertem Schaltkreis. Diese dynamische Entwicklung führte nicht nur im Gebiet der Halbleitertechnik zu einem erheblichen Bedarf an der systematischen Untersuchung von Ausfällen in den sich permanent verändernden Strukturelementen integrierter Schaltkreise, sondern erzeugte - wenngleich mit etwas Verzögerung - auch bei dem angrenzenden Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik ein vergleichbares wissenschaftlich-technisches Betätigungsfeld. Zwar war die Aufbau- und Verbindungstechnik, welche sich vorrangig mit der physischen Systemintegration, d. h. der Verbindung verschiedener spezialisierter Bauelemente (z. B. Sensoren, Speicher- und Logikschaltkreise, Leistungstreiber) zu kompletten Geräten (elektronischen Systemen), befasst, zunächst in der Lage, mit den von ihr entwickelten Techniken zum Aufbau elektronischer Geräte integrierte Schaltkreise weiterverarbeiten zu können, jedoch zog die dynamische Entwicklung in der Halbleitertechnik bald eine drastische Erhöhung des Entwicklungstempos in der Aufbau- und Verbin-
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1 Problematik
dungstechnik nach sich, um die steigenden Anforderungen durch höhere Anschlusszahlen und Integrationsdichten befriedigen zu können. Dieser Prozess ist durch eine Reihe tiefgreifender Änderungen in den Aufbaustrukturen, in den Herstellungstechnologien sowie im Werkstoffeinsatz gekennzeichnet. Durch diese permanenten Veränderungen entstehen jedoch auch immer wieder neue Ausfälle, von denen ein Großteil auf eine thermisch-mechanische Beanspruchungsproblematik zurückzuführen ist. Darunter fallen Ausfälle, deren Ursache entweder thermischer oder mechanischer Natur ist. In den meisten Fällen liegt jedoch eine Kombination thermischer und mechanischer Ursachen vor. Durch diesen Umstand hat das zur Elektrotechnik gehörende Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik in der Frage der Zuverlässigkeit von Einzelstrukturen bzw. Aufbauten einen großen Grad an Gemeinsamkeit mit den in Teilgebieten des Maschinen-, Anlagen- oder Fahrzeugbaus gestellten Fragen zur Betriebssicherheit von Anlagen bzw. Bauteilen. In Abb. 1.1 sind Totalausfälle an einem Lotkontakt eines elektronischen Aufbaus sowie einer Turbinenschaufel gegenübergestellt. In beiden Fällen führten thermisch-mechanische Beanspruchungen während des Betriebes zu einem letalen Riss, welcher die Aufrechterhaltung der technischen Funktion dieser Strukturen beendete. Durch solche Gemeinsamkeiten in den Fragen der Ausfallproblematik ergibt sich für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik auf den ersten Blick die Möglichkeit der transdisziplinären Nutzung der in den anderen Gebieten bereits erarbeiteten Methoden zur Lösung der Ausfallproblematik. Anders als bei der Konstruktion von großtechnischen Anlagen, wie Kraftwerken, Schiffen, Schienenfahrzeugen, Flugzeugen oder Ölplattformen, spielte die tiefgehende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem mechanischen Verformungs- und Schädigungsverhalten der eingesetzten Werkstoffe bei der Entwicklung, Konstruktion und Fertigung elektronischer Geräte in den letzten Dekaden eine eher untergeordnete Rolle. Zwar waren bestimmte Ausfälle in großtechnischen Anlagen als auch in elektronischen Geräten auf eine vergleichbare Ursache -
Abb. 1.1 Bilder vergleichbarer Schadensfälle in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik und im Anlagenbau: Metallografischer Querschliff vom Bruch in einer Flip-Chip-Lotverbindung (links); Bruchfläche einer zerborstenen Turbinenschaufel aus [1] (rechts)
1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten
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wechselnde thermische und mechanische Beanspruchungen - zurückzuführen, jedoch waren die Strategien, mit denen versucht wurde, diese Problematik zu bewältigen, verschiedene. Um die Zuverlässigkeit elektronischer Geräte zu gewährleisten, welche z. B. mit einer neuen Technologie bzw. einem erhöhten Technologieniveau realisiert werden sollten, wurden entsprechende Versuchsmuster in unterschiedlichen Realisierungsvarianten aufgebaut und verschiedenen Umwelttests, welche einen beschleunigten Ausfall hervorriefen, unterzogen. Aus den so ermittelten Testausfällen ging hervor, ob eine Realisierungsvariante unter dem Aspekt der Zuverlässigkeit für eine Massenproduktion tauglich war bzw. welche Schwachstellen an den bisher getesteten Realisierungsvarianten verbessert werden mussten, um zu einer zuverlässigen Lösung zu gelangen. Ein solches Vorgehen war für die Konstruktion und Realisierung eines hochseetauglichen Öltankers oder gar eines Atomkraftwerkes natürlich undenkbar. Für die Konstruktion solcher großtechnischen Realisierungen war ein methodisches Vorgehen notwendig, welches durch geeignete wissenschaftliche Durchdringung der Problematik die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls weitgehend minimierte. Aus diesem methodischen Vorgehen entwickelten sich zum einen das eher theoretisch geprägte Wissenschaftsgebiet der Berechnung von kritischen mechanischen Beanspruchungen in technischen Strukturen sowie das eher experimentell geprägte Gebiet der Charakterisierung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens von Werkstoffen. Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden von akademischer Seite verstärkt Versuche unternommen, die von anderen Gebieten der Ingenieurwissenschaft bekannte Methodik der theoretischen Beurteilung der Zuverlässigkeit elektronischer Aufbauten durch Berechnung kritischer Beanspruchungen auch bei der Konstruktion elektronischer Geräte einzusetzen. Um die Jahrhundertwende wurde diese methodische Veränderung in der Zuverlässigkeitsarbeit auch von den FuE-Abteilungen großer Elektronikkonzerne anerkannt. So formulierte Zhang von der Philips CFT in verschiedenen Aufsätzen [2, 3], dass der traditionelle Entwurfsansatz über Trail-and-Error-Methodik (d. h. Entwurf, Aufbau und Test einer Variation verschiedener physischer Prototypen) gegenwärtig nicht mehr wettbewerbsfähig sei, da er nicht garantiere, dass ein Packageentwurf Leistungs- und Zuverlässigkeitskriterien erfülle und gleichzeitig schnell, ökonomisch und umweltfreundlich produziert werden könne. Aus dem derzeitigen Stand und den voraussehbaren Tendenzen der Entwicklung in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik lässt sich aus der momentan entstandenen Ausfallproblematik ableiten, dass unbekannte Zuverlässigkeitseigenschaften sich zu einem erheblichen Moderator bei der Umsetzung neuer Technologien entwickeln könnten. Daher scheint eine tiefgehende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem mechanischen Verformungs- und Schädigungsverhalten der eingesetzten Werkstoffe in Zusammenhang mit Simulationstechniken und nummerischen Bewertungsverfahren notwendig, um mangelnde Zuverlässigkeit bei zukünftigen Produktlösungen zu verhindern.
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1 Problematik
1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus Durch den Einsatz von Simulationstechniken zur Analyse thermisch-mechanischer Schädigungsprozesse lässt sich eine Bewertung der Zuverlässigkeitseigenschaften neuartiger elektronischer Aufbaukonzepte während der Entwurfsphase durchführen. Im Gegensatz zu traditionellen Vorgehensweisen soll diese Bewertung nicht mehr durch Aufbau und Erprobung physischer Technologie- bzw. Produktdemonstratoren erfolgen, sondern Teil einer virtuellen Prototypenentwicklung, -erprobung und -optimierung sein. Dieses unter den englischen Termini „UpfrontModeling“, „Virtual-Reliability-Methodology“ oder „Virtual-Prototyping“ zusammengefasste Vorgehen wird momentan als Lösungsmethodik für die mit zukünftigen Produktentwicklungen verbundenen Probleme, welche aus dem Zwang der stetigen Miniaturisierung und Integrationserhöhung und dem damit verbundenen Einsatz immer komplexerer Herstellungsverfahren resultieren, gesehen [4-6]. Dadurch sollen z. B. die relativ langen Vorlaufzeiten (mehrere Jahre) für die Entwicklung neuer Bauelementetypen für integrierte Schaltkreise befriedigt werden, indem sowohl die Komponentenzuverlässigkeit (First-Level-Reliability) als auch die Bauteilzuverlässigkeit (Second-Level-Reliability) für die Verarbeitung und den Betrieb eines neu konzipierten Bauelementetyps über Simulationsuntersuchungen bewertet werden [5]. Zur Bewertung neuer Aufbaukonzepte sowie zur Ableitung von Gestaltungshinweisen werden in der Regel verschiedene Typen von Analysen durchgeführt. Zu den gebräuchlichsten Analysen zählen dabei [7]: • Die Lokalisierung von Gebieten kritischer thermo-mechanischer Beanspruchungen. Hieraus lassen sich wichtige Hinweise ableiten, welche die Durchführung von Experimenten zur Beschleunigung von Ausfallmechanismen, wie z. B. Temperaturwechseltests, wesentlich effektivieren können, indem der Umfang der durchzuführenden Experimente beschränkt wird und eine gezielte Suche nach zu erwartenden Ausfällen, z. B. durch metallografische Präparationen, erfolgen kann. • Parameterstudien zur Optimierung gestaltungs- und materialtechnischer Kombinationen in neuartigen Aufbaukonzepten. Durch verschiedene Hypothesen über die geometrische Gestaltung neuer Aufbauten und über die für solche Aufbauten einzusetzenden Werkstoffe lassen sich virtuell Aufbaukonzepte optimieren, ohne dass dafür physisch existierende Prototypen realisiert werden müssen. Dieses Vorgehen spart in erheblichem Maße Zeit und Kosten im Entwurfsprozess. • Die Vorhersage von zu erwartenden Lebensdauern eines Aufbaukonzeptes bei Belastung durch einen spezifischen Qualifizierungstest (z. B. Temperaturwechseltest). Ohne Aufbau von Prototypen und ohne Durchführung zeitraubender Tests können neue Aufbaukonzepte bezüglich der zu erwartenden Lebensdauern bewertet werden, wodurch sich weitgehend aussichtslose Konzepte frühzeitig aussortieren lassen.
1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus
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Abb. 1.2 FEM-Simulation thermomechanischer Beanspruchungen in elektronischen Aufbauten: Metallografischer Querschliff der Lotstelle eines Chipkondensators (CC 1812) in einer Vergrößerung von X 100 (links), FEM-Netz eines Viertels des Chipkondensators (Symmetrieausnutzug) auf einem Verdrahtungsträgersegment (rechts)
Zur Durchführung von Simulationen hat sich die den verschiedenen Softwarepaketen, wie ANSYS, ABAQUS oder MARC, zugrunde liegende Methode der Finiten Elemente (FEM) als die effektivste herausgestellt (Abb. 1.2). Dadurch ist es methodisch möglich, zielgerichtet und mit einem gut kalkulierbaren Zeitaufwand die zum Teil komplexen geometrischen Verhältnisse der verschiedenen Einzelstrukturen in elektronischen Aufbauten nachzubilden. Weiterhin erlauben die genannten Softwarepakete die Berücksichtigung nichtlinearer Materialeigenschaften, welche bei den in elektronischen Aufbauten verwendeten Werkstoffen elementar sind. Zur Erzielung aussagekräftiger Ergebnisse mit FEM-Simulationen sind jedoch eine Reihe von Vorbereitungen notwendig. Diese umfassen mindestens die Kenntnis der folgenden drei die Simulationsergebnisse bestimmenden Faktoren [7, 8]: • Geometrie: Die konkrete Anordnung der Einzelstrukturen mit ihren spezifischen Abmaßen müssen dem Simulationsprogramm vorgegeben werden. Dabei ist zu entscheiden, welche Details, z. B. komplizierte Geometrien von Phasenübergängen, entsprechend vereinfacht werden, um den Simulationsaufwand in vernünftigen Grenzen zu halten. • Belastung: Der Verlauf der Temperatur- bzw. der mechanischen Belastungen (z. B. bei Biegung oder Vibration) müssen vorgegeben werden. • Werkstoffeigenschaften: Bestimmte Materialeigenschaften müssen den dargestellten Einzelstrukturen zugewiesen werden. Diese umfassen in der Regel mechanische, d. h. E-Modul, Querkontraktionszahl, Fließgrenze etc., gegebenenfalls auch thermische Größen, d. h. Wärmeleitfähigkeit etc., und Koppelgrößen, wie den thermischen Ausdehnungskoeffizienten.
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1 Problematik
Der praktische Einsatz von Simulationstechniken im Entwurfszyklus während der letzten Jahre hat gezeigt, dass besonders die Bereitstellung von Werkstoffdaten eine sehr aufwendige und methodisch noch nicht vollständig durchdrungene Aufgabe ist. Dabei ist zu beobachten, dass sich die Werkstoffdatenermittlung seit der Einführung von FEM-Simulationstechniken im Entwurfszyklus elektronischer Aufbauten zunehmend verselbstständigt. Ausschlaggebend für die Emanzipation der experimentellen Untersuchung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens von der ihr funktionell übergeordneten Gesamtaufgabe der Simulationsuntersuchung sind sowohl der zeitliche als auch der methodische Aspekt, in dem sich die experimentelle Untersuchung der Werkstoffe und die eigentlichen Simulationsuntersuchungen gegenüberstehen. Alle bisherigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass der für experimentelle Werkstoffuntersuchungen benötigte Zeitumfang ein Vielfaches des für die eigentliche Simulationsuntersuchung benötigten beträgt und dass dieses Verhältnis tendenziell steigt. Wird die Ausgangsintention des Einsatzes von Simulationstechniken betrachtet, so wird klar, dass der erhebliche zeitliche Aufwand, welcher mit der Ermittlung bestimmter Werkstoffeigenschaften verbunden ist, dem eigentlichen Konzept der virtuellen Prototypenentwicklung entgegenwirkt, da einer der wesentlichen Vorteile dieses Ansatzes in der Verkürzung von Entwicklungszeiten gesehen wird. Aus dieser zeitlichen Diskrepanz ergibt sich die Notwendigkeit, zeitintensive Werkstoffuntersuchungen dem Prozess der virtuellen Prototypenentwicklung vorzulagern, sodass alle mit einem hohen zeitlichen Untersuchungsaufwand verbundenen Werkstoffeigenschaften bereits zu Beginn einer simulationsgestützten Bewertung und Optimierung neuartiger Aufbaukonzepte vorliegen, um die durch den Einsatz von Simulationstechniken angestrebten zeitlichen Verkürzungen bei der Erarbeitung aussichtsreicher Aufbaukonzepte innerhalb der Entwurfsphase erreichen zu können. Aufgrund dieses zeitlichen Aspektes teilen sich die für den Zweck von Simulationsuntersuchungen betriebenen Werkstoffcharakterisierungen in den Bereich der methodisch unaufwendigen, schnell durchführbaren Standarduntersuchungen, wie E-Modul-Bestimmung, und in den Bereich methodisch oder zeitlich sehr aufwendiger Charakterisierungen, wie z. B. Kriechversuche, auf. Durch die notwendige Vorverlegung zum eigentlichen Simulationsprozess verlieren alle mit hohem zeitlichen oder methodischen Aufwand verbundenen experimentellen Werkstoffuntersuchungen jedoch ihre unmittelbare Unterordnung gegenüber der Simulationsuntersuchung im konkreten Entwurfsprozess (Abb. 1.3). Dies hat wiederum weitreichende Folgen für die Kernfragen, welche durch die experimentelle Charakterisierung von Werkstoffeigenschaften beantwortet werden sollen. Da durch die mit der Vorverlegung verbundene Loslösung von konkreten Simulationsuntersuchungen auch keine gezielten Anforderungen der Simulation an die Werkstoffuntersuchung gestellt werden können, müssen die Untersuchungsziele für diese Werkstoffcharakterisierungen aus anderen Ansätzen, d. h. allgemeinen Betrachtungen zur Entwicklung von Aufbaukonzepten, abgeleitet werden, um dem Ziel der Bereitstellung relevanter Werkstoffdaten gerecht zu werden.
1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus
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Problemstellung
Design of Experiment
Simulationsrechnung Materialdatenbestimmung
Verkürzung
Vorverlegung
Materialdatenbestimmung
Response Surface Model (Antwortfläche)
Zuverlässigkeitskriterien erfüllt?
Abb. 1.3 Schematische Darstellung der Zeiteinsparung im Entwicklungsprozess durch Vorverlegung der Werkstoffuntersuchung zur Bereitstellung von Werkstoffdaten
Die dargestellte Loslösung und Verselbstständigung der Werkstoffcharakterisierung hat weitreichende Folgen für die Ausrichtung von Experimenten und die Entwicklung experimenteller Methoden. Waren zunächst konkrete Probleme bestimmter Aufbaukonzepte, wie z. B. die Bewertung der Zuverlässigkeit von Flip-Chip-Aufbauten [9-13], bestimmend für Zielrichtung und Umfang werkstoffund schädigungsmechanischer Charakterisierungen, so entstehen im Zuge der Verselbstständigung den konkreten Untersuchungen übergeordnete Untersuchungsziele. Diese übergeordneten Untersuchungsziele sind auf eine langfristige Beantwortung grundsätzlicher Fragestellungen ausgerichtet, welche sich aus den verschiedenen konkreten Charakterisierungsaufgaben ergeben. Aus der schrittweisen Beantwortung dieser Fragestellungen ergeben sich Möglichkeiten der Qualifizierung und Weiterentwicklung der bisher erarbeiteten Methoden zur Werkstoffcharakterisierung als auch eine bessere wissenschaftliche Durchdringung der mit der Charakterisierung verbundenen werkstoffphysikalischen Grundeffekte [14-16].
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1 Problematik
Die übergeordneten Untersuchungsziele ergeben sich aus verschiedenen mit den Werkstoffen und der Aufbautechnik der Elektronik zusammenhängenden Aspekten. Zu den wichtigsten zählen dabei das Verformungsverhalten, der funktionelle Einsatz der verschiedenen Werkstoffklassen in elektronischen Aufbauten, die zu erwartende Entwicklung der Aufbaukonzepte und die zu erwartenden thermischmechanischen Problemfelder in elektronischen Aufbauten. Grundsätzlich teilen sich die übergeordneten Untersuchungsziele nach den Werkstoffklassen Metalle und Polymere auf. Die Werkstoffklasse der Keramiken erfordert aufgrund ihres vergleichsweise einfach charakterisierbaren mechanischen Verhaltens keine übergeordneten Grundlagenuntersuchungen. Die grundsätzliche Unterscheidung der übergeordneten Untersuchungsziele nach metallischen und polymeren Werkstoffen hängt mit der sehr verschiedenen Werkstoffstruktur, dem sich daraus ergebenden qualitativ unterschiedlichen Verformungs- und Schädigungsverhalten und der unterschiedlichen funktionellen Verwendung in elektronischen Aufbauen zusammen. Gemeinsam ist den Werkstoffen beider Klassen ein komplexes, von Temperatur-, Zeit- und Herstellungsbedingungen abhängiges Verformungs- und Schädigungsverhalten, welches in der Regel eine sehr umfangreiche Werkstoffcharakterisierung und Modellierung notwendig macht. Aufgrund der allgemeinen strukturellen Aufbauprinzipien werden polymere Werkstoffe in der Regel als großflächige Trägerwerkstoffe eingesetzt, während metallische Werkstoffe in dünnen Schichten auf ihnen aufgebracht und strukturiert werden. Obwohl eine solche funktionelle Aufteilung nicht generell auf alle Bereiche elektronischer Aufbauten zutrifft, zeigt sich, dass Verformungs- und Schädigungsverhalten metallischer Werkstoffe grundsätzlich im Zusammenhang mit den Aspekten geringer Werkstoffabmessungen (also miniaturisierter Werkstoffstrukturen) diskutiert wird, während die Fragen der Miniaturisierung für die Charakterisierung polymerer Werkstoffe eine geringe bis keine Bedeutung haben.
1.3 Werkstoffverhalten und Miniaturisierung Im Zuge der Herstellung miniaturisierter elektro-mechanischer Systeme durch die Nutzung mikroelektronischer Verfahrenstechniken (MEMS) wurde klar, dass sich die mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen in mikroskopischen Strukturgrößen deutlich von denen in gewöhnlichen Abmessungen unterscheiden. Dieser Größeneffekt der mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen wurde zunächst vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung der Mikrosystemtechnik besprochen. Die Strukturen, an denen Größeneffekte beobachtet wurden, waren Dünnschichten oder stark miniaturisierte mechanische Elemente, wie z. B. Mikropinzetten oder Mikrofedern [17-21]. Ihre typischen Strukturabmessungen lagen im μm-Bereich. Aus diesem Grund war es zunächst unklar, ob sich diese Größeneffekte auch in Strukturelementen elektronischer Aufbauten zeigten, deren kleinste Abmessungen wenigsten mehrere μm betragen.
1.3 Werkstoffverhalten und Miniaturisierung
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Besonders umstritten war dabei beispielsweise die Frage nach größenabhängigen Kriecheigenschaften des eutektischen Zinn-Blei-Lotes Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre. Die Lotkontakte, in denen dieser Werkstoff verwendet wurde, hatten Abmaße im Bereich zwischen 0.1 mm ...1 mm, wobei je nach Alterungszustand mittlere Korngrößen im Bereich von ca. 5 μm ... 30μm für die Lotkontakte ermittelt wurden. Bei Berechnungen zum Schädigungsverhalten der Lotkontakte [22, 23] wurde auf eine Beschreibung des konstitutiven Verhaltens zurückgegriffen, welche aus Versuchen zum superplastischen Verhalten des SnPbSystems stammten [24-26]. In diesen Versuchen wurde extrudiertes Material mit Korngrößen zwischen 1...10 μm verwendet. Im Vergleich mit späteren Untersuchungen an realen Lotkontakten [27-29] stellte sich jedoch heraus, dass das an großvolumigen Proben aufgenommene Materialverhalten bei der gleichen Korngröße zwar ein vergleichbares qualitatives Kriechverhalten hatte, jedoch eine um Größenordnungen höhere Kriechgeschwindigkeit aufwies. In späteren Untersuchungen an dünnen Lotspalten wurde außerdem eine umgekehrte Abhängigkeit der Kriechgeschwindigkeit von der Korngröße wie in den Untersuchungen zur Superplastizität an großvolumigen Proben festgestellt [30], ohne dass dafür eine befriedigende werkstoffphysikalische Erklärung gefunden werden konnte. Die Schwierigkeit, die den Diskussionen, wie z. B. den um die Größenabhängigkeit des Kriechverhaltens in Lotkontakten, zugrunde lag, resultierte aus dem mangelhaften Verständnis der materialphysikalischen Hintergründe des Größeneffekts. Der Größeneffekt ist kein einzelnes Phänomen, sondern ergibt sich aus einer Kombination verschiedener werkstoffphysikalischer Erscheinungen. Für metallische Werkstoffe - welche innerhalb dieser Arbeit im Zusammenhang mit dem Größeneffekt betrachtet werden - werden bisher vor allem die Gefügeabhängigkeit mechanischer Eigenschaften sowie Gradienten- und Oberflächeneffekte als Auslöser für größenabhängige mechanische Eigenschaften gesehen. Die Gefügeabhängigkeit mechanischer Eigenschaften ist eine schon lange bekannte werkstoffphysikalische Erscheinung. Die Tatsache, dass die Größe intrinsischer struktureller Elemente, Körner, Phasen oder Ausscheidungen eines Werkstoffes, sehr stark seine mechanischen Eigenschaften bestimmt, wurde zunächst im Zusammenhang mit der gezielten Erzeugung bzw. Verbesserung mechanischer Eigenschaften metallischer Werkstoffe verwendet. Zu den bekanntesten Effekten zählen dabei die Hall-Petch-Beziehung, der Orowan-Effekt und der Friedel-Effekt. Während durch Ausnutzung dieser Effekte, d. h. durch Einstellung bestimmter Korn- und Ausscheidungsgrößen, die mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen in makroskopischen Strukturgrößen gezielt eingestellt werden können, ergibt sich aufgrund der gleichen Effekte in mikroskopischen Strukturabmessungen oft eine unbeabsichtigte Änderung der mechanischen Eigenschaften. Der durch die Gefügeabhängigkeit hervorgerufene Größeneffekt kommt in der Regel aufgrund der durch kleine Abmessungen hervorgerufenen qualitativen Unterschiede bei der Formierung eines Werkstoffes, z. B. beim Erstarren oder Aufwachsen, zustande. Gradienteneffekte, welche die mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen beeinflussen können, sind darauf zurückzuführen, dass die Größe mikrostrukturel-
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1 Problematik
ler Elemente gegenüber dem Verlauf einer Beanspruchung nicht zu vernachlässigen ist. In metallischen Werkstoffen sind Beanspruchungsgradienten mit einer stärkeren Biegewirkung auf das Kristallgitter verbunden, wodurch ein plastisches Abgleiten hervorgerufen werden kann, welches wiederum zu einer beträchtlichen Verfestigung des Werkstoffs führt. Sehr eindrucksvoll wurden Gradienteneffekte in einem Experiment von Stolken und Evans [31] demonstriert, welche einen Biegeversuch an einer weichgeglühten Nickelfolie durchführten. Die größte Verfestigung (400%) wurde dabei beim kleinsten Verhältnis zwischen der Dicke und Länge der gebogenen Folie erreicht. Für bestimmte Strukturen, wie z. B. dünne Schichten, können Größeneffekte durch ein verändertes Verhältnis von Volumen zu Oberflächen zustande kommen. Oberflächen stellen eine Materialgrenze dar, an der qualitativ andere Gesetzmäßigkeiten herrschen als im Materialinneren. Wird beispielsweise eine polykristalline metallische Schicht betrachtet, so ist davon auszugehen, dass Versetzungen diese an freien Oberflächen sehr leicht verlassen können, wodurch sich die Verformbarkeit der Schicht erhöht. Ist die metallische Oberfläche jedoch beispielsweise durch einen Oxidfilm bedeckt, so stauen sich Versetzungen an dieser auf, was zu einer Verfestigung führt. Da der Einfluss der Oberflächeneffekte auf die Gesamtverformung der Schicht umso größer wird, je dünner diese ist, ergibt sich daraus eine Größenabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften. Aus den aufgeführten werkstoffphysikalischen Erscheinungen wird deutlich, wie verschieden die Hintergründe für Größeneffekte des mechanischen Verhaltens in Werkstoffen sein können. Aus diesem Grund ist bei der Bewertung experimenteller Erkenntnisse, welche durch Versuche an miniaturisierten Proben gewonnen wurden, eine sehr differenzierte Betrachtungsweise nötig. Neben der eigentlichen Größe können auch andere Randbedingungen, wie z. B. veränderte Herstellungsbedingungen, Ursache experimentell beobachteter Veränderungen im mechanischen Verhalten sein.
1.4 Verformungsverhalten von Metallen 1.4.1 Bedeutung
1.4.1.1 Werkstoffmodelle in Simulationsrechnungen Um die mechanische Integrität eines elektronischen Aufbaus bewerten zu können, ist es notwendig, die Verformungen der einzelnen Strukturelemente dieses Aufbaus unter bestimmten Belastungen zu berechnen. Eine wichtige Voraussetzung für derartige Berechnungen ist die Kenntnis des Verformungsverhaltens eines Stoffes, welche darüber Auskunft gibt, welchen Widerstand ein aus diesem Werkstoff bestehendes Strukturelement der Verformung unter einer bestimmten Belas-
1.4 Verformungsverhalten von Metallen
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tung entgegenbringt. Das generelle Verformungsverhalten eines metallischen Werkstoffs ist jedoch sehr komplex und hängt von einer Vielzahl äußerer und innerer Faktoren ab. Aus diesem Grund ist es nahezu unmöglich, eine vollständige Beschreibung des Verformungsverhaltens eines Werkstoffes anzufertigen. Stattdessen werden Beschreibungen angestrebt, die die wichtigsten Merkmale des Verformungsverhaltens eines Werkstoffes unter definierten Grenzen für die Wahl äußerer Parameter (Temperatur, Last) und innerer Parameter (Gefüge, Verformungszustand) widerspiegeln. Um solche Beschreibungen anzufertigen, d. h. das Verformungsverhalten eines Werkstoffes richtig zu modellieren, ist es notwendig, die wichtigsten Erscheinungsformen der Verformung den entsprechenden Randbedingungen der Verformung zuzuordnen.
1.4.1.2
Experimentelle Untersuchung und Physik der Verformung
Neben seiner Bedeutung für die Berechnung der Verformungsreaktion in der Simulation von Beanspruchungsfällen ist die genaue Vorstellung über das qualitative Verformungsverhalten auch bei der Charakterisierung der mechanischen Eigenschaften eines Werkstoffes sehr wichtig. Dies gilt besonders wenn - wie für die mechanische Bewertung neuer elektronischer Aufbaukonzepte angestrebt (vgl. 1.2) - die Werkstoffcharakterisierung dem Entwurfsprozess zeitlich begrenzt vorgelagert ist. Aus der zweckgebundenen Aufgabe, relevante und hinreichend genaue Werkstoffmodelle für Simulationsrechnungen zur Verfügung zu stellen, ergeben sich an die Werkstoffdatenermittlung besondere Anforderungen. Die spezifische Problematik der experimentellen Charakterisierung wird daher im Wesentlichen durch zwei Aspekte bestimmt. Der erste hängt mit den in 1.3 besprochenen Größeneffekten des mechanischen Verhaltens von Metallen zusammen und erwächst aus dem Zweifel der Übertragbarkeit der an makroskopischen Probekörpern gewonnenen Daten auf den Mikrobereich. Unter diesem Aspekt müssen vor allem methodische Fragen, welche mit Versuchsaufbauten und dem Probekörperaufbau zusammenhängen, gelöst werden. Der zweite Aspekt wird durch die zeitlichen und evolutionären Charakteristika des Entwurfszyklus für neue elektronische Aufbauten hervorgerufen. Verschiedene Entwicklungsstufen elektronischer Aufbauten sind sehr oft durch erhebliche materialtechnische Veränderungen gekennzeichnet, da strukturelle und technologische Innovationen oft unzureichend sind, um die mit der permanenten Steigerung der Integrationsdichte verbundenen Probleme vollständig zu lösen. Bevor materialtechnische Veränderungen vorgenommen werden können, ist es im Vorfeld eines Entwurfszyklus jedoch erforderlich, durch einen Selektionsprozess geeignete Werkstoffe für bestimmte konzeptionelle Veränderungen in elektronischen Aufbauten zu finden. Für viele der in diesem Selektionsprozess betrachteten Werkstoffe liegen jedoch in der Regel keine oder nur wenige Materialdaten vor. Durch diesen Umstand ergibt sich für die experimentelle Untersuchung des mechanischen Verhaltens die Notwendigkeit, in einem zeitlich begrenzten Rahmen
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1 Problematik
einen Werkstoff mit weitestgehend unbekannten Eigenschaften zu charakterisieren. Dies erfordert eine sehr effektive Untersuchungsmethodik. Günstig erweist sich hierbei ein iteratives Vorgehen, wobei bei jeder Iteration ein Abgleich zwischen dem ermittelten Verformungsverhalten, der zugrunde liegenden Werkstoffphysik und dem aus der Simulationsrechnung der ermittelten Verformungsreaktion abgeleiteten Lastbereich vorgenommen wird. Dabei lässt sich aus den werkstoffphysikalischen Modellen die Art der durchzuführenden Versuche, z. B. Kriechversuch, ableiten, wobei gleichzeitig aus den gewonnenen Experimentalergebnissen der tatsächliche Geltungsbereich der Modelle im durch den aus der Verformungsreaktion abgeleiteten Lastbereich (z. B. Spannung, Dehnungsrate, Temperatur) eingeschätzt werden kann. Ein solches Vorgehen erfordert eine genaue Kenntnis der zugrunde liegenden werkstoffphysikalischen Mechanismen, da die Annahme nicht zutreffender Werkstoffmodelle zu Fehlinterpretationen der prinzipbedingt nicht sehr umfangreichen Experimentalergebnisse führen kann.
1.4.2 Verformungsverhalten
1.4.2.1 Begriff, Darstellung und Ermittlung des Verformungsverhaltens Das Verformungsverhalten eines Werkstoffes kennzeichnet den Zusammenhang zwischen der äußeren Belastung und der dadurch in einer aus dem Werkstoff bestehenden Struktur (d. h. in einem Bauteil) hervorgerufenen Gestaltänderung. Da es eine nur vom Werkstoff abhängige Eigenschaft verkörpert, bezieht sich das Verformungsverhalten in der Regel auf eine relative Gestaltänderung eines in der Struktur befindlichen Volumenelementes und dessen Beanspruchung durch eine äußere Belastung. Dabei ist es üblich, beide Größen für allgemeine Betrachtungen zum Verformungsverhalten auf eindimensionale Parameter - die Dehnung zur Beschreibung der Gestaltänderung und die Spannung zur Beschreibung der Beanspruchung - zu reduzieren. Hintergrund dieser Vereinfachungen ist die Tatsache, dass die meisten technisch genutzten metallischen Werkstoffe polykristallin sind und keine richtungsabhängigen Eigenschaften aufweisen. Die Umrechnung mehrdimensionaler Spannungs- und Dehnungszustände in eindimensionale Größen erfolgt über sogenannte Vergleichshypothesen, unter denen die von Huber-MisesHensky die am meisten verwendete ist. Die mit diesen Umrechnungen verbundenen Ungenauigkeiten sind insofern akzeptabel, da die Erfahrung ist, dass es eine exakte quantitative Vorhersage des gesamten Verformungsverhaltens unter komplexen Bedingungen nicht gibt [32] und dass es bei der experimentellen Bestimmung mechanischer Eigenschaften zu nicht unerheblichen Unsicherheiten kommt. Selbst bei einer scheinbar einfach zu bestimmenden Größe, wie der Fließspannung von metallischen Werkstoffen, gehen Frost und Ashby von einem Fehler von ± 10 % aus. Bei schwieriger zu bestimmenden Eigenschaften, wie dem Kriechverhalten, wird sogar ein Unterschied von zwei Größenordnungen für die Dehnungs-
1.4 Verformungsverhalten von Metallen
e
13
s
a)
b)
t s
t e
c)
d)
t
t
Abb. 1.4 Spannungs-Dehnungs-Diagramm, zusammengesetzt aus dem zeitlichen Verlauf von Spannung und Dehnung während des Versuches
rate bei gleicher Spannung angenommen [33]. Ursache dieser Unsicherheiten ist neben Messabweichungen vor allem die Schwierigkeit, die vielfältigen strukturellen Merkmale metallischer Stoffe zu erfassen und zu beschreiben, um zwischen verschiedenen Experimenten vergleichbare Verhältnisse zu schaffen. Zur Beschreibung des Spannungs-Dehnungs-Zusammenhangs wird das Werkstoffverhalten im Zugversuch betrachtet, bei dem die Probe eine homogene einachsige Beanspruchung erfährt. Im Versuch soll die Probe entweder einer Dehnungsbeanspruchung (Abb. 1.4a) oder einer Spannungsbeanspruchung (Abb. 1.4b) ausgesetzt und die Verformungsreaktion in Form der Spannungsantwort (Abb. 1.4c) bzw. der Dehnungsantwort (Abb. 1.4d) aufgezeichnet werden. Da die Zeit bei niedrigen homologen Temperaturen ( T ≤ 0, 3 ⋅ Ts ) für die meisten Metalle und Legierungen zumeist eine untergeordnete Rolle spielt, können die aus den beiden Versuchen für bestimmte Zeitpunkte existierenden Dehnungs-Spannungspaare bzw. Spannungs-Dehnungswerte in einem Spannungs-Dehnungs-Diagramm aufgetragen werden. Die sich aus den beiden Versuchen ergebenden Kurven liegen möglicherweise wegen ihres unterschiedlichen Zeitbezuges der Dehnung bzw. Spannung nicht ganz genau übereinander, jedoch ergibt sich in erster Näherung eine Kurve, welche das grundsätzliche Verformungsverhalten eines Metalls oder einer Legierung beschreibt.
14
1 Problematik
Das typische Aussehen von Spannungs-Dehnungs-Diagrammen für Metalle und ihre Legierungen ist in Abb. 1.5 skizziert. Folgt man dem Pfad des SpannungsDehnungs-Zusammenhanges, so stellt sich die typische Verformungscharakteristik von Metallen unter den eingangs genannten Bedingungen dar. Es ist zu erkennen, dass das Material zunächst der aufgebrachten Beanspruchung einen erheblichen Verformungswiderstand entgegensetzt, dass dieser aber bei Überschreiten einer bestimmten Spannung σF bzw. Dehnung εF deutlich zu sinken beginnt und das Material der fortan aufgebrachten Beanspruchung einen sehr viel geringeren Verformungswiderstand entgegen bringt. Dieser Wechsel im Verformungswiderstand markiert den Wechsel zwischen zwei Arten der Verformung, welche im entsprechenden Bereich dominieren - der elastischen Verformung ( 0 < σ < σF ) und der plastischen Verformung ( σ ≥ σF ) . Beide Arten der Verformung unterscheiden sich sowohl in den ihnen zugrunde liegenden mikrophysikalischen Mechanismen als auch in der phänomenologisch erfassbaren Gestalt der Verformung. Um die grundlegenden Unterschiede zwischen diesen beiden Arten der Verformung darzustellen, sollen beide in den folgenden Abschnitten getrennt voneinander behandelt werden, wobei sowohl der Zusammenhang zwischen phänomenologischen Erscheinungsformen und mikrophysikalischen Mechanismen als auch die Bedeutung und Anwendung der mit ihnen verbundenen typischen Werkstoffparameter besprochen werden soll.
s
elastisch
plastisch
sF
E
e Abb. 1.5 Charakteristisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm metallischer Werkstoffe
1.4.2.2 Arten der Verformung Das Grundproblem bei der Beschreibung der Verformung von Metallen ist, dass es eine Vielzahl von funktionalen Zusammenhängen zwischen verschiedenen die Verformung bestimmenden Parametern gibt. Aus werkstoffphysikalischer Sicht existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Mechanismen, welche das Verformungsverhalten von Metallen dominieren können, was eine einheitliche Betrachtung
1.5 Untersuchungsmethoden
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schwierig macht. Neben der grundsätzlichen Einteilung in elastische und plastische Verformung existieren für die plastische Verformung eine Reihe von verschiedenen Erscheinungsformen und Mechanismen. Um eine Übersicht über die verschiedenen, die plastische Deformation von Metallen dominierenden Mechanismen zu erhalten, wurde von Ashby und Frost [33] die Schaffung einer "Deformation Mechanism Map", ein Begriff, der in der deutschsprachigen Literatur als "Verformungsmechanismuskarte" oder "-landkarte" übersetzt wird, vorgeschlagen. Eine solche Karte soll alle für ein Material publizierten Daten auf der Basis der für die plastische Verformung formulierten theoretischen Modelle zusammenfassen. Obwohl sich aufgrund der Vielzahl von Eingangsparametern eine große Reihe von Karten ergäbe, sind nach Ansicht von Frost und Ashby vor allem Scherspannung-Temperatur-Diagramme mit überlagerten Äquidehnungsratelinien für den ingenieurtechnischen Gebrauch nützlich. Mithilfe der den Karten überlagerten Äquidehnungsratelinien ist z. B. der für einen konkreten Belastungsfall auftretende Hauptmechanismus der plastischen Verformung leicht ablesbar und damit die für die Modellierung des Deformationsverhaltens des Metalls notwendige Gleichung ableitbar.
1.5 Untersuchungsmethoden Die Problematik des Größeneffektes im mechanischen Verhalten von metallischen Werkstoffen hat wohl die größten Implikationen auf die Art und Weise, in der das Werkstoffverhalten zweckmäßigerweise untersucht werden muss. Die Frage der Größenabhängigkeit als wichtige Einflussgröße auf das mechanische Verhalten zieht die Notwendigkeit erheblicher Veränderungen der Untersuchungsmethodik gegenüber der klassischen Werkstoffprüfung nach sich. Die grundsätzliche Schwierigkeit bei der experimentellen Untersuchung des mechanischen Verhaltens besteht darin, dass dieses von einer großen Zahl äußerer und innerer Zustandsvariablen beeinflusst wird. Um die vielfältigen Phänomene des Deformations- und Schädigungsverhaltens qualitativ und quantitativ fassbar zu machen, ist es erforderlich, eine große Anzahl beschreibender Kennwerte bzw. Parameter experimentell zu ermitteln, damit die vielen Einzelreaktionen des Materials bei Veränderung der äußeren und inneren Zustandsvariablen möglichst exakt wiedergegeben werden können. Bei der Bestimmung von Materialparametern spielt vor allem der Bezug zu den durch werkstoffphysikalische Betrachtungen gefundenen halbquantitativen Beschreibungen eine wichtige Rolle. Diese physikalisch ausgerichteten Betrachtungen führen dazu, dass die Werkstoffparameter in der Regel nicht direkt aus den experimentellen Rohdaten, sondern über den Umweg der Modellierung der mechanischen Werkstoffreaktion bestimmt werden müssen. Die Aufgabe der Modellierung und somit auch die der Extraktion von Werkstoffparametern wird wesentlich erleichtert, wenn eine entsprechend einfache und
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1 Problematik
klare Gestaltung des Werkstoffexperiments vorgenommen wird. Hierzu zählen die Wahl einer einfach zu definierenden Belastung auf eine günstige Probekörperform (z. B. eine auf die Symmetrieachse einer Doppelschulterprobe aufgebrachte Zugbelastung), sodass ein einfach zu simulierender einachsiger Beanspruchungszustand im Material entsteht. Dadurch kann aus der probekörperabhängigen KraftLängenänderungs-Kurve durch eine einfache Reskalierung eine probekörperunabhängige, das Materialverhalten beschreibende Kurve erzeugt werden. Außerdem gestaltet sich durch die Wahl günstiger experimenteller Randbedingungen das Aufbringen einer definierten Beanspruchung auf die Probe (z. B. die Aufrechterhaltung einer konstanten Dehnungsrate während des Experiments) wesentlich einfacher. Das Bestreben nach einfach auszuwertenden Versuchen führte in der klassischen Werkstoffprüfung zu bestimmten Prinzipien beim Aufbau von Prüfmaschinen. Bei der Entwicklung einer experimentellen Versuchsmethodik für die Untersuchung stark miniaturisierter kleinvolumiger Proben besteht eine der wichtigen Fragen darin, ob an den bisher erarbeiteten Prinzipien zum Aufbau von Prüfmaschinen weiterhin festgehalten werden soll oder ob aufgrund der stark veränderten Problematik die Erarbeitung neuer Konzepte zweckmäßig ist. Dabei existiert eine große Bandbreite von Ansätzen, welche sich von der Adaption bisheriger Prüfanlagen für den Bereich kleinvolumiger Proben über die Fortführung bisheriger Konzepte in kleinen Dimensionen bis zu völlig neuen Konzepten beim Prüfmaschinenaufbau erstreckt. Für den Vergleich experimenteller Ergebnisse ist es daher sehr wichtig, die Möglichkeiten der einzelnen Konzepte, ihre Stärken und ihre Schwächen miteinander zu vergleichen. Dies setzt eine Diskussion der Eignung neuartiger Konzepte in Bezug auf die veränderten Ziele der experimentellen Untersuchungen voraus. Eine solche Diskussion muss dabei über die sehr einfache Argumentation über Auflösung und Genauigkeiten von Kraft- und Verschiebungsmessungen hinausgehen, da die Aussagekraft experimentell ermittelter Werkstoffdaten von sehr vielen Gegebenheiten des tatsächlichen experimentellen Aufbaus abhängt. Ohne diese sehr komplizierte Diskussion über die konzeptionelle Entwicklung experimenteller Versuchsaufbauten ist es jedoch sehr schwierig, die Grenzen bestimmter Untersuchungsmethoden und damit den Gültigkeitsbereich der experimentell ermittelten Werkstoffdaten genau abzustecken. Im Gegensatz zur klassischen Werkstoffprüfung mit ihren oftmals einfach zu handhabenden als auch zu vermessenden großvolumigen Prüfkörpern bestehen im Bereich der experimentellen Untersuchung kleinvolumiger Proben sehr oft konkrete technisch-konzeptionelle Grenzen für eine ausreichende Genauigkeit einer Messung. Die Analyse dieser Grenzen sowie die Ableitung eines konzeptionell veränderten Vorgehens zur Werkstoffuntersuchung sind daher sehr wichtige Voraussetzungen für die spätere Erarbeitung relevanter Werkstoffmodelle.
1.6 Ziel der Arbeit
17
1.6 Ziel der Arbeit Da die traditionelle Methodik der Zuverlässigkeitsabsicherung kaum noch den Anforderungen an den Entwurfszyklus elektronischer Baugruppen und Geräte gerecht werden kann, macht sich eine starke methodische Veränderung in der Zuverlässigkeitsanalyse erforderlich. Anstelle empirischer Beziehungen zur Lebensdauervorhersage und eines heuristischen Vorgehens bei der Absicherung der Zuverlässigkeitseigenschaften muss ein detailliertes Verständnis über die einen Ausfall verursachenden Mechanismen treten, welche eine theoretische Beschreibung des Schädigungsprozesses über wissenschaftlich begründete Modelle zulässt. Nur so lassen sich die an die an zukünftige Entwurfsprozesse gerichteten nicht miteinander einherlaufenden Ansprüche der Erzielung kürzerer Entwicklungszeiten und niedrigerer Kosten bei Beibehaltung befriedigender Zuverlässigkeitseigenschaften erreichen. Der vielversprechendste Ansatz besteht darin, genaue Berechnungs- und Bewertungsmethoden zu nutzen, wie sie in anderen Bereichen der Technik, z. B. dem Fahrzeugbau, der Luft- und Raumfahrttechnik oder dem Kraftwerksbau, schon lange eingesetzt werden. Durch Anwendung erprobter Simulationsverfahren, wie z. B. der Finite-Elemente-Methode, ergibt sich die Möglichkeit, die Beanspruchung an verschiedenen Stellen eines elektronischen Aufbaus während eines willkürlichen Belastungsprofiles verhältnismäßig genau errechnen zu können. In Verbindung mit geeigneten Bewertungsverfahren, z. B. bruchoder schädigungsmechanischen Konzepten, können aus diesen Berechnungen Aussagen über die Art und Größe einer lokal zu erwartenden Schädigung gewonnen werden. Um diesen Ansatz auf dem Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik im Sinne hochpräziser Aussagen zur Schädigungsentwicklung tatsächlich verwirklichen zu können, ist neben der effektiven und zweckmäßigen Anwendung von Berechnungs- und Bewertungsmethoden auf die verschiedenen Problemfälle bei elektronischen Aufbauten vor allem auch eine genaue Kenntnis des mechanischen Verhaltens der in den elektronischen Aufbauten eingesetzten Werkstoffe notwendig. Ohne eine genaue Vorstellung über die z. T. vielschichtigen physikalischen Phänomene der Verformung und Schädigung der Werkstoffe kann auch der Erkenntnis- und Genauigkeitsgewinn, welcher sich durch die verfeinerten und sehr komplexen Beanspruchungsanalysen auf der Basis moderner Berechnungsmethoden, wie FEM-Simulationen, ergeben könnte, nicht genutzt werden, da die durch die Berechnungsmethodik grundsätzlich erzielbare hohe Genauigkeit immer durch die ungenauen Kenntnisse zum Werkstoffverhalten beschnitten würde. Diese Problematik wird in besonderer Weise dadurch verschärft, dass durch die besonderen geometrischen Verhältnisse der einzelnen Strukturen innerhalb elektronischer Aufbauten das Verformungs- und Schädigungsverhalten der Werkstoffe nicht mehr größenunabhängig betrachtet werden kann. Die Einbeziehung dieser größenabhängigen Phänomene des Verformungs- und Schädigungsverhalten ist in Bezug auf die Genauigkeit der Beanspruchungs- und Schädigungsanalysen, vor allem für den Bereich der metallischen Werkstoffe, von ausschlaggebender Bedeutung (vgl. 1.2).
18
1 Problematik
Durch das Vorhandensein des Größeneffekts gehen die mit der Beschreibung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens von metallischen Werkstoffen verbundenen Ziele weit über Aufgaben einer klassischen Werkstoffdatenermittlung hinaus. Für die erfolgreiche Umsetzung einer neuen Methodik zur genauen Berechnung und Bewertung von Schädigungsprozessen ist daher eine umfangreichere Betrachtung des mechanischen Werkstoffverhaltens notwendig, welche sich nicht nur auf eine einfache Messung und Modellierung des mechanischen Verhaltens beschränkt, sondern darüber hinaus auch die Zusammenhänge zwischen diesem Verhalten und der Werkstoffstruktur hinterfragt und auch die Zusammenhänge zwischen den strukturellen Werkstoffeigenschaften und den spezifischen technologischen und topografischen Besonderheiten elektronischer Aufbauten aufdeckt. Aus dem dargestellten Bestreben eines umfassenden Verständnisses über die Verformung und Schädigung metallischer Strukturen in elektronischen Aufbauten als Vorausetzung wissenschaftlich begründeter Modelle und theoretischer Betrachtungen zur Verwirklichung neuartiger Methoden der Zuverlässigkeitsbewertung während des Entwicklungszyklus elektronischer Baugruppen und Geräte macht sich unter der aus materialwissenschaftlicher Sicht bedeutenden Problematik des Größeneffektes im mechanischen Verhalten metallischer Werkstoffe eine Klärung verschiedener Sachverhalte notwendig: • Welche Belastungen sind für elektronische Aufbauten typisch und wie kommen diese zustande? • Welche geometrischen Abmessungen besitzen metallische Strukturen in elektronischen Aufbauten? Werden sich diese Abmessungen in Zukunft verändern, sodass es zu einer deutlichen Verkleinerung kommt? • Wie wirkt sich der Herstellungsprozess und die geometrische Größe der metallischen Strukturen auf ihr Werkstoffgefüge aus? • Welche Zusammenhänge bestehen zwischen bestimmten mechanischen Eigenschaften und dem Gefüge metallischer Werkstoffe? • Wirkt sich Verformung und Schädigung auf das Werkstoffgefüge aus und hat diese Änderung des Gefüges wiederum eine Rückwirkung auf die Verformungs- und Schädigungseigenschaften eines metallischen Werkstoffs? • Wie lässt sich das mechanische Verhalten metallischer Werkstoffe allgemein erfassen? • Welche Besonderheiten bestehen, wenn das mechanische Verhalten in kleinvolumigen Strukturen erfasst werden soll? Die Klärung dieser verschiedenen Sachverhalte im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung soll über eine systematische Betrachtung erfolgen, welche sich aus Einzelbetrachtungen zum Untersuchungsgegenstand, zum Aufbau der Werkstoffe, zur Physik der Verformung, zur Phänomenologie der Verformung und Schädigung sowie zur experimentellen Untersuchung zusammensetzt.
2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung
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2 Untersuchungsgegenstand 2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung
Homologe Temperatur ( T/Ts )
Bei Beschäftigung mit der Schädigung und der Verformung von Werkstoffen besteht das Bemühen, alle dazu notwendigen Betrachtungen nur auf einen bestimmten Werkstoff oder eine Werkstoffklasse zu richten, ohne dabei Bezug auf ein konkretes technisches Artefakt zu nehmen. Eine solche Methode der Betrachtung geht davon aus, dass die der Verformung und Schädigung zugrunde liegende Physik für eine bestimmte Werkstoffklasse, z. B. Metalle, gleich ist und sich folglich die für ein bestimmtes technisches Problem erarbeiteten Untersuchungsmethoden und Bewertungsverfahren auf ein anderes technisches Problem übertragen lassen, sofern bei diesem Werkstoffe der gleichen Klasse, d. h. Werkstoffe mit vergleichbarem qualitativen Verhalten, eingesetzt werden. Bei der Übertragung der an verschiedenen Problemfällen des Fahrzeug-, Anlagen- und Maschinenbaus entwickelten Untersuchungsmethoden und Bewertungsverfahren der Materialprüfung auf scheinbar vergleichbare Problemfälle der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik zeigten sich die Grenzen einer vom konkreten technischen Artefakt unabhängigen Betrachtungsweise. Besonders deutlich wurde dies beim Versuch, das Kriechverhalten von eutektischem Zinn-Blei-
1,0
Titanlegierung
Nickelsuperlegierung
Stahllegierung
Pb95Sn5
Sn63Pb37 125 °C
0,8 1050 °C
0,6
125 °C 650 °C
650 °C
-55 °C
0,4 -55 °C
25 °C
0,2
25 °C
1600
1500
25 °C
1400
400
300
200
100
Schmelztemperatur ( °C )
Abb. 2.1 Vergleich der homologen Temperaturen verschiedener Konstruktionswerkstoffe im Maschinen- und Anlagenbau und in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik. Die auf den Schmelzpunkt des jeweiligen Materials bezogenen Einsatztemperaturen von konventionellen Lotwerkstoffen in elektronischen Aufbauten liegen höher als die von für den Anlagen- und Maschinenbau konzipierten Hochtemperaturlegierungen (adaptiert aus [34]).
20
2 Untersuchungsgegenstand
Lot zu beschreiben. Hierzu wurde eine große Anzahl experimenteller Charakterisierungen [35-48] durchgeführt, welche zu einem großen Spektrum von Ergebnissen und Auffassungen über das Kriechverhalten von eutektischem Zinn-Blei-Lot führten, die wiederum eine umfangreiche Diskussion über die Art und Weise der Charakterisierung und der Bewertung der Kriechdaten auslöste [49-52]. Zunächst konzentrierte sich die Diskussion auf einen Größeneffekt [54-55], später wurden jedoch auch andere Aspekte, wie die des Modellansatzes [56], der Belastungsprofile [57] und der Herstellungsbedingungen, einbezogen [44]. Obwohl die Frage nach dem Kriechverhalten des eutektischen Zinn-Blei-Lotes bis heute nicht abschließend beantwortet werden konnte, zeigen die bisher für diesen technischen Problemfall gewonnenen Erkenntnisse, dass eine vom konkreten technischen Artefakt entkoppelte Betrachtung des Schädigungs- und Verformungsverhaltens, zumindest in Bezug auf die mit der Aufbau- und Verbindungstechnik in Zusammenhang stehenden Problemfälle, nicht zu einer befriedigenden Beschreibung des Materialverhaltens führt. Um die sehr starken Unterschiede zwischen den in letzter Zeit in der Aufbauund Verbindungstechnik auftretenden und den oft zitierten klassischen Problemfällen, wie denen im Anlagenbau [33, 58, 59], deutlich zu machen, soll exemplarisch die thermomechanische Ermüdung eines Lotkontaktes in einer elektrischen Schaltung und einer Turbinenschaufel in einem Kraftwerk miteinander verglichen werden. Ein solcher Vergleich wird sehr oft vorgenommen [59], da in beiden Fällen zum einen eine Temperaturänderung die alleinige Ursache des Entstehens mechanischer Beanspruchungen im Werkstoff ist und zum anderen beide Werkstoffe, z. B. die Sn-Ag-Cu-Legierung des Lotkontaktes und der Cr-Mo-V Stahl der Turbinenschaufel, hohe Einsatztemperaturen haben, bei denen diffusionskontrollierte Verformungsmechanismen wie das Kriechen dominieren (Abb. 2.1). Der oftmals einzige betrachtete Unterschied zwischen beiden Problemfällen ist die Größe der kritischen Strukturen. Zwar ist dies eine wichtige Ursache für Veränderungen im Materialverhalten, bei einer näheren Betrachtung ist jedoch festzustellen, dass Lotkontakte trotz ihres geringen Volumens von V = ( 10 –7 …10 –13 )m 3 eine ausreichende Zahl von Körnern besitzen, um sie wie großvolumige polykristalline Strukturen betrachten zu können. Größere Unterschiede zwischen beiden Problemfällen ergeben sich, wenn die Funktion der kritischen Strukturen sowie Problemursachen in den unterschiedlichen Anwendungen miteinander verglichen werden. Die primäre Funktion der Turbinenschaufel ist mechanische Kraftübertragung. Die Temperaturwechsel, durch die die thermomechanische Ermüdung der Schaufel zustande kommt, werden prinzipbedingt beim Anfahren und Abschalten einer Dampfturbine in einem Kraftwerk hervorgerufen. Im Gegensatz dazu ist primäre Funktion eines Lotkontaktes keine mechanische, sondern die Herstellung eines elektrischen Kontakts. Die Ursache für die thermomechanische Ermüdung des Lotkontaktes liegt im kostengünstigen Aufbau der elektronischen Baugruppe und ist nicht prinzipieller Natur. Die Temperaturwechsel werden bis auf die wenigen Fälle starker Eigenerwärmung der Bauelemente in der Regel durch die Umwelt eingebracht, z. B. Elektronik im Motorraum eines Kfz, und haben mit dem Prinzip der
2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung
21
elektrischen Schaltung nichts zu tun. Für den Lotkontakt ergeben sich im Gegensatz zur Turbine sehr undefinierte Belastungsbedingungen, durch die der Ausfall hervorgerufen wird. Gleichzeitig muss die Lebensdauer der Strukturen anders bewertet werden. Während beim Lotkontakt ein nahezu komplettes Zerreißen des Kontaktes nicht zum Verlust der elektrischen Funktion führt (Abb. 2.2) und damit Risslängen von bis zu 95% der Bauteilabmessungen akzeptabel sind, muss eine Turbinenschaufel aufgrund der mit den hohen Beschleunigungen verbundenen Kräfte schon bei geringen Schädigungsgraden ausgetauscht werden. Ein Versagen der Struktur muss bei der Turbinenschaufel aufgrund der gewaltigen Folgeschäden unbedingt vermieden werden, ein Versagen eines Lotkontaktes ist hingegen unkritisch und führt nicht notwendigerweise auch zum elektrischen Ausfall, da sich auch zwischen zwei aufeinanderliegenden Bruchflächen ein ausreichender Strompfad ergeben kann.
a)
b)
Abb. 2.2 Zusammenhang zwischen elektrischem und mechanischem Ausfall. In [60] wurde die Zuverlässigkeit verschiedener bleifreier Lote untersucht. Dabei wurden sowohl elektrische Messungen zum Kontaktwiderstand als auch metallografische Querschliffe zur Bewertung der mechanischen Degradation der Lotkontakte angefertigt. Die dargestellten Querschliffe dokumentieren den Zustand von Lotverbindungen an Chipwiderständen (Typ 0805) auf FR4-Leiterplatten mit NiAu-Oberflächenmetallisierung, die einer Anzahl von 2000 Temperaturwechseln von -40 °C bis +125 °C ausgesetzt wurden. Während der mechanisch vollkommen geschädigte Lotkontakt in Bild a) gleichzeitig auch einen elektrischen Ausfall aufweist, wurde beim äquivalent mechanisch geschädigten Kontakt in Bild b) lediglich eine Erhöhung des Kontaktwiderstandes von ΔR = 164 mΩ festgestellt, was in der Regel nicht zu einer Einschränkung der elektrischen Funktion führt.
22
2 Untersuchungsgegenstand
Diese durch die konkrete Anwendung hervorgerufenen Unterschiede bei der Funktion der kritischen Strukturen sowie Ursachen ihres Ausfall erfordern neben des in 1.3 besprochenen Größeneffektes trotz einer sehr vergleichbaren Physik des Ausfalls ein angepasstes Vorgehen bei der Untersuchung und Bewertung relevanter Materialeigenschaften und schränken eine einfache Übertragung bekannter Untersuchungsmethoden auf qualitativ andere technische Problemfälle ein. Die Frage, wie ein eingesetzter Werkstoff untersucht werden muss und wie die Ergebnisse dieser Untersuchungen zu bewerten sind, wird bei einem sehr komplexen Werkstoffverhalten, wie dem Verformungsverhalten von Metallen bei hohen Temperaturen, nicht allein durch die elementaren Mechanismen der Verformung bestimmt, sondern auch durch Aspekte, die sich durch den konkreten technischen Problemfall ergeben. Aus diesem Grund ist es wichtig, den Untersuchungsgegenstand und die Ursachen für die dort entstehenden (thermisch-) mechanisch verursachten Ausfälle zu verstehen.
2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes 2.2.1 Begriff der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik Beim Begriff der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik gibt es Unterschiede in der Bezeichnung des Gebietes zwischen der deutschen Sprache und der für dieses Gebiet maßgeblichen englischen Sprache. Im Englischen wird es als „Electronics Packaging“ oder schlicht als „Packaging“ bezeichnet, ein Begriff, welcher im Deutschen zunächst keine sinnvolle Entsprechung hat. Der Begriff ist dem Substantiv „Package“ bzw. dem Verb „to pack“ entlehnt. Neben seiner Bedeutung, Dinge in einem schützenden Behälter unterzubringen, bedeutet „to pack“ auch gleichzeitig, Dinge auf engstem Raum zu komprimieren [61, 62]. Dementsprechend versteht man im Ingenieurwesen unter einem „Package“ eine Baugruppe oder einen Aufbau im Sinne einer kompakten geschlossenen Baueinheit [63]. Der englische Begriff des „Packaging“ bezieht sich also auf die Vorstellung über den zu erzeugenden Gegenstand. Der deutsche Begriff der „Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik“ ist abstrakter gefasst und weist Parallelen zu artgleichen Gebieten der Technik auf. Die Verbindungstechnik beschäftigt sich mit den Vorgängen beim Fügen, durch das Verbindungspartner miteinander gekoppelt werden [64]. Hierbei steht die Untersuchung und Optimierung verschiedener Fügeverfahren sowie die Bewertung ihrer Eignung für entsprechende Anwendungen im Vordergrund. Die dabei für elektronische Aufbauten verwendeten Verfahren unterscheiden sich nicht von denen anderer Technikdisziplinen. Der Begriff der Aufbautechnik verweist hingegen auf den konzeptionellen Inhalt des Gebietes. Hierbei steht die Systematik des Zusammenfügens der einzelnen Komponenten im Vordergrund, um so ein universelles Konzept zu entwickeln, das die spezifischen Anforderungen aller wichtigen Anwendungen erfüllen kann.
2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes
23
2.2.2 Inhalt der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik Elektronische Erzeugnisse haben in vielen Bereichen moderner Gesellschaften Einzug gehalten. Während sie in einigen entbehrlich scheinen, üben sie in anderen so elementare Funktionen aus, dass die Elektronik als vergleichsweise junges Teilgebiet der Technik sehr wesentlich den derzeitigen Grad der Zivilisation bestimmt. Beispiele für wichtige Bereiche, in denen Elektronik unentbehrlich ist, sind die Steuerung und Überwachung von Kraftwerken, großtechnischen Anlagen sowie modernen Fertigungsstätten, die Koordination von Verkehrsströmen sowie die Steuerung von Fahr- und Flugzeugen im Transportwesen, die Unterstützung ärztlichen Handelns in der Medizin sowie der Fernkommunikation zwischen Individuen. Um seine vielfältigen Aufgaben übernehmen zu können, musste Elektronik sehr anpassungsfähig sein, sich sehr kostengünstig und in hohen Stückzahlen herstellen lassen sowie sehr zuverlässig funktionieren. Diese drei Forderungen erscheinen besonders dann sehr schwierig erfüllbar zu sein, wenn die notwendige Komplexität der dazu notwendigen Schaltungen betrachtet wird. Ein durchschnittliches Rechenwerk, welches in vielen Steuerungen enthalten ist, besitzt allein mehr als eine Million Schaltelemente und stellt damit bereits an die Verdrahtung der Schaltung eine Aufgabe, die ohne eine fundierte wissenschaftliche Entwicklung geeigneter Methoden nicht zu bewältigen ist. Dabei darf nicht übersehen werden, dass jede Verbindung neben ihrer grundsätzlichen Funktion, einen Kontakt zwischen verschiedenen Funktionselementen der Schaltung herzustellen, auch bestimmte quantitative Leistungsmerkmale wie Übertragungseigenschaften, Signallaufzeiten, Stromtragfähigkeit, Wärmeabführung erfüllen muss. Da von den Prognosen für die Halbleiterentwicklung ausgehend sowohl die Anzahl der zu verdrahtenden Funktionselemente als auch die Anforderungen an die quantitativen Leistungsmerkmale steigen werden, ergibt sich für das Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik die Notwendigkeit, neue Methoden für eine leistungsgerechte systematische Verdrahtung hochkomplexer elektronischer Schaltungen zu erforschen. Hinzu kommen Forschungsfelder, welche durch die mit der Leistungssteigerung verbundenen Koppeleffekte, z. B. Erzeugung großer Mengen an Verlustwärme, Entstehung mechanischer Beanspruchungen, bzw. durch die Erschließung und Erweiterung von Anwendungsfeldern, z. B. Schutz gegen Schlagbeanspruchungen bei Mobiltelefonen oder Vibrationsbeanspruchungen in Avionikanwendungen, hervorgerufen werden. Zur Bewältigung dieser Aufgaben unterteilt sich das Wissenschaftsgebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik in eine Reihe spezialisierter Subdisziplinen, welche selbst zu unterschiedlichen anderen Wissenschaftsgebieten gehören. Zu den wichtigsten dieser Subdisziplinen gehören die angewandte Physik und Chemie zum Verständnis technologischer Prozesse und Abläufe, die Keramiktechnik zum Verständnis der Erzeugung und Prozessierung keramischer Träger, die Metallurgie zum Verständnis galvanischer Abscheidungen, des Lötens und des Schweißens, die Polymerchemie und -physik zum Verständnis der Anwendung und Verarbeitung polymerer Materialien für Träger und Verkapselungen, die Polygrafie zum
24
2 Untersuchungsgegenstand
Verständnis von Druck- und Transferverfahren, die Wärmetechnik zum Verständnis von Kühlstrukturen, die Elektrotechnik zum Verständnis des elektrischen Signal- und Energieflusses sowie unerwünschter Koppeleffekte, die Materialphysik zum Verständnis elektrischer, thermischer, optischer und mechanischer Charakteristiken verwendeter Werkstoffe. Eine große Zahl der Inhalte der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik werden durch Inhalte dieser Disziplinen bestimmt, wodurch sich dieses Gebiet sehr heterogen darstellt.
2.2.3 Entwicklung der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik Zu Beginn der Elektronikentwicklung wurden die Schaltungen zunächst aus einzelnen diskreten Bauelementen zusammengesetzt. Dabei erfolgte zuerst eine Befestigung dieser Bauelemente auf einem Chassis als erster Schritt. Danach wurden die elektrischen Verbindungen zwischen den Bauelementen über Drähte hergestellt, welche bei Überwindung längerer Entfernungen zu Kabelbäumen zusammengebunden wurden. Die Ablösung der Elektronenröhren durch Halbleitertransistoren hatte eine deutliche Verkleinerung der Energieaufnahme als auch des Gewichts und der Abmessungen der Bauelemente zur Folge. Dies ermöglichte ein neues Konzept der Bauelementemontage, bei der die mechanische Fixierung über die Anschlussbeine der Bauelemente erfolgen konnte. Durch die gleichzeitige Entwicklung der Leiterplatte entstand ein neues Verdrahtungskonzept, über das anfangs zunächst Elektronenröhren mit den sie umgebenden passiven Bauelementen montiert wurden [65]. Die großindustrielle Einführung der Leiterplatte fand Anfang der 50er Jahre statt und stellte für die industrielle Fertigung elektronischer Geräte eine technisch und ökonomisch effiziente Verdrahtungstechnik zu Verfügung. Die weiteren Stufen der Entwicklung waren die durchkontaktierte Zweiebenenleiterplatte (1953), die Mehrlagenleiterplatte (1961) und die Einführung eines volladditiven Verfahrens zur Erzeugung des Leiterbildes (1963) [66]. Gegenüber den bis zu diesem Zeitpunkt verwendeten Verdrahtungstechniken bot die Leiterplatte den Vorteil, eine konstruktive Einheit mit gut definierten elektrischen und geometrischen Verhältnissen darzustellen, welche zur Anwendung produktiver automatisierbarer Massenherstellungsverfahren bei der Bauelementebestückung und -kontaktierung geeignet war. Die Einführung der Mehrlagentechnik erlaubte eine erhebliche Steigerung der Verdrahtungsdichte, wie sie für die Montage hochintegrierter Halbleiterbauelemente notwendig ist. Gleichzeitig ergab sich aus ihrer Trägerfunktion eine definierte mechanische Stabilität aller Verbindungen, welche wiederum half, die Zuverlässigkeit der Verdrahtungstechnik zu erhöhen, wodurch die Funktionsfähigkeit immer komplexer werdender Schaltungen gewährleistet werden konnte [67]. Bis heute wird die Leiterplatte als Verdrahtungsträger für nahezu alle elektronischen Produkte eingesetzt [68], ohne dass sich das Grundprinzip ihres Aufbaus geändert hat. Die Innovationen, welche Leiterplatten den wachsenden Anforderungen im Bereich der Verdrahtungsdichte, neuen Anwendungen, wie z. B. Mikrowel-
2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes
a)
b)
c)
d)
e)
f)
25
Abb. 2.3 Vergleich der Aufbautechnik elektronischer Schaltungen verschiedener Technologiestufen: a) Fliegende Verdrahtung im Chassis eines Fernsehgerätes b) Durchstecktechnik mit diskreten Halbleiterbauelementen, c) Durchstecktechnik mit integriertem Schaltkreis, passiven Bauelementen, HF-Filtern d) Durchstecktechnik mit integrierten Schaltkreisen, e) Oberflächenmontagetechnik, f) HDI-Aufbauten in einem Mobiltelefon mit HF-Subsystemen
lenschaltungen, oder den veränderten Forderungen nach Umweltverträglichkeit gerecht machen sollen, betreffen das Basismaterial und die Schaffung kleinster Durchkontaktierungen (engl. Microvia). Für die zukünftige Entwicklung von Leiterplatten stehen die Einbettung von lichtoptischen Fasern [69] sowie passiven Komponenten [70] im Vordergrund. Am Anfang ihrer Entwicklung fand die Verdrahtung elektrischer Schaltungen ausschließlich auf der Leiterplatte statt. Dies änderte sich jedoch durch die Einführung der Siliziumplanartechnik. Ausgangspunkt für die Entwicklung der Siliziumplanartechnik zur Herstellung hochintegrierter Schaltkreise waren nach der Erfindung des Transistors (Ge-Bipolar-Transistor) [71-73] die Entwicklung eines Planarprozesses sowie die Ideen zur Realisierung integrierter Schaltkreise [74, 75] Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Zunächst wurde die Entwicklung der Halbleitertechnik durch das amerikanische Militär und die NASA vorangetrieben, sodass zunächst keine ökonomischen Aspekte, sondern die Zuverlässigkeit und Miniaturisierung im Vordergrund standen [76, 77]. Zivile Anwendungen, wie
26
2 Untersuchungsgegenstand
z. B. die Konstruktion des dritten transatlantischen Telefonkabels 1963, wurden nach wie vor in Röhrentechnik ausgeführt. Eine von wirtschaftlichen Gesichtspunkten getriebene Nutzung integrierter Halbleiterschaltkreise begann erst Mitte der sechziger Jahre und erreichte ihren Durchbruch Anfang der siebziger Jahre mit der Verwendung der MOS-Schaltungstechnik und der Erfindung des Mikroprozessors durch INTEL. Letztere erlaubte eine flexible Verwendung der zuvor in ihrer Funktionsvielfalt eingeschränkten festverdrahteten integrierten Schaltungen. Seit dieser Zeit ist die Herstellung integrierter Schaltkreise von einem exponentiellen Wachstum gekennzeichnet. Dieses betrifft sowohl technische Kennzahlen, wie z. B. die Kapazität von Speicherschaltkreisen (Vervierfachung aller drei Jahre) oder von minimalen Strukturabmessungen (Halbierung aller fünf Jahre), als auch wirtschaftliche Parameter, wie die Senkung der Kosten pro Bit und die Steigerung der Investitionskosten für neue Fertigungsstätten. Diese einzigartige Entwicklung der Halbleitertechnologie wurde maßgeblich durch die Wechselbeziehungen von spezifischen Technologieeigenschaften, hohen Investitions- und Technologiekosten sowie kurzen Produktlebenszyklen erreicht. Diese erzwingen den Vorrang der Weiterentwicklung der Produktionstechnik gegenüber grundlegenden Technologieveränderungen, da diese aufgrund der hohen Ausrüstungskosten ein zu großes wirtschaftliches Risiko darstellen. Hierdurch kristallisierten sich die Erhöhung des Integrationsgrades und die Verkleinerung von Strukturabmessungen als die wesentlichen Triebkräfte dieser Technologie heraus [76]. Die Entwicklung der Siliziumplanartechnik (Abb. 2.4) und der mit ihr erreichten Integrationsdichten hatte auch weitreichende Folgen auf die Art und Weise, wie die Verdrahtung elektronischer Schaltungen erfolgt. Bedingt durch die verschiedenen Fertigungstechniken für die Herstellung von integrierten Schaltkreisen und Leiterplatten, musste zur Erzielung hoher Integrationsdichten ein großer Teil der Verdrahtung auf die Chipoberfläche verlagert werden, da die Erzeugung einer derart feinen Verdrahtung nur mit den Fertigungsmethoden der Halbleitertechnik
SiN Al SiO2 TiW
n+
p-Wanne
n+
p+
n-Wanne
p+
LOCOS
p-Epitaxie p-Substrat
Abb. 2.4 Siliziumplanartechnik: Aufbau eines CMOS-Gatters (schematisch)
TiSi2 Poly-Si
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
27
möglich ist. Obwohl die kapazitiven Fähigkeiten der Verdrahtung auf dem Schaltkreis ausreichen würden, die Schaltungsverdrahtung vorzunehmen, muss für bestimmte Aufgaben eine Weiterverdrahtung auf einem Verdrahtungsträger, wie einer Leiterplatte, erfolgen. Zu diesen Aufgaben zählt z. B. die Einbindung passiver Bauelemente bzw. von Bauelementen mit großen Abmessungen (Elektrolytkondensatoren, Quarze, Stecker). Hierdurch ergibt sich eine Auffächerung der Verdrahtung auf mindestens zwei Ebenen - einer ersten (der Chipebene), welche einen hohen Integrationsgrad zulässt, und einer zweiten (der Verdrahtungsträgerebene), welche eine große Flexibilität bezüglich der Art der zu verdrahtenden Bauelementetypen ermöglicht.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten 2.3.1 Grundkonzept und Aufbauhierarchie Der Aufbau elektronischer Schaltungen wird neben technologischen Aspekten durch Architekturkonzepte bestimmt. Während sich die Technologie mit der Art und Weise der Herstellung beschäftigt und vor allem Fragen des Zusammenwirkens der Prozesse und des Materialeinsatzes berührt, wird durch das Architekturkonzept der topologische Aufbau elektronischer Geräte bestimmt. Architekturkonzepte berühren daher Problemfelder, wie die Anschlusszahlentwicklung, die Erhöhung der Schaltfrequenzen, die Steigerung der Verlustleistung oder den Aufbau leichter, miniaturisierter, tragbarer Geräte. Für den Aufbau elektronischer Geräte gibt es eine große Anzahl verschiedener Architekturkonzepte. Um diese systematisch betrachten zu können, müssen die Konzepte nach bestimmten Gesichtspunkten unterschieden werden. Hierzu ist es hilfreich, zunächst die funktionellen Aspekte zu betrachten, die für verschiedene Konzepte ausschlaggebend sind. Obwohl eine Reihe von funktionellen Aufgaben, wie die Verteilung elektrischer Signale zwischen verschiedenen Schaltelementen, die Versorgung der Schaltung mit elektrischer Energie, die Abführung von Verlustleistung, der Schutz der Schaltelemente vor Feuchte, Chemikalien und mechanischen Belastungen, die Gewährleistung elektromagnetischer Verträglichkeit oder die Formgebung für nachfolgende Prozessschritte, die Architekturkonzepte bestimmen [78], liegt die grundlegende Aufgabe der Architektur in der zuverlässigen Verdrahtung aller in einer elektronischen Schaltung enthaltenen Funktionselemente. Wie in 2.2.3 bereits beschrieben, hat es sich als zweckmäßig herausgestellt, diese Verdrahtung auf zwei verschiedenen Ebenen durchzuführen - der Verdrahtung auf dem Schaltkreis, welche einen hohen Integrationsgrad erlaubt, und der Verdrahtung auf einem Verdrahtungsträger, welche eine hohe Flexibilität erlaubt (Abb. 2.5). Aufgrund dieser Verdrahtungsphilosophie ergibt sich der grundsätzliche strukturelle Zusammenhang durch Zuordnung verschiedener Elemente eines Architek-
28
2 Untersuchungsgegenstand
Wafer
einzeln gehäustes Halbleiterbauelement
Nacktchip
Multichip Modul
1. Verbindungsebene
stoffschlüssige Verbindungen
Chip (Ebene 0)
2. Verbindungsebene Baugruppe auf flexibler Polymerfolie
Baugruppe auf Leiterplatte
3. Verbindungsebene
Baugruppenträger zur Realisierung komplexer elektronischer Geräte
formschlüssige Verbindungen
Hybridbaugruppe auf Keramikträger
Abb. 2.5 Hierarchie elektronischer Aufbauten (schematisch)
turkonzeptes in hierarchisch geordnete Verbindungsniveaus [78-83]. Ausgangspunkt der hierarchischen Ordnung sind die Anschlussstellen der Verdrahtung auf dem Halbleiterchip. Da die auf dem Halbleiterchip befindlichen Strukturen funktionsbedingt sehr empfindlich gegen Umwelteinflüsse, wie z. B. Fremdionen, Strahlung oder Feuchte sind, werden sie in einem ersten Verbindungsniveau (engl. first level interconnect) zunächst auf das nächste Verbindungsniveau vorbereitet. Diese Vorbereitung umfasst die geometrische Adaption an die größeren Rastermaße des nächsten Verbindungsniveaus, den Schutz vor Umwelteinflüssen durch eine entsprechende Häusung und - falls notwendig - Maßnahmen zur Abführung von Verlustwärme sowie den Ausgleich von thermischen Fehldehnungen durch den geringen Ausdehnungskoeffizienten von Si. Nach dieser Vorbereitung liegen aktive Bauelemente als gehäuste Halbleiterbauelemente zur Weiterverarbeitung vor, sodass sie zusammen mit den passiven Bauelementen in einem zweiten Verbindungsniveau (engl. second level interconnect) auf einen Verdrahtungsträger montiert werden können. Eine Ausnahme bildet die Verarbeitung aktiver Bauelemente
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
29
mit Direktmontagetechniken, wie Flip-Chip oder Chip on Board. In diesem Fall entfällt das erste Verbindungsniveau und die aktiven Bauelemente werden gleich zusammen mit den passiven auf einen Verdrahtungsträger zu einer Baugruppe montiert. Diese Baugruppe kann nun direkt in ein fertiges Endgerät, z. B. einen Taschenrechner, ein Telefon oder eine Motorsteuerung, eingebaut werden oder sie wird, wie z. B. bei einem Computer oder einer Industriesteuerung, mit anderen Baugruppen auf einer Mutterplatine (engl. motherboard) oder Rückseitenplatine (engl. backplane) zu einem Gesamtsystem zusammengesetzt. In beiden Fällen kommt üblicherweise eine dritte Verbindungsebene (engl. third level interconnect) zum Einsatz. Im Falle des Endgerätes wird die Baugruppe über diese dritte Verbindungsebene, z. B. mit Ein- und Ausgabeeinheiten, einer Stromversorgung oder einer Geräteschnittstelle verbunden, wobei diese Verbindungen in einigen Fällen bereits über die zweite Verbindungsebene erfolgen. Im Fall großer komplexer Systeme dient die dritte Ebene der Verbindung verschiedener spezialisierter Baugruppen untereinander, was in der Regel einen modularisierten Geräteaufbau ermöglicht. Neuere Betrachtungen [78, 81] beenden die Verbindungshierarchie elektronischer Aufbauten inzwischen nach der dritten Ebene, ursprünglich wurde in insgesamt fünf Ebenen [82, 83] unterteilt. Wichtig für alle weiteren Betrachtungen sind jedoch nur die beiden unteren Ebenen, welche von allen gleich betrachtet werden. Aus technologischen Gründen werden in den beiden unteren Ebenen gewöhnlich stoffschlüssige Verbindungen benutzt, während in allen höheren Ebenen üblicherweise formschlüssige Verbindungen zum Einsatz kommen. Für die Betrachtung verschiedener Architekturkonzepte ist es zweckmäßig, sich zunächst auf die Darstellung einzelner Verbindungsniveaus zu konzentrieren. Während Architekturkonzepte sehr starken Veränderungen und Diversifizierungen unterzogen sind, ist zu beobachten, dass die Lösungen für einzelne Verbindungsniveaus vergleichsweise unveränderlich bleiben.
2.3.2 Erste Verbindungsebene
2.3.2.1 Entwicklung und Aufgaben der ersten Verbindungsebene Um die Entwicklung der verschiedenen Techniken zur Realisierung der ersten Verbindungsebene zu verstehen, müssen diese im Zusammenhang mit der Entwicklung integrierter Schaltkreise gesehen werden. Vor der industriellen Fertigung integrierter Schaltkreise Mitte der sechziger Jahre bestanden Halbleiterbauelemente aus diskreten Transistoren oder Dioden, welche in hermetischen Metallkappengehäusen einzeln gekapselt wurden. Für die Verbindung der Chipanschlüsse (Al-Flächen) mit den Gehäuseanschlüssen wurde zunächst ein Thermokompressionsschweißverfahren mit Au-Drähten eingesetzt, welches allerdings aufgrund seiner hohen Verfahrenstemperaturen (350°C-400°C) zur Bildung der schlecht haftenden und als Purpurpest bekannten AuAl2-Phase führte. Um die mit diesem
30
2 Untersuchungsgegenstand
Verfahren verbundenen Zuverlässigkeitsprobleme zu überwinden, wurden andere Verfahren, wie die Beam-Lead- und die Flip-Chip-Technik, entwickelt. Beiden Techniken war gemein, dass der Chip mit einer Passivierungsschicht vor Umwelteinflüssen geschützt wurde und somit keines hermetischen Einzelgehäuses mehr bedurfte, was eine direkte Verbindung verschiedener diskreter Halbleiterbauelemente untereinander ermöglichte, indem diese beispielsweise auf einen Dickschicht-Keramik-Träger montiert wurden. Mit der Fertigung der ersten integrierten Schaltkreise wurden diese auf einem äußeren Träger befindlichen Verbindungen durch Al- oder Au-Dünnschichtverdrahtungen auf der Passivierung des Siliziumchips ersetzt. Die erhebliche Steigerung der Integrationsdichte seit den siebziger Jahren führte zur Herausbildung einer Dünnschichtmehrebenenverdrahtung auf dem Siliziumchip, wie sie schematisch in Abb. 2.6 dargestellt ist. Diese Mehrebenenverdrahtung wird durch eine Passivierungsschicht abgeschlossen, welche Öffnungen zum Kontaktieren der Anschlussflächen aufweist. Zur elektrischen Verbindung dieser Anschlüsse werden zz. hauptsächlich drei Verfahren eingesetzt - die Drahtbondtechnik, die Flip-Chip-Technik und die Trägerfilmtechnik [84, 85]. Andere Verfahren tragen eher Nischencharakter. Die Realisierung der elektrischen Verbindung ist gleichzeitig mit der Forderung nach der Versiegelung der geöffneten Passivierungsfenster verbunden, da der integrierte Schaltkreis an diesen Stellen ungeschützt ist. Während beim Drahtbonden der
Anschlussfläche
Passivierung Dielektrika Globale Verbindung
Lage 6 5
Semi-globale Verbindung
4 3
Lokale Verbindung Kontakte Bauelemente
2 1
Halbleiterchip
Abb. 2.6 Schematische Darstellung einer Mehrebenenverdrahtung auf der Oberfläche eines integrierten Schaltkreises. Die Mehrebenenverdrahtung besteht aus übereinandergelagerten durch Isolationsschichten getrennten Verdrahtungsebenen, welche die Verbindung der einzelnen Schaltelemente auf der Halbleiteroberfläche übernehmen. Höher gelegene Verdrahtungsleitungen haben größere Abmaße als tiefer gelegene, damit sie eine höhere Stromtragfähigkeit aufweisen. Die Mehrebenenverdrahtung wird durch eine Schicht mit Anschlussflächen zur Weiterverdrahtung des Halbleiterbauelements in einer elektronischen Schaltung abgeschlossen.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
31
Schutz durch eine anschließend aufgebrachte Vergussmasse bzw. einen hermetischen Gehäuseverschluss hergestellt wird, erfolgt die Versiegelung bei den anderen beiden Verfahren durch das Einbringen einer metallischen Barriereschicht in das geöffnete Passivierungsfenster, wodurch vorgelagerte Prozessschritte auf Scheibenniveau erforderlich sind. Neben der Schutzfunktion ist die Herstellung einer elektrischen Verbindung auch durch thermische und mechanische Aspekte begleitet. Diese betreffen das Abführen hoher lokaler Verlustwärmen als auch die mechanische Integrität während des Fügevorgangs und des Betriebes. Ursache mechanischer Schädigungen können zum einen durch den Fügeprozess eingebrachte Druckspannungen (z. B. beim Drahtbonden) sein, aber auch hohe Verfahrenstemperaturen, welche durch die unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten verschiedener Schichtmaterialien zum Einfrieren hoher lokaler mechanischer Spannungen an der Verbindungsfläche des Chips führen.
2.3.2.2 Drahtbondtechnik Die Drahtbondtechnik ist ein reines Kontaktanschlussverfahren, welches voraussetzt, dass der Halbleiterchip -in der sogenannten Chipmontage- zuvor fest mit dem zu kontaktierenden Gehäuse oder Träger verbunden wurde. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass ein sehr feiner Draht dazu verwendet wird, die Anschlussfläche auf dem Chip mit einer Kontaktfläche eines Anschlusses des späteren Bauelementegehäuses bzw. eines Zwischenverdrahtungsträgers zu verbinden. Beide Verbindungen werden nacheinander erzeugt. Dadurch gewinnt die Drahtbondtechnik gegenüber den anderen Techniken erheblich an Flexibilität, da sie sich gut auf veränderliche Montagebedingungen einstellen kann. Obwohl die Drahtbondtechnik das heute dominierende Verfahren für die Realisierung der ersten Verbindungsebene ist, wies die Technik bei ihrer Einführung in den sechziger Jahren derart fundamentale Probleme auf, dass anderen Techniken, wie der Flip-Chip-, der BeamLead- und der Trägerfilmtechnik, zunächst größere Erfolgsaussichten zugeschrieben wurden. Zur Erzeugung einer Schweißverbindung zwischen der Al-Chipanschlussfläche und dem Au-Draht wurde zuerst eine Thermokompressionstechnik eingesetzt, welche durch Einbringung höherer Verfahrenstemperaturen die gegenüber einem reinen Pressschweißverfahren notwendigen Drücke senken sollte. Zu hohe Verfahrensdrücke führen zu zwei Problemen. Zum einen besteht das Risiko darin, im wenig risszähen Einkristallsilizium unterhalb der Anschlussfläche einen Muschelbruch zu erzeugen, zum anderen kann dies im sehr duktilen Au-Draht zu erheblichen festigkeitsmindernden Einschnürungen führen. Um letzteres Problem zu umgehen, wird der Druck über den Mantel einer Kapillare (Bondwerkzeug) auf einen mit dem Draht verbundenen Kugelkopf übertragen, wobei der Draht mittig aus dieser Kugel kommend durch die Kapillare geführt wird. Prozesstechnisch muss dazu der in einer Kapillare geführte Draht an seiner Spitze umgeschmolzen werden. Erst als dieser zuerst über eine Wasserstoffflamme realisierte Umschmelz-
32
2 Untersuchungsgegenstand
prozess durch die Verwendung eines Lichtbogens besser beherrscht wurde, gelang es, reproduzierbare Kugeldurchmesser herzustellen, welche Voraussetzung für die Erzielung eines reproduzierbaren Verbindungsdruckes sind. Das zweite Problem waren die hohen Verfahrenstemperaturen des Thermokompressionsprozesses sowie der nachfolgenden Gehäuseverschlussprozesse. Hierdurch wurden sowohl die Bildung der AuAl2-Phase sowie die Bildung von Kirkendalllöchern begünstigt, welche die Verbindungsfestigkeit stark verminderten. Erst durch die Einführung einer Ultraschallübertragung an das Bondwerkzeug und damit dem Einbringen von senkrecht zur Kompressionsrichtung wirkenden mechanischen Schwingungsenergien konnten die Verfahrenstemperaturen erheblich gesenkt werden, sodass sich die Drahtbondtechnik seit Anfang der siebziger Jahre zu einer zuverlässigen Verbindungstechnik mit hohen Prozessausbeuten entwickelte [86]. Der Einsatz von Ultraschallenergie führte zu zwei Verfahrensvarianten, dem sogenannten Ultrasonic-Verfahren (Abb. 2.7), hinter dem sich ein ultraschallunterstütztes Thermokompressionsverfahren verbirgt, und dem Ultraschallbonden (Abb. 2.8), bei dem ein Keilbondwerkzeug anstelle der Bondkapillare (vgl. Abb. 2.9) verwendet wird und das ohne thermische Unterstützung auskommt. Als Drahtmaterialien kommen zz. Gold-, Kupfer- und Aluminiumdrähte zum Einsatz, welche zur Eigenschaftsverbesserung auch mit Fremdstoffen dotiert sein können. Drahtdurchmesser liegen im Bereich von 17μm ... 75μm für normale Anschlusskontaktierung bzw. 100μm ... 625μm für Hochstromanschlüsse. Das Thermosonic-Bonden wird üblicherweise mit Au- oder Cu-Drähten durchgeführt, während für das Ultraschallboden in der Regel Aluminiumdrähte verwendet werden. Grund für diese Materialabhängigkeit der Bondverfahren ist die Tatsache, dass Aluminium auf seiner Oberfläche ein dünnes, stabiles und sehr hartes
1
2
Au-Draht Drahtzange Bondkapillare
Elektrode Chip
Leitbahn Substrat
3
4
Abb. 2.7 Drahtbondtechnik: Verfahrensablauf beim Thermosonic Ball/Wedge-Bonden
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
1
2
33
Drahtzange Bondkeil
Chip
Al-Draht
Leitbahn Substrat
3
4
Abb. 2.8 Drahtbondtechnik: Verfahrensablauf beim Ultraschall Wedge/Wedge-Bonden (unten)
Oxid bildet, welches eine zwingende Voraussetzung für den sehr komplizierten Verbindungsvorgang beim Ultraschallschweißen zu sein scheint. Es wird dabei davon ausgegangen [87], dass es im Randbereich des während des Bondvorgangs stark deformierten Aluminiumdrahtes zu einer Schwingungsfortpflanzung kommt, da die eingebrachte vertikale Kraft zum Rand hin stark abnimmt. Durch diese im Randbereich auftretenden Schwingungen kommt es zu einer vollständigen Reinigung der Kontaktfläche von Oxiden und Adsorbaten, in deren Folge sich oxid- und adsorbatfreie Metallflächen gegenüberliegen. Durch die horizontal wirkende Kraft nähern sich beide gleichzeitig soweit an, dass es zum Verschweißen einer ringförmigen Randfläche des Wedgebondes kommt. Bei Gold und Kupferdrähten, welche kein stabiles und hartes Oxid auf ihrer Oberfläche ausbilden, wird durch kombinierten Ultraschall und Temperatureintrag ein Verschweißen erreicht. Um dennoch solche Drähte für den Ultraschallprozess nutzbar zu machen, besteht die Möglichkeit, diese mit einem nm-dicken Aluminiummantel zu beschichten [88]. Für die Verbindungsbildung beim Thermosonic-Bonden wird davon ausgegangen, dass es durch die plastische Verformung während des Andrückens des Drahtes auf dessen Oberfläche zur Ausbildung von Gleitstufen kommt, welche bei Einleitung einer horizontalen Ultraschallschwingung zur partiellen Aufbrechung der Oberflächenoxid- und Adsorbatschichten führt, sodass thermisch aktivierte Interdiffusionsvorgänge zur Verbindungsbildung führen. Infolge dieser sehr unterschiedlichen thermisch-mechanischen Belastungen kommt es zu spezifischen Gefügeänderungen im Draht (vgl. Abb. 2.10). Im zz. üblichen Verfahrensablauf wird der zentrisch in einer Kapillare geführte Draht beim Thermosonic-Bonden zuerst durch einen Lichtbogen aufgeschmolzen, sodass am Drahtende eine Kugel mit dem 1,5-2,5 fachen Drahtdurchmesser entsteht. Diese Kugel wird dann durch einen kombinierten thermisch-mechanischen
34
2 Untersuchungsgegenstand
a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 2.9 Drahtbondtechnik: a) Kapillarwerkzeug und Substrathalter für Thermokompressionsbonden; b) Querschliff durch eine Ball-Bondverbindung, c) Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme der Topografie einer Ball-Bondverbindung, d) eines Ball-Wedge-Loopes, e) einer Wedge-Bondverbindung eines Ball-Wedge-Drahtbonds, f) einer Wedge-Bondverbindung eines Wedge-Wedge-Drahtbonds
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
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Verformungstextur durch Drahtformung
Rekristallisation während des Kugelanschmelzens Verformungstextur durch Ballbonden
Verformungstextur durch Wedgebonden stark gestörtes Gebiet am Heel
Abb. 2.10 Drahtbondverbindungen, Verbindungszonen, Drahtgefüge, Verformung und Bruch am sogenannten „Heel“ eines Wedge-Kontaktes (adaptiert aus [86])
Energieeintrag mit dem Anschlusspad der Halbleiterchips verschweißt (Ballbond). Danach wird der Draht nach außen gezogen und mit der Anschlussfläche des Bauelementekontakts oder der eines Verdrahtungsträgers verschweißt (Wedgebond). Danach wird der Draht abgerissen (Abb. 2.7). Neuste Verfahrensoptimierungen lassen offensichtlich auch ein Thermosonic-Ball/Wedge-Bonden ohne zusätzlichen Temperatureintrag zu [89]. Beim Ultraschallbonden wird ein Werkzeug verwendet, welches der Draht in einem Winkel von 30°-60° zur Fußfläche durchläuft. Wie beim Thermosonic-Verfahren wird zuerst der Anschlusskontakt am Chip und danach der Kontakt am Bauelementeanschluss erzeugt (Abb. 2.7). Aufgrund der schiefwinkligen Drahtführung lässt sich der Draht beim Ultraschallschweißen im Gegensatz zum ThermosonicVerfahren nur in einer Richtung wegziehen, wodurch es notwendig wird, den Chip mehrfach zu drehen, um alle vier Anschlussseiten zu kontaktieren. Die Vorteile des langsameren, d. h. unproduktiveren und damit wesentlich weniger verbreiteten, Ultraschallbondens liegen in der sehr stabilen Kontaktierung bei Raumtemperatur. Besonders bei Verwendung verschiedener Verbindungstechniken auf einem Träger, wie z. B. der Kontaktierung von Halbleiterchips auf einer Dickschichthybridschaltung, hat dies erhebliche Vorteile.
2.3.2.3 Flip-Chip-Technik Anders als beim Drahtbonden erfolgt bei der Flip-Chip-Technik keine Chipmontage vor der Anschlusskontaktierung. Stattdessen wird das Halbleiterbauelement mit der aktiven Seite gegen den Verdrahtungsträger gedreht (daher die Bezeichnung "Flip") und über Bumps - welche sich auf mindestens einem der beiden Fügepartner befinden - mit diesem verbunden. Über diese Anschlusskontaktie-
36
2 Untersuchungsgegenstand
rung erfolgt auch eine räumliche Fixierung des Halbleiterbauelementes, sodass der Schritt Chipmontage entfällt. Neben dem Fügeprozess besteht ein sehr wesentlicher Unterschied zum Drahtbonden auch in der Notwendigkeit, die Anschlüsse des Halbleiterchips vor dem eigentlichen Fügeprozess als lötfähige Flächen, sogenannte Bumps (Lothügel), zu gestalten. Da die Drahtbondtechnik das für die erste Verbindungsebene derzeit dominierende Verfahren ist, ist das Anschlussflächenlayout für Halbleiterbauelemente jedoch oft auf einen Drahtbondprozess ausgerichtet. Um ein Halbleiterbauelement Flip-Chip-fähig zu machen, reicht es jedoch nicht, auf die vorhandenen Anschlussflächen Bumps aufzubringen. Klassische Drahtbondlayouts können für den späteren Flip-Chip-Montageprozess eine Reihe erheblicher Nachteile mit sich bringen. Aus diesem Grund wird in einigen Fällen auf dem schon vorhandenen Drahtbondlayout eine weitere Umverdrahtung (z.B. mit BCB) aufgebracht, um das Halbleiterbauelement Flip-Chip-fähig zu gestalten. Ein gutes laterales Flip-ChipLayout ist dadurch gekennzeichnet, dass es eine regelmäßige Anordnung der Anschlussflächen über der Chipfläche gibt, da unregelmäßige Anordnungen zu ungleichmäßigen Druckbildern bzw. Potenzialverteilungen bei galvanischer Abscheidung führen. Bei der Gestaltung der Öffnungen müssen ausreichende Zwischenabstände gewährleistet sein, um entweder ein Überdrucken der Anschlussflächen oder ein galvanisches Anwachsen von Pilzstrukturen beim Waferbumping zu ermöglichen. Aufgrund dieser Besonderheiten beim Layout weist die Verbindungsanordnung eines Flip-Chip-montierten Halbleiterbauelements keine beliebig eng nebeneinanderstehenden Kontakte auf. In der Regel ist das Verhältnis von Zwischenraum und Kontaktdicke in etwa gleich. Andere geometrische Einschränkungen ergeben sich durch die verwendbaren Leitbahndicken sowie durch die Gestaltung des Lotstoplackes auf organischen Verdrahtungsträgern. Leitbahndicken müssen erheblich kleiner sein als die Höhe der Lotbumps, da sich ansonsten ein zu geringer Lotspalt ergibt. Für die Gestaltung der Lotstopmaske zur Definition der Landeplätze von Flip-Chip-Bauelementen hat sich auf organischen Verdrahtungsträgern ein sogenanntes Steglayout bewährt. Dadurch bekommt das Unterfüllungsmaterial mehr Platz zum Fließen und erhält eine gute Kopplung zum Basismaterial. Die Summe der verschiedenen geometrischen Einschränkungen führt zu der in Abb. 2.11 dargestellten Topologie von Flip-Chip-Verbindungen. Gegenüber der Drahtbondtechnik weist die Flip-Chip-Technik wesentliche technische Vorteile auf, welche ihr für die zukünftige Entwicklung elektronischer Aufbauten einen Vorzug einräumen. Zu diesen Vorteilen zählen die Möglichkeit, höhere Anschlusszahlen realisieren zu können (wie es für den Prozessorbereich bereits notwendig ist), ihre besseren elektrischen Eigenschaften zur Erzielung guter HF-Eigenschaften und niedrigere erreichbare Bauhöhen sowie geringere laterale Abmessungen, was vor allem bei kleinen tragbaren Geräten, aber auch bei Speicherriegeln und Smart-Cards von Bedeutung ist. Anders als aus den derzeit die technologische Ausrichtung bestimmenden Vorzügen ersichtlich, waren die Gründe, die zur Entwicklung der Flip-Chip-Technik führten, zunächst andere. Die erste großtechnische Anwendung der Flip-Chip-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
Chip
37
Raster DO
Spalt Lotstop Leitbahn
RM
HSpalt
Lotkontakt
HLotstop HLeitbahn
Substrat
Abb. 2.11 Flip-Chip-Verbindungen mit den entsprechenden geometrischen Bezügen
Technik begann im Jahr 1964. Damals wurden Logikbausteine für den IBM System/360 gefertigt. Dafür wurden Halbleiterbauelemente in Flip-Chip-Technik auf Al2O3-Keramik gefügt. Zu diesem Zeitpunkt erwies sich die eingeführte FlipChip-Technik als wesentlich zuverlässiger als die damals bestehende manuelle Drahtbondtechnik, welche vor allem mit Problemen wie Whiskerbildung und Purpurpest zu kämpfen hatte. Auch unter ökonomischen Aspekten hatte die Flip-ChipTechnik keinen Nachteil gegenüber der Drahtbondtechnik, da der Lotbump aufgrund seiner rein vakuumtechnischen Herstellung ein integraler Bestandteil der hermetischen Versiegelung der Waferoberfläche durch die Glaspassivierung war (vgl. Abb. 2.12). Die meisten über Drahtbondtechnik montierten Halbleiterbauelemente hatten demgegenüber sehr aufwendige hermetische Metallkappengehäuse mit Glasdurchführungen. Zu dieser Zeit wurden selbst diskrete Transistoren und Dioden auf keramischen Hybridträgern in Flip-Chip-Technik montiert, da hierdurch Überschläge und Kurzschlüsse zwischen den ungeschützten Chipkanten und freiliegenden Dickfilmanschlussflächen vermieden werden konnten. Mit den Fortschritten in der Drahtbondtechnik und der Einführung kostengünstiger nichthermetischer organischer Gehäuse für Halbleiterbauelemente trat die Flip-Chip-Technik immer weiter in den Hintergrund. Anwendung fand sie vor allem in Nischenprodukten, wie den TC-Modulen (Thermal Conduction Module) von IBM, welche für die Realisierung leistungsstarker Prozessoren über eine Multichiptechnik verwendet wurden. Ihre Renaissance erlebte die Flip-Chip-Technik Anfang der 90er Jahre. Hierfür waren zwei Schlüsselentwicklungen ausschlaggebend - kostengünstige Prozesse zur Bumperzeugung und die Einführung des Unterfüllungsprozesses. Nasschemische Prozesse oder gar Siebdruck wurden für die Fertigung von Wafern lange Zeit nicht in Betracht gezogen, da der grundsätzliche Einwand bestand, dass diese Prozesse zu viele Verschmutzungen auf die Waferoberfläche bringen würden, welche
38
2 Untersuchungsgegenstand
Cu
Sn Pb Glas Al-Si
Ni (stromlos 1,25µm) Au (stromlos 0,25µm)
Kurzschluss Si Lot
Au (0,1µm) Cu (0,5µm) Cr+Cu Cr (0,15µm)
Problem: Kurzschluss an der Chipkante
Cu
Lot
Lösung A: Stand-Off durch Kupferkugel
Pb-Sn-Lot
Cu
Ni Ni-Sn (intermetallisch) Cu-Sn (intermetallisch) Cr+Cu Cr
Glas Al-Si
Lot
Glas
Lot
Lösung B: kontrolliertes Kollabieren des Lot-Bumps
Abb. 2.12 Verschiedene Bumpingtechniken der Flip-Chip-Entwicklung (adaptiert aus [85])
langfristig zu Kennliniendegradationen der Bauelemente führten. Die Entwicklung leistungsfähiger Passivierungen und Barrieren ermöglichte später jedoch die Einführung dieser Prozesse in die Waferbearbeitung. Die beiden wichtigsten Prozesse zur Herstellung von Lotbumps sind die chemische Abscheidung einer NiAu-Unterbumpmetallisierung mit anschließendem Lotpastendruck und die galvanische Abscheidung einer Cu/Ni-Unterbumpmetallisierung mit galvanischer Lotabscheidung. Beide Prozesse führen zu einem unterschiedlichen Aufbau einer Flip-ChipVerbindung, welche in Abb. 2.13 dargestellt ist. Die stark unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten zwischen Silizium und organischen Trägermaterialien verhinderten lange Zeit aus thermo-
AlSi1 Oxid Si
Lot
Lot
Cu 7µm Passivierung WTi 50nm Passivierung Oxid
AlSi1
Ni
Si
a)
b)
Abb. 2.13 Vergleich: Aufbau galvanisch abgeschiedener Flip-Chip-Bumps auf a) Cu-UBM und b) gedruckter FC-Bumps auf Ni-Au UBM
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
a)
39
b)
Abb. 2.14 Reduzierung der thermisch-mechnisch bedingten Scherung von Flip-Chip-Kontakten durch den Einsatz eines Unterfüllungsmaterials (engl. Underfill): a) Flip-Chip-Aufbau ohne Unterfüllungsmaterial, b) Flip-Chip-Aufbau mit Unterfüllungsmaterial
mechanischen Gründen eine Anwendung auf diesen kostengünstigen Trägern. Damit blieb der Flip-Chip-Technik nur der kostenintensivere Bereich der keramischen Träger vorbehalten [90]. Erst durch die Einführung eines Unterfüllungsprozesses (engl. Underfilling) gelang es Ende der 80er Jahre, der Flip-Chip-Technik eine mit anderen Verbindungstechniken vergleichbare Zuverlässigkeit zu verleihen. Der Unterfüllungsprozess erfolgt, nachdem der Siliziumchip mit der aktiven Seite gegen das Substrat gebondet wurde. Hierbei wird unter Nutzung von Kapillarkräften ein Polymermaterial in den dünnen Spalt (h = 30 ... 100 μm) zwischen Chip und Substrat eingebracht, welches am Ende dieses Prozessschrittes die gesamte Fläche unter dem montierten Chip ausfüllt - daher auch der Name "Unterfüllungsprozess". Die Absicht des Unterfüllens von Flip-Chip-Verbunden besteht in der Schaffung einer ganzflächigen Klebeverbindung zwischen Chip und Substrat. Dadurch werden Chip und Substrat zu einem Bimaterialverbund vereint. Der Vorzug dieses gegenüber dem nicht unterfüllten Flip-Chip-Verbund sehr steifen Bimaterialverbundes bei Temperaturwechseln ist in Abb. 2.14 dargestellt. Anstelle der nahezu freien, entkoppelten thermischen Dehnung von Chip und Substrat beim nicht unterfüllten FC-Verbund, welcher eine große Scherung im FC-Kontakt erzeugt, kommt es bei Temperaturveränderungen zu einer Verwölbung des unterfüllten FC-Verbundes. Durch diese Verwölbung wird die Scherung in den FC-Kontakten erheblich reduziert und damit die Zuverlässigkeit des gesamten Aufbaus gesteigert.
2.3.2.4 Trägerfilmtechnik Für die Trägerfilmtechnik existieren verschiedene Namen. Am weitesten verbreitet ist TAB, welches vom französischen „Transfert Automatique sur Bande“ abgeleitet ist. In Japan wird auch der Begriff Tape-Carrier-Package (TCP) verwendet. Die Grundidee der Trägerfilmtechnik ist es, zur Kontaktierung der Anschlüsse auf dem Halbleiterbauelement ein Folienmaterial zu verwenden, auf dem sich, ähnlich wie auf einer flexiblen Leiterplatte, strukturierte Leitbahnen befinden. Diese Leitbahnen liegen in einem ausgesparten Innenbereich sowie im Außenbereich
40
2 Untersuchungsgegenstand
frei, sodass diese mit dem Halbleiterchip sowie mit einem Verdrahtungsträger verbunden werden können. Zur Verbindung auf dem Halbleiterchip sind auf diesem die Anschlusskontakte über metallische Festdepots (Au, Cu) deutlich über der Passivierungsoberfläche erhaben. Auf der Oberfläche der metallischen Festdepots kann eine lötbare Schicht aus einer Sn-Legierung vorhanden sein. Die Kontaktierung erfolgt in der Regel simultan durch Feinschweißen oder Löten. Nach der Kontaktierung der Halbleiterchips, welche in einem Rolle-zu-Rolle-Verfahren durchgeführt wird, erfolgt die Herstellung der Außenverbindungen. Dazu wird der Einzelträger aus der Trägerfolie ausgeschnitten und es werden gegebenenfalls die äußeren Anschlussbahnen abgewinkelt. Die Außenkontakte der Leitbahnen können über Löten oder Feinschweißen auf dem Verdrahtungsträger aufgebracht werden (Abb. 2.15). Die Entwicklung der Trägerfilmtechnik kam - wie die der Flip-Chip-Technik aufgrund der vielfältigen Probleme, welche mit der frühen Drahtbondtechnik verbunden waren, zustande. Ziel war es, ein hochgradig automatisierbares Rolle-zuRolle-Simultanbondverfahren zu entwickeln, welches aufgrund seiner Mechanisierung bei in hohen Stückzahlen hergestellten Halbleiterbauelementen geringer Anschlusszahlen zu geringeren Kosten als Drahtbonden führen würde [91]. Dieses Ziel wurde durch die Trägerfilmtechnik bis etwa Ende der achtziger Jahre erreicht, bis sich auch für die Montage einfacher TTL-Schaltkreise Drahtbonden als die kostengünstigere Technik herausstellte. Der Trägerfilmtechnik kam zunächst große Bedeutung bei der Realisierung von Workstations und Supercomputern zu, da sich auf dem Folienmaterial sehr enge Rastermaße realisieren ließen [92]. Allerdings
einlagiger Trägerstreifen
Anschlussbeinchen
Bump
Kunststoffrahmen Außenkontakt
Chip
zweilagiger Trägerstreifen
Innenkontakt Anschlussbeinchen Bump Kunststoffrahmen Anschlussbeinchen
Bump
Chip
Chip
b)
zweilagiger Trägerstreifen Klebstoffschicht Kunststoffrahmen
Bump
Anschlussbeinchen
Chip
a) Abb. 2.15 Trägerfilmtechnik (schematisch): a) unterschiedliche Ausführung des Trägerstreifens, b) vierseitige Kontaktierung des Halbleiterchips
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
41
war die Anwendung der Technik auf Anschlusszahlen von weniger als 1000 Anschlüsse beschränkt [93]. Auch bei der Einführung flächenkontaktierbarer Bauelemente, wie BGA und CSP, kam die Trägerfilmtechnik zur Realisierung der ersten Verbindungsebene sehr stark zum Einsatz [94]. Allerdings weist die FlipChip-Technik auf lange Sicht in diesen Anwendungen die besseren elektrischen Eigenschaften sowie die Realisierung höchster Anschlusszahlen auf. Ihre Vorteile wird die Trägerfilmtechnik überall dort behalten, wo ohnehin flexible Leiterplatten als Verdrahtungsträger zum Einsatz kommen, wie z. B. bei Uhren, Druckköpfen, Taschenrechnern, Kameras, Hörgeräten, Smart-Cards usw.usf.
2.3.3 Zweite Verbindungsebene
2.3.3.1 Entwicklung und Aufgaben der zweiten Verbindungsebene Die zweite Verbindungsebene war bezüglich ihres Aussehens und der durch sie zu übernehmenden Funktionen verschiedenen Wandlungen unterzogen. Bis in die sechziger Jahre hinein wurden Schaltelemente über Röhren und Relais realisiert, welche zunächst durch Drähte untereinander verbunden wurden. Diese Verdrahtung wurde in verschiedenen Varianten, z. B. als Mattenverdrahtung, geschriebene Blankverdrahtung oder Wirewrapverdrahtung, ausgeführt und in einem Gestell (bzw. Rahmen) aufgebaut, durch das die geometrische Anordnung und mechanische Befestigung von Bauelementen und Drähten erfolgte [93]. Durch die Einführung der Leiterplatte Anfang der fünfziger Jahre wurde dann eine Verdrahtungstechnik realisiert, welche die mechanische Befestigung und geometrische Anordnung der Bauelemente sowie die Herstellung der elektrischen Verbindungen zwischen ihnen in einer konstruktiven Einheit verband. Sie ermöglichte die Herstellung von Schaltungsverdrahtungen mit reproduzierbaren Eigenschaften und schuf die Grundlage für eine wirtschaftliche automatisierte Fertigung [67, 93]. Zur Bauelementemontage wurde eine Durchstecktechnik verwendet, welche den Vorteil einer Lagesicherung des Bauelementes vor dem Anlöten hatte. Dazu waren Löcher in die Leiterplatte eingebracht, welche später metallisiert wurden, um Durchkontaktierungen in Zwei- und Mehrebenenleiterplatten zu realisieren. Durch Mehrebenenleiterplatten konnten komplexere Verdrahtungen ermöglicht werden, um den mit der Einführung integrierter Schaltkreise gestiegenen Anforderungen nach höheren Packungsdichten gerecht zu werden. Die in den siebziger Jahren einsetzende zunehmende Verwendung integrierter Schaltkreise führte zur Verdrängung schwerer, voluminöser Bauelemente, z. B. Relais, aus der Schaltungstechnik. Bedingt durch die gleichzeitige Notwendigkeit, immer höhere Packungsdichten auf einem Verdrahtungsträger zu erreichen, wurde die bisherige Durchstecktechnik in den achtziger Jahren durch eine Oberflächenmontage- bzw. Aufsetztechnik (engl. Surface Mount Technology = SMT) ersetzt. Die Funktion der mechanischen Fixierung der Bauelemente wurde nun vollständig durch den Lotkontakt übernommen.
42
2 Untersuchungsgegenstand
a)
b)
c)
d)
Abb. 2.16 Evolution der zweiten Verbindungsebene:a) Durchstecktechnik (THT) auf einseitig metallisierten Verdrahtungsträgern, b) Durchstecktechnik auf Mehrlagenverdrahtungsträgern (Multilayer), c) Oberflächenmontagetechnik (SMT) auf Mehrlagenverdrahtungsträgern, d) flächenhafte Anschlussmontage (Area Array) auf hochdichten Mehrlagenverdrahtungsträgern (HDI)
Dies setzte nicht nur leichte Bauelemente voraus, sondern auch eine entsprechende Gestaltung ihrer Anschlussflächen. Diese mussten - vor allem bei mehrpoligen Bauelementen - über eine ausreichende Planarität und Kontaktfläche verfügen. Die Größe der Kontaktfläche war aus zwei Gründen entscheidend. Zum einen sorgte sie für eine ausreichende Haltekraft für das Bauelement nach dem Löten, zum anderen erhöhten größere Flächen die Benetzungskraft während des Lötvorganges, wodurch es zu einer nachträglichen Ausrichtung lageabweichend aufgesetzter Bauelemente während des Lötvorgangs kommt. Vor allem bei der Bewältigung sehr enger Anschlussraster hatte dies sehr positive Auswirkungen bezüglich der Aufsetzgenauigkeit von Bestückautomaten. Die vollständige Automatisierung der Bestückung war ein weiterer wichtiger Aspekt, welcher mit der Herausbildung der Oberflächenmontagetechnik einherging. Die automatische Bestückung war zwar mit der Durchstecktechnik möglich, allerdings war der Prozessablauf komplizierter und weniger produktiv. Die weitere technische Entwicklung der integrierten Schaltkreise führte zu einer Erhöhung der Anschlusszahlen und Schaltfrequenzen, welche durch die bisherigen Konzepte für Bauelementeformen nicht mehr zu bewältigen waren. Aus diesem Grund kam es Ende der achtziger und Anfang der neunziger zu zwei wichtigen Entwicklungen bei den Bauelementeformen - den Multichipmodulen (engl. Multi-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
43
Drahtbondverbindung Leistungshalbleiter Lotverbindung Kupfer (DBC) Keramiksubstrat (DBC) Kupfer (DBC) Klebstoffverbindung
Kühlkörper
Abb. 2.17 Realisierung der zweiten Verbindungsebene durch keramische Verdrahtungsträger zur Fertigung von Baugruppen für höhere Betriebstemperaturen: Leistungshalbleiter auf DBCSubstrat (direct bonded copper), welches auf einen Kühlkörper montiert ist
chip Module = MCM) und den flächenkontaktierbaren Bauelementen (engl. Area Array Components). Die Idee der Multichipmodule besteht darin, einen Zwischenverdrahtungsträger einzusetzen, auf dem mehrere Halbleiterchips zunächst untereinander verbunden werden und von dem Bauelementekontakte zur eigentlichen zweiten Verbindungsebene abgehen. Aufgrund der besonderen Beschaffenheit des Zwischenverdrahtungsträgers sowie der räumlichen Nähe der Halbleiterchips sind auf diesem Träger höhere Schaltfrequenzen als auf einem außerhalb des Bauelementegehäuses liegenden Verdrahtungsträger möglich. Die mit den Multichipmodulen verbundene Entwicklung von Zwischenverdrahtungsträgern erleichterte gleichzeitig die Entwicklung gehäuster flächenkontaktierbarer Bauelementeformen zur Erzielung hoher Anschlusszahlen. Vor der Entwicklung der hauptsächlich unter der Bezeichnung Ball-Grid-Array (BGA) und Chip-Scale-Package (CSP) bekannten Bauelementeformen waren flächenhafte Kontaktierungen höchstpoliger Bauelemente nur über eine Flip-Chip-Montage möglich, welche allerdings den Nachteil sehr feiner Anschlussraster und die Problematik der Nacktchipmontage nach sich zog. Auf Verdrahtungsträgerseite wurde die Einführung hochpoliger Bauelementeformen durch die Entwicklung von HDI-Leiterplatten (HDI = HighDensity-Interconnect) begleitet, welche sich in ihrer Grundstruktur jedoch nicht von Mehrlagenleiterplatten unterscheiden (Abb. 2.16). Auf Mehrebenenleiterplatten aufgelötete Bauelemente bilden die Hauptrealisierungsvariante für die zweite Verbindungsebene. Jedoch existieren für bestimmte Anwendungsfälle auch alternative Realisierungen. Die wichtigste Alternativvariante besteht in der auf keramischen Substraten angewendeten Dickschichttechnik. Bei Verwendung der Dickschichttechnik können passive Bauelemente, wie Wider-
44
2 Untersuchungsgegenstand
Abb. 2.18 Nischenvarianten der zweiten Verbindungsebene: Flexible Leiterplatten zur Realisierung gebogener vieladriger Verbindungen auf einer Druckerpatrone und an einem Verbindungsstecker einer Festplatte
stände oder Kondensatoren, direkt gedruckt werden. Halbleiterbauelemente können durch Löten, Kleben oder Drahtbonden auf den Dickschichtschaltungen montiert werden. Aufgrund der guten Temperaturbeständigkeit werden Dickschichtschaltungen z. B. in der Kfz-Elekronik eingesetzt (Abb. 2.17). Andere Varianten der Verbindungstechnik der zweiten Ebene betreffen den Träger, z. B. durch Verwendung von flexiblen Leiterplatten oder dreidimensionalen MID-Substraten (MID = Mould-Injection-Devices, d. h. thermoplastische Spritzgußmasse wird als Träger verwendet), oder sie betreffen die Verbindungstechnik, z. B. Leitkleben statt Löten (Abb. 2.18). Die Vielfalt der Realisierungsvarianten entspricht den sehr unterschiedlichen Aufgabenstellungen, welche durch die zweite Verbindungsebene zu bewältigen sind. Im Gegensatz zu den Aufgaben der ersten Ebene werden diese viel stärker von der Anwendung vorgegeben. Zu den beiden Grundaufgaben zählen die mechanische Fixierung der Bauelemente und die Verdrahtung der Bauelementeanschlüsse. Letztere Aufgabe besteht dabei aus vielen Teilaspekten, wie der Gewährleistung stabiler Energieversorgung, Gewährleistung einer integeren Signalübertragung (d. h. Flankenzeiten, Signalstörungen durch Reflexionen), Berücksichtigung der Entstehung von Rauschsignalen, Signaleinkopplungen, Leitungsimpendanzen, Anpassung von Leitungsquerschnitten und Leitungsabständen, Erfüllung von EMV-Anforderungen (d. h. Gewährleistung der Störfestigkeit, Minimierung der Störsendung), dem Bereitstellen großer Betriebsspannungs- und Masseflächen zur Minimierung von Versorgungsspannungsschwankungen bei exzessiven Schaltvorgängen. Neben diesen Grundaufgaben sind in Abhängigkeit von der Anwendung auch weitere Aufgaben, wie Wärmeabführung, Aufnahme voluminöser, schwerer Bauelemente oder die Bereitstellung besonderer Funktionselemente, zu bewältigen. Die Aufgabe der Wärmeabführung wird über die Bereitstellung von Kühlflächen, thermischen Vias (d. h. vertikale Strukturen zur Wärmeleitung) oder durch die geeignete Montage von oder an Kühlkörpern erreicht. Zu den typischen voluminösen bzw. schweren Bauelementen, welche durch die zweite Verbindungs-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
45
ebene aufgenommen werden müssen, zählen beispielsweise große Elektrolytkondensatoren, Leistungswiderstände, Stecker, Relais oder Transformatoren, welche in der Regel in Durchstecktechnik montiert werden. Besondere Funktionselemente umfassen beispielsweise Antennen oder die Kontaktflächen von Tastern, welche direkt durch Verdrahtungsträgerstrukturen bereitgestellt werden. Die Vielfalt von spezifischen Aufgaben, welche durch die zweite Verbindungsebene erfüllt werden, führen auch zu einer Vielfalt von Bauelemente-, Verdrahtungsträger- und Verbindungsformen. Aus diesem Grund richtet sich die Beschreibung von Verdrahtungsträgern und Bauelementeformen der zweiten Verbindungsebene nach der Erfüllung der genannten Grundaufgaben.
2.3.3.2 Verdrahtungsträger Verdrahtungsträger bestehen aus einem elektrisch isolierenden Trägermaterial, auf dem Leiterzüge zur Verdrahtung der einzelnen Bauelemente aufgebracht sind. Für verschiedene Anwendungen und Anforderungen existieren verschiedene Arten von Verdrahtungsträgern, welche jedoch das gleiche Grundkonzept besitzen. Verdrahtungsträger werden vor allem nach dem Trägermaterial, der mechanischen Flexibilität des Trägers, nach der Anzahl der Lagen und nach der Leiterzugdichte unterschieden. Die Unterscheidung nach dem Trägermaterial ist dabei die wichtigste in Bezug auf das mechanische Verhalten von Verdrahtungsträgern. Trägermaterialien werden dabei grundsätzlich in organische und keramische Träger unterteilt, wobei die organischen wiederum in starre und flexible Träger unterschieden werden. Im Gegensatz zu den flexiblen sind starre Träger Verbundmaterialien, welche aus einer steiferen Armierung und einem dieses umschließendes Harzsystem bestehen. Zusätzlich können noch weitere dünne Polymerschichten zur Realisierung hochdichter Verdrahtungen aufgebracht sein. Als Armierungsmaterialien werden u. a. Hartpapiere, Glasvliese und -gewebe, Aramidvliese und gewebe als auch PTFE-Gewebe eingesetzt. Übliche Harzsysteme sind Phenolharze, Polyesterharze, Epoxidharze, Bismaleinimid/Triazin-Harze, Cyanatesterharze und PTFE [66, 68, 95]. Organische Träger sind sehr kostengünstig und erlauben aufgrund ihrer hohen Risszähigkeit die Herstellung von großflächigen Trägern, wie z. B. Mutterplatinen von Computern. Überdies besitzen sie gute mechanische Dämpfungseigenschaften und reduzieren effektiv die Einleitung mechanischer Stöße bzw. Vibrationen. Nachteilig ist die niedrige Glastemperatur einiger organischer Trägermaterialien, die bei Hochtemperaturanwendungen durchaus im Betriebstemperaturbereich liegen kann. Die Leiterzüge bestehen in der Regel aus Kupfer, welches an seiner Oberfläche zur besseren Kontaktierbarkeit mit einer Beschichtung versehen sein kann. Typische Beschichtungen sind NiAg, Sn und OSP (Polymerbeschichtung). Für den Aufbau starrer organischer Verdrahtungsträger existieren verschiedene Aufbauvarianten. Zu den klassischen Varianten zählen dabei die in Abb. 2.19 dargestellten
46
2 Untersuchungsgegenstand
Einebenenleiterplatte Kupferleitbahn Basismaterial
undurchkontaktierte Zweiebenenleiterplatte nicht durchkontaktierte Bohrung durchkontaktierte Zweiebenenleiterplatte durchkontaktierte Bohrung Mehrlagenleiterplatte
Abb. 2.19 Aufbauvarianten starrer organischer Verdrahtungsträger
Aufbauten der einseitigen Leiterplatte, der doppelseitigen Leiterplatte mit und ohne Durchkontaktierung und der mehrlagigen durchkontaktierten Leiterplatte. Komplizierter als die Darstellung klassischer Aufbauvarianten von starren organischen Verdrahtungsträgern gestaltet sich die strukturelle Beschreibung moderner hochdichter Verdrahtungsträger, sogenannter HDI-Leiterplatten (HDI = High-Density-Interconnect). Die Notwendigkeit zur Entwicklung hochdichter Verdrahtungsträger ergab sich aus der Anschlusszahlentwicklung und der aus ihr folgenden Einführung von Bauelementen mit flächenhaften Anschlusskontakten. Die hohe Kontaktdichte dieser Bauelemente war mit herkömmlichen Aufbauvarianten von Verdrahtungsträgern nicht mehr zu entflechten. Hinzu kamen erhöhte Anforderungen bezüglich der HF- und EMV-Eigenschaften der Verdrahtungsträger. Schlüsselentwicklungen zur Realisierung solcher hochdichten Träger waren verbesserte Methoden der Locherzeugung, wie Laserbohren, Plasmabohren oder -ätzen und Mikrostanzen, neue Methoden zur Erzeugung additiver strukturierter Dielektrika mit Hilfe photosensitiver Werkstoffe, neue Methoden zur Metallisierung der Vias
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
gefüllte Mikrovias
47
Polyimidkern
Hochtemperaturklebstoff Polyimidkern Polyimidkern
plasmageätztes Mikrovia
Standard FR-4 Leiterplattenaufbau Standard FR-4 Leiterplattenaufbau
Umverdrahtungslagen (PERL ) mechanisch gebohrte Durchkontaktierung
Abb. 2.20 HDI-Aufbaustrukturen
über leitfähige Polymere oder Viafüllen. Einige Beispiele für Aufbauvarianten von HDI-Leiterplatten sind in Abb. 2.20 gezeigt. Flexible organische Verdrahtungsträger sind aus Polymerfolien aufgebaut, auf denen sich analog zu starren organischen Verdrahtungsträgern Leiterzüge aus Kupfer mit entsprechenden Oberflächenbeschichtungen befinden. Typische Folienmaterialien sind Polyester und Polyimid. Der Aufbau eines flexiblen organischen Trägers ist in Abb. 2.21 gezeigt. Organische Materialien besitzen den Nachteil, ihre mechanischen Trägereigenschaften bei hohen Betriebstemperaturen signifikant zu verändern. Aus diesem Grund erweist sich für Anwendungen mit höheren Betriebstemperaturen der Einsatz keramischer Träger als vorteilhaft. Neben der Konstanz der mechanischen Eigenschaften über den gesamten Temperaturbereich kommt bei diesen Trägermaterialien auch die Möglichkeit der Herstellung von Hybridschaltkreisen durch Dickschichttechnik zum Tragen. Dies ermöglicht die integrierte Herstellung aller passiven Bauelemente auf dem Trägermaterial, ohne dass störungsanfällige Lötoder Klebeverbindungen notwendig sind. Deshalb werden keramische Träger für bestimmte Anwendungen, z. B. zur Realisierung hochstabiler analoger Sensorauswerteelektroniken, trotz ihres höheren Preises bevorzugt. Noch höheren Anforderungen genügen keramische Trägermaterialien, wie bestimmte Gläser oder Silizium. Auf ihnen lassen sich Dünnschichtstrukturen abscheiden, welche z. B. zur Erzeugung von Verdrahtungsstrukturen für Hochfrequenzanwendungen geeignet sind. Die Aufwendungen für solche Dünnschichtverdrahtungen sind jedoch so hoch, dass sie nur als Nischenanwendungen zum Einsatz kommen. Klassische keramische Trägermaterialien für den Bereich der Dickschichttechnik sind Alumi-
48
2 Untersuchungsgegenstand
a) Leitbahn
Chip Lage 1 Lage 2
Durchkontaktierung
Lage 3
b)
R, C, L
Abb. 2.21 Aufbaustruktur flexibler organischer Träger: a) klassischer ein- oder zweilagiger Aufbau; b) zukünftiger funktioneller mehrlagiger Aufbau
niumoxid, Berylliumoxid und Aluminiumnitrid. Die Erzeugung von Leitbahnstrukturen und Strukturen für passive Bauelemente erfolgt durch den Druck verschiedener Pasten. In der Regel muss jede Paste dabei einzeln gedruckt, getrocknet und gebrannt werden. Zur Erzeugung komplizierter Verdrahtungen existieren eine Mehrebenen- und eine Mehrlagentechnik. Bei der Mehrebenentechnik werden mehrere Leitebenen erzeugt, welche durch eine Isolationsschicht voneinander getrennt sind. Die Verbindung zwischen den Leitebenen wird durch Leitpastenfüllen der Vias der Isolationsschicht erreicht. Bei der Mehrlagentechnik werden einzelne Leitebenen auf jeweils gesonderten Substraten aus ungesinterter grüner Keramik gedruckt. Anschließend werden diese einzelnen Substrate gestapelt und gemeinsam gebrannt. Die Verbindung zwischen den Leitebenen erfolgt durch Füllung gestanzter Vias der Einzelsubstrate. Der Aufbau keramischer Verdrahtungsträger ist in Abb. 2.22 gezeigt.
2.3.3.3 Bauelementeformen von integrierten Schaltkreisen Bauelementeformen für integrierte Schaltkreise werden in der Regel nach ihrem äußeren Erscheinungsbild eingeteilt, welches vor allem Informationen über Anschlusszahl, Rastermaß und Anschlussanordnung enthält. Für die Beschreibung des mechanischen Verhaltens dieser Bauelementeformen ist jedoch der innere Aufbau dieser Bauelemente entscheidend, da dieser das thermisch-mechanische Verhalten dieser Bauelemente bestimmt. Bezogen auf dieses Kriterium unterteilen sich Bauelementeformen integrierter Schaltkreise in Trägerstreifenbauelemente und in Bauformen mit Zwischenverdrahtungsträger.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
49
a)
b)
c)
Abb. 2.22 Aufbaustruktur keramischer Verdrahtungsträger: a) Multilayeraufbau in Mehrschichttechnik, b) Durchkontaktierung durch eine Mehrlagen-LTCC-Keramik, c) Lötstelle (SnAg-Lot auf Ag-Leitbahn) eines aufgesetzten Chipwiderstandes
Trägerstreifenbauelemente sind die klassischen Bauformen mit peripheren Anschlüssen, wie DIP, SOP (TSOP), PLCC und QFP (TQFP). Hierbei wird der Halbleiterchip mit seiner Rückseite auf einen Trägerstreifen montiert und die Chipanschlüsse über Drahtbonden mit den Anschlussbeinchen des Trägerstreifens verbunden. Zur Verkapselung werden Trägerstreifen und Halbleiterbauelement mit einer Polymermasse umspritzt. In der Anfangszeit erfolgte die Montage des Halbleiterchips auf dem Trägerstreifen durch eutektisches Au-Si Bonden. Deshalb war es notwendig, den thermischen Ausdehnungskoeffizienten des Trägerstreifens an den des Si-Chips anzupassen, wofür die unter dem Namen Kovar bekannte FeNiCo-Legierung als Trägerstreifenmaterial verwendet wurde. Später erfolgte die Chipmontage über elastische Klebeverbindungen, sodass Kupfer als Trägerstrei-
50
2 Untersuchungsgegenstand
DIP
PLCC
a)
TSOP
b)
PQFP
c)
d)
Abb. 2.23 Trägerstreifenbauformen: a) mit geraden Durchsteckstiften (DIP = Dual Inline Package), b) mit nach innen gebogenen J-Leads (PLCC = Plastic Leaded Chip Carrier ), c, d) mit nach außen gebogenen Gull-Wings (TSOP = Thin Small Outline Package, (PQFP = Plastic Quad Flatpak)
fenmaterial eingesetzt werden konnte, welches später zum Teil durch Alloy42 (FeNi-Legierung) ersetzt wurde. Für die Ausformung der Anschlussbeine wurden drei verschiedene Varianten verwendet - gerade Stifte für die Durchsteckmontage und J-Leads sowie Gull-Wings für die Oberflächenmontage. Beispiele für wichtige Aufbauvarianten von Trägerstreifenbauformen sind in Abb. 2.23 gezeigt Trägerstreifenbauelemente erlauben nur eine periphere Anordnung der Anschlüsse entlang der Kanten des Bauelementes. Dieses führte durch die ständige Erhöhung der Integrationsdichten in Halbleiterbauelementen zu Problemen bei der Beherrschbarkeit der Anschlusszahlen. Eine Methode, die Zahl der Ein- und Ausgänge N p auf einem Chip abzuschätzen, welcher eine bestimmte Anzahl Gatter N g besitzt, besteht in der folgenden als Rent’sche Regel bekannten Beziehung: n
N p = K ⋅ Ng ,
(2.1)
Tabelle 2.1 Parameter der Rent’schen Regel [96] Baustein
n
Statischer Speicher
0,12
6
Mikroprozessor
0,45
0,82
Gate Array
0,50
1,9
K
Hochleistungsrechner Chip und Modul
0,63
Board und System
0,25
1,4 82
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
51
wobei K und n empirische Konstanten sind, welche von der Art der Schaltkreise abhängen und für die Beispiele in Tabelle 2.1 gegeben sind. Dieser 1969 von E. Rent empirisch gefundene Zusammenhang stellt eine wichtige Grundlage für das Verständnis der Entwicklung von Ein- und Ausgangsleitungen bei Logikschaltkreisen dar. Da durch höhere Integration und höhere Taktfrequenzen auch die Verlustleistung der Schaltkreise zunimmt, steigen auch die Anschlusszahlen für die Versorgungsleitungen. Unter der Annahme, dass aus verschiedenen Gründen, wie z. B. der Elektromigrationsfestigkeit, die Lastgrenze pro Anschluss bei 200 mA liegt, ergibt sich folgende Beziehung für die Abschätzung der notwendigen Versorgungsanschlüsse N s pro Schaltkreis [97]: Ps [ W ] N s = 10 ⋅ --------------- , Vs [ V ]
(2.2)
wobei P s die Verlustleistung und V s die Versorgungsspannung des Schaltkreises sind. Zukünftige Schaltkreise werden daher über die gleiche Anzahl von Versorgungsleitungen und Ein- und Ausgängen verfügen. Durch steigende Leistungsaufnahme und hohe Taktfrequenzen kam zusätzlich die Forderung nach Senkung von Induktivitäten der Anschlussleitungen auf, um das Entstehen starker Störimpulse an den Anschlüssen zu verhindern. Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren stellte sich die Frage nach den maximal auf einem Chip platzierbaren Anschlüssen. Diese kann aus sehr einfachen geometrischen Überlegungen beantwortet werden. Für ein quadratisches Bauelement ergibt sich die maximale Anschlusszahl M p bei peripherer Kontaktanordnung aus X M p = 4 §© --- – 1·¹ , p
(2.3)
und die maximale Anschlusszahl M a bei matrixförmiger Anordnung aus 2 Ma = § X --- – 1· , ©p ¹
(2.4)
wobei X einer Kantenlänge des Bauelements und p dem Kontaktraster entspricht [68]. Aus dem Vergleich der Gleichungen (2.3) und (2.4) geht hervor, dass Bauelementeformen mit matrixförmiger (= flächenhafter) Kontaktanordnung bei größer werdenden Bauelementeabmaßen X oder bei kleiner werdendem Kontaktraster p wesentlich mehr Anschlusskontakte zur Verfügung stellen können als Bauelemente mit peripherer Anschlussanordnung (z. B. Trägerstreifenbauelemente).
52
2 Untersuchungsgegenstand
CPGA Gehäusedeckel (Metall)
Chip
Keramikträger
Drahtbondverbindung (erste Verbindungsebene)
Glasdurchführung Anschlussstifte
a)
PBGA organische Chip Spritzgusskappe
Drahtbondverbindung (erste Verbindungsebene)
organischer Zwischenverdrahtungsträger
Lotbälle
b)
Abb. 2.24 Bauformen mit flächenhafter Anschlussmontage: a) keramische Pin-Grid-ArrayGehäusebauform (CPGA), b) organsiche Ball-Grid-Array-Bauform (PBGA)
Für die Realisierung von Bauelementeformen mit flächenhafter Anschlussanordnung gibt es eine Reihe verschiedener Realisierungsvarianten. Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser Gehäusebauformen waren Ceramic-Pin-Grid-Arrays (CPGA), eine Bauform, welche sich aus dem von IBM während der achtziger Jahre entwickelten Multichipmodulen (MCM) abgeleitet hatte. Kernstück dieser Multichipmodule war ein keramischer Zwischenverdrahtungsträger, der eine Dünnschichtmehrebenenverdrahtung enthielt und auf dem auf der einen Seite Si-Chips über Flip-Chip-Technik montiert waren und auf der anderen Seite Pins zur Einsteckmontage abgingen [98]. Durchsteckkontakte machten jedoch die Vorteile zur Erzielung höherer Integrationsdichten durch Flächenkontaktierung zunichte, da zum einen ihr Rastermaß zunächst auf 2,54 mm begrenzt war und sie zum anderen die Leitungsentflechtung unterhalb des Bauelementes in der Leiterplatte behinderten [85]. Aus diesem Grund versuchte man, die Pins durch Lotkugeln zu ersetzen [99]. Diese Substitution führte zum Ceramic-Ball-Grid-Array (CBGA), einer SMT-kompatiblen Bauelementeform [100, 101]. Zur Erhöhung der Zuverlässigkeit wurde aus dieser Bauform der Ceramic-Column-Grid-Array (CCGA) entwickelt, bei welchem die Lotkugeln durch hochschmelzende (Pb90Sn10) Lotsäulen ersetzt wurden. Durch Verbesserungen bei der Verdrahtungsdichte auf starren organischen Trägern (vgl. 2.3.3.2) sowie die Einführung eines Unterfüllungswerkstoffes für die Flip-Chip-Technik (vgl. 2.3.2.3) konnten keramische durch starre organi-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
53
Chip Passivierungsschicht Trägerstreifen
Chip Ring Elastomer Flex
Anschlussbeinchen Anschlussbumps
Lotbumps
Chip Leiterplatte
Abb. 2.25 CSP-Bauformen mit peripherer und flächenhafter Anschlussmontage (Schnittdarstellungen)
sche Zwischenverdrahtungsträger ersetzt werden. Aus diesen Entwicklungen entstand der Plastic-Ball-Grid-Array (PBGA), in welchem zur Realisierung der Chipverbindungen neben der Flip-Chip-Technik auch die Drahtbondtechnik eingesetzt wurde. Die Weiterentwicklung dieser Bauelementeform führte zum Chip-ScalePackage (CSP) bzw. Fine-Pitch-Ball-Grid-Array (FBGA). Diese Bauformen zeichnen sich dadurch aus, dass die äußeren Abmessungen des gehäusten Halbleiterbauelementes die des Chips um höchstens 20% überragen. Zur Realisierung solcher Bauformen wurden eine Reihe von Varianten entwickelt, von denen einige in Abb. 2.25 dargestellt sind.
2.3.3.4 Formen passiver Bauelemente Obwohl passive Bauelemente in der Regel als oberflächenmontierbare Bauelemente verarbeitet werden, ist es aufgrund von Größe und Gewicht einiger passiver Bauelemente, z. B. Elektrolytkondensatoren, Leistungswiderstände, Spulen, notwendig, diese als Einsteckbauformen auszuführen, sodass über den Verdrahtungsträger ein Großteil der mechanischen Stabilisierung übernommen wird. Die Bauformen von Einsteckbauelementen sind aus mechanischer Sicht jedoch zumeist ohne Belang, da der Hauptteil der thermischen Fehldehnungen über die Anschlussstifte abgefangen wird. Bauformen oberflächenmontierbarer passiver Bauelemente sind in der Regel quaderförmig oder zylindrisch. Tabelle 2.2 und Abb. 2.26 enthalten die Abmaße der größeren quaderförmigen Bauformen von
54
2 Untersuchungsgegenstand
Widerständen und Kondensatoren, welche wegen ihrer relativ hohen absoluten thermischen Fehldehnungen gegenüber organischen Verdrahtungsträgern mechanisch kritisch sind. Tabelle 2.2 Abmessungen von Chipwiderständen und Chipkondensatoren [102] Bezeichnung
Länge [mm]
Breite [mm]
Höhe [mm]
Kontakttiefe [mm]
R1206
3,2
1,6
0,7
0,3
R1210
3,2
2,5
0,7
0,3
R2010
5,0
2,5
0,7
0,4
R2512
6,4
3,2
0,7
0,4
C1206
3,2
1,6
1,4
0,3
C1210
3,2
2,5
1,4
0,3
C1812
4,5
3,2
1,4
0,3
C1825
4,5
6,4
1,4
0,3
Neben den aufgeführten Keramikkondensatoren existieren auch Tantalkondensatoren als gepolte Kondensatoren mit hohen Kapazitätswerten für Stromversorgungsanwendungen. Diese besitzen jedoch einen anderen Aufbau mit nachgiebigen Anschlussfahnen. Kritisch durch steifen Aufbau sind jedoch zylindrische MELF-Bauformen. Diese besitzen für Widerstände und Kondensatoren einen Durchmesser von 2,2 mm und eine Länge von 5 mm [103].
Schutzschicht (Glas) Keramik (BaTiO3)
Innere Elektrode (z.B. Ag/Pd; Ni/Cu)
Widerstandselement
Anschlusselektrode Substratelektrode (z.B. Ag; Cu) Nickelbarriere Äußere Elektrode (z.B. Sn)
Abb. 2.26 Aufbau von SMD-Kondensatoren und SMD-Widerständen
Keramik (Al2O3) Anschlusselektrode Substratelektrode (Ag/Pd - min. 10µm) Nickelbarriere (min. 2µm) Äußere Elektrode (z.B. Sn - min. 2µm)
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
55
2.3.4 Architekturentwicklung Obwohl sich das Grundprinzip der Architektur elektronischer Aufbauten über Dekaden scheinbar nicht geändert hat, ist die Argumentation, welche hinter diesem Gestaltungsprinzip steht, starken Wandlungen unterzogen. Ausgangspunkt für die Technologie- und Architekturentwicklung in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik war die Aufgabe, sehr komplexe Schaltungsanordnungen mit einer unübersehbaren Anzahl an Bauelementen effektiv und rationell verdrahten zu können. Die komplexesten Schaltungsanordnungen wurden dabei für die Herstellung von Rechenanlagen benötigt. Zur Realisierung von Zentralrecheneinheiten (CPU) mussten einige hunderttausend Einzelschaltungen miteinander verdrahtet werden, welche selbst aus diskreten bzw. niedrigintegrierten Schaltkreisen aufgebaut waren [104]. Die Erhöhung des Integrationsgrades bei den integrierten Schaltkreisen vereinfachte die Verdrahtungsaufgabe erheblich und verringerte die Anzahl der Verbindungsebenen. Gleichzeitig vergrößerten sich aber auch die Integrationsdichte auf dem Verdrahtungsträger und auch die Anschlusszahlen der integrierten Schaltkreise. Die ursprüngliche Verdrahtungsaufgabe, welche zum größten Teil durch die Mehrebenenmetallisierung auf dem Halbleiterchip übernommen wurde, wandelte sich in eine Integrationsaufgabe [65]. Auf der zweiten Verbindungsebene wurde die Einstecktechnik durch die Oberflächenmontagetechnik abgelöst. Hierdurch wurde eine Erhöhung der Verdrahtungsdichte durch Verkleinerung von Leitbahnabmessung, Einführung neuer Bauelementeformen mit engerem Raster sowie kleineren lateralen Abmessungen und eine Erhöhung von Lagenanzahlen des Verdrahtungsträgers möglich. Gleichzeitig entwickelte sich für den anschlusszahlintensiven Logikbereich das Multichipmodul [85, 104]. Der für die Multichipmodule eingesetzte Zwischenverdrahtungsträger stellte innerhalb des Architekturprinzipes eine weitere Verdrahtungsebene dar, welche in ihrer Verdrahtungsdichte zwischen der Mehrebenenmetallisierung auf dem Chip und der Leiterplatte lag. Zunächst wurde der Vorteil dieses Zwischenverdrahtungsträgers nur in der Erhöhung der Integrationsdichte gesehen [98], bei den Nachfolgetypen der ersten Multichipmodule wurden durch den Einsatz neuer Dielektrika sowie durch spezielle Anordnungen entscheidende Fortschritte bei Signallaufzeiten und Wärmeabführung erreicht [105-107]. Obwohl die Anwendung von Multichipmodulen aufgrund der mit dem keramischen Träger verbundenen hohen Kosten auf den Bereich von Hochleistungsrechnern beschränkt blieb [85, 108], begünstigte die mit ihnen verbundene Technologieentwicklung bei den mehrlagigen Zwischenverdrahtungsträgern die Entwicklung neuer Bauformen für Halbleiterbauelemente, wie den Ball-Grid-Arrays [101], welche durch ihre flächenhafte Anschlusskontaktierung den inzwischen gewachsenen Anschlusszahlen gerecht wurden. Die Kosten für diese zunächst auf keramischen Trägern (CBGA) realisierten Bauformen [99] konnten später durch den Einsatz organischer Zwischenverdrahtungsträger [109, 110] deutlich gesenkt werden. Trotz aller weiteren Innovationen im Bereich Gehäusebauformen, wie z. B. der Einführung von Chip-Scaleund Wafer-Level-Bauformen, gelang es nicht, die Kosten pro Anschluss im glei-
56
2 Untersuchungsgegenstand
chen Maße zu senken, in welchem die Anschlusszahlen von Halbleiterbauelementen stiegen [111]. Hält diese Entwicklung an, so kommt es zu einer signifikanten Erhöhung der relativen Kosten für die Einzelhäusung von Halbleiterbauelementen, sodass die Kosteneinsparungen, welche auf Halbleiterebene bei Einführung eines neuen Technologieniveaus entstehen, sich nicht im gleichen Maße auf den Preis des gehäusten Bauelementes niederschlagen. Gleichzeitig ergibt sich durch die Steigerung der Integrationsdichte und der mit ihr verbundenen Anschlusszahlerhöhung bei einigen Typen von Schaltkreisen das Problem, dass der Platzbedarf, welcher zur Anordnung der Anschlussflächen auf dem Chip notwendig ist, den der integrierten Schaltung übersteigt [108], was zu einer uneffizienten und ökonomisch nicht vertretbaren Nutzung der zu prozessierenden Siliziumfläche führen würde. Beide Probleme stellen den Ausgangspunkt für das System-on-Chip-Konzept (SoC) dar, welches die Systemintegration verschiedener, bisher einzeln gehäuster Schaltungsteile, wie Logik, Speicher, Analog- oder HF-Schaltungen, auf einem Chip zum Ziel hat. Dabei wird davon ausgegangen, dass die zusätzlichen Kosten, welche durch die geringeren Prozessausbeuten bei der Halbleiterfertigung zustande kommen, durch die Einsparungen bei der Bauelementehäusung mehr als kompensiert werden [108]. Auf lange Sicht sieht das System-on-Chip-Konzept die Integration aller Komponenten, also auch optoelektronischer Komponenten, Sensoren und MEMS-Komponenten, auf einem Chip vor. Der Aufgabenbereich der Aufbau- und Verbindungstechnik würde sich dann auf die Montage eines „System-Chips“ und einiger wegen ihrer Größe nicht integrierbarer passiver Bauelemente beschränken [112]. Tabelle 2.3 Dielektrische Eigenschaften von Isolations- und Substratmaterialien [113] Material
εr
tan δ
α
[ 10
–6
⁄ K]
PTFE (60 GHz)
2,1
0,0001
100-120
PTFE mit Glasflies (10 GHz)
2,2
0,0009
12-16
FR-4
4,2-4,5
0,025
12-16
Getek
3,6-4,2
0,010-0,015
12-16
Al2O3 (96%)
9
0,0006
7
AlN
8-10
0,0007-0,002
4,5
0,05
3,7
SiC
40
Aufgrund der zunehmenden Bedeutung von drahtloser Kommunikation zwischen elektronischen Geräten wird die System-on-Chip-Vision jedoch angezwei-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
57
felt, da Si, so wie es heute in Standard-CMOS-Prozessen verwendet wird, kein guter Substratwerkstoff zur Realisierung der für HF-Schaltungsteile notwendigen Spulen, Kondensatoren und Filter ist. Die hervorragenden dielektrischen Eigenschaften keramischer und organischer Materialien (Tabelle 2.3) sind Ausgangspunkt für das System-on-Package-Konzept (SoP), welches der vom SoC-Konzept getragenen Idee eines „System-Chips“ die eines „System-Boards“ entgegensetzt. Das System-Board löst den klassischen Verdrahtungsträger der zweiten Verbindungsebene ab und ist durch einen sehr komplizierten Schichtaufbau gekennzeichnet. In den aus vielen unterschiedlichen Werkstoffen bestehenden Schichten sollen die verschiedenen passiven Komponenten, Antennen, Filter, aber auch Lichtleiter sowie Leitbahnen und Vias, für die Verdrahtung erzeugt werden, sodass auf dem System-Board nur noch die hochdichte Montage von Halbleiterbauelementen erfolgt. Das Konzept des System-Boards ist kein vollständiges Gegenkonzept zum System-Chip, jedoch verneint es die vollkommene Systemintegration schwierig miteinander prozessierbarer Systemkomponenten auf einem Chip [114]. Für die Durchsetzung des SoC-Konzepts gibt es jedoch selbst bei unaufwendig miteinander auf einem Halbleiterchip integrierbaren Schaltungsteilen bestimmte Grenzen, da bei der Verkleinerung von Strukturen auf dem Halbleiterchip auch die Höhe und Breite der Leitbahnen herunterskaliert wird. Dies führt wiederum zu einer Erhöhung des RC-Produktes, einer Verbindung zwischen zwei Schaltelementen, und damit zur Erhöhung der Signallaufzeit. Da sich bei bestimmten Schaltkreisen, z. B. Mikroprozessoren, die Chipflächen erhöhen, begrenzen die auf ihnen befindlichen langen Leitbahnen die maximal erreichbare Taktfrequenz. Für dieses als Long3 Lossy-Lines ( L ) -Effekt bekannte Problem wurde in [115] errechnet, dass für eine Strukturbreite von 0,5 μm eine außerhalb des Chips durch einen Zwischenverdrahtungsträger gezogene Leitung ab einer Länge von etwa L = 10 mm eine geringere Signalverzögerung auftritt als in einer auf dem Chip verlegten Leitung. Daher ist eine Zerteilung großer Chips in einzelne Funktionseinheiten, welche über eine Mehrlagendünnfilmverdrahtung auf einem Keramikträger untereinander verdrahtet werden, von Vorteil. In [115] wird gezeigt, dass diese als Few-Chips-Module (FCM) bezeichnete Lösung bei kostenintensiven Schaltkreisen (> 1000 $) gegenüber einer in einer BGA-Bauform gehäusten Einzelchiplösung keine Kostennachteile besitzt. Für kostengünstige Schaltkreise, welche aufgrund niedrigerer Anschlusszahlen keiner hochdichten Verdrahtung auf einem Zwischenträger bedürfen, hat sich unter der Bezeichnung System-in-Package (SiP) eine Aufbauvariante entwickelt, die entweder gleichartige Schaltkreise (z.B. DRAMs) oder verschiedenartige Schaltkreise (z. B. Prozessor, DRAM, Flash-Speicher) oder Schaltkreise mit diskreten aktiven und passiven Komponenten auf einem Zwischenverdrahtungstäger integriert. Als Zwischenverdrahtungsträger kommen dabei in der Regel die bereits für die BGAund CSP-Bauformen entwickelten Träger zum Einsatz, sodass SiP-Gehäuse von außen denen der BGAs und CSPs gleichen. Im Unterschied zum klassischen MCM werden die Chips im SiP nicht mehr lateral, sondern horizontal über eine Reihe verschiedener Stapeltechniken angeordnet. Durch die Verwendung abgedünnter
58
2 Untersuchungsgegenstand
Einzelchips in Stapeln gelingt es, die Bauhöhen traditioneller Halbleiterbauformen nicht zu überschreiten. Typische Beispiele für SiPs sind spannungsgesteuerte Höchstfrequenzoszillatoren (UHVVCO) oder Synthesiser, wie sie in Mobiltelefonen eingesetzt werden, welche auf einem Si/Polymer-Stapelzwischenverdrahtungsträger aufgebaut sind, ein Metallkappengehäuse besitzen und sich wie ein CSP verarbeiten lassen [116]. Auch im Bereich der Speicherschaltkreise hat sich das SiPKonzept durchgesetzt, da es hierdurch gelingt, die Kapazität eines gehäusten Speicherbausteins um das Vierfache zu steigern. Das SiP-Konzept begrenzt dass SoCKonzept von der Seite kostengünstiger Schaltkreise mit niedrigen Anschlusszahlen, da es einfachere und damit schnellere Design-Verifikationen erlaubt, woraus sich wesentlich kürzere Entwicklungszeiten und schnellere Produktzyklen ergeben [114]. Neben diesem Time-to-Market-Aspekt besitzt SiP gegenüber den SoC-, SoP- und FCM-Konzepten den technischen Vorteil der vertikalen Integration, wodurch die lateralen Abmessungen eines SiP-Aufbaus unabhängig von der Anzahl der integrierten Bauelemente etwa auf der eines Einzelchips gehalten werden. Die verschiedenen Konzepte, welche aus heutiger Sicht die Entwicklung des Aufbaus elektronischer Geräte wesentlich bestimmen werden, haben sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Architekturentwicklung. Das SoC-Konzept wirkt konservierend, da es die Anschlusszahlentwicklung einfriert und damit die Entwicklung neuer Aufbauvarianten weitestgehend überflüssig macht. Die FCM-, SiP- und SoP-Konzepte führen zu sehr grundsätzlichen Änderungen, da sie die Anordnung und die Funktion der einzelnen Verbindungsebenen verändern. Beim FCM-Konzept sind diese Änderungen am geringsten. Zwar wird ein Teil der Integrationsaufgabe von der Mehrebenenmetallisierung auf dem Chip an den Zwischenverdrahtungsträger des Bauelementegehäuses übergeben, jedoch würde auch ein nicht zerteilter Chip im Gehäuse über einen Zwischenverdrahtungsträger verfügen. Komplizierter gestaltet sich die Bewertung der Aufgaben des Zwischenverdrahtungsträgers beim SiP-Konzept, da dieses von einfachen Verdrahtungsaufgaben bei Speicherchipstapeln bis hin zur Realisierung von Subsystemen, wie z. B. den UHVVCOs, reicht. Im letzteren Fall kommt es zu einer Veränderung gegenüber den traditionellen Aufgaben der ersten Verbindungsebene. Ähnlich muss das System-Board des SoP-Konzeptes bewertet werden, da es im Vergleich zu einem traditionellen Verdrahtungsträger der zweiten Verbindungsebene neben seinen Verdrahtungsaufgaben auch funktionelle Elemente bereitstellt. Trotz dieser erheblichen Veränderungen bezüglich der Funktions- und Aufgabenverteilung ist zu erwarten, dass die Architektur elektronischer Aufbauten bezogen auf ihre topologische und mechanische Struktur - sich nicht wesentlich ändert. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass ein flacher Träger existiert, auf dem Halbleiterbauelemente entweder direkt oder über Zwischenträgerstrukturen montiert sind. Dabei ist nicht zu erwarten, dass sich die in 2.3.2 und 2.3.3 beschriebenen Verfahren und Anordnungen grundlegend ändern.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
59
2.3.5 Strukturabmessungen in elektronischen Aufbauten Neben den bisher dargestellten funktionellen und architektonischen Aspekten zeichnet sich die Aufbau- und Verbindungstechnik auch durch charakteristische Strukturabmessungen aus, welche aus einem technisch-ökonomischen Kompromiss zwischen informationstechnischen Anforderungen auf der einen und technologischen Möglichkeiten auf der anderen Seite resultieren. Dabei ergibt sich aus den informationstechnischen Bestrebungen nach einer hochauflösenden Gewinnung, schnellen Übertragung und Verarbeitung sowie massenhaften Speicherung von informationstragenden Signalen die Forderung nach einer immer größeren Anzahl von Verbindungen auf immer kleinerem Raum. Demgegenüber ergeben sich durch die technologische Realisierbarkeit grundsätzliche Einschränkungen bei der Verkleinerung von Strukturabmessungen. Je kleiner die zu erzeugenden Strukturen werden sollen, um so höher werden auch die Kosten der notwendigen Herstellungstechnologie, wobei zwischen Kosten und minimaler Strukturbreite oft ein exponentieller Zusammenhang besteht. Die sich aus diesem Kompromiss ergebenden charakteristischen Strukturbreiten sind von der Art der Struktur bzw. der Verbindungstechnologie abhängig. Im Folgenden werden die Strukturbreiten der wichtigsten metallischen Strukturelemente deshalb in bestimmten Gruppen dargestellt. Die erste Gruppe bilden die Strukturbreiten in der ersten Verbindungsebene. Die Tatsache, dass die Erhöhungen der Integrationsdichte zwangsweise auch zu einer Erhöhung der Anschlusszahlen führt (vgl. Rent’sche Regel, 2.3.3.3), zieht auch relativ schnelle Änderungen der Strukturabmessungen für die erste Verbindungsebene nach sich, deren Prognosen in Tabelle 2.4 dargestellt sind. Tabelle 2.4 Prognose der minimalen Strukturabmessungen (Rastermaße) der ersten Verbindungsebene [117, 118] Chipseitiges Anschlussraster [μm] für entsprechendesVerbindungsverfahren
2005
2007
2010
2013
2020
Drahtbonden Ball/Wedge
35
30
25
20
20
Drahtbonden Wedge/Wedge
30
25
20
20
20
TAB
35
30
20
20
20
Flip-Chip (flächenhaft)
150
120
90
90
70
Flip-Chip (peripher)
60
30
20
20
20
Während diese Anschlussraster für den Bereich der Drahtbondtechnik außer der Verringerung der Drahtdurchmesser keine grundsätzlichen Änderungen nach sich ziehen, sind für den Bereich der Flip-Chip-Technik Änderungen jenseits des Proportionenschrumpfens zu erwarten. Bei Rastermaßen von 20 μm kann durch das
60
2 Untersuchungsgegenstand
starke Phasenwachstum nicht mehr von der Ausbildung eines klassischen Lotkontaktes ausgegangen werden. Dementsprechend werden sich auch Änderungen in materialtechnischen Aspekten ergeben, unter denen die Verwendung von Cu-Säulen bzw. Federelementen [119] aus heutiger Sicht am wahrscheinlichsten erscheint. Die zweite Gruppe bilden die Strukturbreiten in der zweiten Verbindungsebene. Diese werden sehr stark von den auf einer Leiterplatte erreichbaren Strukturbreiten bestimmt. Mit der Erhöhung der Anschlusszahlen werden zunehmend auch hochdichte Träger zum Einsatz kommen, da dann die veränderten Kosten pro Anschluss den Einsatz solcher teureren Verdrahtungsträger rechtfertigen. Dadurch werden auch im Bereich Leiterplatte Rastermaße unterhalb der heute üblichen 300 μm möglich. Die Prognosen für die Entwicklung der Rastermaße im Bereich der zweiten Verbindungsebene sind in Tabelle 2.5 dargestellt. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Anwendungen mit ihren verschiedenen Anforderungen an Kosten und Leistungsfähigkeit der Bauelemente ist eine weite Spanne für die minimal zu realisierenden Rastermaße bis zum Jahr 2020 vorauszusehen. Diese wird etwa von 150 μm für CSP/FBGA Bauelemente bis zu den heute bereits üblichen 500 μm für BGA-Bauelemente reichen. Für passive Bauelementebauformen wird eine Verkleinerung bis auf Abmessungen von 400 μm X 200 μm vorausgesagt. Für Leitbahnen auf Verdrahtungsträgern sind Dicken bis < 10 μm und Breiten zwischen 3 ... 5 μm zu erwarten [120]. Tabelle 2.5 Prognose der minimalen Strukturabmessungen (Rastermaße) der zweiten Verbindungsebene [117, 118] Substratseitiges Anschlussraster [μm] für entsprechende Bauformen
2005
2007
2010
2013
2020
CSP (flächenhaft)
300
200
200
150
150
BGA
800
650
500
500
500
FBGA
400
300
150
150
150
FLGA
400
300
300
300
300
QFP/QFN
400
400
300
300
200
Für die relevanten zu untersuchenden metallischen Strukturen ergeben sich zum einen kompakte Körper (wie z. B. bei Lotkontakten), d. h. Kugeln oder Würfel, und zum anderen langgezogene linienförmige Körper (wie z. B. Drähte, Leitbahnen), d. h. Zylinder oder Quader. Die Abmessungen der kompakten Körper überspannen dabei einen Bereich von 0.02 mm ... 1 mm (bezogen auf die Kantenlänge eines Würfels oder den Durchmesser einer Kugel). Die Abmessungen der langgestreckten linienförmigen Körper reichen von 0.01 mm ... 0.5 mm (bezogen auf die
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
Gehäustes Halbleiter-Bauelement
61
Nacktchip
Matrix Peripher
PGA
BGA
CSP
WLP
FC
TAB
COB
>1,27 1,0 0,8 0,5 0,3 Raster (mm)
0,2 0,15
>2 1...2 Bauhöhe (mm)
<1
Abb. 2.27 Momentane Rastermaße und Bauhöhen von Bauelementen in der AVT
Diagonale eines rechteckigen Querschnitts bzw. auf den Durchmesser eines runden Querschnitts). Die maximalen Strukturabmessungen werden durch die Raster der heute existierenden Bauelemente beschrieben, welche in Abb. 2.27 schematisch dargestellt sind.
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten 2.4.1 Ursachenherkunft Aus einer prinzipiellen Analyse der Architekturkonzepte unter dem Gesichtspunkt der thermisch-mechanischen Integrität, d. h. der Robustheit eines Aufbaus gegenüber thermischen, mechanischen bzw. gekoppelten thermisch-mechanischen
62
2 Untersuchungsgegenstand
Belastungen, werden sehr schnell die grundsätzlichen Schwachpunkte elektronischer Aufbauten deutlich. Betrachtet man eine spezifische Bauform eines Halbleiterbauelementes, wie den in Abb. 2.28 schematisch dargestellten BGA, so zeigt sich ein thermisch-mechanisch sehr problematischer, aus verschiedenen Materialien bestehender Schichtaufbau. Kritisch sind dabei vor allem die großen Differenzen im thermischen Ausdehnungskoeffizienten, die zwischen den einzelnen miteinander verbundenen Schichten bestehen. Temperaturänderungen bauen in einem solchen Schichtaufbau mechanische Spannungen auf, da sich die einzelnen Schichten nicht frei dehnen können. Hierdurch kommt es zu Verformungen im gesamten Aufbau, welche auf lange Sicht zum Versagen einzelner Strukturen führen. Andere äußere Belastungen, wie z. B. mechanische Schwingungen, führen zu starken Verformungen der gegenüber dem Bauelement verhältnismäßig kleinen BGA- Kontakte, was langfristig ebenfalls zu einem Versagen dieser Kontakte führt. Allgemein hat die unzureichende Robustheit elektronischer Aufbauten gegenüber bestimmten thermisch-mechanischen Belastungen multilaterale Ursachen. Diese komplexe Fehlerursachenherkunft führt zu einer sehr schweren Überschaubarkeit der Problematik mit der Konsequenz, dass es keine einfachen Entwurfsrichtlinien gibt, welche die Konzeption zuverlässiger und grundsätzlich robuster Aufbauten zulässt. Um die thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten verstehen zu können, müssen neben den grundlegenden physikalischen Ursachen des Ausfalls auch die konzeptionellen Kompromisse eines elektronischen Aufbaus, die entwicklungshistorisch gewachsenen Besonderheiten der Aufbauprinzipien sowie bestimmte werkstoffphysikalische Mechanismen betrachtet werden.
Epoxy Vergussmasse a = 20 (ppm/K) Si a = 2,6 (ppm/K) Unterfüllungsmaterial a = 30 (ppm/K) Flip-Chip-Lotkantakte a = 26 (ppm/K) Zwischenverdrahtungsträger a = 20 (ppm/K) BGA - Lotkontakte a = 26 (ppm/K) Cu a = 17 (ppm/K) FR4 - Leiterplatte a = 15 (ppm/K)
Al - Strangpresskörper a = 23 (ppm/K)
Abb. 2.28 Struktur eines BGA-Bauelementes auf einem Verdrahtungsträger mit Kühlungstrukturen unter thermisch-mechanischen Gesichtspunkten
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
63
2.4.2 Grundlegende physikalische Ursachen Unter rein physikalischem Gesichtspunkt resultiert aus der Funktionsvielfalt, die die verschiedenen Strukturen eines Aufbaus zur Realisierung einer elektronischen Schaltung aufweisen müssen, ein grundsätzliches architektonisches Problem bei der Anpassung der thermischen Ausdehnung. Die drei Hauptfunktionen - das Führen (bzw. Leiten), das Isolieren und das gezielte Steuern des elektrischen Stromflusses - können aus werkstoffstrukturellen Gründen nur durch Materialien aus unterschiedlichen Stoffklassen erfolgen. Zur Realisierung von elektrischen Leitungen und Widerständen werden metallische Werkstoffe eingesetzt. Die wichtigsten Vertreter sind dabei Cu, Al für Leitbahnen sowie bestimmte Legierungen, z.B. CrNi, für ohmsche Widerstände. Diese Auswahl liegt im Kristallaufbau von Metallen begründet, welches durch das Prinzip der höchsten Packungsdichte (vgl. 3.2.2.2) bestimmt wird. Hierdurch entsteht eine hohe Wechselwirkung zwischen den elektrostatischen Feldern der einzelnen Atome. Dies hat eine Aufspaltung der diskreten Energieniveaus in Energiebänder zur Folge, von denen die höheren Bänder nicht mehr durch Potenzialwälle voneinander getrennt sind. Elektronen, die sich in diesen Bändern aufhalten, sind nicht mehr an ein bestimmtes Atom gebunden. Entscheidend für die Leitfähigkeit des Festkörpers ist das oberste Band, welches im unangeregten Zustand noch Elektronen enthält. Beim metallischen Bindungstyp (vgl. 3.2.2.1) ist die obere Elektronenschale der Atome im Kristallgitter nicht vollständig gefüllt, wodurch diese auch durch Elektronen der Nachbaratome besetzt werden kann. Aufgrund dieser Tatsache kann es durch die Wirkung eines elektrischen Feldes (also Energiezufuhr) zu einer gerichteten Elektronenbewegung kommen [121]. Daher eignen sich Metalle zur Realisierung von Leitungsstrukturen bzw. Widerständen. Keramische Werkstoffe besitzen zwar wie die Metalle einen kristallinen Aufbau. Durch den in ihnen vorherrschenden kovalenten und ionischen Bindungstyp ist jedoch das oberste Band (Valenzband) vollständig mit Elektronen gefüllt. In einem voll besetzten Band existieren keine freien Energieterme, wodurch die Elektronen in diesem Band auch keine durch ein äußeres elektrisches Feld eingebrachte Energie aufnehmen können. Daher kann es in keramischen Werkstoffen zu keiner gerichteten Elektronenbewegung kommen. Die Isolationswirkung eines keramischen Festkörpers hängt vom Abstand des Valenzbandes zum nächst höheren unbelegten Band (Leistungsband) ab. Keramische Werkstoffe, bei denen dieser Abstand groß ist (etwa 5 bis 10 eV), eignen sich zur Realisierung von Isolationsstrukturen. Die wichtigsten Vertreter der keramischen Isolationswerkstoffe sind Al2O3 und AlN. Ist der Bandabstand hingegen sehr klein (etwa 0,5 bis 1 eV), entstehen Materialien mit sogenannten halbleitenden Eigenschaften [121], welche zum Steuern des Stromflusses genutzt werden können, wie z. B. Si und Ge. Wegen des höheren Preises sowie der technologisch aufwendigeren Bearbeitung keramischer Werkstoffe werden zur Realisierung von Isolations- und Trägerstrukturen in elektronischen Aufbauten bevorzugt polymere Werkstoffe eingesetzt. Im Gegensatz zu Metallen und Keramiken weisen Polymere keine kristallinen,
64
2 Untersuchungsgegenstand
sondern kettenförmige Strukturen auf. Bei thermohärtenden Polymeren und Elastomeren sind die Ketten in dreidimensionalen Netzwerken untereinander verbunden. In Thermoplasten werden die einzelnen Ketten hingegen durch Nebenvalenzbindungen zusammengehalten. Eine gerichtete Bewegung von Elektronen ist nur entlang der Ketten möglich. Diese kann jedoch durch die kovalenten und ionischen Bindungen der Atome entlang der Kette im Allgemeinen nicht stattfinden, wodurch sich polymere Werkstoffe ausschließlich zur Realisierung von Isolationsstrukturen eignen. In Ausnahmefällen, wie z. B. in Kohlenstoffnanoröhrchen [122], PTCDA-Filmen [123] und dotierten Polythiophenschichten [124], können durch Ausnutzung bestimmter quantenmechanischer Mechanismen bzw. Einbau von Ionen auch halbleitende und leitende Strukturen gebildet werden. Grundlegend dienen Polymere jedoch der Isolation, der Verkapselung sowie der mechanischen Trägerfunktion.
Tabelle 2.6 Physikalische Eigenschaften ausgewählter Materialien aus [125-130] Werkstoff bei 300 K
spez. elektr. Widerstand
Elastizitätsmodul
therm. Ausdehnkoeff.
Poisson-Zahl
ρ (Ω m)
E (GPa)
α (ppm/K)
ν
Cu
1,78 . 10-8
119
17
0,35
Au
2,20 . 10-8
79
14,3
0,42
Al
2,87 . 10-8
71
23,8
0,34
Sn63Pb37
1,45 . 10-7
29
26
0,36
Si
6,40 . 102
148
2,5
0,18
Al2O3
> 1012
386
6
0,28
FR-4 (x,y - Richtung)
> 1010
18
16
0,10
Polyimid
> 1016
4
20
0,3
Neben der elektrischen Funktionalität beeinflusst der Bindungstyp und die daraus resultierende Gitter- bzw. Kettenstruktur jedoch auch andere fundamentale Werkstoffeigenschaften, wie z. B. den thermischen Ausdehnungskoeffizienten, die thermische Leitfähigkeit oder den Elastizitätsmodul. Werden Vertreter der entsprechenden Materialklassen miteinander verglichen, so lässt sich erkennen, dass beispielsweise viele keramische Werkstoffe einen sehr geringen, metallische Werkstoffe einen mittleren und polymere Werkstoffe einen sehr hohen thermischen
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
65
Ausdehnungskoeffizienten besitzen. Das Verhältnis der Elastizitätsmoduli ist etwa umgekehrt. Zwar lässt sich durch Legieren der Ausdehnungskoeffizient metallischer Werkstoffe in bestimmten Grenzen ändern. Allerdings hat dies gleichzeitig Auswirkungen auf den spezifischen elektrischen Widerstand. Für die Werkstoffauswahl zur Realisierung elektronischer Aufbauten ergeben sich in der Regel nur Materialgruppierungen, bei welchen bestimmte grundsätzliche Eigenschaften, wie spezifischer elektrischer Widerstand, thermischer Ausdehnungskoeffizient und EModul, in bestimmten Verhältnissen vorkommen. Aus dieser aus der Werkstoffstruktur resultierenden Verknüpfung physikalischer Werkstoffeigenschaften ergibt sich ein wichtiger Aspekt der thermisch-mechanischen Problematik elektronischer Aufbauten. Die schaltungsfunktionsbedingte Verwendung von Werkstoffen mit stark unterschiedlichen elektrischen Eigenschaften verhindert einen körperlichen Aufbau elektronischer Schaltungen mit aneinander angepassten thermisch-mechanischen Eigenschaften - insbesondere mit aneinander angepassten thermischen Ausdehnungskoeffizienten (engl. CTE-matching) und Elastizitätsmoduli. Hierdurch entsteht für die Architektur elektronischer Aufbauten das prinzipbedingte Problem der thermisch-mechanischen Fehlanpassung (engl. thermo-mechanical mismatch).
2.4.3 Aspekte der Architektur- und Entwicklungskonzeption Das Ausmaß, in dem durch nicht angepasste thermische Ausdehnungskoeffizienten Verspannungen in einem Materialverbund auftreten, hängt neben der Differenz der Ausdehnungskoeffizienten auch von der Topologie des Aufbaus ab. Dieser Zusammenhang ist in Abb. 2.29 illustriert. Sind zwei Materialien mit unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten ganzflächig miteinander verbunden und es findet eine Temperaturänderung um den Betrag ΔT statt, so kommt es zu einer Verwölbung des Verbunds. Das entstehende Biegemoment entlang der Verbindungsfläche hat dabei einen konstanten Wert. Sind die beiden nur in der Mitte verbunden und können sich frei dehnen, kommt es weder zu Verformungen noch zum Auftreten von Verspannungen im Verbund. Werden die beiden Materialien hingegen nur an den Endpunkten miteinander verbunden, so kommt es an diesen Punkten zum Auftreten sehr hoher lokaler Biegemomente, die den Betrag des Biegemoments im Fall des ganzflächigen Verbundes weit übersteigen. Mit den hohen lokalen Biegemomenten sind auch hohe lokale Verformungen verbunden, die in Abhängigkeit von der Steifigkeit (E-Modul) der beteiligten Materialien auch zu einer leichten Verwölbung des Gesamtverbundes, jedoch vor allem zu mit einer starken Schädigung verbundenen hohen Deformationen im Bereich der Verbindungen führen. Wird die Entwicklung elektronischer Aufbauten betrachtet, so ist festzustellen, dass die Topologie früherer Bauelementeformen, z.B. Flat-Packs oder DIPs, dem thermo-mechanisch sehr ungünstigen letzten Fall (Abb. 2.29) entsprechen. Dies ist nicht verwunderlich, denn zunächst waren für die Architekturentwicklung elektro-
66
2 Untersuchungsgegenstand
Fall A
Fall B
Fall C
a1 > a2
a1 a2
a1
a1
a2
a2
DT
Dx M
M x
M x
x
Abb. 2.29 Ausbildung von Biegemomenten in Abhängigkeit von der Aufbaustruktur eines Bimaterialverbundes
nischer Aufbauten technologische Fragen vordergründig. Am Anfang der Entwicklung war es vor allem wichtig, einen Weg zu finden, die verschiedenen Bauelemente einer Schaltung effektiv miteinander verbinden zu können. Betrachtungen zu thermisch-mechanischen Aspekten spielten aufgrund der geringen Integrationsdichten und den damit verbundenen geringen Verlustleistungsdichten kaum eine Rolle. Die ersten Probleme aufgrund fehlender Betrachtung zur thermisch-mechanischen Integrität elektronischer Aufbauten entstanden bei der Einführung der Ceramic-Chip-Carrier (CCC) [131-134]. Diese Bauelementeform wies aufgrund der beinchenlosen Anschlusskontaktierung hervorragende Hochfrequenzeigenschaften auf. Allerdings provozierte der sehr steife Keramikträger in den peripher angeordneten Kontakten derart hohe mechanische Beanspruchungen, dass diese Bauelemente bei Montage auf organischen Verdrahtungsträgern keine ausreichenden Zuverlässigkeitskennzahlen erreichten. Der geringe Grad tiefgründiger mechanischer Überlegungen zur Bauelementegestaltung dokumentiert sich bei den CCCBauelementen darin, dass alle Anstrengungen, die thermisch-mechanische Integrität dieser Aufbauvariante zu erhöhen, vor allem darauf hinausliefen, eine sehr kostenaufwendige Anpassung der thermischen Ausdehnungskoeffizienten des Verdrahtungsträgers vorzunehmen [135]. Dagegen wurde die kostengünstige Variante der Verringerung der mechanischen Beanspruchung durch innere (passive) Stützkontakte nicht in Betracht gezogen. Diese Architekturvariante entstand erst mit der Einführung der BGA-Bauformen, jedoch nicht aus mechanischen Erwägungen. Die erste Innovation unter dem Gesichtspunkt der thermisch-mechanischen Integri-
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
67
tät bestand in der Einführung des Unterfüllungsprozesses bei der Flip-Chip-Montage, mit der der historisch entstandene und aus thermisch-mechanischer Sicht ungünstige Fall C (in Abb. 2.29) in den günstigeren Fall B überführt wurde. Im Gegensatz zu anderen mechanischen Überlegungen, wie der zur Gestaltung von Anschlussbeinen [136, 137], wurde mit dem Unterfüllungsprozess eine bemerkenswerte Steigerung der thermisch-mechanischen Integrität erreicht, ohne dass andere Eigenschaften des elektronischen Aufbaus verschlechtert wurden. Aufgrund dieses bemerkenswerten Erfolges stellt sich die Frage, ob ein konsequentes Codesign, welches technologische, elektrische und thermisch-mechanische Aspekte bei der Konzeption neuer Aufbauten in gleicher Weise berücksichtigt, zu neuen Aufbauformen führen würde, welche einen vergleichsweise geringen Grad thermischmechanischer Probleme aufwiesen. Wenn die Gesamtproblematik der Aufbau- und Verbindungstechnik besonders in Bezug auf ihre weitere Entwicklung betrachtet wird, erscheinen solche Hypothesen wenig realistisch. Dies hängt damit zusammen, dass Architekturkonzepte für neue Aufbauformen immer einen Kompromiss zwischen verschiedenen Erfordernissen darstellen, unter denen technologische und elektrische Aspekte die wichtigsten sind. Beispielsweise bringen periphere Kontaktanordnungen gegenüber zentralen Anordnungen, wie sie dem thermisch-mechanisch eher ungünstigen Fall C in Abb. 2.29 gegenüber dem günstigeren Fall B entsprechen, eine Reihe von technologischen Vereinfachungen mit sich. So ergibt sich bei peripheren Kontaktanordnungen eine Vereinfachung bei der Umverdrahtung, eine gute visuelle Beurteilung der Kontakte und eine bessere Ausrichtung des Bauelementes durch die Benetzungskräfte beim Löten. Bauelemente mit zentralen Kontaktanordnungen würden hingegen sehr leicht zum Verkippen neigen und wären für Reparaturzwecke schwieriger zu demontieren. Obwohl sich solche Argumentationen immer nur exemplarisch auf bestimmte Aufbaukonzepte anwenden lassen, ist aus der Betrachtung der bisherigen Entwicklung zu entnehmen, dass bestimmte, aus thermischmechanischer Sicht ungünstige Aufbauprinzipien (wie z.B. Fall C in Abb. 2.29) wohl auch in zukünftigen Aufbauten enthalten sein werden. Weiter verstärkt wird die thermisch-mechanische Problematik durch die angestrebte vertikale Verdichtung der Aufbauten, wie z. B. Stapelaufbauten für SiP (vgl. 2.3.4). Hierdurch entsteht neben der traditionell bekannten lateralen Ausdehnungsproblematik (= Fall C in Abb. 2.29) eine vertikale mechanische Wechselwirkung. Mercado et al. [138] führen eine der ersten Erörterungen zu dieser neuen Qualität von thermisch-mechanischen Wechselwirkungen in modernen Aufbauten. Dabei zeigen sie den komplexen Weg der Ursachen für Schädigungen in der Mehrebenenmetallisierung eines Halbleiterbauelements in einem BGA, welche durch thermisch-mechanische Beanspruchungen in der zweiten Verbindungsebene verursacht werden. Andere Untersuchungen, wie die von Dudek [139], zeigen, dass die Ausfallproblematik in modernen Bauelementeformen durchaus nicht mehr der klassischen DNP-Problematik (DNP = Distance to Neutral Point) entspricht, bei der sich das Versagen eines Anschlusskontaktes in Abhängigkeit von seinem Abstand zum Bauelementemittelpunkt berechnen ließ.
68
2 Untersuchungsgegenstand
2.4.4 Werkstoffphysikalische Seiteneffekte Ein anderer Aspekt der thermisch-mechanischen Problematik elektronischer Aufbauten besteht in der Verschärfung der Umweltbedingungen. In bestimmten Anwendungsgebieten, wie z.B. der Kfz-Elektronik oder der Luft- und Raumfahrttechnik, wird die Elektronik immer höheren Temperaturen von bis zu 150 °C ausgesetzt. Diese hohen Temperaturen beschleunigen in hohem Maße Diffusionsprozesse, durch welche sich die Struktur der Werkstoffe verändert. Bei metallischen Werkstoffen kommt es hierdurch in der Regel zu Korn- und Phasenvergrößerungen, bei thermohärtenden Polymeren kann hierdurch eine nachträgliche Härtung erfolgen. Mit den Strukturänderungen ist sehr oft auch eine Änderung des werkstoffmechanischen Verhaltens der Materialien verbunden. Das veränderte Verformungsverhalten der Materialien kann zu Verschiebungen in einer ursprünglich optimierten Mechanik eines Aufbaus führen, welche wiederum zur Konzentration der Beanspruchung in bestimmten Strukturen führt. Andere durch Diffusion hervorgerufene werkstoffphysikalische Seiteneffekte bestehen in der Schwächung von Grenzflächen. Hierfür sind vor allem der Feuchtetransport (in Polymeren), die thermische Aktivierung der Bildung schwach haftender intermetallischer Phasen sowie die Bildung von Kirkendall-Löchern durch heterogene Interdiffusion verantwortlich.
2.4.5 Belastungsszenarien Elektronische Aufbauten werden in sehr unterschiedlichen Bereichen eingesetzt. Dadurch können die Belastungen, die auf einen elektronischen Aufbau einwirken, sehr unterschiedlicher Natur sein. In Abb. 2.30 sind die wichtigsten Belastungsszenarien unter den Gesichtspunkten der Intensität und Dauer klassifiziert. Dabei wird in impulsartige Belastungen, Vibrationsbelastungen, Biegung und thermisch-mechanische Ermüdungsbelastungen unterschieden. Impulsartige oder Schock-Belastungen sind die kürzesten und intensivsten Belastungen, denen eine elektronische Baugruppe ausgesetzt sein kann. Sie treten vor allem dann auf, wenn Baugruppen - vor allem in tragbaren Geräten wie Mobiltelefonen - nach einem freien Fall auf einen steifen unnachgiebigen Boden auftreffen (z. B. Stein). Der Aufprall regt Eigenschwingungen der im Gerät befindlichen Aufbauten an, welche jedoch schnell in ihrer Amplitude abfallen, sodass nur wenige Schwingungen zu mechanischen Beanspruchungen des Aufbaus führen. Im Gegensatz dazu wirken Vibrationsbelastungen, wie sie in vibrierenden Umgebungen (z. B. Fahrzeugen, Flugzeugen, Baumaschinen) vorkommen, als dauerhafte Schwingungsbelastungen. In Abhängigkeit von der Art und Weise, wie ein elektronisches Gerät technisch realisiert wurde, können auch erhebliche Biegebelastungen auf die Elektronik einwirken. Dies ist beispielsweise in Mobiltelefonen oder PDAs der Fall, wenn aus Gründen der Raumeinsparung die Tastatur direkt auf der Hauptplatine zusammen mit allen wichtigen Bauelementen montiert ist. Ein anderes sehr typisches Beispiel
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
69
für Biegebelastungen sind Smart-Cards, welche aufgrund ihrer geringen Dicke für die in ihnen aufgebaute Elektronik keinen steifen Rahmen bilden, sodass diese sich jeder von außen aufgebrachten Biegung anpassen muss. Neben diesen rein mechanischen Belastungen sind thermisch induzierte mechanische Verspannungen, welche durch die in 2.4.1 angesprochenen Unterschiede der thermischen Ausdehnungskoeffizienten zustande kommen, die vielleicht wichtigste Art der Belastungen für elektronische Aufbauten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist jeder elektronische Aufbau ständigen Temperaturänderungen ausgesetzt. Diese reichen von einfachen Tag-Nacht-Schwankungen mit einem Temperaturhub von ΔT = 20 °C bis zu komplizierten Temperaturprofilen, wie sie vor allem in Kfzund Avionikanwendungen vorkommen. Als Beispiel für komplexere Temperaturbelastungen sind in Abb. 2.31 Temperaturkurven gezeigt, welche an verschiedenen Bauelementen einer Motorsteuereinheit im Betrieb aufgenommen wurden 140. Die Auswahl der Bauteile erfolgte anhand eines Thermografiebildes der Baugruppe, welche zuvor an einem Motorsimulator aufgenommen wurde. Die Temperaturverläufe während verschiedener Fahrsituationen, von denen die Startphase, Stadtverkehr und Autobahn exemplarisch in Abb. 2.31 dargestellt sind, zeigen die sehr unterschiedlichen Temperaturverläufe individueller Komponenten einer Baugruppe. Wie anhand der in Abb. 2.31 gezeigten Diagramme abzulesen ist, werden die Temperaturverläufe der einzelnen Komponenten zum einen von der Außentemperatur (in diesem Fall der Temperatur des Motorraums) und zum anderen durch die Verlustleistungen der Bauelemente selbst bestimmt. Letzterer Beitrag hängt von der konkreten Funktion des Bauelementes in der Schaltung ab, wodurch sich keine generellen Aussagen zur Größe von Temperaturbelastungen treffen lassen.
Intensität Schock hohe G-Last Millisekunden 1x ... 6x
Biegung hohe Auslenkung 0,5 ... 3 s 2...20*103 Zyklen Vibration niedrige G-Last 0,005 ... 0,05 s 1...20*106 Zyklen
Thermische Wechsel hohes DT, a 5 s ... 24 h, 500 ... 10000 Zyklen
Dauer
Abb. 2.30 Verschiedene Belastungsmodi von elektronischen Aufbauten
70
2 Untersuchungsgegenstand
a)
c)
b)
d)
Abb. 2.31 Aufgenommene Temperaturprofile aus Thermoelementmessungen in einer Motorsteuereinheit (ECU) während verschiedener Fahrsituationen: a) Startphase, b) Stadtverkehr, c) Autobahn. Die Anordnung der Thermopaare ist im Thermografiebild d) eingezeichnet, welches zur Bestimmung relevanter Messstellen mit einem Motorsimulator aufgezeichnet wurde. Die nummerierten Messstellen entsprechen folgenden Bauelementen auf der Motorsteuerplatine: 1: ZenerDiode (Überspannungsschutz Zündspule), 2: Leiterplattenrückseite, 3: 1206 CR (Spannungsteiler für Analogmasse), 4: PLCC68 Mikroprozessor, 5: THT-Diode, 6: THT-Leistungswiderstände (3W), 7: Außenseite Gehäuse [140]
3.1 Zusammenhang zwischen Verformung und strukturellem Aufbau
71
3 Struktur metallischer Werkstoffe 3.1 Zusammenhang zwischen Verformung und strukturellem Aufbau Die Komplexität und Vielfalt von Erscheinungen bei der Verformung von Werkstoffen wirft für deren Beschreibung folgendes grundsätzliche Problem auf. Geht man über die Beschreibung grundsätzlicher Verhaltensformen, wie elastisches Verhalten, Materialfließen oder Bruch, hinaus und kommt in den Bereich sehr spezieller Verhaltensformen, so treffen diese in einigen Fällen nur für die Beschreibung einer bestimmten Untergruppe von Werkstoffen zu, während sie für einen Großteil industriell eingesetzter Werkstoffe entweder keine bzw. nur eine geringe Bedeutung besitzen. Um zu verstehen, welche Gruppen von Werkstoffen welche Formen des Verformungsverhaltens aufweisen, ist es wichtig, sie in ihrem strukturellen Aufbau, d. h. ihrem Werkstoffgefüge, zu vergleichen. Der Schlüssel zu einem umfassenden und vertieften Verständnis des Verformungsverhaltens der Werkstoffe liegt in deren mikroskopischem Aufbau, d. h. dem Gefüge. Auf den Begriff des „Gefüges“, der in der unter dem Begriff „Microstructure“ in der englischsprachigen etwas abweichend von der deutschsprachigen Literatur behandelt wird und dem für das Verständnis des Verformungsverhaltens von Metallen besondere Bedeutung zukommt, soll später detaillierter eingegangen werden. Um den Begriff des Gefüges zunächst grob zu illustrieren, befindet sich in Abb. 3.1 und in Abb. 3.2 eine Zusammenstellung von rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen, welche das Gefüge der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes in verschiedenen Zustandsformen zeigen. Um den Zusammenhang zwischen der makroskopisch beobachtbaren Verformungsreaktion eines Werkstoffes und seinem Gefüge herstellen zu können, muss eine Beschreibung der Werkstoffcharakteristik aus zwei Betrachtungswinkeln erfolgen. Zum einen ist es notwendig, eine qualitative und quantitative Beschreibung der Gefügebestandteile eines metallischen Werkstoffes vorzunehmen, wozu die verschiedenen in der Metallografie genutzten Untersuchungsmethoden Aussagen liefern. Die andere Betrachtungsrichtung besteht in den qualitativen Vorstellungen sowie in den quantitativen Modellansätzen, welche den Einfluss bestimmter Gefügemerkmale auf das mechanische Verhalten beschreiben. Diese auf wirksamen Elementarmechanismen der Verformung, d. h. mikrophysikalischen Einzelvorgängen, basierende Beschreibung des Deformationsverhaltens ergänzt und vertieft die klassische phänomenologisch-werkstoffmechanische Beschreibung der Verformungseigenschaften [141,142]. Neben der Beschreibung physikalischer Hintergründe zum besseren Verständnis des phänomenologisch beobachteten Verformungsverhaltens ermöglicht die strukturelle Beschreibung metallischer Werkstoffe auch die Zuordnung zu bestimmten Untergruppen. Dies kann zum einen nützlich sein, da sich dadurch
72
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a) Vergrößerung: x500
b) Vergrößerung: x575
c) Vergrößerung: x2000
d) Vergrößerung: x2000
Abb. 3.1 Darstellung des Gefüges der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes durch rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen: a, b) Unterschied zwischen äußerer Gestalt eines Werkstoffs in einer Struktur und dem Gefüge des Werkstoffs in dieser Struktur. Im Bild a) ist ein SnPb-Flip-Chip-Lotkontakt im Sekundärelektronenkontrast aufgenommen worden, wodurch seine Topografie deutlich zu erkennen ist (dunklere Muster auf der Oberfläche entsprechen dabei Flussmittelrückständen). Im Abbildung b) ist der gleiche SnPb-Flip-ChipLotkontakt im Rückstreuelektronenkontrast aufgenommen worden, wodurch sein zweiphasiges Gefüge gut zu erkennen ist und gleichzeitig die im Sekundärelektronenkontrast hervorgehobenen Unebenheiten der Oberfläche, welche durch die Flussmittelrückstände hervorgerufen wurden, verschwinden. Die dunklen Gebiete im Rückstreuelektronenkontrast entsprechen der zinnreichen Phase, während die hellen Gebiete der bleireichen Phase zugeordnet werden müssen. c, d) Unterschiede in der Gefügemorphologie eines Werkstoffes, dargestellt an Querschliffen von SnPb-FlipChip-Lotkontakten nach der Erstarrung im Fügeprozess, welche im Rückstreuelektronenkontrast aufgenommen wurden. Abbildung c) zeigt sehr bleireiche Phasen mit tendenziell globularem Aussehen, welche sich fein verteilt in der zinnreichen Phase befinden. Im Gegensatz dazu sind in Abbildung d) laminare Gefügestrukturen zu erkennen, welche durch bleireiche und zinnreiche Phasen gebildet wurden.
Erkenntnisse zum Verformungsverhalten von Werkstoffen aus anderen Anwendungen auch auf die in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeten Metalle übertragen lassen. Zum anderen lässt sich dadurch aber auch die
3.2 Struktureller Aufbau
a) Vergrößerung: x2000
73
b) Vergrößerung: x5000
Abb. 3.2 Darstellung des Gefüges der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes durch rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen: Abbildung a) zeigt das Gefüge der SnPbLegierung im Querschliff eines SnPb-Flip-Chip-Kontaktes nach thermischer Auslagerung. Gegenüber Abb. 3.1 c, d) sind die Gebiete der zinnreichen und bleichreichen Phase größer und in geringerer Anzahl vorhanden (Gefügevergröberung). Gleichzeitig ist eine stärkere Zuordnung der Phasen zu einzelnen Körnern zu beobachten, sodass die Phasengrenze oft einer Korngrenze entspricht. Abbildung b) zeigt das feine Erstarrungsgefüge aus Abb. 3.1 c) mit herausgeätzter bleireicher Phase. Dadurch ist ein Eindruck zu gewinnen, wie die bleireiche in die zinnreiche Phase eingebettet ist.
Behandlung des Verformungsverhaltens auf das begrenzen, was für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik eingesetzten Werkstoffe zutreffend ist. Hierbei ist zu beachten, dass die Auswahl der für diesen Anwendungsbereich geeigneten Werkstoffe nach bestimmten physikalischen Eigenschaften, wie Leitfähigkeit, Schmelzpunkt und Verarbeitbarkeit, getroffen wurde, welche wiederum mit bestimmten strukturellen Merkmalen korrelieren, wodurch von vornherein die Anzahl bestimmter Klassen metallischer Werkstoffe einschränkt wird. Durch diese eingeschränkte Auswahl an eingesetzten Materialien ergibt sich wiederum die Möglichkeit, für diese die vielfältigen Formen der Verformung bei den zum Teil sehr komplexen Beanspruchungszuständen der Werkstoffe detaillierter betrachten zu können.
3.2 Struktureller Aufbau 3.2.1 Strukturebenen Werkstoffe besitzen, ausgenommen von einigen Sonderfällen wie dem für die Herstellung von Halbleiterbauelementen verwendeten einkristallinen Silizium, in der Regel einen mehrschichtigen Strukturaufbau. Dabei herrschen auf unterschied-
74
3 Struktur metallischer Werkstoffe
lichen Größenniveaus, z. B. nm-, μm- und mm-Niveau, unterschiedliche Organisationsstrukturen der diesen Niveaus zugehörigen Strukturelemente vor. Diese verschiedenen Organisationsstrukturen sind in einer strukturellen Hierarchie einander zugeordnet, welche während der Formierung des Werkstoffes, z. B. bei der Erstarrung einer Metallschmelze, entsteht. In den verschiedenen Phasen der Werkstoffformierung, welche durch eine Aggregation individueller Struktureinheiten gekennzeichnet ist, kommt es zuerst zur Ausbildung struktureller Einheiten niederer Hierarchie, aus deren Zusammenschluss sich nach und nach Strukturelemente höherer Hierarchie ergeben. Beim Arrangement individueller Struktureinheiten treten in der Regel Baufehler auf, welche zusätzliche Zwischenebenen in die Hierarchie regulärer Strukturelemente einschieben. Die Struktureinheiten verschiedener Hierarchieebenen befinden sich auf sehr unterschiedlichen Größenniveaus. Die strukturelle Hierarchie eines metallischen
0,1 mm
Korngefüge
10 µm
einzelnes Korn
0,2 µm
Versetzungszelle
10 nm
individuelle Versetzung
0,5 nm
Kristallgitter
Abb. 3.3 Struktureller Aufbau der Metalle nach ASME [149]
3.2 Struktureller Aufbau
Leerstelle
75
Substituiertes Fremdatom Zwischengitteratom Stufenversetzung Kleinwinkelkorngrenzen Großwinkelkorngrenze Korngrenzentripel Versetzungsquelle
Elementarzelle, z.B. kubisch Schraubenversetzung Versetzungsaufstauung an Korngrenzen inkohärente Ausscheidungen
hochschmelzende Fremdphase Korngrenzenausscheidungen
kohärente Ausscheidungen
schalenförmige Korngrenzenausscheidungen
Abb. 3.4 Schematische Darstellung der Strukturebenen einer metallischen Legierung - die Darstellung erfolgt verzerrt, um die einzelnen Strukturelemente trotz ihrer stark unterschiedlichen Größenniveaus in einem Schema gemeinsam zu zeigen (adaptiert aus [150])
Werkstoffes ist schematisch in Abb. 3.3 und Abb. 3.4 dargestellt. Die niedrigste strukturelle Hierarchieebene ist die Einheitszelle des Kristallgitters, in welchem sich Metallatome aufgrund ihrer Bindungsart anordnen. Die Dimension einfacher Elementarzellen, wie sie für Gitter reiner Metalle üblich sind, liegt bei knapp 1 nm. Ordnen sich hingegen Atome verschiedener metallischer Elemente in einer sogenannten intermetallischen Phase an, so können sich kompliziertere Elementarzellen bilden, deren Größe bis zu einigen nm betragen kann. Innerhalb eines Gitters befinden sich Baufehler, wie Leerstellen oder Versetzungen, welche den regulären Gitteraufbau abändern. Während punktförmige Baufehler, wie Leerstellen, Zwischengitter- oder Fremdatome, den Gitteraufbau nur lokal stören, führen linienhafte Baufehler, wie Versetzungen, zu weitreichenden Abänderungen des Gitteraufbaus und stellen daher die nächste Ebene der strukturellen Hierarchie dar. Versetzungen können als einzelne linienhafte Störungen oder als eine Verknäulung ineinander verhakter Versetzungslinien, d. h. als Versetzungs-
76
3 Struktur metallischer Werkstoffe
netzwerk, auftreten. Um die Größe einer Versetzungsstruktur anzugeben, wird üblicherweise der durchschnittliche Abstand zwischen Versetzungen herangezo– 1⁄ 2 gen, welcher sich mit ρ ändert, wobei ρ der Versetzungsdichte entspricht. Charakteristische Versetzungszellstrukturen haben Abmessungen im Mikrometerbereich [149] (siehe Abb. 3.3). Die nächste Hierarchieebene wird durch Korngrenzen dargestellt, welche aneinandergrenzende Kristallite voneinander abgrenzen. Korngrenzen sind schalenartige Gebilde, welche eine Schalendicke von wenigen Atomlagen besitzen. Die Größe der von ihnen eingeschlossenen Körner umfasst einen weiten Bereich, welcher etwa bei 1 μm beginnt und bei etwa 1 mm endet. Die Größe der Körner eines metallischen Werkstoffes liegt jedoch in der Regel innerhalb einer Größenordnung. Die verschiedenen Körner eines Werkstoffes bilden durch ihre Anordnung untereinander eine Kornstruktur, aus der sich eine Textur des Werkstoffgefüges ergibt. Neben der Form und Ausrichtung einzelner Körner ist eine solche Textur in mehrphasigen Systemen auch von der Anordnung der Phasen untereinander bzw. von der Verteilung und Größe von Ausscheidungen und Fremdteilchen abhängig. Aufgrund dieser vielfältigen Abhängigkeiten ergibt sich bei mehrphasigen Gefügen eine große Vielfalt morphologischer Varianten (Abb. 3.5), welche sich schwer systematisieren und einheitlichen Größenbereichen zuordnen lässt. Terminologisch wird der strukturelle Aufbau über die beiden Begriffe atomarer Aufbau und Gefüge bezeichnet. Der atomare Aufbau (engl. atomic structure, nanostructure) betrifft die Struktur der Atome und den aus ihren interatomaren Wechselwirkungen folgenden Aufbau der Grundgitter. Der Begriff des Gefüges (engl. microstructure) umfasst alle höher liegenden Ebenen der Strukturhierarchie, welche im Größenbereich zwischen 1 nm ... 1 mm liegen und durch die Methoden der Licht- und Elektronenmikroskopie sichtbar gemacht werden können [141]. Der mehrschichtige strukturelle Aufbau von Metallen wird in verschiedenen Quellen [146-149, 164] unterschiedlich dargestellt. Aufgrund der Vielfalt von Möglichkeiten, wie die verschiedenen in der strukturellen Hierarchie enthaltenen Elemente miteinander verankert sein können, ist es sehr schwierig, alle Ebenen in einer Abbildung darzustellen. Eine detaillierte Darstellung der einzelnen Strukturelemente (in Kap. 3.2.2, 3.2.3) soll ihren zum Teil vielfältigen Charakter verdeutlichen1. 1. Eine Ausnahme bilden nanokristalline Materialien, welche Körner im Nanometerbereich besitzen. Jedoch trifft bei nanokristallinen Materialien aufgrund der in ihnen hervorgerufenen Besonderheiten der Nanostruktur die gesamte hier vorgenommene Beschreibung der Strukturhierarchie nicht mehr zu. Alle in der Arbeit vorgenommenen Betrachtungen beziehen sich aber auf den hier dargestellten gewöhnlichen strukturellen Aufbau von metallischen Werkstoffen, da in nanokristallinen Materialien aufgrund der Besonderheiten ihres Aufbaus oft völlig andere Zusammenhänge in Bezug auf das Zusammenwirken der der Verformung zugrunde liegenden Elementarmechanismen vorherrschen. Alle Betrachtungen zu Versetzungsbewegungen, welche eine wesentliche Grundlage für diese Arbeit bilden, werden hinfällig, wenn sich Korngrößen aus dem Submikrometerbereich deutlich in den Nanometerbereich verschieben. In den meisten in der Aufbau- und Verbindungstechnik vorkommenden Strukturen erreichen die Korngrößen allerdings im Mittel ein Niveau, welches oberhalb dieses kritischen Nanometerbereiches liegt.
3.2 Struktureller Aufbau
a) Vergrößerung: x500
b) Vergrößerung: x250
c) Vergrößerung: x1600
d) Vergrößerung: x500
e) Vergrößerung: x1600
f) Vergrößerung: x500
77
Abb. 3.5 Morphologie mehrhphasiger Gefüge, linke Spalte (Bilder a, c, e): zinnreiche (hell) und bleireiche Phase (dunkel) in naheutektischen SnPb-Loten; rechte Spalte (Bilder b, d, f): β-SnMatrix (hell), Ag3Sn-Phasen (dunkel), Cu6Sn5-Phasen (mitteldunkel) in naheutektischen SnAgCu-Loten
78
3 Struktur metallischer Werkstoffe
3.2.2 Atomarer Aufbau
3.2.2.1 Atombindungen Atome, welche die elementaren Bausteine eines Festkörpers repräsentieren, bestehen grundsätzlich aus einem von einer Elektronenhülle umgebenen Kern (vgl. Abb. 3.6). Viele grundsätzlichen Verformungseigenschaften eines Festkörpers hängen dabei davon ab, wie diese Elektronenhülle aufgebaut ist. Betrachtet man z. B. Elemente des Periodensystems mit metallischem Charakter, so wird man feststellen, dass diese oft nur eine geringe Zahl von Elektronen auf der äußersten Schale besitzen. Dies hängt damit zusammen, dass die äußerste Schale die Wechselwirkung mit anderen Atomen bestimmt. Das dominierende Prinzip dieser Wechselwirkung besteht in der Auffüllung bzw. der Leerung der äußeren Schale, sodass die nach dieser Wechselwirkung äußerste besetzte Schale - bei allen höheren Schalen - mit acht Elektronen gefüllt ist (Edelgaskonfiguration). Dieses Prinzip bildet die Grundlage der chemischen Bindung. In Abhängigkeit von der Anzahl der Außenelektronen wechselwirkender Atome können sich unterschiedliche Bindungstypen ergeben, welche wiederum das Verformungsverhalten des Festköpers sehr stark beeinflussen. Hauptvalenzbindungen, d. h. starke Bindungen kurzer Reichweite, werden dabei in heteropolare und kovalente Bindungen sowie Metallbindungen unterschieden. In Abb. 3.6 wird in einer schematischen Darstellung eine Übersicht über diese drei Arten von Hauptvalenzbindungen gegeben. Während die ersten beiden Bindungstypen dadurch gekennzeichnet sind, dass die beteiligten Partneratome die Elektronen der äußersten Schale so austauschen, dass eine Edelgaskonfiguration erreicht wird, ist die Metallbindung dadurch charakterisiert, dass die Zahl der Außenelektronen aller beteiligten Partneratome bei weniger als vier liegt und somit eine zueinander gerichtete räumliche Anordnung über eine Ionenbindung oder eine kovalente Bindung nicht möglich ist. In diesem Fall versuchen die Atome, eine Edelgaskonfiguration zu erreichen, indem sie ihre Außenelektronen an ein sie umgebendes Elektronengas abgeben, wodurch die Elektronen nicht mehr einem bestimmten Atom zugeordnet sind. Die Bindung der positiv geladenen Ionenrümpfe zueinander resultiert aus dem sie umgebenden negativ geladenen Elektronengas. Die Metallbindung ist die unter den Elementen des Periodensystems am weitesten verbreitete, da zum einen etwa 3/4 aller natürlichen Elemente einen metallischen Charakter aufweisen und zum anderen kein besonderes stöchiometrisches Verhältnis für diese Art der Bindung notwendig ist. Aus ihrem besonderen Charakter folgt eine gegenüber der kovalenten und heteropolaren Bindung geringere Bindungskraft der Atome untereinander sowie eine erhöhte Möglichkeit der so gebundenen Ionenrümpfe, einen Platzwechsel innerhalb ihrer räumlichen Anordnung vorzunehmen. Beides ist für die Verformungseigenschaften metallischer Festkörper von besonderer Bedeutung [143].
3.2 Struktureller Aufbau
Atomkern vollbesetzte Schale Valenzelektronen
Cl
79
Na
Abgabe eines Elekrtons Ionenbindung
Si
Si
Elektronenpaar
Me+
Me+
Elektronengas Si
Si
Atombindung
Me+
Me+
Metallbindung
Abb. 3.6 Schematische Darstellung von Atom-, Ionen- und Metallbindung
3.2.2.2 Kristallsysteme, Raumgitter Die Bindung zwischen Atomen gibt zunächst keine genaue Auskunft darüber, wie die Atome räumlich untereinander angeordnet sind. Für diese Anordnung existiert die Möglichkeit, amorphe und kristalline Strukturen auszubilden. Im Gegensatz zur amorphen Struktur ist ein kristalliner Aufbau durch eine bestimmte regelmäßige Ordnung gekennzeichnet. Metalle verfügen mit Ausnahme stark unterkühlter Schmelzen über einen kristallinen Aufbau. Diese regelmäßige Anordnung der Metallatome kann mit den Punkten eines Raumgitters verglichen werden. Die Struktur der Metallgitter wird aufgrund des richtungsunabhängigen Charakters der Metallbindung vor allem durch das Prinzip der dichtesten Packung bestimmt. Der Hauptteil der Metalle kristallisiert dabei in drei Gittertypen - dem kubisch-flächenzentrierten Gitter (kfz), dem kubisch-raumzentrierten Gitter (krz) und dem hexagonal dicht gepacktesten Gitter (hdp). Betrachtet man die in der Aufbau- und Verbindungstechnik vorrangig verwendeten Metalle - Cu, Al, Ni, Pb, Au, Ag, Pt - so fällt auf, dass diese im kfz-Gitter kristalli-
80
3 Struktur metallischer Werkstoffe
sieren. Einzige Ausnahme bilden Sn und Bi. Sn kristallisiert in zwei unterschiedlichen Gittertypen, wobei für seine Verwendung in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik das tetragonal raumzentrierte Gitter wichtig ist. Bi bildet ein monoklines Gitter aus. Andere metallische Elemente kommen in der Regel nur als Legierungsbestandteile bzw. in intermetallischen Phasen vor, weshalb ihr Gittertyp ohne Interesse für die weitere Betrachtung ist. In Abb. 3.7 sind das kubisch-flächenzentrierte Gitter sowie das raumzentrierte-tetragonale β-Sn Gitter schematisch dargestellt.
tetragonal-raumzentrierte Elementarzelle von b-Zinn
kubisch-flächenzentrierte Elementarzelle
1/4
1/2
1/2
1/2
1/2
3/4
1/2
3/4
1/4
Abb. 3.7 Schematische Darstellung der Elementarzelle eines kubisch-flächenzentrierten Gitters (rechts, entspricht Elementen: Cu, Al, Ni, Pb, Au, Ag, Pt) und eines β-Sn Gitters (links) [555]
3.2.2.3 Intermetallische Phasen Wenn zwei oder mehrere metallische Elemente in einem bestimmten stöchiometrischen Verhältnis vorliegen, so können diese ebenfalls in einem bestimmten Gitter kristallisieren, welches sich von den Ausgangsgittern der beteiligten Ele-
3.2 Struktureller Aufbau
81
mente unterscheidet. Solche Gitter werden als intermetallische Phasen bezeichnet und sind in der Regel komplizierter als die reiner Metallgitter [158]. Obwohl sich der Terminus „Intermetallische Phase“ auf die Kombination zweier oder mehrerer metallischer Elemente beschränken sollte, wird auch die große Gruppe metallischer Phasen, die nichtmetallische Elemente, wie z. B. Bor, Phosphor, Schwefel oder Kohlenstoff enthalten, unter diesem Begriff behandelt [159]. Während die Anzahl der in der Aufbau- und Verbindungstechnik verwendeten Metalle begrenzt ist, gibt es eine große Anzahl intermetallischer Phasen, die für sie wichtig sind. Die kristalline Struktur der beiden wichtigsten intermetallischen Phasen - der sich zwischen Sn und Cu ausbildenden Cu3Sn- und Cu6Sn5-Phase - sind in Abb. 3.8 und Abb. 3.9 schematisch dargestellt. Die Cu6Sn5-Phase lässt sich im Lotgefüge in der Regel gut erkennen, da sie aufgrund ihrer kristallinen Struktur dazu neigt, hexagonale Querschnitte auszubilden. Hintergrund der Ausbildung intermetallischer Phasen sind die höheren Bindungskräfte zwischen ungleichen Atomen im Gittertyp der intermetallischen Phase
Sn g - Phase
Cu
e-Cu3Sn - Phase
Abb. 3.8 Elementargitter der γ-Phase [153] und der ε-Sn3Cu-Phase des SnCu-Systems [154, 155]. Beide Phasen kommen im gleichen Konzentrationsbereich jedoch bei unterschiedlichen Temperaturen vor.
82
3 Struktur metallischer Werkstoffe
h-Cu6Sn5 - Phase
Sn Cu
Abb. 3.9 Elementargitter der η-Sn5Cu6-Phase [156, 157] und rasterelektronenmikroskopische Aufnahme einer Sn5Cu6-Phase in einem SnAgCu-Lot, in der sich die hexagonale Grundstruktur widerspiegelt
im Vergleich zu den Bindungskräften zwischen den gleichen Atomen in den monometallischen Gittern der Ausgangselemente. Daher ordnen sich die verschiedenen Atomtypen in einer bestimmten Art und Weise im Gitter der Phase an, sodass geordnete Kristallstrukturen entstehen, in welchen die Atome einer Sorte bevorzugt von den Atomen anderer Sorten umgeben sind. Die Kristallstruktur einer intermetallischen Phase wird durch die Bindungskräfte zwischen den Atomen bestimmt, welche wiederum von den spezifischen Elektronenkonfigurationen abhängen. Der Zusammenhang zwischen den atomaren Eigenschaften der Ausgangselemente und der Gitterstruktur der entstehenden Phasen ist jedoch nicht trivial, wodurch verschiedene Kriterien existieren, um Struktur- und Phasentypen miteinander in Beziehung zu setzen, d. h. eine Kristallstruktur für eine bestimmte Phase bzw. einen bestimmten Phasentyp zu erklären. In diesem theoretischen Kontext hat sich herausgestellt, dass anders als für monometallische Gitter für die intermetallischen Phasen nicht grundsätzlich von einem metallischen Bindungstyp ausgegangen werden kann. Intermetallische Phasen lassen sich daher nicht einheitlich besprechen und werden üblicherweise in verschiedene Gruppen, z. B. Zintl-Phasen, Laves-Phasen, Hume-Rothery-Phasen usw., eingeteilt [160]. Um einen Eindruck von Komplexität und Größe verschiedener Elementarzellen zu vermitteln, sind verschiedene für den Bereich der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik wichtige metallische Elemente und intermetallische Phasen
3.2 Struktureller Aufbau
83
in Tabelle 3.1 mit ihren Kristallstrukturen, Gitterkonstanten, Dichten und Elementarzellenvolumina einander gegenübergestellt. Es ist zu erkennen, dass die Gitter dieser Elemente und Phasen bezüglich ihrer Volumina und Gitterkonstanten vergleichbare Dimensionen aufweisen, was eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau stabiler Phasengrenzflächen ist. Tabelle 3.1 Kristallstruktur, Gitterkonstante, Dichte, Elementarzellenvolumen ausgewählter metallischer Elemente und intermetallischer Phasen [151-158] Element
Kristallstruktur
Gitterkonstanten
Dichte
V(Elementarzelle)
IMV
(Raumgruppe)
(nm)
(g/cm3)
(nm3)
Sn
tetragonal (I41/amd)
a = 0,58 c = 0,32
7,28
0,108
Cu
kubisch (Fm 3 m)
a = 0,36
8,93
0,047
Ag
kubisch (Fm 3 m)
a = 0,41
11,68
0,068
Pd
kubisch (Fm 3 m)
a = 0,39
10,52
0,059
Cu3Sn
orthorhombisch (Cmcm)
a = 0,55 b = 0,48
8,97
0,114
a = 0,42 c = 0,51
8,28
0,120
a = 0,59 b = 0,48
10,03
0,147
c = 0,43 Cu6Sn5
hexagonal (P63/mmc)
Ag3Sn
orthorhomb. (Pmmn)
c = 0,51 Ag5Sn
hexagonal (P63/mmc)
a = 0,29 c = 0,48
9,94
0,036
Pd3Sn2
hexagonal (P4/mmm)
a = 0,44 c = 0,57
9,79
0,095
PdSn
orthorhomb. (Pmmn)
a = 0,63 b = 0,39
9,4
0,149
c = 1,22
3.2.3 Werkstoffgefüge
3.2.3.1 Arten von Gitterbaufehlern Die perfekte Gitterstruktur eines Kristalls ist ein theoretisches Konzept. In natürlich vorkommenden Metallen wird die Fernordnung, welche durch die Periodizität des Kristallaufbaus der Metalle zustande kommen würde, durch sogenannte Gitterstörungen räumlich begrenzt. Gitterstörungen führen zu Unregelmäßigkeiten und Abweichungen vom Idealkristall und fügen im strukturellen Aufbau
84
3 Struktur metallischer Werkstoffe
der Metalle höhere Strukturebenen ein, durch die unter anderem die mechanischen Eigenschaften metallischer Werkstoffe beeinflusst werden. Frenkel [144] führte als Erster aus, dass bei einer vom absoluten Nullpunkt verschiedenen Temperatur die Anordnung der Atome im Kristall nicht der eines natürlichen Gitters entspricht. Die Entropie der Mischung, welche durch die große Anzahl der möglichen Konfigurationen in den Gitterstörungen, die im Kristall auftreten können, entsteht, wird immer zu einer Verringerung in der Freien Energie führen, egal wie hoch die Bildungsenergie für die Störung auch sein mag. Gitterstörungen können dabei verschiedene geometrische Ausmaße annehmen. Die geringste geometrische Störung des Idealgitters besteht in punktförmigen Defekten, wie Leerstellen, Zwischengitteratomen und Substitutionsatomen. Versetzungen stellen linienhafte Defekte dar. Flächenhafte Gitterstörungen kommen durch Korngrenzen und Phasengrenzflächen zustande. Der Entropiegewinn durch eine Störung verhält sich umgekehrt zur geometrischen Ausdehnung und ist für punktförmige Defekte am größten [145].
3.2.3.2 Punktdefekte Punktdefekte, wie Leerstellen, Zwischengitteratome und Substitutionsatome, sind in der Regel intrinsischer Natur. Dabei ist die Störung, welche durch Leerstellen und Substitutionsatome erzeugt wird, in der Regel kleiner als die der Zwischengitteratome, da diese sich ins ungestörte Gitter einbauen. In metallischen Werkstoffen sind Leerstellen der dominierende Punktdefekt. Da sie durch den Wechsel von Gitterplätzen einen Atomtransport ermöglichen, kommt ihnen für alle mit der Festkörperdiffusion verbundenen Verformungsprozesse, z. B. Kriechen, eine besondere Bedeutung zu. Zwischengitter- und Substitutionsatome treten oft in Zusammenhang mit metallischen Legierungen auf. Durch die durch sie hervorgerufenen Gitterstörungen können bestimmte Verformungseigenschaften verändert werden [145]. Für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik verwendeten Legierungen sind vor allem Substitutionsatome von Bedeutung. In der schematischen Darstellung in Abb. 3.10 wird ein Überblick über die verschiedenen Arten von Punktdefekten gegeben. Wegen ihrer Bedeutung für die Mechanismen der Verformung für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeten Metalle und Legierungen sind unter diesen Defekten vor allem Leerstellen und Substitutionsatome wichtig, welche nachfolgend näher erläutert werden sollen. Leerstellen: Gitterplätze, die nicht von einem Atom besetzt sind, heißen Leerstellen. Leerstellen sind Bestandteile der Realstruktur von Metallen im thermodynamischen Gleichgewicht. Ihre Konzentration ist temperaturabhängig und wird als Leerstellendichte ( c v ) bezeichnet. Für die meisten Metalle beträgt sie bei Raumtemperatur etwa 10-12 und nimmt mit der Temperatur exponentiell zu, sodass sie kurz vor dem Schmelzpunkt einen Wert von etwa 10-4 erreicht. Diese exponentielle Zunahme der Leerstellendichte mit der Temperatur ist die wesentliche Ursache für die Dominanz sogenannter diffusionskontrollierter Mechanismen bei hohen
3.2 Struktureller Aufbau
Leerstelle
Zwischengitteratom
kleineres Fremdatom
größeres Fremdatom
85
Abb. 3.10 Überblick über die verschiedenen Typen von Punktdefekten in Kristallgittern (Schematische Darstellung)
homologen Materialtemperaturen. In Abb. 3.11 ist der Zusammenhang zwischen Leerstellendichte und Temperatur, welche experimentell an Kupferproben ermittelt wurde, dargestellt [145], wobei sich für die temperaturstellenabhängige Leerstellendichte der folgende Zusammenhang ergibt: ln ( c v ) ∼ – --1T
(3.1)
Substitutionsatome: Aufgrund ihres Bindungstyps können die meisten Metalle in ihrem Gitter bestimmte Mengen anderer Atome aufnehmen. Dabei wird der Gittertyp des Grundmetalls nicht geändert. Fremdatome werden in das Wirtsgitter des Grundmetalls eingebaut, wodurch es in Abhängigkeit von der Größe des Fremdatoms elastisch verspannt wird. Kristalle mit gelösten Fremdatomen werden im Deutschen als Mischkristalle und im Englischen als „solid solution“ (feste Lösung)
86
3 Struktur metallischer Werkstoffe
-3
Au
log cv
-4
Cu -5
1000 900
800
700
600
500
400
T in °C
Abb. 3.11 Zusammenhang zwischen Leerstellendichte und Temperatur bei Gold (Abwärtspfeil) und Kupfer (Aufwärtspfeil), ermittelt durch Positronenannihilation bzw. Differenzielle Dilatometrie (in einer 1/T Darstellung), adaptiert aus [145]
bezeichnet. Die Anzahl der Fremdatome, die sich im Wirtsgitter lösen lassen, hängt von der Temperatur und vom Größenunterschied zwischen Fremd- und Wirtsgitteratomen ab. Unterscheiden sich die beiden Atomsorten in ihrer Größe um weniger als 15%, so kann sich eine vollständige Mischbarkeit zwischen den Metallen ergeben. Grundlegend erreichen die verschiedenen Elemente des Periodensystems trotz ihrer sehr unterschiedlichen Anzahl von Elementarladungen recht ähnliche Atomradien, da mit der steigenden Anzahl von Elektronen in der Hülle auch die Gesamtladung steigt, wodurch es zu einer stärkeren Kontraktion kommt. Die präzise Ableitung der Größe aus der Ordnungszahl ist schwierig, da die Elektronenhülle im engeren Sinne keine scharfen Grenzen aufweist. Zwar ließe sich aufgrund der Wellengleichung für die äußere besetzte Schale ein Radius ableiten, da sich die Betrachtung der Lösung von Fremdatomen jedoch nicht auf ein Gas, sondern auf ein Gitter bezieht, ist die Entfernung zwischen zwei benachbarten Atomen ausschlaggebend, welche wiederum sehr stark von der interatomaren Bindungskraft abhängt. Tabelle 3.2 gibt einen Überblick über verschiedene Atomradien in Bezug zum jeweiligen Bindungstyp. Die für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik wichtigsten Systeme mit vollständiger Mischbarkeit sind Cu-Ni, Au-Ag und Au-Cu. Systeme mit vollständiger Mischbarkeit sind aber eher die Ausnahme. In der Regel ist die Löslichkeit der Fremdatome im Wirtsgitter beschränkt. Im Falle begrenzter Löslichkeit von Fremdatomen in einem Wirtsgitter nimmt diese in der Regel mit der Temperatur ab. Im Sn-Pb System betragen die Löslichkeiten der Sn-Atome im PbGitter bzw. der Pb-Atome im Sn-Gitter jeweils 19,1% und 2,5% am eutektischen
3.2 Struktureller Aufbau
87
Punkt und fallen bei Raumtemperatur auf Werte von 3,8% bzw. auf eine nahezu Unlöslichkeit von Pb-Atomen im Sn-Gitter. Tabelle 3.2 Berechnete Radien von Atomen und Ionen ausgewählter Elemente in Abhängigkeit vom Bindungstyp in Ångström [184] Element
Bindungstyp van der Waals
kovalent
(Koordinationszahl)
O
1,4
Al
metallisch
ionisch (Anzahl freier Ladungen der Kationen (-) o. Anionen (+))
0,74
-
1,35 (-2); 0,09 (+6)
-
1,25
1,43 (12)
0,55 (+3)
P
1,9
1,1
-
1,86 (-3); 0,44 (+3); 0,35 (+5)
Cr
-
1,17
1,25 (8)
0,89 (+2); 0,65 (+3); 0,36 (+6)
Ni
-
1,15
1,25 (12)
0,87 (+2)
Cu
-
1,17
1,27 (12)
0,96 (+1); 0,72 (+2)
Pd
-
1,28
1,37 (12)
0,80 (+2); 0,65 (+4)
Ag
-
1,34
1,44 (12)
1,13 (+1); 0,89 (+2)
Pt
-
1,29
1,38 (12)
1,06 (+2); 0,92 (+4)
Au
-
1,29
1,37 (12)
1,37 (+1); 0,85 (+3)
Pb
-
1,54
1,71 (12)
2,15 (-4); 1,32 (+2); 0,84 (+4)
Bi
-
1,52
1,74 (12)
2,13 (-3); 1,20 (+3); 0,74 (+5)
In
-
1,50
1,57 (12)
0,92 (+3)
Sn
-
1,41
1,58 (12)
2,94 (-4); 1,02 (+2); 0,74 (+4)
Sb
2,2
1,41
1,61 (12)
2,08 (-3); 0,90 (+3); 0,62 (+5)
3.2.3.3 Linienförmige Defekte Versetzungen ziehen sich als linienförmiger Baufehler durch den Kristall. Tatsächlich sollte man jedoch von röhrenförmigen Defekten mit einem Radius von einigen Atomabständen sprechen, welche sich durch den Kristall ziehen. Innerhalb dieser Röhre sind die Atome zueinander verschoben, sodass sich ihre Koordinaten von dem des perfekten Gitters deutlich unterscheiden. Außerhalb der Röhre liegt jedoch eine perfekte Gitteranordnung vor. In der Realität gibt es jedoch keine
88
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Versetzungskern
Abb. 3.12 Stufenversetzung
scharfe Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Versetzungsröhre, sondern vielmehr einen allmählichen Übergang. Überdies muss der Querschnitt der Röhre, welche etwas irreführend als Versetzungskern bezeichnet wird, keinen kreisförmigen Querschnitt besitzen [161]. Versetzungen können in zwei verschiedenen Formen auftreten - als Stufenversetzung und als Schraubenversetzung. In Abb. 3.12 ist eine Stufenversetzung schematisch dargestellt. Sie teilt den Kristall in zwei Ebenen, wobei die obere Ebene eine Atomreihe mehr enthält als die untere. Bei Schraubenversetzungen (Abb. 3.13)werden die Gitterebenen des Kristalls um die senkrecht zu ihnen stehende Versetzungslinie wendelförmig verzerrt. Reale Versetzungen treten in der Regel als gemischte Versetzung auf, d. h., verschiedene Abschnitte der Versetzungslinie treten als Stufen- und Schraubenversetzung auf. Im Allgemeinen enden oder beginnen Versetzungen an der Oberfläche des Kristalls. Innerhalb des Kristalls bilden sie geschlossene Linienzüge. Versetzungen sind eine wichtige Voraussetzung für die leichte plastische Verformbarkeit von Metallen. Ihre Häufigkeit im
Versetzungskern
Abb. 3.13 Schraubenversetzung
3.2 Struktureller Aufbau
89
Kristall, die sogenannte Versetzungsdichte, hängt von verschiedenen Faktoren, wie der Temperatur und der mechanischen Spannung, ab. Versetzungen können sich vervielfachen, aber auch annihilieren (sich gegenseitig vernichten).
3.2.3.4 Körner und Korngrenzen Korngrenzen trennen Bereiche gleicher Kristallstruktur, aber unterschiedlicher Orientierung voneinander. Durch eine Drehung im Raum wäre es möglich, diese getrennten Bereiche wieder ineinander zu überführen. Für kubisch-flächenzentrierte Kristalle gibt es aufgrund der Symmetrie des Gitters 24 Möglichkeiten für diese Drehung. Der kleinste dieser möglichen Drehwinkel wird als Missorientierungswinkel bezeichnet. In Abhängigkeit vom Betrag dieses Winkels lassen sich Korngrenzen in Kleinwinkelkorngrenzen und Großwinkelkorngrenzen einteilen. Als Kleinwinkelkorngrenzen werden alle Korngrenzen mit einem Missorientierungswinkel unterhalb 15° angesehen, als Großwinkelkorngrenzen alle mit einem größeren Missorientierungswinkel θ . Diese Klassifizierung geht von der Annahme aus, dass Missorientierungen bis zu 15° allein durch Versetzungen entstehen können. Zur Realisierung größerer Winkel müsste der Abstand der Versetzungen so klein werden, dass sich die Versetzungskerne überlagern würden. Großwinkelkorngrenzen besitzen daher keine regelmäßige Atomanordnung und sind oft einige Atomlagen breit, wodurch sie für die Versetzungsbewegung sehr effektive Hindernisse darstellen. Aus diesem Grund werden die durch die Korngrenzen zueinander abgegrenzten Bereiche auch in Körner und Subkörner unterschieden. Als Korn ist ein dreidimensionaler Bereich zu verstehen, der vollständig von einer Großwinkelkorngrenze eingeschlossen wird. Innerhalb solcher Körner können Subkörner existieren, die voneinander durch Kleinwinkelkorngrenzen abgegrenzt sind. Die Struktur von Kleinwinkelkorngrenzen lässt sich als eine bestimmte Anordnung von Versetzungen darstellen. Den einfachsten Fall bildet dabei eine symmetrische Kipp-Korngrenze (Abb. 3.14), welche sich durch eine parallele Anordnung von Stufenversetzungen ergibt. Die Korngrenze verläuft entlang der sich daraus resultierenden Stufenversetzungswand und steht senkrecht auf der Gleitebene. Der Missorientierungswinkel dieser Kipp-Korngrenze ergibt sich aus dem Abstand der Versetzungen entlang der Korngrenze h mit b θ = --- , h
(3.2)
wobei b dem Burgersvektor entspricht, die Energie einer solchen Kippkorngrenze γ s ergibt sich aus [162]: γ s = γ 0 ⋅ θ ⋅ ( A – ln ( θ ) ) ,
(3.3)
90
3 Struktur metallischer Werkstoffe
wobei γ 0 = G ⋅ b ⁄ 4π ( 1 – ν ) mit G = Schubmodul und ν = Querkontraktionszahl, A = 1 + ln ( b ⁄ 2πr 0 ) mit r 0 = Radius des Versetzungskerns, welcher zwischen 1…5 ⋅ b angenommen wird. Gemäß der Formulierung in Gleichung (3.3) nimmt die Energie der Kleinwinkelkorngrenze degressiv mit dem Missorientierungswinkel θ bzw. der Zahl der Versetzungen zu. Ein zweiter einfacher Grenzfall von Kleinwinkelkorngrenzen ergibt sich aus der Anordnung von zwei Scharen von Schraubenversetzungen. Hierbei entsteht eine Drehkorngrenze (Abb. 3.14), deren Missorientierungswinkel θ senkrecht zur Korngrenze steht und sich wiederum aus Gleichung (3.2) ergibt. Im allgemeinen Fall ergibt sich die Kleinwinkelkorngrenze jedoch aus Versetzungen mit zwei oder mehr verschieden gerichteten Burgersvektoren, sodass sich ihre Gestalt aufgrund der unterschiedlichen Typen an beteiligten Versetzungen schwer einheitlich beschreiben lässt. Die Gestalt von Großwinkelkorngrenzen lässt sich nicht so einfach beschreiben wie die der Kleinwinkelkorngrenzen. Die bis heute plausibelste Erklärung lieferten Kronberg und Wilson [163] über das Konzept eines Koinzidenzgitters, welches die
Drehkorngrenze
Kleinwinkelkorngrenze Grenze
Korngrenze
asymmetrische Kippkorngrenze
Drehachse
symmetrische Kippkorngrenze
Q Symmetrieebene
Korngrenze
Kippachse und Achse der Korngrenzenrotation
Abb. 3.14 Schematische Darstellung der prinzipiellen Möglichkeiten, Korngrenzen in einem Gefüge ausbilden zu können. Reale Korngrenzen bilden sich in der Regel als Mischtypen und enthalten Elemente aus verschiedenen prinzipiellen Möglichkeiten der Korngrenzenausbildung (adaptiert aus [164]).
3.2 Struktureller Aufbau
a)
91
b)
Abb. 3.15 Großwinkelkorngrenzen: a) Koinzidenzgitter Σ5 , welches sich aus zwei um einen Missorientierungswinkel von 36,9 ° entlang der <001> Achse gegeneinander verdrehten einfachen kubischen Gittern ergibt. Die gefüllten Kreise entsprechen den gemeinsamen Gitterplätzen, b) kohärente Zwillingsgrenze mit Σ = 3 (adaptiert aus [165]).
Anzahl der gemeinsamen Gitterplätze zweier beliebig gegeneinander orientierter Kristallgitter beschreibt. Der reziproke Wert der aufeinandersitzenden Gitterplätze zur Gesamtanzahl der Gitterplätze wird mit Σ bezeichnet. Die Energie einer Großwinkelkorngrenze hängt neben Σ auch von anderen Faktoren, wie z. B. vom Abstand der Netzebenen parallel zur Korngrenze, ab, weshalb niedrige Werte von Σ nicht zwingend zu niedrigen Korngrenzenergien führen [164, 165]. Ein Sonderfall der Großwinkelkorngrenze ist die kohärente Zwillingsgrenze, welche je nach Kristallsymmetrie niedrigen Werten von z. B. Σ = 3 entsprechen kann und eine Grenzfläche zweier spiegelsymmetrisch angeordneter Kristallgitter darstellt.
3.2.3.5 Phasen und Phasengrenzen Wenn ein metallischer Werkstoff aus mehreren Atomarten aufgebaut ist, kann er mehrere Phasen aufweisen. Als Phasen werden alle gleichartigen einheitlichen Bestandteile bezeichnet. Ausschlaggebend ist neben der Zusammensetzung auch die Kristallstruktur. In der Regel treten in metallischen Werkstoffen verschiedene Phasen in Form der reinen Metalle, in Form von Mischkristallen und als intermetallische Phasen auf. Verschiedene Phasen werden durch Phasengrenzflächen voneinander abgegrenzt. Der Aufbau von Phasengrenzen ist komplizierter als der von Korngrenzen, da neben Missorientierungen in der Regel auch unterschiedliche Git-
92
3 Struktur metallischer Werkstoffe
semikohärente Phasengrenze
a1
a2
b) inkohärente Phasengrenze
a)
c)
Abb. 3.16 Arten von Phasengrenzen: a) homogen, b) quasihomogen, c) heterogen
tertypen bzw. unterschiedliche Gitterkonstanten (bei gleichem Gittertyp) miteinander verbunden werden müssen (vgl. Abb. 3.16). Aufgrund dieser vielen Anpassungsunterschiede werden Phasengrenzflächen in kohärente, semikohärente und inkohärente Grenzflächen eingeteilt. Kohärente Grenzflächen sind mit Kleinwinkelkorngrenzen vergleichbar und stellen die Verbindung zwischen strukturell ähnlichen Phasen her. In semikohärenten Grenzflächen werden beispielsweise Unterschiede in der Gitterkonstante zwischen Phasen gleichen Gittertyps durch Versetzungen ausgeglichen. Inkohärente Grenzflächen sind hingegen ein Pendant zu Großwinkelkorngrenzen und stellen ein effektives Hindernis für die Versetzungsbewegung dar [164].
3.2.3.6 Kristallgemische Die Mischung zwischen zwei Metallsorten durch Einbau einer Atomsorte in das Gitter der anderen (Mischkristallbildung) ist, wie in 3.2.3.2 dargelegt, nur innerhalb eines begrenzten Verhältnisses der Atomradien der beiden Metallsorten möglich. Sind die Atomradien hingegen sehr unterschiedlich, kommt es zur Ausbildung eines Kristallgemisches. Dieses kann entweder aus den Kristalliten der reinen Komponenten bzw. aus Mischkristallen bestehen, wenn zwischen den beiden
3.2 Struktureller Aufbau
93
A-Kristalle
B-Kristalle
Abb. 3.17 Kristallgemisch (schematisch)
Komponenten eine begrenzte Mischbarkeit vorliegt. Da zwischen den Kristalliten eines Kristallgemisches immer Phasengrenzen vorliegen, unterscheiden sie sich in bestimmten Aspekten von den Mischkristallgefügen. Zu diesen Aspekten zählen z. B. das Kristallwachstum als auch der Aufbau thermisch induzierter Spannungen durch unterschiedliche Ausdehnungskoeffizienten der verschiedenen Kristallite. Das schematische Aussehen eines Kristallgemisches ist anhand eines zweiphasigen Gefüges in Abb. 3.17 dargestellt.
3.2.3.7 Ausscheidungen Unter einer Ausscheidung versteht man einen Bereich, in dem die chemische Zusammensetzung gegenüber der sie umgebenden Metallmatrix geändert ist, ohne dass sich dabei die Kristallstruktur dieser Matrix geändert hat. Ausscheidungen entstehen durch eine Phasenumwandlung im festen Zustand. Grund für eine Ausscheidungsreaktion ist zum Beispiel die Übersättigung der Metallmatrix mit Fremdatomen, da deren Löslichkeit mit sinkender Temperatur abgenommen hat. Die Bildung einer Ausscheidung erfolgt oft über eine Sequenz metastabiler Zwischenphasen. Bei Ausscheidungsreaktionen wird in zwei Mechanismen kontinuierlicher Entmischung unterschieden - in Keimbildung und Wachstum oder in spinodale Entmischung. Im ersten Prozess bilden sich durch thermische Schwankungen an einzelnen Stellen Keime der 2. Phase, die bereits die Zusammensetzung der im Zustandsdiagramm (vgl. 3.3.1) auftretenden Gleichgewichtsphase haben. Diese Keime wachsen durch normale Diffusion im Konzentrationsgradienten der Verarmungszone. Im Fall der spinodalen Entmischung kommt es hingegen zur Zunahme ursprünglich kleiner Konzentrationsschwankungen durch eine sogenannte „Berg-
94
3 Struktur metallischer Werkstoffe
aufdiffusion“ innerhalb einer Spinodalen. Neben diesen kontinuierlichen Entmischungsprozessen existieren aber auch diskontinuierliche, bei denen z. B. die Ausscheidung längs einer sich in das übersättigte Material hineinschiebenden Entmischungsfront abläuft. Ausscheidungen werden nach der Beschaffenheit der Phasengrenzfläche zur Matrix in kohärente, semikohärente und inkohärente Ausscheidungen eingeteilt. Mit dem Wachstum von Ausscheidungen kann ein Übergang von kohärenten zu inkohärenten Ausscheidungen verbunden sein. Das Wachstum von Ausscheidungen kann mit einer Verringerung der Anzahl der Ausscheidungen einhergehen, da größere Ausscheidungen auf Kosten kleinerer wachsen (Ostwaldreifung). Triebkraft dieser Wachstumsprozesse ist das Bestreben, die Grenzflächenenergie zu vermindern. Aus diesem Grund lagern sich Ausscheidungen auch bevorzugt in Korngrenzentripeln an.
a)
b)
c)
Abb. 3.18 Ausscheidungen mit a) kohärenter, b) teilkohärenter, c) inkohärenter Phasengrenzfläche zur Matrix
3.3 Legierungen 3.3.1 Formen von Legierungen Reine Metalle werden in technischen Anwendungen sehr selten eingesetzt. Dies hängt damit zusammen, dass monometallische Systeme über Eigenschaften verfügen, die sie für technische Anwendungen unbrauchbar machen. Zu solchen Eigenschaften zählen beispielsweise starke Oxidationsneigung, schlechte Benetzung, hohe Schmelzpunkte, Gefügeinstabilität oder mangelnde Festigkeit. Durch Zumischung anderer metallischer Elemente können viele dieser Eigenschaften signifikant verbessert werden. Mischungen zweier oder mehrerer metallischer Elemente werden als Legierungen bezeichnet. Da die Eigenschaften von Legierung weitest-
3.3 Legierungen
95
gehend durch die Gleichgewichte bestimmt werden, in denen die Elemente, aus denen die Legierung aufgebaut ist, nebeneinander vorliegen, ist die Bestimmung und Darstellung dieser Gleichgewichtsverhältnisse zur Herstellung und Nutzung metallischer Legierungen notwendig. Diese Darstellung erfolgt in der Regel über Zustandsschaubilder, in denen die im Gleichgewicht befindlichen Phasen in Abhängigkeit von ihrer Konzentration und der Temperatur dargestellt sind. Aus der Gibbs’schen Phasenregel folgt, dass in einem Zweiphasengebiet, in der z. B. eine feste Phase mit einer Schmelze im Gleichgewicht steht, entweder die Konzentration oder die Temperatur dieses Gleichgewichtes frei wählbar ist. Daraus folgt, dass bei einer vorgegebenen Temperatur die Zusammensetzung der im Gleichgewicht befindlichen Phasen eindeutig gegeben ist [146]. In Abhängigkeit von der Art der metallischen Elemente gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie sich diese miteinander mischen können. Wird davon ausgegangen, dass alle Bestandteile der Zweistofflegierung in der Schmelze in beliebigen Verhältnissen mischbar sind, so ergeben sich folgende Grundtypen für die Entstehung der festen Phase: a) die Bestandteile kristallisieren aus der Schmelze im reinen Zustand aus, b) die Bestandsteile bilden eine kongruent schmelzende Verbindung mit einem Schmelzpunktmaximum, c) die Bestandteile bilden eine Verbindung mit einem verdeckten Maximum, die unter Zersetzung inkongruent schmilzt, d) die Bestandteile bilden miteinander eine lückenlose Reihe von Mischkristallen, e) die Bestandteile bilden begrenzte Mischkristallreihen mit einem Eutektikum, f) die Bestandteile bilden im flüssigen Zustand Mischkristallreihen mit einem Peritektikum [147]. Für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeten Lote sind vor allem die Varianten a), e) von Bedeutung, da Lote, die nicht an einem bestimmten Punkt sofort erstarren oder aufschmelzen und einen großen Schmelzbereich aufweisen, eine Reihe verfahrenstechnischer Nachteile mit sich bringen würden. Der Fall a) ist als Grenzfall zu betrachten, da in der Praxis üblicherweise zumindest eine geringe Löslichkeit zur Bildung von Mischkristallen immer vorhanden ist. In Zusammenhang mit der Bildung intermediärer Kristallarten, z. B. intermetallischer Phasen, ist oft Variante c) von Interesse. Allerdings reduziert sich das Problem in der Praxis durch den gewählten Zusammensetzungs- und Temperaturbereich auf eine den Varianten a), e) vergleichbare Betrachtung. Eine Ausnahme bildet das System SnSb, welches in Variante f) erstarrt. Auch für Stoffgemische, die nicht aufgeschmolzen werden, stellt sich die durch das Zustandsdiagramm dargestellte Phasenverteilung ein. Der Zeitraum, in dem dies passiert, hängt aber von der konkreten Aktivierung der Transportprozesse der Festkörperdiffusion ab [148].
3.3.2 Eutektische Systeme Eutektikum ist vom griechischen Wort „eutektos“ abgeleitet und bedeutet „leicht schmelzbar“. Diese Bezeichnung folgt der Beobachtung, dass bei einer bestimmten Zusammensetzung der Schmelzpunkt der Legierung unterhalb der Schmelzpunkte der Einzelkomponenten liegt. Für binäre eutektische Systeme exis-
96
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Gewichtsprozent Silizium 2
1600
4
6
8
10
15
20
25 30
40 50 6070 80 90
1404°
1400
Temperatur C°
1200 1063° 1000
800
600
400 ~31 (~6) 200
0
10
20
30
370° 40
50
60
70
80
90
100
Atomprozent Silizium
Abb. 3.19 Zustandsschaubild Au-Si System
tieren zwei Möglichkeiten: ein System mit völliger Mischbarkeit im flüssigen und Unmischbarkeit im festen Zustand (= Variante a) in 3.3.1) und ein System mit völliger Mischbarkeit im flüssigen und begrenzter Mischbarkeit im festen Zustand (= Variante e) in 3.3.1). Wie schon angeführt, ist das erste ein Grenzfall des zweiten. Jedoch gibt es eine Reihe von Legierungen, in welchen die Löslichkeit der Bestandteile ineinander an der Nachweisgrenze liegt. Das System Au-Si (Zustandsdiagramm in Abb. 3.19) ist ein typisches Beispiel für ein solches System. Es wird zum Diebonden von Halbleiterchips auf Trägerstreifen genutzt. In diesem Prozess wird die Rückseite des Siliziumchips auf den mit einer dünnen Goldschicht versehenen und auf die eutektische Temperatur von T E = 370°C aufgeheizten Trägerstreifen gedrückt, sodass sich zwischen Si und Au eine eutektische Legierung ausbildet. Das Gefüge dieser Legierung ist durch fein verteilte Au- und Si-Kristallite gekennzeichnet, welche in einem Verhältnis vorliegen, aus dem sich die eutektische Zusammensetzung aus 31 at% Au und 69 at% Si ergibt. Das typische Beispiel für ein eutektisches System mit einer begrenzten Mischbarkeit in der festen Phase ist SnPb (siehe Zustandsdiagramm in Abb. 3.20). Das eutektische SnPb-Lot wurde früher als universeller Lotwerkstoff in elektronischen Aufbauten eingesetzt. Mit dem im Jahre 2006 einsetzenden Bleiverbot kommt es nur noch in Bereichen, wie der Kfz-Elektronik, zum Einsatz, für die bisher kein
3.3 Legierungen
97
Gewichtsprozent Blei 10
350
20
30
40
50
60
70
80
85
90
327°
2
1
Temperatur C°
5
6
300
250
95
4
232°
200 26,1
1,45
183°
3 (Pb)
71
150 (Sn)
7
100
93
50 96,8 0 0 Sn
10
20
30
40
50
60
Atomprozent Blei
70
80
90
100 Pb
Abb. 3.20 Zustandsschaubild Sn-Pb System
gleichwertiger Substitutionswerkstoff gefunden werden konnte. Weiterhin werden hochbleihaltige SnPb-Werkstoffe für die Flip-Chip-Montage von Mikroprozessoren und anderen hochpoligen Halbleiterbauelementen eingesetzt. Im Gegensatz zum Au-Si-System ist das Sn-Pb-System dadurch gekennzeichnet, dass bei der Erstarrung keine Entmischung in eine Sn- und eine Pb-Phase erfolgt, sondern dass durch die beschränkte Löslichkeit von Sn und Pb ineinander aus der Schmelze zinnreiche α - und bleireiche β -Mischkristalle kristallisieren. Bei schneller Erstarrung, wie sie für das Löten typisch ist, ergibt sich die Zusammensetzung der Mischkristalle aus der Löslichkeit bei der eutektischen Temperatur T E , d. h., die Zusammensetzung des zinnreichen α -Mischkristalls beträgt 97,5%Sn-2,5%Pb und die des bleireichen β -Mischkristalls beträgt 19,1%Sn-70,9%Pb. Da beide Mischkristalle bei Raumtemperatur übersättigt sind, tritt langfristig eine Segregation der überschüssigen Fremdatome aus den Mischkristallen auf. Da dieser Prozess aber aufgrund der hohen homologen Temperatur T h ( 20°C ) = 64% ⋅ T E parallel zu einer Phasenvergröberung abläuft, kommt es nicht zur Ausbildung eines Korngrenzensegregats im Gefüge des eutektischen SnPb-Lotes. Aus dem Sn-Pb-Zustandsdiagramm lassen sich für verschiedene Zusammensetzungen der Sn-Pb-Legierung folgende Erstarrungsreaktionen ableiten. Hatte die SnPb-Schmelze eine eutektische Zusammensetzung von 63%Sn-37%Pb, so zerfällt
98
3 Struktur metallischer Werkstoffe
diese bei Erreichen der eutektischen Temperatur T E = 183°C sofort in die beiden Mischkristalle (Linie 1). Hatte die Schmelze eine nichteutektische Zusammensetzung, welche allerdings oberhalb der Zusammensetzung der Mischkristalle bei T E liegt, z. B. 42%Sn58%Pb (Linie 2), so fällt bei Erreichen der Liquiduslinie zunächst der entsprechende Mischkristall (bleireicher β -Mischkristall ), welcher die Zusammensetzung (Punkt 4) bei der entsprechenden Temperatur ( T ≈ 240°C ) besitzt, aus, sodass die Schmelze bei sinkender Temperatur immer weiter an Pb verarmt, bis sie bei der eutektischen Temperatur die eutektische Zusammensetzung erreicht. An dieser Stelle erstarrt die Restschmelze wie die eutektischer Zusammensetzung, d. h. wie bei Linie 1. Die Anzahl der im Gefüge der entstehenden zinnreichen α und β -Mischkristalle richtet sich nach der Zusammensetzung der Schmelze. Hatte die Schmelze eine nichteutektische Zusammensetzung, welche allerdings unterhalb der Zusammensetzung eines Mischkristalles bei T E liegt (Linie 3), z. B. 5%Sn-95%Pb, so fällt bei Erreichen der Liquiduslinie ( T ≈ 320°C ) der bleireiche β -Mischkristall mit Zusammensetzung (Punkt 5) bei der entsprechenden Temperatur aus, sodass die Schmelze bei sinkender Temperatur immer weiter an Pb verarmt, bis sie bei der Solidustemperatur ( T ≈ 310°C ) für die Zusammensetzung 5%Sn-95%Pb erreicht und endgültig mit einem bleireichen β -Mischkristall bei dieser Zusammensetzung (Punkt 6) erstarrt. Das Gefüge besteht nur aus diesem Mischkristall, wobei sich die leichten Zusammensetzungsunterschiede bei hohen Temperaturen sofort wieder auszugleichen beginnen, bis eine homogene 5%Sn-95%Pb-Zusammensetzung erreicht ist. Da dieser Mischkristall aufgrund der mit der Temperatur absinkenden Löslichkeit ab einer Temperatur ( T ≈ 115°C ) übersättigt ist (Punkt 7), beginnt Sn unterhalb dieser Temperatur durch eine Ausscheidungsreaktion auszusegregieren. In realen Kontakten können daraufhin zwei Dinge passieren, entweder das aussegregierende Sn wird durch der Reaktion mit Leitbahnmetall (z. B. mit Cu oder Ni) gebunden, sodass keine Segregation zu beobachten ist, oder es tritt im Betrieb durch Temperaturwechsel1 ein zyklisches Lösen und Ausscheiden des Sn in bzw. aus dem Pb-reichen Mischkristall auf [166-171]. Die dargestellten, aus dem Zustandsdiagramm entnommenen Erstarrungsreaktionen gelten jedoch nur für den Fall des thermodynamischen Gleichgewichts, d. h. bei unendlich langsamer Abkühlung. Bei den schnellen Abkühlungsbedingungen, wie sie für Lötprozesse in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik typisch sind, wird die Entstehung jedoch von weiteren Faktoren bestimmt (vgl. 3.4.1, 3.4.2) und kann nicht direkt aus dem Zustandsdiagramm entnommen werden. Der durch das Zustandsdiagramm beschriebene Fall des thermodynamischen
1. Bleireiche SnPb-Lote, wie z. B. Pb90Sn10, Pb95Sn5, Pb 96,5Sn3,5 oder Pb97,5Sn2,5 wurden bevorzugt zur Flip-Chip-Montage von Mikroprozessoren verwendet, z. B. in den TC-Modulen von IBM. Die im Betrieb auftretenden zyklischen Temperaturschwankungen können daher sehr leicht Temperaturen von 115 °C übersteigen, da sich die Flip-Chip-Lotkontake unmittelbar über den aktiven Strukturen der Schaltkreise befinden.
3.3 Legierungen
99
Gleichgewichts ist jedoch bei nachträglicher Erwärmung schnell erstarrter Gefüge ausschlaggebend.
3.3.3 Systeme mit intermediären Phasen Für Lotwerkstoffe kommen auch Systeme zum Einsatz, welche intermediäre Kristalle (in der Regel intermetallische Phasen, vgl. 3.2.2.3) bilden. Ein typisches Beispiel ist das in Abb. 3.21 dargestellte Ag-Sn-System. Dieses System kommt vor allem in eutektischen SnAg-Loten zum Einsatz, welche zu den momentan favorisierten Substitutionswerkstoffen für das eutektische SnPb-Lot für Flip-Chip-Lotkontakte zählen. Dieses System enthält zwei intermediäre Phasen, die eine ist die bei einer Temperatur von T = 724°C inkongruent schmelzende Ag4Sn-Phase und die andere die bei einer Temperatur von T = 480°C inkongruent schmelzende Ag3Sn-Phase. Das Ag-Sn-System verfügt über zwei peritektische und einen eutekGewichtsprozent Zinn 10
1600
20
30
40
50
60
70
80
90
950,6° 1400
1200 11,5
Temperatur C°
1000
724°
19,5
800
600
22,85
25
49,6
480°
400
300 96,2 232°
221° 200
9,35
100
11,8
18
23,7 18°
0
0 Ag
10
20
30
40
50
60
Atomprozent Zinn
Abb. 3.21 Zustandsschaubild Ag-Sn System
70
80
90
100 Sn
100
3 Struktur metallischer Werkstoffe
tischen Phasenübergang [172]. Da die Temperatur für die inkongruent schmelzenden Phasen sowie für die peritektischen Phasenübergänge in realen Elektronik-Lötprozessen nie erreicht wird und die Zusammensetzung der SnAg-Lote in einem Bereich zwischen 1%...5% Ag-Anteil liegt, reduziert sich die Betrachtung auf den eutektischen Phasenübergang, welcher auf der rechten Seite des Zustandsdiagramms zu finden ist und dem des eutektischen Au-Si-Systems (vgl. 3.3.2, Abb. 3.19) ähnelt. Die feste Phase setzt sich aus Ag3Sn-Phasen, welche in einer aus mehreren β Sn-Kristalliten bestehenden Matrix eingebettet sind ( β -Sn ist eine Kristallform des Zinns und kein Mischkristall), zusammen. In den β -Sn-Kristalliten können sich jedoch zu einem kleinen Teil Ag-Atome lösen. Die Morphologie des Gefüges lässt sich nicht aus dem Zustandsdiagramm entnehmen, sondern hängt sehr stark von den Erstarrungsbedingungen ab (vgl. 3.4.2.2). Die eutektische Reaktion wird in [172] mit L = Ag 3 Sn + Sn beschrieben und einer eutektischen Temperatur von T E = 221°C zugeschrieben. Demgegenüber haben Kattner und Boettinger [173] aus einem thermodynamischen Modell den eutektischen Punkt bei einer Zusammensetzung von Sn-3,87at%Ag und einer Temperatur von T E = 220, 9°C ermittelt. 3.3.4 Andere Systeme Unter bestimmten Umständen, u. a. wenn die Atomradien zweier metallischer Elemente sehr ähnlich sind (vgl. 3.2.3.2, Tabelle 3.2), können sich Atome vollständig miteinander mischen, d. h. bei der Erstarrung bildet sich eine lückenlose Reihe verschieden zusammengesetzter Mischkristalle. Ein Beispiel für ein binäres System mit vollständiger Mischbarkeit bildet die in Abb. 3.22 mit ihrem Zustandsdia1500
1452° Schmelze
Temperatur C°
1400
1300 Schmelze und Mischkristalle
1200
1100
Mischkristalle
1083° 1000 0 Cu
10
20
30
Abb. 3.22 Zustandsschaubild Cu-Ni
40
50
60
Atomprozent Nickel
70
80
90
100 Ni
3.3 Legierungen
101
gramm dargestellte Legierung aus Cu und Ni. Zur Verwendung als Lotwerkstoffe eignet sich ein solches System nicht nur wegen seiner hohen Schmelztemperatur nicht. Ein wesentlicher Nachteil besteht vor allem darin, dass anstelle eines definierten Schmelzpunkts ein großer Schmelzbereich vorhanden ist und dass das bei der Erstarrung entstehende Gefüge Mischkristalle sehr unterschiedlicher Zusammensetzung aufweist. Allerdings hat das Zustandsdiagramm Bedeutung für das Verständnis von Diffusionsvorgängen in mehrschichtigen Leitbahnmetallisierungen, in denen das System Cu-Ni häufig vorkommt. Ein anderes Beispiel für eine beschränkte Mischbarkeit von metallischen Elementen sind peritektische Systeme, wie das mit seinem Zustandsdiagramm in Abb. 3.23 dargestellte System Sn-Sb [174]. Das System verfügt über drei peritektische Punkte. Am untersten dieser drei Punkte ( T P = 250 °C ) beträgt die Löslichkeit von Sb im Sn-Gitter etwa 10,2 % und die von Sn im Sb-Gitter etwa 10 %. Bei
Gewichtsprozent Antimon 10
650
20
30
40
50
60
70
80
90 630,75°C
600
550
Temperatur C°
500
450 425°C 65,8
51,0
87,7
400
350 324°C
48,3
21,4
6,7 250 231,96°C
(Sn)
10,2
250°C
9,6
242°C
Sn3Sb2
300
43,6 b
(Sb)
200
150
100
0 Sn
10
20
30
Abb. 3.23 Zustandsschaubild Sb-Sn
40
50
60
Atomprozent Antimon
70
80
90
100 Sb
102
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Raumtemperatur betragen die Löslichkeiten ca. 2,2 % bzw. 10 %. Weiterhin wird bei tiefen Temperaturen eine intermetallische Phase ( β-Phase ) paritätischer Zusammensetzung (SbSn) ausgebildet, welche einen weiten Bereich verschiedener Zusammensetzungen überstreicht und durch die Nutzung zweier Subelementarzellenmodelle beschrieben werden kann. Die zweite intermetallische Phase Sn3Sb2 besitzt hingegen nur einen extrem schmalen Zusammensetzungsbereich und existiert auch nur in einem begrenzten Temperaturbereich von T = 242°C…324°C [174, 175]. Wenn von einer SnSb5-Legierung ausgegangen wird, wie sie für Weichlote zur Verwendung kommt [176-178], so spielen die peritektischen Phasenreaktionen des SnSb-Systems keine Rolle, da sich die Zusammensetzung unterhalb des letzten peritektischen Punktes befindet. Wenn die Temperatur der sich abkühlenden Schmelze die Liquidusline bei T L ≈ 243°C erreicht, beginnt der Sn-Mischkristall direkt aus der Schmelze auszufallen bis die Restschmelze knapp über dem Schmelzpunkt der reinen β -Sn-Phase ( T s ≈ 232°C ) vollständig erstarrt. Bei dieser Temperatur liegt die Löslichkeit des Sb im Sn-Mischkristall noch bei ca. 10% und nimmt bei sinkender Temperatur immer weiter ab, sodass sich ab einer Temperatur von T = 192°C die β -Phase (SnSb) fein verteilt im Sn-Mischkristall auszuscheiden beginnt [179]. Zur Beschreibung der peritektischen Reaktion soll der untere peritektische Punkt betrachtet werden, wobei von einer ebenfalls als Weichlot einsetzbaren SnSb8-Legierung ausgegangen wird [180]. Wenn die Temperatur der sich abkühlenden Schmelze die Liquidusline bei T L ≈ 260°C erreicht, beginnt zunächst die properitektische Sn3Sb2-Phase aus der Schmelze auszufallen, wodurch diese an Sb verarmt, sodass die Zusammensetzung der Restschmelze entlang der Liquidusline auf den peritektischen Punkt ( T P = 250 °C ) zuläuft, wo es zu einer peritektischen Reaktion in der Form Schmelze + Sn3Sb2 → Sn-Mischkristall kommt [174]. Wird weiter abgekühlt, bildet sich die neue Sn-Mischkristall-Phase unterhalb der peritektischen Temperatur entlang der Grenzfläche zwischen der Sn3Sb2-Phase und der flüssigen Restschmelze aus, wodurch die Sn-Mischkristall-Phase die Sn3Sb2-Phase von einer Reaktion mit der Schmelze zu isolieren beginnt. Aus dem Phasendiagramm in Abb. 3.23 ist abzuleiten, dass die Sn-Mischkristall-Phase sich dort bildet, wo die beiden Ausgangsphasen vorhanden sind. Möglicherweise kann der Sn-Mischkristall jedoch auch primär aus der Schmelze, d. h. ohne peritektische Phasenreaktion, ausgeschieden werden. Infolgedessen ist eine peritekische Phasenumwandlung als Überlagerung von zwei Phasenbildungsprozessen zu verstehen, welche die Prozesse einer peritektischen Phasenreaktion und einer peritektischen Phasentransformation beinhaltet [181, 182]. Erstere verlangt den Kontakt aller drei Phasen, sodass durch die Reaktion der Schmelze mit der Sn3Sb2-Phase eine β-Sn -Phase gebildet wird. Bei der peritektischen Transformation sind die Schmelze und die Sn3Sb2-Phase jedoch nicht mehr direkt in Kontakt, sodass das Wachstum der β-Sn -Phase unter Verbrauch der Sn3Sb2-Phase durch Diffusionsprozesse erfolgt. Dieser Transformationsprozess ist zunächst sehr schlecht von der Erstarrung der reinen β-Sn -Komponente unterhalb seiner
3.3 Legierungen
103
Schmelztemperatur ( T S = 232 °C ) zu unterscheiden. Allerdings bildet sich bei langsamer Abkühlung und damit vollständiger peritektischer Transformation eine thermodynamisch ausgeglichene Legierung, während im Fall der schnellen Erstarrung die peritektische Transformation, d. h. die Bildung von β-Sn unter Verbrauch der Sn3Sb2-Phase, weiter fortgesetzt würde. Aufgrund des begrenzten Temperaturbereiches, in welchem die Sn3Sb2-Phase existiert und, da es sich bei der Sn3Sb2Phase um eine Strichphase handelt, ist die genaue Beschreibung der Transformation ohne Betrachtung der Transformationskinetik jedoch schwierig [183]. Analog zur SnSb5-Legierung beginnt sich bei weiter sinkender Temperatur die β -Phase (SnSb) fein verteilt im Sn-Mischkristall auszuscheiden. Die beschriebenen Transformationsvorgänge und der sich einstellende Schmelzbereich sind die wesentlichen Nachteile von peritektischen gegenüber eutektischen Systemen für die Nutzung als Lotwerkstoffe. Als Vorteil erweist sich jedoch der gegenüber den eutektischen Systemen höhere Schmelzpunkt (bzw. Schmelzbereich), welcher oberhalb des Schmelzpunktes von reinem β-Sn liegt, ohne dass sich, wie bei anderen Systemen mit höheren Schmelzpunkten (z. B. SnAu), spröde intermetallische Phasen ausbilden.
3.3.5 Drei- und Vielstoffsysteme Werden mehr als zwei Komponenten miteinander vermischt, ergeben sich Probleme in der Darstellung in ebenen Diagrammen. Bei Dreistoffsystemen (Komponenten A, B, C), wie z. B. dem SnAgCu-System, kann dieser Problematik noch über eine Hilfsdarstellung in einem gleichseitigen Dreieck entgangen werden, welches allerdings nicht gleichwertig zu den Zustandsschaubildern von Zweistoffsystemen ist und sich oft auch nur über das Verständnis der diesem Dreieck zugrunde liegenden drei binären Zustandsdiagramme (A - B, B - C, A - C) vollständig erschließen lässt. Das Dreieck ABC (Abb. 3.24) entspricht dabei einer Projektion der gewölbten Schmelzflächen der ternären Legierung. Um die Wölbung sichtbar zu machen, werden oft auch Temperaturisolinien in das Diagramm eingezeichnet. Um den Weg der Erstarrung im ternären Dreieck verfolgen zu können, werden in der Regel die sich zwischen den eutektischen Punkten (eutektische Ausgangszweistofflegierungen vorausgesetzt) ergebenden Rinnen bis zum eutektischen Punkt des Dreistoffsystems weitergeführt. Aus den ternären Zustandsdiagrammen lassen sich die Phasenreaktionen sowie die Lage intermediärer Phasen ablesen. Qualitativ ergeben sich in Mehrstoffsystemen bezüglich der Phasenreaktionen gegenüber Zweistoffsystemen keine Besonderheiten, nur ihre grafische Darstellung ist komplizierter.
104
3 Struktur metallischer Werkstoffe
A
E
C
B
Abb. 3.24 Schematische Darstellung eines Dreistoffsystems in einem gleichseitigen Dreieck. Die Schmelzflächen der Phasendiagramme aus Zweistoffsystemen werden auf das Dreieck projiziert.
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 3.4.1 Entstehung des Erstarrungsgefüges
3.4.1.1 Faktoren Obwohl Zustandsdiagramme eine große Anzahl von Informationen über das Zusammenwirken verschiedener metallischer Elemente in einer Legierung geben, lassen sich aus ihnen keine Informationen über die genaue Beschaffenheit des Gefüges nach der Erstarrung ableiten. Zustandsdiagramme beschreiben den speziellen Fall der Phasenumwandlung unter Beibehaltung des thermodynamischen Gleichgewichtes, der aber im Prinzip nur bei einer unendlich langen Abkühlung eintreten würde. Reale Erstarrungsvorgänge sind jedoch durch schnelle Abkühlung und damit mit adiabatischen anstelle isothermer Umwandlungsprozesse verbun-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
105
den, sodass es nicht zur Einstellung eines Gleichgewichtes kommen kann. Aus diesem Grund wird das Aussehen des Erstarrungsgefüges - neben der Zusammensetzung der Legierung - vor allem von der Erstarrungsgeschwindigkeit, dem Temperaturgradienten an der Erstarrungsfront bzw. der damit verknüpften Größe der Abkühlungsgeschwindigkeit bestimmt. In Abhängigkeit von diesen Größen stellen sich für eine gegebene Schmelze folgende ein Erstarrungsgefüge charakterisierende Merkmale ein [185]: • Gefügefeinheit (Korngröße, Dendriten- oder Phasenabstände) • Gefügekomponenten (Phasen) • Gefügeausrichtung (Textur) • Makroskopische Gefügefehler (Lunker, Poren, Warmrisse) • Seigerungszustand bzw. chemische Homogenität des Gefüges • Innerer mechanischer Spannungszustand Oft kommt es vor, dass Erstarrungsgefüge offensichtlich Eigenschaften aufweisen, die so nicht mit den aus dem Zustandsdiagramms zu gewinnenden Aussagen übereinstimmen. Dazu zählt z. B., dass die Konzentration einer Atomsorte die normale Löslichkeitsgrenze in einer festen Phase übersteigt. Derartige Verschiebungen gegenüber den normalen Phasengleichgewichten werden durch den Überschuss an freier Enthalpie hervorgerufen, die vorhanden ist, wenn eine Schmelze im Laufe des Erstarrungsvorganges unterkühlt ist. Eine unterkühlte Schmelze kann im Gegensatz zur Erstarrung nahe dem thermodynamischen Gleichgewicht über eine Reihe von Erstarrungswegen in unterschiedlichen festen Phasen kristallisieren. Aus diesem Grund spielt die Kenntnis der Erstarrungskinetik eine wesentlich größere Rolle für das Verständnis der Gefügeausbildung bei technologischen Prozessen mit Flüssig-Fest-Übergängen als die eigentlichen Zustandsschaubilder der beteiligten Legierungen. In Abb. 3.25 sind verschiedene rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von Querschliffen benachbarter Flip-Chip-Kontakte aus SnPb37-Lot einander gegenübergestellt, welche aus zwei verschiedenen Flip-ChipAufbauten stammen, die mit unterschiedlichen Prozessparametern hergestellt wurden. Aus diesen Gefügebildern wird deutlich, dass die Gefügeausbildung einerseits deutlich von den Erstarrungsbedingungen, andererseits jedoch auch von anderen eher „stochastischen Faktoren“ abhängt. Die vollständige theoretische Beschreibung der vielfältigen physikalischen Prozesse, die während der Erstarrung ablaufen, ist schwierig. Dies liegt unter anderem daran, dass in Bezug auf reale Schmelzen in den Strukturen elektronischer Aufbauten immer von Temperatur und Dichtegradienten ausgegangen werden muss, sodass sich zur exakten Beschreibung der Erstarrungsreaktion umfangreiche Betrachtungen der Fluiddynamik erforderlich machen. Diese umfassen neben Kon-
106
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 3.25 Rasterelekronenmikroskopische Aufnahmen von Gefügen benachbarter Flip-ChipKontakte aus SnPb37-Lot (d. h. zinnreiche (dunkel), bleireiche Phase (hell)). Gegenübergestellt sind Querschliffe von Kontakten aus zwei verschiedenen Flip-Chip-Aufbauten (FC), welche mit unterschiedlichen Prozessparametern hergestellt wurden. In der linke Spalte (Bilder a, c, e) sind aus dem ersten FC-Verbund die Kontakte mit den Nummern #1, #2, #3 dargestellt. In der rechten Spalte (Bilder b, d, f) sind aus dem zweiten FC-Verbund die Kontakte mit den Nummern #1, #3, #7 dargestellt. Aus dem Vergleich der Gefügebilder der beiden Spalten untereinander geht hervor, dass es entsprechend dem verwendeten Lotprofil, d.h. den Erstarrungsbedingungen, zuordenbare Unterschiede in der Gefügeausbildung gibt. Im Gegensatz dazu geht aus dem Vergleich der Gefügebilder einer Spalte hervor, dass es offensichtlich auch stochastisch wirkende und damit nicht deterministisch an die Erstarrungsbedingungen gebundene Faktoren gibt.
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
107
tinuitätsgleichungen auch eine mathematische Behandlung von Hydrostatik, Potenzialströmung, Rheologie, Stoff- und Wärmetransport [186]. Darüber hinaus treten sehr oft Ablegierungsreaktionen als Teil der technologisch genutzten Verbindungsvorgänge auf. Diese führen zu schwer beschreibbaren dynamischen Verschiebungen der Schmelzzusammensetzung während des in der Regel sehr kurzen Zeitraums des Auftretens der flüssigen Phase. Deshalb werden sich die nachfolgenden Beschreibungen auf die grundsätzlichen Prozesse der Keimbildung und des Keimwachstums sowie ihres Zusammenhanges mit der Unterkühlung einer Schmelze beschränken, die für das phänomenologische Verständnis der Erstarrung wichtig sind.
3.4.1.2 Keimbildung Die Erstarrung einer Schmelze beginnt mit der Bildung von festen Keimen. Durch das anschließende Wachstum dieser Keime wird die schmelzflüssige Phase nach und nach in eine feste Phase überführt. Voraussetzung für die Bildung von stabilen Keimen ist eine Unterkühlung ΔT u = T s – T der Schmelze, d. h., die Schmelze muss auf eine Temperatur T unterhalb der Schmelztemperatur T s abgekühlt werden, bevor eine stabile Keimbildung einsetzen kann. Diese Unterkühlung ΔT u ist notwendig, da sich die Freie-Energie-Bilanz der Keimbildung aus zwei konkurrierenden Termen ergibt. Auf der einen Seite kommt es durch die Ausbildung einer Phasengrenzfläche zur Erhöhung der Freien Energie 2
ΔF O = σ SL ⋅ 4πr ,
(3.4)
wobei σ SL der Grenzflächenenergie und r dem Keimradius entspricht, sodass aufgrund dieser positiven Energiebilanz keine Ausbildung stabiler Keime bei T s möglich ist. Auf der anderen Seite besitzt die feste Phase bei einer Temperatur unterhalb von T s eine geringere Freie Energie pro Volumeneinheit f S als die Schmelze f L . In erster Näherung ist diese Differenz Δf v = f s – f L proportional zur Unterkühlung Δf v = α ⋅ ΔT u [164]. Die Gesamtbilanz der Freien Energie für einen kugelförmigen Keim in einer Schmelze ergibt sich aus 4 3 2 ΔF ges = σ SL ⋅ 4πr – Δf v ⋅ --- πr 3
(3.5)
Nachdem diese Funktion bei 2σ SL 2σ SL r * = ----------- = ----------------Δf v α ⋅ ΔT u ein Maximum mit dem Betrag
(3.6)
108
3 Struktur metallischer Werkstoffe 3
16π ⋅ σ SL * ΔF ges = ----------------------------2 2 3 ⋅ α ⋅ ΔT u
(3.7)
durchläuft, erhält sie einen negativen Anstieg, wodurch die Bildung stabiler Keime ermöglicht wird, da Keime nun unter Energiegewinn wachsen können. Bei der beschriebenen homogenen Keimbildung wird davon ausgegangen, dass nur Keim und Schmelze beteiligt sind, wodurch die Keimbildung allein von den intrinsischen Eigenschaften der Legierung abhängt. In realen Schmelzen liegen in der Regel Fremdphasen vor, die am Keimbildungsprozess beteiligt sind. In einem Lotkontakt sind solche Fremdphasen zum Beispiel die Kontaktflächen, die vom schmelzflüssigen Lot benetzt werden. Aber auch innerhalb des Lotkontaktes können beispielsweise Reste von Oxidhäuten, welche in die Lotschmelze geraten, solche Fremdphasen bilden. Die zur Keimbildung aufzuwendende Energie entspricht der der homogenen Keimbildung (vgl. Gleichung (3.7)) zuzüglich eines Faktors, der sich aus dem Benetzungswinkel Θ ergibt [187, 188]: 3
16π ⋅ σ LS ⋅ f ( Θ ) * * ΔF het = ΔF hom ⋅ f ( Θ ) = ---------------------------------------2 2 3 ⋅ α ⋅ ΔT u
(3.8)
1 3 f ( Θ ) = --- ( 2 – 3 cos ( Θ ) + cos ( Θ ) ) , 4
(3.9)
wobei sich der Benetzungswinkel Θ gemäß der in Abb. 3.26 gegebenen Definitionen an einem Flüssigkeitstropfen auf einer Festkörperoberfläche aus σ LF – σ SF cos ( Θ ) = ----------------------σ LS
(3.10)
1,0 Schmelze (L)
Keim (S)
Q
sLS sSF
sLF
DF*het (Q) /DF*hom
0,8 0,6 0,4 0,2
Fremdphase (F) 0
0,25
cos Q
Abb. 3.26 Heterogene Keimbildung auf Fremdphase
0,5
0,75
1,00
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
109
ergibt. Da der kritische Keimbildungsradius für Metalle in der Größenordnung –9 –8 von 10 …10 m liegt [164, 187], ist dieser für die Gesamtkinetik des Erstarrungsvorgangs nicht von Bedeutung. Diese wird vor allem von der Bildungsrate von Keimen kritischer Größe bestimmt [188] und lässt sich für die heterogene Keimbildung aus *
§ ΔF hom · 0 I het = I het ⋅ exp ¨ – ---------------- ⋅ f ( Θ )¸ © k⋅T ¹
(3.11) 0
ermitteln, wobei k der Boltzmann-Konstante entspricht und I het einen vorexponentiellen Faktor darstellt, der sich aus ns ⋅ k ⋅ T ΔF 0 I het = ------------------- ⋅ exp § – ---------A-· © k ⋅ T¹ h
(3.12)
ergibt [187], wobei h dem Plank’schen Wirkungsquantum entspricht, n s der Zahl der Grenzflächenatome entspricht, welche in die Keimbildung eingebunden sind, und ΔF A die Aktivierungsenergie zum Transport der Atome über die Grenzfläche darstellt. Aus den Gleichungen (3.11) und (3.12) geht hervor, dass die Temperaturabhängigkeit der Keimbildungsrate durch einen thermodynamischen und einen kinetischen Anteil bestimmt wird. Dabei wird vom Exponentialterm in Gleichung (3.11) mit der Aktivierungsenergie im Argument die Abweichung vom thermodynami* schen Gleichgewicht beschrieben. Der Verlauf von ΔF hom ( T ) (vgl. (3.7)) führt zu einem starken Anstieg der Keimbildungsrate mit zunehmender Unterkühlung. Gleichzeitig nimmt jedoch die Mobilität der Atome mit sinkender Temperatur ab. In reinen Metallen und metallischen Legierungen dominiert jedoch der Exponentialterm die Temperaturabhängigkeit von I het [188]. Daraus folgt, dass in der Regel die Keimbildungsrate mit steigender Unterkühlung zunimmt.
3.4.1.3 Keimwachstum und Morphologie der Erstarrungsfront Die Art und Weise, wie die gebildeten stabilen Keime wachsen, eine gemeinsame Erstarrungsfront ausbilden, wie sich diese ausformt und somit die Morphologie des während der Erstarrung entstehenden Gefüges ausbildet, hängt wesentlich davon ab, wie die bei der Kristallisation entstehende Wärme abgeführt wird. Für die Abführung der Kristallisationswärme wird grundsätzlich zwischen zwei Fällen unterschieden - dem freien (unterkühlten bzw. richtungsunabhängigen) Wachstum und dem gezwungenen (stabförmigen oder gerichteten) Wachstum. Im ersten Fall liegt eine unterkühlte Schmelze vor, durch welche eine Keimbildung ausgelöst wird. Hierzu ist es notwendig, dass die heterogene Keimbildung an einer Tiegelwand energetisch ungünstiger ist als eine heterogene Keimbildung mit
110
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Wärmestrom Erstarrungsrichtung
T Kristall Schmelze
Ts dT dx > 0
dT dx > 0
z
a)
Zeit
Wärmestrom Erstarrungsrichtung
T Kristall Schmelze Ts
b)
dT dx = 0
dT dx < 0
z
Abb. 3.27 Morphologie der Erstarrungsfront in Abhängigkeit von der Richtung der Wärmeabfuhr aus der Schmelze: a) gerichtete Erstarrung mit facettierter (glatter) Erstarrungsfront, b) freie Erstarrung mit diffuser (ausgebeulter) Erstarrungsfront (adaptiert aus [190])
Partikeln innerhalb der Schmelze. Kristalle wachsen daraufhin mit einer Grenzflächentemperatur oberhalb der Temperatur der sie umgebenden Schmelze. Die entstehende Kristallisationswärme wird in die unterkühlte Schmelze abgeführt, was einen negativen Temperaturgradienten an der Fest-Flüssig-Grenzfläche voraussetzt. Es findet kein Wärmetransport in den gebildeten Kristall statt (Abb. 3.27). Im Fall des gezwungenen Wachstums ist der Temperaturgradient an der FestFlüssig-Grenzfläche positiv. Keime bilden sich durch Kontakt mit der kälteren Tiegelwand oder sind bereits vorhanden. Die beim Wachstum entstehende Kristallisationswärme wird in den gebildeten Kristall abgeführt. Beim freien Wachstum bestimmt die Unterkühlung der Schmelze die Wachstumsgeschwindigkeit und somit die geometrischen Verhältnisse des sich ergebenden Erstarrungsgefüges. Bei gezwungenem Wachstum bestimmt der Wärmefluss durch den sich gebildeten Kristall die Wachstumsgeschwindigkeit, da hierdurch die Grenzflächentemperatur (d. h. die Unterkühlung) bestimmt wird, woraus sich wiederum die geometrischen Verhältnisse des Erstarrungsgefüges ergeben [189]. Mit den unterschiedlichen Wegen der Abführung der Kristallisationswärme sind auch unterschiedliche Morphologien der sich ausbildenden Erstarrungsfront ver-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
111
bunden. Wird die Wärme durch den Kristall abgeführt, besteht für ein individuelles Atom aus der Schmelze der energetisch günstigste Ort für seine Anlagerung an die Oberfläche des Kristalls dort, wo es möglichst viele Bindungen mit Nachbaratomen eingehen kann. Daraus folgt, dass das Füllen von Grübchen oder offenen Kanten gegenüber dem Anlagern auf einer ebenen Atomlage bevorzugt wird, sodass beim Kristallwachstum zunächst immer eine Ebene aufgefüllt wird, bevor mit der nächsten begonnen wird. Dadurch bleibt die Erstarrungsfront auf atomarer Ebene immer glatt und der entstehende Kristall ist facettiert [190]. Dieses facettierte Wachstum tritt jedoch nicht mehr auf, wenn die Wärme statt über den Kristall in die unterkühlte Schmelze abgeführt wird. Für die sich aus der Schmelze an den Kristall anlagernden Atome ist es dann energetisch vorteilhaft, sich in Richtung der unterkühlten Schmelze anzuordnen, weil dort die entstehende Kristallisationswärme am besten abgeführt wird. Dadurch wird das Wachstum von sich aus der ebenen Kristalloberfläche herauslösenden Ausbeulungen (Dendriten) unterstützt. Die dadurch entstehende wellige Erstarrungsfront weist jedoch verschiedene Krümmungen auf, wodurch ihre Grenzflächenenergie nicht mehr der einer ebenen Phasengrenzfläche entspricht. Die auf ein Mol der Schmelze bezogene freie Enthalpie ergibt sich aus g L = h L – T ⋅ s L , wobei h L dem Anteil der Enthalpie und T ⋅ s L dem Anteil der Entropie entspricht. Für den Kristall ergibt sich analog mit g S = h S – T ⋅ s S + σ ⋅ Ω m ⋅ K eine von der Krümmung1 K abhängige, auf das Mol bezogene freie Entropie, wobei σ der spezifischen Grenzflächenenergie und Ω m dem mittleren Molvolumen entspricht. Im thermodynamischen Gleichgewicht sind die partiellen freien molaren Enthalpien von Kristall und Schmelze gleich g L ( T∗ ) = g S ( T∗ ) , wobei T∗ der lokalen Schmelztemperatur an der gekrümmten Phasengrenzfläche entspricht. Durch Einsetzen der einzelnen Beziehungen ineinander ergibt sich: σ ⋅ Ωm ⋅ K Δh - , T∗ = ---------m- – ----------------------Δs m Δs m
(3.13)
wobei Δh m = h L – h S der molaren Schmelzenthalpie und Δs m = s L – s S der molaren Schmelzentropie entsprechen. Beide Größen sind über die Schmelztemperatur T s der ebenen Phasengrenzfläche, für die die Krümmung K = 0 ist, miteinander verbunden Δs m = Δh m ⁄ T s . Dementsprechend lässt sich T∗ auch als σ ⋅ Ωm T∗ = T s – ---------------- ⋅ K Δs m
(3.14)
1. Da sich Krümmung auf eine Fläche im Raum bezieht, wird sie im allgemeineren Fall über die beiden Hauptkrümmungsradien R 1, R 2 ausgedrückt: K = 1 ⁄ R 1 + 1 ⁄ R 2 , wobei beide Radien ortsabhängig sein können [191].
112
3 Struktur metallischer Werkstoffe
in Abhängigkeit von T s ausdrücken. Definiert man mit Γ = σ ⋅ Ω m ⁄ Δs m eine spezifische Kapillarlänge, so lässt sich die relative Abweichung der Schmelztemperatur der gekrümmten von der ebenen Phasengrenzfläche als T∗ – T ΔT ------- = -----------------s = – Γ ⋅ K Ts Ts
(3.15)
ausdrücken. Aus Gleichung (3.15) geht hervor, dass die lokale Schmelztemperatur umso stärker abgesenkt wird, je größer die Krümmung1 der Phasengrenzfläche ist [191]. Durch diese Erniedrigung des Schmelzpunktes an den Spitzen der aus der ebenen Phasengrenzfläche heraustretenden Dendriten wird deren weiteres Wachstum verzögert. Hierdurch entsteht eine sogenannte diffuse Morphologie der Erstarrungsfront, welche regelmäßige Ausbuchtungen besitzt, die eine von dem Grad der Unterkühlung abhängige Geometrie besitzen. In Abb. 3.28 ist schematisch das Temperatur-Zeit-Profil für die Erstarrung einer unterkühlten Schmelze dargestellt. Diese Darstellung nimmt insofern eine Vereinfachung des Sachverhaltes vor, als dass in der Schmelze ein sich zeitlich veränderndes Temperaturfeld vorliegt, dessen Verlauf sehr stark von den Randbedingungen, z. B. dem Volumen, d. h. der räumlichen Ausdehnung der Schmelze, abhängig ist. Wird jedoch angenommen, dass an einem bestimmten Punkt der Schmelze ein idealer Temperaturaufnehmer eingelassen wird, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er weder eine räumliche Ausdehnung besitzt und auch das Temperaturfeld der Schmelze nicht beeinflusst, so ließe sich an diesem Temperatursensor der in Abb. 3.28 schematisch dargestellte Temperatur-Zeit-Verlauf aufnehmen. Aus diesem Verlauf lässt sich erkennen, dass der Prozess der Erstarrung mit Wärmeabführung in die unterkühlte Schmelze in der Regel zweistufig erfolgt. In der ersten Phase (Wiedererwärmungsphase bzw. Rekaleszenz, engl. recalescence) erstarrt die Probe zunächst dendritisch. Infolge dieses schnellen Erstarrungsprozesses wird jedoch ein nicht unbeträchtlicher Betrag an Kristallisationswärme in die Schmelze freigesetzt. Hierdurch kommt es zu einer Wiedererwärmung der Schmelze, bis die Schmelztemperatur T s erreicht wird, wodurch weiterer dendritischer Erstarrung die Triebkraft genommen wird. Die verbliebene Restschmelze erstarrt deshalb erst allmählich in der nun folgenden zweiten Phase (Plateauphase). Die so unter Gleichgewichtsbedingungen erstarrende Restschmelze umgibt dabei die primär erstarrten Dendriten. Der dendritisch erstarrte Anteil nimmt mit dem Grad der Unterkühlung ΔT u zu, wobei sich die Plateauphase verkürzt. Überschreitet die Unterkühlung ΔT u die sogenannte Hypercooling-Grenze ΔT hyp , erstarrt die Probe vollständig während der ersten Phase [190]. 1. Der Begriff der Krümmung wird hierbei als absolute Krümmung und nicht als der Betrag der Krümmung verstanden. Eine positive Krümmung erhält man dabei, wenn der Mittelpunkt eines Kreises, der die Phasengrenzfläche nur an dem Punkt berührt, an dem die Krümmung ermittelt werden soll, in der festen Phase liegt. Liegt der Mittelpunkt dieses Kreises hingegen im Gebiet der Schmelze, handelt es sich um eine negative Krümmung.
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
T
Ts
113
Wiedererwärmung Plateauphase
DT
DThyp
t
Abb. 3.28 Temperatur-Zeit-Profil für die Erstarrung einer unterkühlten Schmelze. Durch das schnelle Dendritenwachstum wird in kurzer Zeit ein erheblicher Betrag an Kristallisationswärme frei, welcher die Restschmelze bis zur Schmelztemperatur erwärmt. Die Restschmelze erstarrt unter Gleichgewichtsbedingungen zwischen den Dendriten in der sich anschließenden Plateauphase. Der dendritisch erstarrte Anteil nimmt mit dem Grad der Unterkühlung ΔT zu. Erreicht die Unterkühlung die sogenannte Hypercooling-Grenze ΔThyp, erstarrt die Probe vollständig dendritisch [190].
3.4.2 Erstarrungsgefüge von Sn-Basis-Loten
3.4.2.1 Experimentelle Untersuchung der Loterstarrung Unter den in der Aufbau- und Verbindungstechnik eingesetzten metallischen Materialien wird besonders die Gefügeausbildung und -entwicklung der für Verbindungen eingesetzten zinnhaltigen Lotwerkstoffe untersucht. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sich die Gefügeausbildung über die technologischen Parameter des Lötprozesses sowie der Verbindungspartnerauswahl beeinflussen lässt, und zum anderen damit, dass die Ausbreitung von Ermüdungsrissen in Lotkontakten durch eine starke Wechselwirkung mit dem Gefüge gekennzeichnet ist. Außerdem ist der Grad der durch thermische Fluktuationen induzierten mechanischen Beanspruchungen sehr stark von den Verformungseigenschaften der Lotwerkstoffe abhängig, welche wiederum mit dem Gefüge korrelieren. Aus diesem Grund kommt dem Verständnis der Gefügeausbildung und -entwicklung in Loten
114
3 Struktur metallischer Werkstoffe
besondere Bedeutung zu, da die mechanischen Eigenschaften der Lotwerkstoffe sehr stark vom Gefüge beeinflusst werden. Für andere Werkstoffe, wie z. B. Stähle [192, 193], Superlegierungen [194] und supraleitende Legierungen [195], existiert eine Reihe von theoretischen Ansätzen, um die Gefügeausbildung während der Erstarrung zu beschreiben. Bisher werden solche Ansätze jedoch noch nicht auf dem Gebiet der Lotwerkstoffe eingesetzt. Zum einen fehlt die Datenbasis für exakte Berechnungen, zum anderen resultiert aus experimentellen Betrachtungen über die Individualität der Gefügeausbildung in benachbarten Kontakten ein genereller Zweifel, ob eine theoretische Beschreibung der Gefügeausbildung überhaupt zu brauchbaren Ergebnissen führt. Aus diesem Grund werden zu Aussagen zur Gefügeausbildung in der Regel qualitative und halbquantitative Aussagen herangezogen, deren Grundlage durch verschiedene Experimente zur Gefügeausbildung und -entwicklung gelegt wird. Ziel vieler Untersuchungen ist es dabei, die in realen Lotkontakten vorzufindenden Gefüge mit solchen aus experimentellen Probekörpern ins Verhältnis zu setzen. Um Aufschluss darüber zu haben, unter welchen Bedingungen eine Erstarrung in Schmelzen verschiedener Zusammensetzung oder Größe erfolgt, wird üblicherweise das Maß der Unterkühlung ΔT u einer Schmelze herangezogen, da diese das bestimmende Maß für die Prozesse der Keimbildung und des Keimwachstums ist (vgl. 3.4.1.2, 3.4.1.3). Zur experimentellen Bestimmung von ΔT u werden üblicherweise die Verfahren der Differentiell-Thermischen-Analyse (DTA) und der Differentiellen-Scanning-Kalometrie (DSC) eingesetzt. Beide Verfahren sind ähnlich und beruhen darauf, dass der Temperaturverlauf einer Schmelze bei der Erstarrung mit dem einer nicht schmelzenden Referenzsubstanz verglichen wird. In Abb. 3.29 ist der schematische Aufbau einer Apparatur zur Durchführung einer DTA gezeigt. Dazu werden Messsubstanz und Referenzsubstanz in einem Heizblock gesteuert aufgeheizt oder abgekühlt, wobei gleichzeitig der Temperaturunterschied zwischen beiden Substanzen gemessen und aufgezeichnet wird. Im Gegensatz dazu wird bei einer DSC die Temperatur der beiden Substanzen während des Abkühlprozesses durch zwei separat geregelte Heizungen gleich gehalten und der Unterschied in der Zuführung von Wärmeenergie bestimmt. Aus den Untersuchungen mit DTA oder DSC lassen sich bestimmte physikalische Parameter, wie der Schmelzpunkt T s , die Unterkühlung ΔT u oder die Schmelzwärme Q c , sehr gut bestimmen. Allerdings haben kommerziell gefertigte Geräte für DTA- oder DSC-Untersuchungen bestimmte Einschränkungen bezüglich der Probengestaltung und der Abkühlbedingungen. Aus diesem Grund sind alternative Experimente notwendig, um einen Zusammenhang zwischen der in der Praxis vorkommenden Gefügeausbildung und der die Erstarrung beschreibenden Parameter zu finden. Die einfachste Möglichkeit, verschiedene Abkühlraten zu erzeugen, besteht in der Erstarrung des Lotes über sogenanntes Abschrecken in Wasser, Luftkühlung und Ofenkühlung. Auf diese Weise erhält man Erstarrungsbedingungen mit sehr weit auseinanderliegenden Abkühl–1 gradienten ( ∂T ⁄ ∂t = { 24; 0,5; 0,08 }Ks [196]). Obwohl diese einfachen Expe-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
115
rimente sehr gut die Wirkung verschiedener Abkühlbedingungen auf die Gefügeausbildung zeigen, lassen sich aufgrund der nicht genau einstellbaren Abkühlbedingungen keine genauen Schlüsse über den Zusammenhang zwischen den für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik relevanten Abkühlgeschwindigkeiten und Gefügeausbildung ziehen. Aus diesem Grund wurde in der Arbeitsgruppe des Autors ein neuer experimenteller Ansatz zur Untersuchung des Erstarrungsverhaltens von Lotwerkstoffen erarbeitet. Dieser umfasst unterschiedliche Aufbauten, mit welchen sich verschiedene Erstarrungsbedingungen einstellen lassen [197]. Ein erster Versuchsaufbau wurde entwickelt, um den generellen Zusammenhang zwischen Abkühlgradient ∂T ⁄ ∂t , Unterkühlung ΔT u und Gefügeausbildung untersuchen zu können. Hierfür wurde ein 80 mm X 80 mm X 84 mm großer Aluminiumblock mit Bohrungen versehen, sodass in 8 mm Standard-Reagenzgläsern befindliches Lot aufgeschmolzen und erstarrt werden kann (Abb. 3.30). Das –6 3 dabei untersuchte Lotvolumen ist mit 1 ⋅ 10 m um etwa zehntausendfach größer als durchschnittliche Lotkontakte. Dieses bewusst gewählte große Volumen dient zum einen dazu, Keimbildungseffekte, welche durch Wechselwirkung mit der Reagenzglaswand entstehen, von der Erstarrung des reinen Lotwerkstoffes trennen zu können. Wesentlich wichtiger ist es jedoch, die entstehenden Gefügemuster in allen Größenniveaus beobachten zu können. Durch zu klein gewählte Probenvolumina besteht immer die Gefahr, nur einen Teil der sich wiederholenden Muster erkennen zu können und dadurch die mit der Erstarrung zusammenhängenden Prozesse nicht vollständig verstehen zu können. Ein wichtiges Anliegen bei der Konzeption des Experimentieraufbaus war die Realisierung einer Abkühlvorrichtung, welche eine simultane Abkühlung mehrerer Proben mit genau definierten Abkühlraten erlaubt. Hierdurch sollte ein VersuchsDT Thermopaar 1
Messsubstanz
Thermopaar 2
Heizer
Referenzsubstanz
Abb. 3.29 Prinzipieller Aufbau einer Apparatur zur Differentiell-Thermischen-Analyse (DTA). Mit einem Heizblock werden Messsubstanz und Referenzsubstanz gesteuert aufgeheizt oder abgekühlt. Gleichzeitig wird der Temperaturunterschied zwischen beiden Substanzen gemessen und aufgezeichnet.
116
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
b)
c)
Abb. 3.30 Vorrichtung zur gezielten Erstarrung von Lot mit verschiedenen Abkühlgradienten: a) Gesamtansicht des Versuchsaufbaus, b) Heiz- und Kühlblock (Aluminium) für 8 in Reagenzgläsern befindliche Lotproben, c) Steuergerät zum gezielten Abkühlen mit konstanten Abkühlgradienten [207]
programm ermöglicht werden, welches sowohl die Gefügeanalyse direkt nach der Erstarrung als auch nach mehreren Auslagerungsschritten ermöglicht. Durch die simultane Abkühlung mehrerer Proben wird gewährleistet, dass alle Proben den gleichen Abkühlprozess durchlaufen haben. Die Verwendung von Reagenzgläsern bot eine einfache Realisierung einer inerten Form zur Herstellung von Gussstücken (Proben) mit den gewünschten Abmaßen ( ∅ = 7 mm / l = 23 mm ) . Die Heizung des Aluminiumblockes erfolgte über Leistungswiderstände, die Kühlung über vier 92 mm große Lüfter. Widerstände und Lüfter wurden über einen OMRON EC5CJK Prozessregler angesteuert. Eine hochlineare Abkühlung konnte im Temperaturbereich von 250°C bis 150°C mit Abkühlraten von 0,35 K/min bis zu 35 K/min erreicht werden. Pro Versuch wurden jeweils 7 identische Proben umgeschmolzen. Die Messung der Temperatur erfolgte durch ein K-Thermopaar im Zentrum der Probe. Die Vergleichstemperatur wurde über ein Thermopaar durch eine gleich große Referenzprobe aus Blei aufgenommen. Um einheitliche Probenvolumina zu erhalten, wurde Stangenlot zunächst in einem Messbecher umgeschmolzen und danach in die erhitzten Reagenzgläser gefüllt. Die auf diese Weise erhaltenen Gussstücke wurden entnommen und so lange abgedreht, bis alle ein einheitliches Gewicht aufwiesen. Diese bearbeiteten Gussstücke wurden dann zur Durchführung des Versuches wieder in die Reagenzgläser eingeführt. Um eine vollständige Durchmischung des Lotes in den Gussstücken, d. h. die Auflösung aller während der Vorpräparation entstandenen Phasenbestandteile, sicherzustellen, wurde dieses zu Beginn des Experiments
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
a)
117
b)
c) Abb. 3.31 Vorrichtung zur gerichteten Erstarrung von Lot: a) Segementheizvorrichtung (Seitenperspektive), b) Segementheizvorrichtung mit Reagenzglas (Draufsicht), c) Zerteilung des aus dem Versuch erhaltenen Lotingots in 5 einzelne Segmente zur Anfertigung von Querschliffen [207]
zunächst für 15 min auf einer Temperatur von T = 250 °C gehalten. Während dieses Zeitraums wurden die Thermopaare in die Proben eingetaucht. Danach erfolgte die Erstarrung gemäß dem für das Experiment angestrebten Abkühlregime. Eine zweite Versuchseinrichtung wurde aufgebaut, um die Gefügeausbildung entlang einer sich gerichtet bewegenden Erstarrungsfront untersuchen zu können. Sie besteht aus einem Aluminiumblock der Größe 40 mm X 40 mm X 115 mm, welcher in 5 gleich große Segmente unterteilt ist (Abb. 3.31). Diese sind mit einem Abstand von 0,3 mm Abstand aufeinander gesetzt und können separat beheizt werden. Die Realisierung der Heizregelung erfolgte analog zum ersten Aufbau. In allen Segmenten befindet sich eine Zentralbohrung für ein 12 mm Standard-Reagenzglas, welches im untersten Segment als Sackloch ausgeführt ist. Für das Experiment wird das Reagenzglas bis zu einer Höhe von 95 mm mit Lot gefüllt, sodass das letzte Segment um 5 mm über das Lot hinausragt. Zur Durchführung der Experimente wird schmelzflüssiges Lot in die ca. 250 °C heiße Apparatur gegossen. Danach erfolgt die Abkühlung, indem zunächst das mittlere Segment, dann die beiden inneren und zuletzt die äußeren Segmente abgekühlt werden In einem dritten Versuchsaufbau wurde eine Messstruktur entwickelt, um den Erstarrungsvorgang von realen Lötstellen auf Leiterplatten untersuchen zu können (Abb. 3.32). Die Grundidee dieses Aufbaus besteht darin, die Temperatur der Löt-
118
3 Struktur metallischer Werkstoffe Thermopaarverstärker
Datenaufnahme und -verarbeitung
+5V
U(therm)(t)
OV
A
D
USB
Datenlogger prog. "Monitor"
U(t)
H(U)
T(t)
-5V
neg. Schenkel (CuNi) pos. Schenkel (Cu)
Lotpaste Cu-Leitbahn Leiterplatte
a)
b)
Abb. 3.32 Messstruktur zur Untersuchung des Erstarrungsvorgangs von realen Lötstellen auf Leiterplatten: a) Prinzip des Messaufbaus, b) Aufbau auf Leiterplatte mit Mess- und Vergleichsstelle [207]
stelle über ein T-Thermopaar aufzunehmen. T-Thermopaare bestehen aus einem Cu- und einem CuNi-Schenkel, wodurch sich die Möglichkeit ergibt, einen der beiden Schenkel als Leitbahn auf der Leiterplatte auszulegen. Über den Kurzschluss der beiden Schenkel durch das Lot der Lötstelle wird genau deren Temperatur aufgenommen. Zur Auswertung des stark nichtlinearen T-Thermopaars wurde ein spezieller Messverstärker aufgebaut, der eine Kalibrierung dieser Temperaturmessanordnung vor dem eigentlichen Experiment ermöglichte. Danach wurde eine Leiterplatte mit einer Lotstellenmessstelle und einer Vergleichsmessstelle präpariert und die Temperaturen der beiden Messstellen während eines Reflowprozesses aufgenommen. Für ein weiteres Experiment wurden kleine Lotplättchen aus einer Folie ausgestanzt, welche zuvor durch mehrere Walzvorgänge aus einer handelsüblichen Lotstange hergestellt wurde. Die Lotplättchen wurden mit verschiedenen Durchmessern ausgestanzt, sodass sich nach dem Umschmelzen Lotkügelchen mit Durchmessern von d = 130 μm, 270 μm, 580 μm, 1100 μm ergaben. Das Umschmelzen erfolgte auf zwei übereinanderliegenden Dickschichtkeramiken, wobei die obere Keramik kreisförmige Aussparungen entsprechend der angestrebten Lotballgröße enthielt (siehe Abb. 3.33). Beim Erstarrungsvorgang wurde durch das Anbringen verschieden großer thermischer Massen unter der Dickschichtkeramik die Abkühlgeschwindigkeit zwischen 0,14 K/s ... 10,9 K/s variiert.
3.4.2.2 Erstarrungsgefüge von Sn-Ag-Cu-Loten Zu Beginn der Untersuchungen lagen vor allem die in [198-201] publizierten Erkenntnisse zur Gefügeausbildung in SnAg- und SnAgCu-Loten vor. Während der Laufzeit des Forschungsprojektes wurden folgende weitere wichtige experimentelle Befunde bzw. theoretische Überlegungen [202-203] veröffentlicht. Die genannten Veröffentlichungen [198-203], welche den Kern des momentanen Ver-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
119
Thermopaare (K-Typ)
Al2O3-Keramik mit Vertiefungen für Lotkugeln
Datenlogger
Heizplatte
a)
b)
Abb. 3.33 Messstruktur zur Untersuchung des Erstarrungsvorgangs von realen Lötstellen auf Leiterplatten: a) Prinzip des Messaufbaus, b) Aufbau auf Leiterplatte mit Mess- und Vergleichsstelle aus [208]
ständnisses zur Gefügeausbildung in SnAg- und SnAgCu-Loten widerspiegeln, konnten durch die nachfolgend beschriebenen Untersuchungen in wichtigen Punkten erweitert werden. Der wesentliche methodische Unterschied zu den bisher publizierten Untersuchungen besteht (analog zu den Kriechuntersuchungen) in der Wahl eines umfangreichen Untersuchungsbereiches für die Probenvolumina, welcher sich von Bulk-Proben mit V = 1.10-6 m3 bis hin zu kleinstvolumigen Lotkügelchen mit V = 1.10-12 m3 erstreckt, wodurch sich im Gegensatz zu vielen publizierten Untersuchungen [198-203], welche sich auf kleinvolumige Lotkugeln beschränken, ein für die Interpretation der Gefügebilder vollständigeres Bild ergibt. Der Gesamtumfang der in [197] beschriebenen Untersuchungen an großen Bulk-Ingots zur Ermittlung des Zusammenhangs zwischen Abkühlrate und Gefügeausbildung betrug 46 Proben, welche metallografisch präpariert und in ca. 1500 lichtmikroskopischen Aufnahmen dokumentiert wurden. In Abb. 3.34 ist die Auswertung der einzelnen Gussstücke exemplarisch dargestellt. Im ersten Schritt wurde eine Gesamtaufnahme des metallografisch bearbeiteten Gussstückes aus ca. 30 Einzelaufnahmen hergestellt, sodass eine Gesamtaufnahme des Gefüges mit 7 einem Bildinhalt von ca. 4 ⋅ 10 Pixeln entsteht. Aus dieser Gesamtaufnahme lässt sich zum einen ein Eindruck von der Gesamterscheinung des Gefüges gewinnen, aber es lassen sich auch Gefügedetails stufenlos herausvergrößern, sodass ein Überblick des Gefüges in jeder beliebigen Größendimension entsteht. Aus den bisher ausgewerteten Daten dieser Untersuchung konnten verschiedene Schlüsse über das Erstarrungsverhalten des SnAgCu-Systems gezogen werden. Im Vergleich mit anderen Untersuchungen [199-201] ergeben sich neue, den bisherigen Erkenntnisstand ergänzende Einsichten zur Gefügeausbildung des SnAgCuLotes. Betrachtet man das sich im SnAgCu-Eutektikum ausbildende Gefüge nicht nur unter einer bestimmten, sondern unter verschiedenen Vergrößerungen (dies ist der wesentliche Unterschied bei der Auswertungsmethodik dieser zu vorangegangenen
120
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.34 Lichtmikroskopisches Gefügebild eines in einem Reagenzglas erstarrten SnAg3,8Cu0,7 Lotes mit Ausschnittsvergrößerung einzelner Bereiche [207]
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
121
Untersuchungen), so ist festzustellen, dass im Gefüge der gleichen Probe zum einen sich wiederholende Strukturmuster in einer Größe von mehreren hundert Mikrometern und zum anderen sich einzelne Strukturelemente im Submikrometerbereich befinden. Anders als in [199] vermutet, wird die Ausbildung bestimmter Muster nicht allein durch die Legierungszusammensetzung, sondern auch durch die gewählten Erstarrungsbedingungen bestimmt. Deshalb kann mit der in [199] getroffenen Annahme, dass aus dem tenären Eutektikum des SnAgCu-Lotes grundsätzlich drei verschiedene Phasen (β-Sn, Ag3Sn, Cu6Sn5) sequentiell in der Reihenfolge α −> α + β −> α + β + γ ausfallen, das unter praxisrelevanten Abkühlraten im SnAgCu-Lot entstehende Gefüge nicht vollständig erklärt werden. Aus den an Bulk-Probekörpern durchgeführten Experimenten geht hervor (siehe Abb. 3.34, Abb. 3.35), dass im Erstarrungsgefüge Ag3Sn-Phasen in Form großer Platten sowie Cu6Sn5-Phasen in Form von Hexagonen oder scherenartigen Strukturen von β-Sn-Dendriten umgeben sind, welche untereinander durch Gebiete umschlossen sind, die aus in einer β-Sn-Matrix eingebetteten Ag3Sn- und Cu6Sn5Partikeln (in Form kleiner Nadeln oder Sphären) bestehen. Die Ausbildung der sehr großen Ag3Sn-Platten bzw. der Cu6Sn5-Hexagone findet um so stärker statt je niedriger die Abkühlraten sind. Bei sehr hohen Abkühlraten wird die Ausbildung dieser Phasen komplett unterdrückt. Bei sehr niedrigen Abkühlraten besteht das Gefüge nur aus diesen Phasen, welche dann in eine β-Sn-Matrix eingebettet sind (vgl. [204]). Die Größe der β-Sn-Dendriten nimmt mit zunehmenden Abkühlraten SnAg3,8Cu0,7
SnAg3,5Cu0,4
SnAg3,0Cu0,5
-0,5 K/min
-0,35 K/min
-0,34 K/min
-35,1 K/min
-33 K/min
-37,4 K/min
Abb. 3.35 Darstellung des Einflusses der Abkühlrate auf die Mikrostruktur großvolumiger Bulkproben aus verschiedenen bleifreien Lotlegierungen anhand von lichtmikroskopischen Gefügebildern (Ausschnittsvergrößerungen) [207].
122
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
b)
Abb. 3.36 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen vom Gefüge von SnAg-Lot: In Abhängigkeit von der Abkühlrate entstehen entweder a) sub-μm-große Sphären (schnelle Abkühlrate) oder b) μm-große Nadeln (langsame Abkühlrate).
ab, wobei sich gleichzeitig die Größe der Ag3Sn, Cu6Sn5-Partikel in den die β-SnDendriten umgebenden Gebieten verkleinert, d. h., es entstehen eher sub-μm-große Sphären als μm-große Nadeln (vgl. Abb. 3.35, Abb. 3.36). Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt auch Swenson [203], welcher - ausgehend von dem von Moon et al. [199] im Jahr 2000 veröffentlichten Phasendiagramm unter Berücksichtigung weiterer in der Zwischenzeit veröffentlichter Erkenntnisse zum Erstarrungsverhalten von SnAgCu-Loten - zu einer Interpretation des Erstarrungsvorgangs gelangt, welche die Reihenfolge der ausfallenden Phasen gegenüber [199] dahingehend erweitert, dass auch monovariante (z.B. β-Sn + Ag3Sn) oder quasieutektische Phasen direkt aus der Schmelze ausfallen können. Als weiterer wichtiger Gesichtspunkt wird in [203] eine unterdrückte β-Sn-Keimbildung als entscheidende Ursache für die sehr hohen Flächenanteile von β-SnDendriten gesehen, welche den Hauptanteil des Gefüges in SnAgCu-Loten ausmachen. Diesen Überlegungen liegen die verhältnismäßig hohen Werte der Unterkühlung, welche für die homogene Keimbildung von β-Sn (ΔT = 0,37 Ts [205]) bzw. die heterogene Keimbildung von β-Sn (ΔT = 0,05 ... 0,08 Ts [199], [201] ) ermittelt wurden, zugrunde (durchschnittliche Werte für Unterkühlung bei heterogener Keimbildung in Metallen liegen bei ΔT = 0,02 Ts ). Ausgehend von der Annahme einer unterdrückten β-Sn-Keimbildung wird in [203] aus einer virtuellen Projektion der im Sn-Ag-Cu-Phasendiagramm aus [199] errechneten Ag3Sn-Cu6Sn5Liquiduslinie die Zusammensetzung der Restschmelze unter Annahme einer spezifischen Unterkühlung für die β-Sn-Keimbildung ermittelt (z. B. Sn-1,5wt%Ag0,25wt%Cu für ΔT = 30 K). Für die Erstarrung dieser Restschmelze wird in [203] davon ausgegangen, dass nach einsetzender Keimbildung aufgrund der hohen Unterkühlung die Bedingungen für ein rasches Wachstum von β-Sn-Dendriten gegeben sind, an deren Phasengrenzfläche zur Schmelze es zu einer erheblichen Anreicherung von Ag und Cu kommt, sodass die Ausscheidung monovarianter (β-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
123
Sn + Ag3Sn bzw. β-Sn + Cu6Sn5) Phasen bzw. ternärer Phasen (β-Sn + Ag3Sn + Cu6Sn5) zwischen den Dendritenarmen aufgrund konstitutioneller Unterkühlung sehr wahrscheinlich erscheint. Aus den Experimenten an Bulk-Probekörpern geht jedoch hervor, dass sich in diesen größeren Volumen im Gegensatz zum Erstarrungsgefüge kleiner Lotbälle durchaus große zusammenhängende Gebiete einer monovarianten (β-Sn + Ag3Sn bzw. β-Sn + Cu6Sn5) bzw. ternären Phase (β-Sn + Ag3Sn + Cu6Sn5) ergeben, welche nicht von β-Sn-Dendriten durchzogen sind. Für die Experimente, in denen die Gefügeausbildung entlang einer vorgegebenen Erstarrungsrichtung untersucht werden sollte, wurde SnAg3Cu0,5-Lot umgeschmolzen. Zusätzlich wurden zwei weitere Proben dieser Legierung mit Zusätzen von 0,14 % Au und 1 % Cu untersucht. In Abb. 3.37 sind die Gefüge des mittleren Segments (Beginn der Erstarrung) und die eines äußeren Segments (Ende der Erstarrung) gegenübergestellt. Hierbei ist zu erkennen, dass sich an der Stelle des zuerst erstarrten Lotes ein ungeordnetes Gefügebild ergibt, während im später erstarrtem Lot eine sehr regelmäßige Anordnung der Gefügebestandteile zu beobachten ist. Eine Zulegierung von 0,14 % Au bewirkte keine signifikante Änderung des Gefügebildes. Eine Zulegierung von 1 % Cu führte zur Ausscheidung großer plattenförmiger Cu6Sn5-Phasen sowohl im zuerst als auch im später erstarrten Lot. Diese waren stets von β-Sn-Dendriten umgeben. Für das vollständige Verständnis des Erstarrungsverhaltens des SnAgCuSystems war eine vergleichende Betrachtung des Erstarrungsvorgangs in räumlich begrenzten Schmelzen notwendig. Aus den Untersuchungen zum Erstarrungsgefüge an kleinstvolumigen Lotkugeln (d = 1100 μm, 590 μm, 270 μm, 130 μm) ergeben sich Anhaltspunkte, welche Schlüsse über den Verlauf von Keimbildung und Keimwachstum in diesen volumetrisch stark begrenzten Schmelzen zulassen. Wie aus den lichtmikroskopischen Aufnahmen im Phasen- und Interferenzkontrast (Abb. 3.38 - Abb. 3.40) hervorgeht, ist das Gefüge der Lotkugeln mit einem Durchmesser von 1100 μm durch einen Kernbereich gekennzeichnet (siehe Abb. 3.38), in welchem sich eine hohe Anzahl kleiner Körner mit einer zueinander möglicherweise in einem Winkel von ca. 60° verteilten Orientierung (vgl. [203]) befindet. Dieser Kern ist von einem Bereich umschlossen, welcher durch wenige große Körner einer ebenfalls um ca. 60° verschobenen Orientierung gekennzeichnet ist. Bezogen auf die metallografische Schliffebene entspricht die Form dieser Körner der von Tortenstücken. Wie aus den summarisch in Abb. 3.40 dargestellten Polarisationsaufnahmen hervorgeht, ergibt sich nicht notwendigerweise die in Abb. 3.38 gezeigte tortenähnliche Erscheinungsform des Gefüges. Sehr oft ergeben sich kompliziertere Erscheinungsformen, die keine einheitliche Beschreibung zulassen. Generell lassen sich jedoch zwei Phänomene erkennen. Zum einen scheint die Größe der Kernzone mit zunehmender Abkühlgeschwindigkeit zuzunehmen, zum anderen nimmt der relative Anteil der Kernzone am Gesamtgefüge mit kleiner werdenden Kugeldurchmessern zu, sodass die Kernzone mit ihren vielen kleinen, definiert zueinander orientierten Körnern in Lotkugeln mit einem Durchmesser von d = 130 μm das gesamte Gefüge ausmacht, wenngleich es auch hier Ausnahmen gibt. Werden die Polarisationsaufnahmen zusammen mit den Auf-
124
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.37 Gefügebilder von SnAg3Cu0,5 Lot mit 0,14% Au Zusatz bei gezielter gerichteter Erstarrung vom mittleren Segment (links) zum äußeren Segment (rechts) [207].
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
125
c) b) a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 3.38 Lichtmikroskopische Aufnahmen im Polarisationskontrast (= a, b, c) und im Phasenindifferenzkontrast (= d, e, f) zur Gegenüberstellung von Korn- und Dendritenstruktur im Erstarrungsgefüge einer kleinvolumigen Lotkugel (1100μm; 1 K/s) aus SnAg3,0Cu0,5 Lot [208]
nahmen im Phasendifferenzkontrast betrachtet (Abb. 3.38, Abb. 3.39), so lässt sich klar ableiten, dass die Erstarrung mit der Bildung einer größeren Anzahl von Keimen in einer Kernzone beginnt, an die sich ein dendritisches Wachstum einer geringen Anzahl von Keimen anschließt. Das Ergebnis der Untersuchungen an den Lotkugeln weist auf einen Größeneffekt in der Erstarrung von Mikroschmelzen hin, welcher sich vermutlich durch eine Erhöhung der für stabiles Keimwachstum notwendigen Unterkühlung bei kleiner werdenden Schmelzen ergibt. In Untersuchungen von Cotts [206] wurde die Erhöhung der zur Erstarrung von SnAgCu-Kugeln notwendigen Unterkühlung durch DTA-Messungen bestimmt. Dabei ergab sich eine Unterkühlung von ca. 60 K für kleinvolumige Flip-ChipKontakte. Die in den eigenen Messungen an Bulkproben (Reagenzglasproben, –6 3 V ≈ 1 ⋅ 10 m ) ermittelten Werte der Unterkühlung lagen im Bereich von 5 ... 10 K. Hierbei muss allerdings beachtet werden, dass aufgrund der großen räumlichen Ausdehnung der Proben, die Messung verschieden von der an kleinen Proben ist. Die Messstelle im Lotvolumen befand sich auf der halben Länge der Probe im Zentrum des Querschnitts. Bei den Messung an einem kleinen Lotkontakt –8 3 (SMD-typische Größe, V ≈ 1 ⋅ 10 m ) auf einer Leiterplatte mit Cu-Metallisierung wurden Werte der Unterkühlung im Bereich von 50 K bestimmt. Das dazugehörige Temperatur-Zeit-Diagramm, welches Aufschluss über die Temperatur des Lotkontaktes gegenüber der Temperatur einer freien (d. h. ohne aufgetragene Lotpaste) Cu-Anschlussfläche gibt, ist in Abb. 3.41 dargestellt. Geht man davon aus, dass die beim Wachstum von stabilen Keimen entstehende Kristallisationswärme über ein Temperaturfeld an der Erstarrungsfront in die unterkühlte Schmelze abgegeben wird, so ergibt sich die Wachstumsgeschwindig-
126
3 Struktur metallischer Werkstoffe
keit in einer genügend großen Schmelze allein aus der Unterkühlung dieser Schmelze, da die Abmessungen der unterkühlten Schmelze gegenüber der charakteristischen Länge dieses Temperaturfeldes einen nahezu unendlichen Raum darstellen. Werden die Abmessungen der Schmelze jedoch verkleinert, so ist der Effekt der Erwärmung der unterkühlten Schmelze vor der Erstarrungsfront durch die abgeführte Kristallisationswärme entsprechend größer. Infolgedessen verkleinert sich der Gradient des Temperaturfeldes so stark, dass kein stabiles Keimwachstum mehr stattfinden kann. D. h., um ein stabiles Keimwachstum zu ermöglichen, ist in sehr kleinen Schmelzen eine höhere Unterkühlung notwendig. Da gleichzeitig die Keimbildungsrate mit der Unterkühlung exponentiell zunimmt, ergibt sich ein Punkt, an dem ein Umschlag zwischen einem Erstarrungsprozess, der durch das Wachstum weniger Keime gekennzeichnet ist, und einem Erstarrungsprozess, bei dem es durch eine größenbedingte hohe Unterkühlung zu einer massiven Zunahme der Keimbildungsrate kommt, stattfindet. Ist diese Vermutung zutreffend, so hängt die Ausbildung des Erstarrungsgefüges bei großen Schmelzen von der Abkühlgeschwindigkeit ab, während es bei kleinen Schmelzen vor allem durch die Abmessungen der Schmelze bestimmt wird. Folgt man den Ergebnissen der Untersuchungen, so liegt der Umschlagpunkt zwischen großen und kleinen Schmelzen für untereutektische SnAgCu-Legierungen sowie für SnAg-Legierungen bei etwa V = 10-11 m3, was einem Kugeldurchmesser zwischen 300 ... 500 μm entspricht. Eine Ausnahme bildet jedoch die SnAgCu-Legierung mit eutektischer
a) d = 130 μm / 1,1 K/s
b) d = 270 μm / 1,1 K/s
d) d = 1100 μm / 1,1 K/s
e) Ingot / 0,15 K/s
c) d = 590 μm / 1,1 K/s
Abb. 3.39 Lichtmikroskopische Aufnahmen (Phasenindifferenzkontrast) zur Darstellung des Einflusses des Lotvolumens auf die Größe der β-Sn Dendriten (SnAg3,0Cu0,5 Lot). Gezeigt werden Querschliffe von kleinvolumigen Lotkugeln mit Durchmessern von (d = 1100 μm, 590 μm, 270 μm, 130 μm) und ein Querschliff einer großvolumigen Reagenzglasprobe [208].
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
a)
b)
c)
d)
e)
f)
127
Abb. 3.40 Polarisationsaufnahmen von Lotkugeln aus SnAg3,5 Lot (linke Spalte, Bilder a, c, e) und von Lotkugeln aus SnAg3,7Cu0,8 Lot (rechte Spalte, Bilder b, d, f). Die Kugelgrößen betragen 130 μm (Bild a,b); 270 μm (Bild c,d) und 1100 μm (Bild e,f) [209].
Zusammensetzung (SnAg3,8Cu0,7), welche ausschließlich aus wenigen dendritisch erstarrten Körnern zu bestehen scheint. Bisher ist ungeklärt, weshalb bei dieser Legierungszusammensetzung ein solcher Effekt auftritt. Aus den Ergebnissen der in [197, 208] beschriebenen Grundsatzuntersuchung ergeben sich durch den Vergleich mit den Gefügen in realen kleinvolumigen Lot-
128
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.41 Erstarrungsdiagramm an Lotkontakten [207]
kontakten folgende Erkenntnisse. Bei gleicher Abkühlrate ergibt sich in kleinvolumigen Lotkontakten ein feineres Gefüge als in Bulkproben, d.h. kleinere Dendriten und kleinere Ag3Sn-, Cu6Sn5-Partikel. Dennoch können sich sehr große Ag3Sn-, Cu6Sn5-Platten in diesen sehr kleinen Volumen bilden. In Übereinstimmung mit den in [201] veröffentlichten Ergebnissen ist zu schlussfolgern, dass die für die Bildung der β-Sn-Phasen notwendige Unterkühlung bei kleiner werdenden Schmelzen zunimmt, während die Unterkühlung zur Bildung großer Ag3Sn-, Cu6Sn5-Platten größenunabhängig ist. Dies bedeutet, dass in kleinvolumigen Kontakten grundsätzlich andere Gefüge entstehen als in Bulkproben. Die zwischen benachbarten Lotkontakten beobachteten unterschiedlichen Gefüge lassen sich offensichtlich auf unterschiedliche Verläufe der Erstarrungsfronten in diesen Kontakten zurückführen. Ursache der unterschiedlichen Startpunkte der Erstarrung könnte heterogene Keimbildung an den zuerst entstehenden Ag3Sn-, Cu6Sn5-Platten sein. Das Zulegieren von Cu führt zum Ausfällen großer Cu6Sn5-Platten bzw. Hexagonen, ohne dass es zu signifikanten Änderungen des restlichen Gefügebildes kommt.
3.4.2.3 Erstarrungsgefüge von Sn-Pb-Loten Ausgangspunkt für die in [210] durchgeführten Untersuchungen zum Erstarrungsverhalten von Sn-Pb-Loten waren Gefügeinhomogenitäten, welche in FlipChip-Kontakten gefunden wurden. Hierzu wurden zunächst kleinvolumige Kontakte von Flip-Chip-, CSP- bzw. μBGA-Bauelementen analysiert. Im Rahmen der in [12] durchgeführten Arbeiten wurden diese Analysen durch generelle Untersuchungen an Schmelzen unterschiedlicher Volumen vervollständigt, um Aufschluss
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
129
darüber zu erhalten, ob das in Flip-Chip-Kontakten erstarrte Lot bestimmte mikrostrukturellen Besonderheiten gegenüber dem SnPb37-Lot in größeren Volumen (V > 10-9 m3) hat. Hierzu wurde handelsübliches LSn62-Lot aufgeschmolzen und dann in Lotvolumina zwischen 10-9 m3 < V < 10-8 m3 erstarrt. Die Erstarrung des Lotes erfolgte zum einen an Luft, d. h. normale Abkühlrate, und zum anderen in Wasser, d. h. hohe Abkühlrate. Die durch diese beiden Erstarrungsbedingungen entstandenen Mikrostrukturen sind in Abb. 3.42 dargestellt. Das Gefüge des in Wasser abrupt erstarrten Lotes erscheint wesentlich feiner als das des in Luft normal erstarrten. Werden die Größen einzelner Phasengebiete miteinander verglichen, so fällt auf, dass im Gefüge des schnell erstarrten Lotes die Größe einzelner Phasengebiete gering streut und die Phasengebiete eine globulare Form aufweisen, während im Gefüge des normal erstarrten Lotes sehr starke Größenunterschiede zwischen einzelnen Phasengebieten auftreten, welche zum Teil eine laminare Form aufweisen. Der markanteste Unterschied zwischen beiden Gefügen besteht in der Form der Bleiausscheidungen. Im Fall schnell erstarrten Lotes sind diese kreuzförmig (bzw. dendritenartig) und im Fall normal erstarrten Lotes sind sie kugelförmig. Diese Besonderheit der in Abhängigkeit von der Abkühlgeschwindigkeit im Gefügebildes von SnPb-Lot auftretenden großen Bleiausscheidungen lassen sich verstehen, wenn die in [211] ermittelten Werte für die zur Keimbildung einer Komponente α notwendigen Unterkühlung in einem zweiphasigen System mit und ohne Anwesenheit einer zweiten Komponente β , welche in Tabelle 3.3 zusammengefasst sind, betrachtet werden. Hieraus wird deutlich, dass die in den eutektischen und naheutektischen Zinn-Blei-Legierungen zu beobachtenden Bleiausscheidungen aufgrund des nichtreziproken Keimbildungsverhaltens des SnPb-Systems entstehen. Während Zinn bei Anwesenheit von Blei eine hohe Unterkühlung (ΔT = 55 K) benötigt, genügt Blei bei Anwesenheit von Zinn eine geringe Unterkühlung (ΔT =0 K ... 0,5 K) zur Keimbildung [211]. Durch dieses nichtreziproke Keimbildungsverhalten bilden sich bei der Erstarrung eutektischen Blei-ZinnLotes zuerst Keime der bleireichen Phase. Da bei der Keimbildung Wärme freigesetzt wird, verlangsamt sich die Abkühlung, sodass zunächst ein Keimwachstum der bleireichen Phase auftritt, bevor die Schmelze so weit unterkühlt ist, dass auch die zinnreiche Phase Keime bildet. Durch die sich zuerst bildenden bleireichen Ausscheidungen verschiebt sich die Zusammensetzung der noch flüssigen Restschmelze. Erreicht diese ein Verhältnis von 80wt%Sn-20wt%Pb, so ist die notwendige Unterkühlung für die Keimbildung von bleireicher und zinnreicher Phase gleich [212, 213]. Aufgrund dieses dargestellten Mechanismus weist das Gefüge von realen Flip-Chip-Kontakten (Abb. 3.43) ohne Einbeziehung der Bleiausscheidungen eine übereutektische Zusammensetzung zwischen (70wt% ... 80wt%)SnPb auf. Werden lokale Bereiche betrachtet, so bestehen diese entweder aus einem übereutektischen Zinn-Blei-Lot oder aus Bleiausscheidungen. Die Zusammensetzung des übereutektischen Lotes ist im gesamten Volumen gleich, schwankt aber zwischen verschiedenen Proben im Bereich von 70wt% bis 80wt% Zinnanteil. Die Zusammensetzung der Bleiausscheidungen beträgt 19,2wt%Sn-Pb [215]. Durch
130
3 Struktur metallischer Werkstoffe
In Wasser (schnell) erstarrtes Lot
An Luft (normal) erstarrtes Lot
a) Übersichtsbild typisches Gefüge (280 X)
b) Übersichtsbild typisches Gefüge (360 X)
c) Detailbild typisches Gefüge (2800 X)
d) Detailbild typisches Gefüge (2800X)
e) Detailbild Bleiausscheidung (5500 X)
f) Detailbild laminarer Bereich (2800X)
Abb. 3.42 Mikrostruktur (SE-Kontrast) erstarrten SnPb37-Lotes (V > 10-9m3), linke Seite: schnelle Erstarrung in Wasser; rechte Seite: normale Erstarrung an Luft [12]
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
131
Tabelle 3.3 Unterkühlung ΔT für die Keimbildung der Komponente α bei gleichzeitiger Anwesenheit der Komponente β aus [211] System
ΔT von α
α − β
(max.)
ΔT von α bei Anwesenheit von β (unter α-Liquidus)
Pb - Sn
72 K
0,5 K
Sn - Pb
52 K
> 55 K
Ag3Sn - Sn
-
> 50 K
Sn - Ag3Sn
35 K
>42 K
Sn - Cu6Sn5
50 K
> 45 K
die aufgrund des nichtreziproken Keimbildungsverhaltens des SnPb-Systems und des mehrfachen Aufschmelzens des Zinn-Blei-Lotes bei der Herstellung und Verarbeitung zustande kommenden Mechanismen bei der Loterstarrung ist die ursprüngliche Zusammensetzung des Lotes ohne Einfluss auf das später in den Lotkontakten entstehende Gefüge. Der die Materialeigenschaften prägende Hauptteil an übereutektischem Lot hat im Mittel, unabhängig von der Ausgangszusammensetzung, die gleiche Zusammensetzung, da sich diese aus dem nichtreziproken Keimbildungsverhalten des SnPb-Systems ergibt [12]. Dadurch hat z. B. die Ausgangszusammensetzung von SnPb-Bumps keinen Einfluss auf die spätere Zusammensetzung des Gefüges in den daraus gefertigten FlipChip-Kontakten. Allerdings kann durch extreme Abkühlraten eine solche Unterkühlung erzielt werden, dass die Bildung von Bleiausscheidungen unterbunden wird und ein homogenes Gefüge mit der Lotzusammensetzung des Flip-ChipBumps im gesamten Kontakt entsteht [210]. Um diese zunächst auf Flip-Chip-Kontakte bezogenen Aussagen zu verallgemeinern, wurden verschiedene Analysen vorgenommen, um festzustellen, welches Gefüge sich in einem produktionstypischen Lötprozess in realen Bauelementekontakten einstellt. Hierzu wurden verschiedene, auf eine FR4-Leiterplatte gelötete Bauelemente zusammen mit einem Flip-Chip-Probekörper in einem Reflow-Ofen umgeschmolzen. Um das zweite Aufschmelzen der Lotkontakte zu garantieren, wurde das SMT-typische Temperaturprofil des Reflow-Ofens in allen Zonen um 30 K angehoben. Die untersuchten Bauelemente bestanden aus einem μBGA, einem CSP und einem TC1 (Testchip). Die aus dem zweiten Umschmelzen entstandenen Gefüge sind in Abb. 3.43 dargestellt. Daraus ist abzulesen, dass zwar zwischen den Flip-Chip-Kontakten, CSP- und μBGA-Kontakten Unterschiede im Gefüge bestehen, dass aber der auf Leiterplattenmetallisierung gelötete Flip-Chip sich nicht von dem auf Si-Metallisierung gelöteten Flip-Chip unterscheidet. Werden weiterhin die Gefüge der Realkontakte mit denen aus dem umgeschmolzenen Bulkmaterial verglichen, so ist festzustellen, dass das Gefüge der Flip-Chip-Kontakte zwar Bleiausscheidungen derselben Form und Größe wie die an Luft erstarrte
132
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a) Flip-Chip-Kontakt (Si auf FR4) Reflow-Ofen gelötet (420 X)
b) Flip-Chip-Kontakt (Si auf Si) Reflow-Ofen gelötet (390 X)
c) microBGA-Kontakt (Si auf FR4) Reflow-Ofen gelötet (140 X)
d) gestreckter CSP-Kontakt (Si auf FR4) Reflow-Ofen gelötet (110 X)
e) Flip-Chip-Kontakt (Si auf Si) SET 950 mit N2-Kühlung gelötet (280 X)
f) Flip-Chip-Kontakt (Si auf Si) SET 950 ohne Kühlung gelötet (280 X)
Abb. 3.43 Mikrostrukturen (BSE-Kontrast) realer Bauelementelotkontakte aus eutektischem bzw. naheutektischem Blei-Zinn-Lot, gelötet im Reflow-Ofen (obere 4 Bilder), im Flip-Chip-Bonder SET 950 (untere 2 Bilder) [12]
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
133
ausscheidungen) aber einen ganz anderen Charakter trägt. Die im Gefüge der CSPund μBGA-Kontakte zu beobachtenden Bleiausscheidungen besitzen eine Kreuzform (bzw. eine Dendritenform), sind aber wesentlich größer als die der in Wasser erstarrten Schmelze des Lotdrahtes. Kreuzförmige Bleiausscheidungen wurden auch in den mit dem SET 950-Bonder gelöteten Flip-Chip-Kontakten beobachtet, wenn diese durch das Einleiten eines kalten Gasstroms beschleunigt abgekühlt wurden. Beim normalen Abkühlen in stehender Luft waren die Gefüge der im FlipChip-Bonder SET 950 mit denen der im Reflow-Ofen gelöteten Flip-Chip-Kontakte vergleichbar. Aus den durchgeführten Experimenten zur Erstarrung des ZinnBlei-Lotes in Flip-Chip-Kontakten können keine weitreichenden Schlüsse gezogen werden, da die Möglichkeit einer lokalen Temperaturmessung (unterhalb eines Bondpads) auf dem verfügbaren Testchip TC1 [214] fehlte. Aus dem Vergleich zwischen dem Gefüge eines Flip-Chip-Kontaktes mit dem von CSP-, μBGA-Kontakten kann abgeleitet werden, dass im Zinn-Blei-Lot der Bumps bereits heterogene Keimbildner für Blei vorhanden sind. Ansonsten würden Flip-Chip-Kontakte, welche das kleinste Volumen besitzen und damit voraussichtlich die höchste Abkühlrate im Lot hervorrufen, nicht genauso große und genauso geformte Bleiausscheidungen besitzen wie die sehr viel voluminösere LSn62- Schmelze, welche ein um den Faktor 104 größeres Volumen besitzt und dadurch wahrscheinlich sehr viel langsamer erstarrt.
3.4.2.4 Volumenabhängigkeit des Sn-Ag-Cu- und des Sn-Pb-Systems Aus dem Vergleich des in 3.4.2.2 dargestellten Sn-Ag-Cu-Systems und des in 3.4.2.3 dargestellten SnPb-Systems wird ersichtlich, dass das sich einstellende Gefügebild bei ersterem vorrangig vom Schmelzvolumen abhängig ist, während das sich einstellende Gefügebild bei letzterem vor allem von der Abkühlgeschwindigkeit bestimmt wird, wobei zu beachten ist, dass bei großen Volumen die Abkühlgeschwindigkeit auch beim Sn-Ag-Cu-System ein wichtiger Faktor ist, der allerdings bei abnehmendem Schmelzvolumen an Einfluss verliert. Diese deutlichen Unterschiede in der Größenabhängigkeit des Gefügebildes im Sn-Ag-Cu-System gegenüber dem Sn-Pb-System lassen sich verstehen, wenn die in [211] ermittelten Werte für die zur Keimbildung einer Komponente α notwendige Unterkühlung in einem zweiphasigen System mit und ohne Anwesenheit einer zweiten Komponente β , die in Tabelle 3.3 zusammengefasst sind, untereinander verglichen werden. Hieraus wird deutlich, dass sich die für die Keimbildung einer Phase im Sn-Ag-Cu-System notwendigen Unterkühlungen der einzelnen Komponenten kaum unterscheiden, unabhängig davon, ob eine Komponente allein vorliegt oder mit einer anderen Komponente wechselwirkt. Hierdurch wird die für die Keimbildung notwendige Unterkühlung vor allem durch das Schmelzvolumen bestimmt, da dieses wiederum den Verlauf des Temperaturfeldes vor der Erstarrungsfront bestimmt. Demgegenüber wird in den eutektischen und naheutektischen Zinn-Blei-Legierungen die Pb-Keimbildung durch das nichtreziproke Keimbil-
134
3 Struktur metallischer Werkstoffe
dungsverhalten des SnPb-Systems bestimmt. Der einzige Weg, die Dominanz des nichtreziproken Keimbildungsverhaltens auf die Gefügeherausbildung zu unterdrücken, besteht in der Erzeugung sehr hoher Unterkühlungswerte. Im betrachteten Größenbereich sind die aufgrund geometrischer Begrenzungen erreichten ungezwungenen Unterkühlungen offensichtlich nicht so groß, dass eine signifikante Veränderung der Erstarrungsreaktion auftritt, woraus sich die relative Unabhängigkeit der Gefügeausbildung vom Schmelzvolumen erklären ließe. Ein anderer Unterschied zwischen dem Sn-Ag-Cu-System und dem Sn-Pb-System ergibt sich aufgrund der mit dem nichtreziproken Keimbildungsverhalten des Sn-Pb-Systems verbundenen Entmischung der Restschmelze während des Erstarrungsprozesses. Diese bewirkt eine relative Unabhängigkeit der Erstarrungsreaktion von der Ausgangszusammensetzung. Im Gegensatz dazu gibt es beim Sn-Ag-Cu-System eine starke Abhängigkeit der Erstarrungsreaktion von der Ausgangszusammensetzung, sodass das Erstarrungsgefüge sich qualitativ sehr stark ändern kann, wenn eine Komponente eine gegenüber dem Eutektikum höheren Anteil an der Legierung hat.
3.5 Gefügeveränderung 3.5.1 Gefügeveränderung durch thermische Belastung
3.5.1.1 Kornwachstum Wie in 3.2.3.4 dargestellt wurde, besitzen Korngrenzen in Abhängigkeit vom Missorientierungswinkel eine Freie Energie, welche gleichzeitig eine Triebkraft für eine Neuanordnung von Körnern darstellt mit dem Ziel, diese Freie Energie z. B. durch die Schaffung von Σ3 -Korngrenzen zu minimieren. Normales Kornwachstum führt in der Regel zu einer uniformen Gefügeänderung, d. h., die Korngrößenverteilung bleibt unabhängig von der absoluten Korngröße und der Wachstumszeit gleich. Die Wachstumsgeschwindigkeit wird vor allem durch die Faktoren Temperatur, gelöste Mischkristallatome bzw. Ausscheidungen, Strukturgröße und Gefügetextur bestimmt. Die Temperatur ist dabei der Hauptfaktor, da sie die Korngrenzenmigration von Großwinkelkorngrenzen über deren Mobilität bestimmt. Korngrenzen können durch gelöste Mischkristallatome besonders aber durch Ausscheidungen gepinnt und damit unbeweglich werden, wodurch ein Kornwachstum erheblich gebremst werden kann. Eine starke Verlangsamung setzt auch dann ein, wenn Körner größer als charakteristische Strukturgrößen, z. B. die Dicke eines Bleches oder eines Films, werden, da das Wachstum in nur zwei Dimensionen gegenüber dem allseitigen Wachstum eine wesentlich geringere Triebkraft hat. Ähnlich liegt der Fall in stark texturierten Gefügen, welche eine hohe Zahl an Kleinwinkelkorngrenzen aufweisen. Aus theoretischen Überlegungen lässt sich
3.5 Gefügeveränderung
135
ableiten, dass die mittlere Korngröße R einem parabolischem Wachstumsgesetz folgen sollte [165] R = α⋅ t
(3.16)
Demgegenüber zeigen experimentelle Ergebnisse, dass eine allgemeinere Formulierung zur Beschreibung des Kornwachstums in der Form R = α⋅t
1⁄n
(3.17)
notwendig ist, wobei α ein Vorfaktor ist und n als Kornwachstumsexponent bezeichnet wird. Typische Werte für n liegen zwischen 2 und 4 [165]. In Abb. 3.44 ist das Phänomen des Kornwachstums am Beispiel des SnPb-Lotes gezeigt. Aufgrund des zweiphasigen Gefüges lassen sich die Wachstumsprozesse durch die damit verbundenen Phasenvergröberungen gut beobachten. Die Sichtbarmachung der Körner im Ausgangszustand ist schwierig, da diese sehr klein sind und unregelmäßige Korngrenzen besitzen. Es ist zu erkennen, dass aufgrund der hohen homologen Materialtemperaturen Kornvergröberungsreaktionen bereits in erheblichem Maße bei Raumtemperatur stattfinden und daher in Lotkontakten elektronischer Aufbauten kein Phänomen ist, welches unbedingt an das Vorhandensein hoher Betriebstemperaturen gekoppelt ist.
3.5.1.2 Ostwaldreifung Die Ostwaldreifung behandelt die Vergröberung von Phasen, z. B. Ausscheidungen, in einem Zweiphasengemisch durch Umlösung. Die Theorie der Ostwaldreifung wurde Anfang der sechziger Jahre von Lifshitz, Slyozov [217] und Wagner [218] entwickelt. Die Bezeichnung Ostwaldreifung geht auf Wilhelm Ostwald [219] zurück, der bei der Untersuchung von HgO-Niederschlägen in Wasser entdeckte, dass kleinere Teilchen eine größere Löslichkeit haben als große. Als Ursache für dieses Phänomen benannte er die Abhängigkeit des chemischen Potenzials eines Teilchens von seinem Radius. Wird eine zweiphasige ausscheidungsgehärtete Legierung betrachtet, so ist festzustellen, dass das Gefüge sich nicht im Gleichgewicht befindet, obwohl die Konzentration der β -Phase in der Matrix α durch die Entmischung während der Ausscheidungsreaktion den Wert der Löslichkeit c β erreicht hat. Ursache hierfür ist die in den α – β -Phasengrenzflächen befindliche Freie Energie, welche durch Reifung, d. h. dem Wachstum größerer Ausscheidungen unter Verbrauch kleinerer Ausscheidungen, minimiert werden soll. Werden zwei kugelförmige Ausscheidungen mit den Radien r 1, r 2 betrachtet, so unterscheiden sich ihre chemischen Potenziale um
136
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
Vergrößerung x500
b)
Vergrößerung x500
c)
Vergrößerung x2000
d)
Vergrößerung x2000
Abb. 3.44 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von kombinierter Korn- und Phasenvergröberung an Flip-Chip-Kontakten aus eutektischem SnPb-Lot: a) Querschliff eines Flip-ChipKontaktes im Ausgangszustand und b) nach 5 Jahren Lagerung des Querschliffs bei Raumtemperatur, c) Ausschnittsvergrößerung eines Flip-Chip-Kontaktes im Ausgangszustand mit feinen laminaren Phasenstrukturen, d) Ausschnittsvergrößerung eines Flip-Chip-Kontaktes aus Bild b)
Δc β 1 – ---1 · = kT ⋅ -------Δμ p = 2 ⋅ E αβ ⋅ Ω ⋅ § ---©r r ¹ cβ 1
(3.18)
2
Durch den Konzentrationsunterschied Δc β = c β ( r 1 ) – c β ( r 2 ) in der Matrix α zwischen gelösten β -Teilchen unterschiedlichen Radius kommt es zu einem Diffusionsstrom, in dessen Resultat das größere Teilchen durch Auflösung des kleineren wächst, bis c β ( r → ∞ ) = c ∞ erreicht wird. Befinden sich in der Matrix viele willkürlich räumlich verteilte Teilchen unterschiedlichen Radius, so lässt sich aus der Gibbs-Thomson-Gleichung ableiten, dass es einen kritischen Radius r c gibt, der die Gleichgewichtskonzentration mit der Matrix charakterisiert. Teilchen mit einem in Vergleich zu r c geringeren Radius lösen sich auf, während Teilchen mit
3.5 Gefügeveränderung
137
einem größeren Radius wachsen. Infolge dieses Prozesses nimmt aber gleichzeitig auch r c zu. Die Beschreibung dieses sehr komplexen Umlösungs- und Wachstumsprozesses gelang erstmalig durch die Arbeiten von Lifshitz, Slyozov [217] und Wagner [218] (LSW-Theorie). Hierbei wurde vereinfacht angenommen, dass die Matrix eine stark verdünnte Lösung der β -Phase in der α -Phase ist, d. h., dass das Volumen der Ausscheidungen sehr klein ist und dass die Teilchen nur mit einer unendlichen Matrix wechselwirken. Weiterhin wird von der Annahme ausgegangen, dass die Entmischung fast beendet ist und die Übersättigung der Lösung daher annähernd null ist. Diese Annahme beschränkt die LSW-Theorie auf die späten Stadien der Entmischung, welche kurz nach der Erstarrung von mehrphasigen Schmelzen nicht notwendigerweise erreicht sind. Vereinfachend wird außerdem eine linearisierte Gibbs-Thomson-Gleichung verwendet, die die Konzentration in der Nähe der Ausscheidungen beschreibt. Unter Verwendung dieser Näherungen ergibt die LSW-Theorie eine Proportionalität zwischen dem mittleren Radius der Ausscheidungen und der Zeit 3
r – r0
3
2
8 ⋅ γ αβ ⋅ D ⋅ Ω ⋅ c ∞ = ---------------------------------------------- ⋅ t = C LSW ⋅ t , 9⋅k⋅T
(3.19)
wobei r der mittlere Ausscheidungsradius zur Zeit t und r 0 der anfängliche mittlere Ausscheidungsradius ist, D dem Diffusionskoeffizienten entspricht, γ αβ die spezifische Grenzflächenenergie darstellt und Ω das mittlere Atomvolumen ist. 1/3
Der durch die LSW-Theorie vorausgesagte t -Zusammenhang wurde nicht in allen Fällen bestätigt [220]. Die beobachteten Größenverteilungen sind generell breiter und symmetrischer als die Voraussagen der LSW-Theorie. Weiterhin zeigte sich, dass die LSW-Konstante vom Volumenanteil der Ausscheidungen abhängig ist.
Konzentration c(r)
r < rc
c(rc)
r > rc
Beliebiger Ort der Teilchen in einer Matrix
Abb. 3.45 Konzentrationsgefälle zwischen verschiedenen Phasenteilchen
138
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
Vergrößerung x3000
b)
Vergrößerung x3500
Abb. 3.46 Rasterelektronenmikroskopische Gefügeaufnahmen von SnAgCu-Flip-ChipKontakten (Querschliff): a) Erstarrungsgefüge, b) Gefüge nach 1500 h thermischer Auslageung bei 150°C. Aus dem Vergleich beider Bilder lässt sich die Vergröberung von kleinen Phasenteilchen durch Ostwaldreifung erkennen.
3.5.1.3 Wachstumserscheinungen an Mehrphasengrenzflächen Während die bisher besprochenen Vergröberungserscheinungen eine intrinsische Gefügeveränderung beschreiben, ist es in Strukturen der Aufbau- und Verbindungstechnik oft auch notwendig, Gefügeveränderungen in Werkstoffverbunden beschreiben zu können. Ein typisches Beispiel für solche Werkstoffverbunde sind Sn-haltige Lotkontakte auf Cu-Metallisierungen, die eine Schichtfolge CuMetallisierung / Cu3Sn-Phase / Cu6Sn5-Phase / Sn-haltiger-Lotwerkstoff aufweisen. Langfristig ist dabei zu beobachten, dass in Abhängigkeit von der Betriebstemperatur die Schichtdicken der Cu3Sn-Phase und der Cu6Sn5-Phase unter Verbrauch von Cu aus der Metallisierung und Sn aus dem Lotwerkstoff kontinuierlich in ihrer Schichtdicke zunehmen. Grundlage zur Beschreibung der Kinetik der Schichtdickenzunahme ist das diffusionsgesteuerte Wachstum von intermetallischen Phasen. Dabei wird die thermische Aktivierung der Diffusion durch den Arrhenius-Ansatz berücksichtigt. Dies führt zur Annahme des parabolischen Wachstumsgesetzes (vergleichbar mit Kornwachstum, siehe Gleichung (3.16)) mit einer von der Temperatur abhängigen Wachstumskonstante k: Q d = k ⋅ t mit k = k 0 ⋅ exp § – ----------· , © k ⋅ T¹
(3.20)
wobei d die Schichtdicke der entsprechenden Phase ist. Bei einem Mehrphasensystem, wie es in der Cu / Sn-Grenzfläche vorkommt, kann es in Abhängigkeit von der Temperatur jedoch dazu kommen, dass eine Phase unter Verbrauch der angrenzenden Phase wächst, wodurch kompliziertere Formulierungen für das
3.5 Gefügeveränderung
a)
Vergrößerung x3000
b)
139
Vergrößerung x3500
Abb. 3.47 Rasterelektronenmikroskopische Gefügeaufnahmen von der Phasengrenzfläche zwischen Cu-UBM und SnAgCu- Lot in einem Flip-Chip-Kontakt (Querschliff): a) Grenzfläche nach dem Löten, b) Grenzfläche nach 1500 h thermischer Auslagerung bei 150°C. Aus dem Vergleich beider Bilder lässt sich das Wachstum der intermetallischen Sn5Cu6-Phase und Cu3SnPhase unter Verbrauch der Cu-Metallisierung erkennen. Die Sn5Cu6-Phase und Cu3Sn-Phase lassen sich nicht unterscheiden, da die Bilder im Sekundärelekronenkontrast aufgenommen wurden.
Wachstumsgesetz notwendig werden. In Abb. 3.46 sind rasterelektronenmikroskopische Gefügeaufnahmen von der Phasengrenzfläche zwischen Cu-UBM und SnAgCu- Lot in einem Querschliff eines Flip-Chip-Kontaktes dargestellt. Aus den Bildern lässt sich das Wachstum der intermetallischen Sn5Cu6-Phase und Cu3SnPhase unter Verbrauch der Cu-Metallisierung nachvollziehen.
3.5.2 Gefügeveränderung durch thermisch-mechanische Belastung
3.5.2.1 Rekristallisation Der Umstand, dass die während des Betriebs in elektronischen Geräten auftretenden Beanspruchungen einen kombinierten thermisch-mechanischen Charakter besitzen, führt zu spezifischen Prozessen bei der Gefügeentwicklung von Werkstoffen, welche zum Aufbau der entsprechenden Strukturen verarbeitet wurden. Während durch eine reine thermische Beanspruchung vor allem Prozesse des Wachstums intermetallischer Phasen an Grenzflächen, der Vergröberung intermetallischer Ausscheidungen durch Ostwaldreifung und des Kornwachstums ausgelöst werden, kommt es bei einer kombinierten thermisch-mechanischen Beanspruchung zum komplexen Prozess der Rekristallisation, d. h. der Neubildung des Gefüges im festen Zustand (ähnlich der Gefügeausbildung durch Kristallisationsvorgänge bei Erstarrung einer Schmelze, vgl. 3.4). Obwohl Rekristallisationsprozesse in allen kristallinen Materialien auftreten, d. h. z. B. in natürlichen (geologi-
140
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 3.48 Gefügeentwicklung durch kombinierte thermisch-mechanische Beanspruchung: a) kaltverformter Zustand, b) Erholung, c) beginnende Rekristallisation, d) vollständige Rekristallisation, e) Kornwachstum, f) anormales Kornwachstum (adaptiert aus [165])
schen) Gesteinsbewegungen als auch bei der Verarbeitung technischer Keramiken, wird dieses Phänomen vor allem in Zusammenhang mit Umformprozessen und Wärmenachbehandlung von metallischen Werkstoffen besprochen, da hier der Hauptteil der technischen Anwendung liegt, welcher darauf ausgerichtet ist, eine Gefügeoptimierung typischer Umformprodukte, z. B. von Walzblechen, zu erreichen. In diesem Kontext lässt sich das Zusammenwirken verschiedener Prozesse bei der Gefügeentwicklung, wie sie in Abb. 3.49 dargestellt sind, am einfachsten illustrieren. In einem ersten Schritt erhöht sich die Freie Energie des kristallinen Materials infolge der durch Kaltverformung eingebrachten Baufehler (vor allem Versetzungen), welche den Werkstoff in einen thermodynamisch instabilen Zustand versetzen (Abb. 3.48 a). Bei niedrigen homologen Materialtemperaturen, in denen atomistische Ausgleichprozesse nur sehr langsam vonstattengehen, kann dieser instabile Zustand lange aufrechterhalten werden. Erst durch thermische Aktivierung, d. h., wenn das Material bei einer höheren homologen Temperatur wärmebehandelt wird, laufen Festkörperdiffusionsvorgänge in einem solchen Umfang ab, dass eine deutliche Verringerung der Freien Energie durch Umordnung bzw. Annihilation der bei der Kaltverformung eingebrachten Versetzungen eintritt (Abb. 3.48 b). Die Versetzungsumordnungen während die Erholungsphase verändern für gewöhnlich nicht die Korngrenzen des Gefüges aus dem kalt ver-
3.5 Gefügeveränderung
141
formten Zustand. Im Anschluss an diesen Erholungsprozess setzt der Rekristallisationsprozess ein, in welchem neue versetzungsarme Körner aus den alten versetzungsreichen Körnern gebildet werden, wodurch eine völlig neue Kornstruktur entsteht (Abb. 3.48 c, d). Da bei diesem Rekristallisationsprozess üblicherweise eine hohe Zahl kleiner Körner mit vielen Korngrenzen entstehen, bleibt das Gefüge thermodynamisch weiterhin instabil, sodass sich ein Prozess des Kornwachstums anschließt, welcher die vielen kleinen Körner zugunsten größerer Körner wandelt, deren Korngrenzen eine niedrigere Grenzflächenenergie besitzen (Abb. 3.48 e, Abb. 3.49). Dieser Wachstumsprozess kann auch durch das überproportionale Wachstum einzelner Körner bestimmt sein (Abb. 3.48 f) [165, 221].
Abb. 3.49 Schematische Darstellung des Kornwachstums infolge der Verringerung der Versetzungsdichte über Erholungsprozesse nach erfolgter Verformung
Der in Abb. 3.48 dargestellte Vorgang der Gefügeentwicklung durch kombinierte thermisch-mechanische Beanspruchung ist in dieser stark sequenziell gegliederten Form vor allem für Umformprozesse bei der Metallverarbeitung, jedoch nicht für Gefügeveränderungen in Strukturen elektronsicher Aufbauten gültig. Die Tatsache, dass die mechanische Beanspruchung in elektronischen Aufbauten kein singulärer Prozess bei einer niedrigen Temperatur ist, welcher von einem davon getrennten Prozess der Wärmebehandlung gefolgt wird, sondern eine Folge der sich zyklisch ändernden Betriebstemperatur ist, führt zu einer Parallelität der in Abb. 3.48 sequenziell dargestellten Prozesse. Hinzu kommt, dass bei sehr hohen homologen Materialtemperaturen, wie sie z. B. in Lötverbindungen auftreten, Kriechverformungen dominieren, welche von Prozessen der dynamischen Erholung und dynamischen Rekristallisation begleitet sein können. Aufgrund dieser verschiedenen Umstände sind die den Gefügeveränderungen in Strukturen elektronischer Aufbauten zugrunde liegenden Einzelmechanismen sehr schwer zurückzuverfolgen. Die Komplexität der Rekristallisationsprozesse an Lotkontakten ist in Abb. 3.50 am Beispiel von rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen des Gefüges von SnPb-Flip-Chip-Lotkontakten im Ausgangszustand und nach jeweils 300 Zyklen; 1800 Zyklen; 2300 Zyklen; 5100 Zyklen; 16000 Zyklen in einem Temperaturwechseltest -40°C/125°C dargestellt [216]. Der Flip-Chip-Probekörper wurde für diesen Versuch aus zwei gegeneinandergelöteten Si-Chips aufgebaut, wodurch die
142
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Kontakte keine globale Fehldehnungsbeanspruchung erfuhren, wie dies der Fall wäre, wenn ein Si-Chip über Flip-Chip-Lotkontakte auf einer Leiterplatte montiert werden würde. Die Rekristallisationserscheinungen im Gefüge der SnPb-FlipChip-Lotkontakte, welche in den Bildern in Abb. 3.50 sichtbar sind, kommen ausschließlich infolge der unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten der bleireichen und zinnreichen Phase im Gefüge des eutektischen SnPb-Lotes zustande. Aber auch das SnAgCu-Lot zeigt derartige Rekristallisationserscheinungen. Dadurch dass der β -Sn Einkristall eine starke Anisotropie des E-Moduls und der thermischen Ausdehnungskoeffizienten hat, können bei SnAgCu-Lotkontakten die gleichen Rekristallisationserscheinungen wie bei SnPb-Lot auftreten. Zur Aufklärung der vielschichtigen Prozesse, die in Zusammenhang mit Rekristallisationserscheinungen in Lotkontakten stehen, wurden von Dreyer und Müller [222, 223] Anstrengungen unternommen, Einzelprozesse, z. B. Vergröberungsreaktionen in den Gefügen durch Simulationsverfahren auf der Grundlage von Phasenfeld-Modellen sowie der LSW-Theorie (vgl. 3.5.1.2), nachzubilden, um so die Voraussetzung für die Einbindung von sogenannten Strukturparametern in Verformungs- und Schädigungsmodelle zu ermöglichen. Wie in [223] eingeräumt wird, fehlt für die praktische Anwendung dieser Modelle zur Beschreibung mikrostruktureller Änderungen in bleifreien Lotwerkstoffen infolge thermisch-mechanischer Beanspruchungen zz. eine ausreichende experimentelle Datenbasis. Ausgangszustand
2300 Zyklen
300 Zyklen
1800 Zyklen
5100 Zyklen
16000 Zyklen
Abb. 3.50 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von Rekristallisation von SnPb-FlipChip-Lotkontakten infolge der unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten der bleireichen und zinnreichen Phase im Gefüge des eutektischen SnPb-Lotes. Der Flip-Chip-Probekörper wurde aus zwei gegeneinandergelöteten Si-Chips gefertigt, wodurch die Kontakte keine globale Fehldehnungsbeanspruchung erfuhren. In den Bildern sind in der Reihenfolge von links auch rechts und von oben nach unten die Gefügezustände im Ausgangszustand und nach jeweils 300 Zyklen; 1800 Zyklen; 2300 Zyklen; 5100 Zyklen; 16000 Zyklen in einem Temperaturwechseltest -40°C/125°C dargestellt [216].
4.1 Phänomenologie der elastischen Verformung
143
4 Elastische Verformung 4.1 Phänomenologie der elastischen Verformung Um die charakteristischen makroskopisch beobachtbaren Erscheinungen bei der elastischen Verformung deutlich zu machen, wird der in Abb. 1.5 dargestellte Zugversuch geringfügig abgeändert (siehe Abb. 4.1). Die Beanspruchung, d. h. die Dehnungsänderung über der Zeit, wird dabei beginnend bei null (A) nur bis zu einem Wert gesteigert, welcher unterhalb der Grenze εF liegt (B), danach wird die Belastung wieder auf null abgesenkt (D). Werden die in diesem Experiment ermittelten Spannungs- und Dehnungsverläufe in ein Spannungs-Dehnungs-Diagramm übereinander aufgetragen, so ergibt sich in diesem Diagramm für den Belastungsteilabschnitt A-B-C eine im Ursprung beginnende Gerade mit dem Anstieg E, welcher den Werkstoffwiderstand des Materials unterhalb von σF bzw. εF charakterisiert und der - wie später noch beschrieben wird - als Elastizitätsmodul bezeichnet wird. Der im Ursprung des Spannungs-Dehnungs-Diagramms liegende Anfangspunkt der Geraden korrespondiert mit den Lastpunkten A und C, der Endpunkt korrespondiert mit dem Lastpunkt B. Daraus lässt sich ablesen, dass die Verformung unterhalb von σF , εF bei Belastungssteigerungen und -absenkungen auf der gleichen Linie verläuft, d. h. reversibel ist. Dieses reversible Verhalten zu Beginn der Verformung wird als linear-elastisches Verhalten bezeichnet.
s
s C
sF
B
A
D
C
sF
B
E
E t
A, D
1. Belastungsprofil A-B-D
elastische Verformung
2. Belastungsprofil A-C-E
elastisch-plastische Verformung
Abb. 4.1 Zugversuch mit verschiedenen Belastungsregimen
eF
e
144
4 Elastische Verformung
4.2 Physikalischer Hintergrund der elastischen Verformung 4.2.1 Verzerrung des Kristallgitters Die Beschreibung der physikalischen Grundmechanismen der elastischen Verformung ist durch die zum Teil komplexe Argumentation [143, 158, 164], welche aus der Vielzahl von verschiedenen Gittertypen resultiert, nicht einfach. Außer für spezielle Fälle, wie z. B. dem des NaCl-Gitters, für das Rosental [224] eine Beschreibung der elastischen Verformung auf der Basis zwischenatomarer Kräfte vornimmt, welche für NaCl zu über 98% aus Coulomb-Wechselwirkungen besteht, ist es aufgrund der unterschiedlichen Natur der zwischenatomaren Wechselwirkungen sowie der z. T. komplizierten Gitterstrukturen schwierig, eine allgemeine Theorie über die elastische Verformung auf konkreten zwischenatomaren Wechselwirkungen aufzubauen. Daher stützen sich die meisten Autoren [32, 225] auf die Atomabstands-Potenzialkurve als Grundlage für eine allgemeine Theorie des elastischen Verhaltens. Diese beschreibt die potenzielle Energie eines Atoms in Abhängigkeit vom Abstand zum Nachbaratom. In Abb. 4.2 ist die AtomabstandsPotenzialkurve schematisch dargestellt, deren exakte Berechnung für Metalle höherer Ordnung bzw. für Legierungen jedoch nicht möglich ist [32]. Die asymmetrische Form bezüglich der Ruhelage r 0 ergibt sich unabhängig vom Bindungstyp aus der Überlagerung eines mit dem Atomabstand r langsam ansteigenden attraktiven Energieterms gegenüber einem im Vergleich dazu schneller abfallenden repulsiven Energieterm. Der Verlauf der Atomabstands-Potenzialkurve kann allgemein durch einen Polynomansatz beschrieben werden: 2
3
U ( r ) = U0 + A1 ( r – r0 ) + A2 ( r – r0 ) + A3 ( r – r0 ) + … ,
(4.1)
wobei U 0 die potenzielle Energie in der Ruhelage ist und A 1 …A n Vorfaktoren der einzelnen Polynomglieder sind. Aus der ersten Ableitung des Potenzials U ( r ) ergibt sich die innere Wechselwirkungskraft F i ( r ) zwischen den Atomen: U(r) Fi ( r ) = – d -------------dr
(4.2) 2
Fi ( r ) = –( A1 + 2 ⋅ A2 ( r – r0 ) + 3 ⋅ A3 ( r – r0 ) + … )
(4.3)
Ausgehend davon, dass die Ruhelage dadurch gekennzeichnet ist, dass die Wechselwirkungskraft zwischen den Atomen F i ( r 0 ) = 0 ist, ergibt sich, dass für die Beschreibung der Potenzialkurve kein lineares Glied notwendig ist: A 1 = 0 . Vernachlässigt man bei den für die elastische Verformung üblichen kleinen Dehnungen, d. h. kleinen Atomverschiebungen, alle Polynomglieder höherer Ordnung, so lässt sich das Potenzial in der Nähe der Ruhelage sehr einfach über:
4.2 Physikalischer Hintergrund der elastischen Verformung
U ( r ) = U0 + A2 ( r – r0 )
2
145
(4.4)
beschreiben, und es folgt für die Wechselwirkungskräfte zwischen den Atomen Fi ( r ) = –2 ⋅ A2 ( r – r0 )
(4.5)
Wird eine äußere Kraft F a auf einen Körper aufgebracht, so wirkt die bei der dadurch hervorgerufenen Verschiebung der Atome aus ihrer Ruhelage erzeugte innere Kraft F i dieser entgegen, sodass bei Gleichheit dieser Kräfte die Atome in dieser Lage gehalten werden. Unter Hinzuziehung der Definitionen für die mechanische Spannung und Dehnung Fa σ = ----A
(4.6)
U
Abstoßung Anziehung Überlagerung
0
r
Fi
0
r
Fmin C
0 0
r0 rD
r
Abb. 4.2 Schematische Darstellung der Wechselwirkung zwischen zwei Atomen (Potenzial U, innere Wechselwirkungskraft Fi=-dU/dr, Steifigkeit C=d2U/dr; Ruhelage: r0, Destabilisierung der Bindung: rD) [225]
146
4 Elastische Verformung
r–r ε el = ------------0r0
(4.7)
erhält man in Analogie zu Gleichung (4.5) den Zusammenhang für die linearelastische Verformung: σ = E 0 ⋅ ε el ,
(4.8)
wobei E 0 der Elastizitätsmodul ist, welcher die elastische Verformung als werkstoffabhängiger Parameter beschreibt. Eine theoretische Berechnung von E 0 aus A 2 erscheint nicht zweckmäßig, da selbst bei Bekanntsein der genauen Atomabstands-Potenzialkurve aufgrund des mehrschichtigen Aufbaus eines Festköpers mit Gitterdefekten, Fremdatomen sowie durch die in Körnern verschiedener Orientierung (vgl. 3.2) geometrisch sehr unterschiedlich angeordneten Atome sich nie der reale E-Modul des Werkstoffes ergeben würde.
4.2.2 Nichtlinearität der elastischen Verformungsreaktion Bei der Beschreibung der werkstoffphysikalischen Grundmechanismen der elastischen Verformung wurde bei der Berechnung der inneratomaren Kräfte (Gleichung (4.5)) - unter der Annahme kleinster Verformungen - ein Abbruch des das Potenzial beschreibenden Polynoms nach dem quadratischen Glied vorgenommen. Geht man von dieser Einschränkung weg und nimmt eine Beschreibung des elastischen Verhaltens bei größeren Verformungen vor, so ergibt sich in Analogie zu Gleichung (4.3) ein Ansatz höherer Ordnung, wobei - wie aus experimentellen Daten [226] hervorgeht - zumindest ein quadratischer Ansatz zur Beschreibung des elastischen Verhaltens bei größeren Deformationen notwendig ist 2
σ = E 0 ⋅ ε el + E 1 ⋅ ε el ,
(4.9)
welcher zu den in Abb. 4.3 dargestellten - experimentell nachweisbaren - nichtlinearen elastischen Reaktionen einkristalliner Stoffe führt. Weiterhin wurde für die Betrachtung des Zusammenhangs zwischen einer makroskopisch aufgebrachten Kraft und der mikroskopischen Gitterverformung von einem idealen Gitter ausgegangen. In der Realität weisen reale Gitter aufgrund der in 3.2.3.1 benannten thermodynamischen Gründe verschiedene Defekte auf (Versetzungen, Leerstellen), welche zu Abweichungen gegenüber der Verformungsreaktion eines Idealgitters führen und so zu einer gegenüber der in 4.2.2 idealisiert betrachteten linearen elastischen Reaktion nichtlinearen elastischen Reaktion des Realgitters beitragen.
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
147
s 7
10 Nm
-2
Fe [111]
1000 900 800
zunehmende Dehnung abnehmende Dehnung
700 600 500
Fe [100]
400 300 200
Cu [100]
100 0,01
0,02
0,03
0,04
e
Abb. 4.3 Spannungs-Dehnungs-Kurven im elastischen Bereich, adaptiert aus den in [227] veröffentlichten Untersuchungen an Fe und Cu
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung 4.3.1 Elastizitätsmodul Der Elastizitätsmodul ist der grundsätzlichste aller werkstoffabhängigen Parameter, die das mechanische Verhalten einer Struktur beschreiben. Im Gegensatz zu allen anderen materialabhängigen Parametern ist er für jede auch noch so vereinfachte Beschreibung des mechanischen Verhaltens unentbehrlich und besitzt gleichzeitig in vielen Problemfällen eine sehr hohe Bedeutung für die exakte Berechnung mechanischer Spannungen und Dehnungen in elektronischen Verbunden. Aus diesem Grund ist für die Berechnung derartiger Probleme eine tiefer gehende Betrachtung des Parameters Elastizitätsmodul notwendig. Obwohl der Elastizitätsmodul zunächst ein sehr einfacher Parameter zu sein scheint, ist für seine zweckmäßige Festlegung oft eine profunde Betrachtung des zu berechnenden Problems als auch der vorliegenden experimentellen Werkstoffdaten notwendig. Dies ist zum einen auf die Schwierigkeiten bei der experimentellen Bestimmung hierfür existieren verschiedene Verfahren, welche in der Regel auch unterschiedliche Ergebnisse liefern - und zum anderen auf seinen Einfluss auf das errechnete Ergebnis zurückzuführen, da, wie z. B. bei kritischen Lotkontakten, sich die praktischen erreichten elastischen und plastischen Dehnungen etwa die Waage halten,
148
4 Elastische Verformung
d. h., dass in Abhängigkeit von der Größe des E-Moduls sich der Anteil der plastischen Dehnung sehr deutlich verändert. Für die Schwierigkeiten bei der exakten Bestimmung des E-Moduls existieren werkstoffphysikalische (vgl. 4.2.2) als auch messtechnische Gründe. Letztere liegen vor allem darin begründet, dass eine rein elastische Verformung nur bei einer Temperatur von T = 0 K möglich wäre. Bei von 0 K verschiedenen Temperaturen - besonders bei Werten von T > 0, 3 ⋅ T s - kommt es im Werkstoff zu Mechanismen der Festkörperdiffusion, welche wiederum zu Versetzungsbewegungen (vgl. 5.2.1) führen, die in Kombination mit Versetzungsgleiten von der Gitterverformung unabhängige Beiträge zur makroskopischen Verformung leisten. Da der Elastizitätsmodul temperaturabhängig ist (vgl. 4.3.6), macht sich grundsätzlich eine Bestimmung bei Einsatztemperatur erforderlich. Die messtechnischen Schwierigkeiten bei der exakten Bestimmung des EModuls hängen bei den nicht auf die Bestimmung des E-Moduls spezialisierten Versuchen, z. B. Zugversuch, Biegeversuch, Scherversuch, mit technischen Beschränkungen bei der Probeneinspannung, der Versuchsgeschwindigkeit und der Auflösung der Längen- oder Verschiebungsmessung zusammen. Da die Messung des elastischen Verhaltens entweder aus Stillstand oder nach einem Lastwechsel erfolgt, kann es durch Einspanneffekte, d. h., das effektive Greifen der Probe erfolgt erst nach einem bestimmten Lastauftrag, oder durch Probenausrichten, z. B. bei folienartigen Proben, zur Messung von Verformungen kommen, welche nicht durch eine Werkstoffreaktion hervorgerufen werden. Beide Effekte führen zu einer Krümmung im Nullpunkt, sodass der E-Modul erst ab einer bestimmten Spannung ausgewertet werden kann. Die Notwendigkeit, das elastische Verhalten aus einem Nullpunkt bzw. abrupten Lastwechsel zu bestimmen, wirft auch für die Einhaltung einer definierten Verformungsgeschwindigkeit erhebliche Probleme auf. Besonders bei hohen Versuchsgeschwindigkeiten, wie sie zur Unterdrückung zeitabhängiger plastischer Verformungsanteile zu bevorzugen sind, ist es schwierig, eine genau definierte als auch konstante Verformungsgeschwindigkeit, z. B. aus dem Ruhezustand, zu erreichen, sodass gut definierte Versuchsbedingungen erst nach einer bestimmten Anfangsdehnung erreicht werden. Daraus folgt für die Bestimmung des E-Moduls, dass dieser in der Regel erst ab einem geringen Verformungszustand der Probe bestimmbar ist (Abb. 4.4). Hinzu kommt, dass das elastische Verhalten in der Regel auf einen sehr kleinen Verformungsbereich beschränkt ist, sodass die Genauigkeit von Dehnungs- oder Längenmesssystemen nicht ausreicht, um beispielsweise leichte Krümmungen im Bereich des elastischen Verhaltens darzustellen. Aus den genannten Gründen werden für die E-Modul-Bestimmung spezialisierte Verfahren, wie die Ultraschallausbreitung, verwendet, um eine genaue Bestimmung des Elastizitätsmoduls vornehmen zu können. Wird ein homogener, isotroper Festkörper angenommen, so besitzt die Wellengleichung zwei Lösungen - eine für die longitudinale Welle und eine für die transversale Welle, die den rotationsfreien bzw. divergenzfreien Teil des Verschiebungsfeldes u darstellen:
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
s
s
Krümmung:
D(Ds/De) De
149
Obere Grenze:
0,5 Rm
Ds
Limit + 0 Limit -
Untere Grenze:
0,05 Rm
e
e a)
b)
Abb. 4.4 Messtechnische Probleme bei Bestimmung des E-Moduls: a) Bestimmung der Grenzen des elastischen Teils aus der Krümmung des Spannungs-Dehnungs-Astes, b) starre Festlegung der unteren und oberen Grenze des elastischen Bereiches als Funktion der Festigkeit (Rm) [228] 2 E(1 – ν) E d u -------- = ----------------------------------------- grad div u – ------------------------ rot rot u , 2 ρ ( 1 + ν ) ( 1 – 2ν ) 2ρ ( 1 + ν ) dt
(4.10)
wobei ρ der Dichte des Festkörpers entspricht, dessen Volumenelemente bei longitudinalen Wellen in Ausbreitungsrichtung und bei transversalen Wellen senkrecht zu dieser schwingen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeiten für diese beiden Wellenmoden c L, c T sind abhängig von den elastischen Eigenschaften des homogenen, isotropen Festkörpers, welche sich durch die Parameter Elastizitätsmodul E und Querkontraktionszahl ν (vgl. 4.3.2) charakterisieren lassen: cL =
E(1 – ν ) ----------------------------------------ρ ( 1 + ν ) ( 1 – 2ν )
(4.11)
cT =
E ----------------------2ρ ( 1 + ν )
(4.12)
Über das Verhältnis der Ausbreitungsgeschwindigkeit der longitudinalen Wellen c L zu der der transversalen Wellen c T lassen sich die elastischen Konstanten eines Materials sehr genau bestimmen [229]. Zur experimentellen Bestimmung der elastischen Eigenschaften unter Nutzung von Ultraschallausbreitung lassen sich verschiedene Methoden, wie das Interferenzverfahren oder das Puls-EchoVerfahren, einsetzen. Beim Interferenzverfahren wird die Frequenz gemessen, bei der sich zwei verschiedene Ultraschallimpulse gegenseitig auslöschen oder verstärken, wodurch sich die Werkstoffeigenschaften sehr genau bestimmen lassen. Apparatetechnisch weniger aufwendig ist jedoch das Puls-Echo-Verfahren, bei dem die Laufzeit eines hochfrequenten Pulses durch die Probe gemessen wird. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit c ergibt sich aus der Probenlänge l und der Laufzeit Δt :
150
4 Elastische Verformung
2l c = ----Δt
(4.13)
In Einkristallen ist die longitudinale bzw. transversale Schallgeschwindigkeit richtungsabhängig (vgl. 4.3.5). So ergibt sich für einen [110]-orientierten Einkristall (kubisches System) folgender Zusammenhang zwischen den elastischen Konstanten und den longitudinalen und transversalen Ausbreitungsgeschwindigkeiten 1 2 ρ ⋅ c L = --- ⋅ ( C 11 + C 12 + 2C 44 ) = C L 2
(4.14)
1 2 ρ ⋅ c T = --- ⋅ ( C 11 – C 12 ) = C T 1 2
(4.15)
2
ρ ⋅ c T = C 44 = C T , 2
(4.16)
wobei sich die Indizes T 1 und T 2 auf die Polarisationsrichtung [ 110 ] und [ 001 ] der transversalen Schallwellen beziehen [230-232]. Wenn, wie im Fall von polykristallinen Festkörpern, die Richtungsabhängigkeit der elastischen Konstanten nicht gegeben ist, so ergibt sich der Zusammenhang zwischen der Ausbreitungsgeschwindigkeit und den das elastische Verhalten eines Festkörpers beschreibenden Parametern Elastizitätsmodul E , Schubmodul G (vgl. 4.3.3) und Bulkmodul K (vgl. 4.3.4) aus 4 4G – E 2 ρ ⋅ c L = K + --- ⋅ G = G ⋅ ----------------3 3G – E 2
ρ ⋅ cT = G
(4.17) (4.18)
Bei der Bestimmung der Temperaturabhängigkeit des E-Moduls (vgl. 4.3.6) ergibt sich für die Anwendung der Puls-Echo-Methode die Schwierigkeit, ein geeignetes Koppelmedium zu finden, welches das üblicherweise verwendete, jedoch in seinem Temperaturbereich sehr begrenzte Wasser ersetzt [230]. Vergleicht man die verschiedenen in Abb. 4.5 dargestellten Ergebnisse aus experimentellen Untersuchungen zum E-Modul von Weichloten [235-239], so fällt eine große Streuung zwischen den einzelnen Untersuchungen auf, welche wahrscheinlich auf die oben genannten Schwierigkeiten bei der experimentellen Bestimmung zurückzuführen sind. Dies wirft die Frage auf, ob man für die Nachbildung des elastischen Verhaltens überhaupt auf Experimentaldaten zurückgreifen sollte, die aus nicht spezialisierten Versuchen, wie dem Zugversuch, gewonnen wurden, oder ob man nur Daten aus spezialisierten Versuchen, wie der Utraschall-
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
151
Abb. 4.5 Temperaturabhängigkeit des E-Moduls von SnPb37, SnAg3.5 und SnAg3,8Cu0,7 aus [240]. Die Werte entstammen verschiedenen Messungen, die unter (1) = [237], (2, 4) = [236], (3) = [235], (5) = [239]; 6 = [238], (7) = [237] aufgenommen wurden.
ausbreitung, vertrauen sollte. Die Beantwortung dieses Problems hängt mit der terminologischen Frage nach der Bedeutung des Begriffes elastisches Verhalten bzw. E-Modul zusammen. Aus einem streng physikalischen Blickwinkel, welcher die elastische Verformung mit Gitterverzerrungen assoziiert, sollten für den E-Modul nur Werte aus den spezialisierten Versuchen verwendet werden. Aus einem ingenieurtechnischen Blickwinkel spielt jedoch der Zusammenhang mit mikrophysikalischen Mechanismen eine untergeordnete Rolle, hier liegt das Augenmerk auf dem makroskopisch beobachteten Phänomen der Verformung einer bestimmten Struktur. Aus diesem Grund sind für ingenieurtechnische Betrachtungen in der Regel die Werkstoffparameter aus den nicht spezialisierten Versuchen, wie dem Zugversuch, maßgebend, da die elastische Verformung in der Regel als die Verformung unterhalb eines Fließpunktes angesehen wird, auch wenn die dabei makroskopisch beobachtete Verformung nicht ausschließlich auf Gitterverzerrungen zurückzuführen ist.
4.3.2 Die Querkontraktionszahl Wenn, wie in 4.2 beschrieben, Atome durch Wirken einer äußeren Spannung aus ihrer Ruhelage im Gitter gebracht werden, hat dies auch eine Änderung des zwischenatomaren Potenzialfeldes zur Folge. Durch diese Feldveränderung kommt es neben dem Auseinanderziehen der Atome in Spannungsrichtung gleichzeitig zu einem Zusammenziehen der Atome in den normal zur Spannungsrichtung verlaufenden Kristallrichtungen (Abb. 4.6). Dieser Effekt wird durch die Querkontraktionszahl (Poisson-Zahl) ν beschrieben, welche den Zusammenhang zwischen der
152
4 Elastische Verformung
y
y B
A
y B
F
C
A` A
C C`
x D
B B`
F
F
A`
C`
x D
F x
D` D
Abb. 4.6 Querkontraktion des Gitters bei elastischer Verzerrung
Dehnung in Richtung der Beanspruchung und der Kontraktion quer zur Beanspruchungsrichtung ausdrückt: d0 – d l0 ν = – §© -------------- ⋅ -----·¹ l0 – l d0
(4.19)
Der Wert der Poisson-Zahl hängt stark von der Kristallstruktur und den dort wirkenden zwischenatomaren Kräften ab. Für die meisten polykristallinen Metalle entspricht ν ≈ 0,3 .
4.3.3 Der Schubmodul Während der Elastizitätsmodul das elastische Verformungsverhalten unter Wirkung einer Zugspannung beschreibt, lässt sich dieses für den Fall der Wirkung einer reinen Schubspannung über den Schubmodul G bescheiben. τ = G ⋅ γ el
(4.20)
Der Schubmodul wird in der Regel aus dem Torsionsversuch bestimmt. Für seine exakte Bestimmung treten in etwa die gleichen Probleme auf wie für die Bestimmung des E-Moduls. E-Modul und Schubmodul hängen über die Querkontraktion miteinander zusammen: E G = -----------------2 ( 1+ν )
(4.21)
4.3.4 Der Bulkmodul Um die elastische Verformung für den Fall des hydrostatischen Druckes (bzw. Zuges) zu beschreiben, wird der Bulkmodul K verwendet. Dieser Beanspruchungs-
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
153
fall liegt dann vor, wenn alle drei Hauptspannungen gleich sind ( σ 1 = σ 2 = σ 3 = p ) und dadurch eine Kontraktion (bzw. Expansion) des Materials in alle 3 Raumrichtungen erfolgt. Dann wird das elastische Materialverhalten über p = K ⋅ εv
(4.22)
ausgedrückt, wobei p dem hydrostatischen Druck und ε v der volumetrischen Dehnung entspricht, welche sich aus der Differenz des Ausgangsvolumens v 0 des unbeanspruchten Raumquaders mit den Kantenlängen a, b, c v = a0 ⋅ b0 ⋅ c0
(4.23)
und des Endvolumens v des beanspruchten Raumquaders mit den Kantenlägen a, b, c v = ( a0 + Δ a ) ⋅ ( b0 + Δ b ) ⋅ ( c0 + Δ c ) = a ⋅ b ⋅ c ,
(4.24)
Δa Δb Δc ergibt. Aufgrund der geringen Dehnungen ------, ------, ------ können die Glieder a0 b0 c0
höherer Ordnung vernachlässigt werden, sodass sich ε v aus a–a b–b c–c v–v ε v = -------------0 = Δ -----a- + Δ -----b- + Δ -----c- = -------------0- + -------------0- + -------------0 a0 b0 c0 v a0 b0 c0
(4.25)
εv = εx + εy + εz
(4.26)
ergibt. Bulkmodul und E-Modul hängen über die Querkontraktion miteinander zusammen: E K = -----------------------3 ( 1 + 2ν )
(4.27)
4.3.5 Richtungsabhängigkeit der elastischen Konstanten Da in einem Metallgitter (vgl. 3.2.2.2) die Abstände zwischen den Atomen in unterschiedlichen Raumrichtungen variieren, existieren für Einkristalle unterschiedliche E-Moduli in den verschiedenen Raumrichtungen. Dicht gepackte Richtungen (z. B. ¢ 111 ² Ebenen) weisen dabei höhere Steifigkeiten auf als weniger
154
4 Elastische Verformung
dicht gepackte Richtungen (z. B. ¢ 100 ² Ebenen). In Tabelle 4.1 sind die richtungsabhängigen E-Moduli verschiedener kubisch-flächenzentrierter Metalle aufgeführt. Tabelle 4.1 Elastische Moduln bei Raumtemperatur für verschiedene Raumrichtungen, E ist der Elastizitätsmodul eines polykristallinen Materials [241, 242] Metall
E
E ¢ 100 ²
E ¢ 111 ²
[GPa]
[GPa]
[GPa]
Al
70
64
76
Au
78
43
117
Cu
121
67
192
Ni
207
137
305
Um in einem elastisch verformten Festkörper den Zusammenhang zwischen dem Spannungstensor σ ij mit den Normalanteilen σ xx, σ yy, σ zz und den Tangentialanteilen τ xy = τ yx, τ xz = τ zx, τ yz = τ zy σ xx τ xy τ xz σ ij =
τ yx σ yy τ yz
(4.28)
τ zx τ zy σ zz und dem Dehnungstensor ε ij mit den Normalanteilen ε xx, ε yy, ε zz und den Tangentialanteilen γ xy = γ yx, γ xz = γ zx, γ yz = γ zy ε xx γ xy γ xz ε ij = γ yx ε yy γ yz
(4.29)
γ zx γ zy ε zz auszudrücken, wird ein generalisiertes Hooke’sches Gesetz für anisotrope Werkstoffe verwendet σ ij = c illm ⋅ ε lm
(4.30)
Da σ ij und ε ij symmetrische Tensoren sind, reduziert sich die Zahl der elastischen Konstanten von 81 auf 36, mit denen der Zusammenhang zwischen Spannungs- und Dehnungstensor über 6 lineare Gleichungen ausgedrückt werden kann:
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
155
σ xx = C 11 ε xx + C 12 ε yy + C 13 ε zz + C 14 γ yz + C 15 γ xz + C 16 γ xy
(4.31)
σ yy = C 21 ε xx + C 22 ε yy + C 23 ε zz + C 24 γ yz + C 25 γ xz + C 26 γ xy
(4.32)
σ zz = C 31 ε xx + C 32 ε yy + C 33 ε zz + C 34 γ yz + C 35 γ xz + C 36 γ xy
(4.33)
τ yz = C 41 ε xx + C 42 ε yy + C 43 ε zz + C 44 γ yz + C 45 γ xz + C 46 γ xy
(4.34)
τ xz = C 51 ε xx + C 52 ε yy + C 53 ε zz + C 54 γ yz + C 55 γ xz + C 56 γ xy
(4.35)
τ xy = C 61 ε xx + C 62 ε yy + C 63 ε zz + C 64 γ yz + C 65 γ xz + C 66 γ xy
(4.36)
bzw. in der abgekürzten Form σ i = C ij ⋅ ε j
(4.37)
Da C ij eine symmetrische Matrix ist, werden die elastischen Konstanten eines beliebigen anisotropen Mediums durch 21 unabhängige elastische Moduli beschrieben [233]. Weist das Kristallgitter weitere Symmetrien auf, so reduziert sich die Zahl der elastischen Konstanten mit steigender Symmetrie. Ein Überblick über die Anzahl der elastischen Konstanten in Abhängigkeit vom Gittertyp wird in Tabelle 4.2 gegeben [234].
Tabelle 4.2 Anzahl der elastischen Konstanten in Abhängigkeit von der Symmetrie der Elementarzelle [234] Kristallstruktur
Raumgruppe
Zahl der elastischen Konstanten
triklinisch
1
21
monoklinisch
2/m
13
rhombisch
mmm
9
rhombohedral
6/m
6
tetragonal
4
7
tetragonal
4/m
6
hexagonal
6/mmm
5
kubisch
m3m
3
sphärisch (isotrop)
2
156
4 Elastische Verformung
4.3.6 Temperaturabhängigkeit der elastischen Konstanten Da eine vom absoluten Nullpunkt verschiedene Temperatur eine Erhöhung der Energie der Atome um den temperaturabhängigen Betrag U th bewirkt, schwingen diese um den Ruhepunkt ihrer Gleichgewichtslage im Kristall. Wie aus der schematischen Darstellung der Atomabstand-Potenzialkurve in Abb. 4.2 hervorgeht, besitzt die abstoßende Wechselwirkung einen höheren Gradienten als die anziehende Wechselwirkung. Dadurch kommt es zu einer asymmetrischen Amplitude gegenüber dem Ruhepunkt bei 0K , wodurch sich der Mittelpunkt der Schwingung zu größeren Abständen hin verschiebt (Abb. 4.7). Makroskopisch lässt sich dieses Phänomen als thermische Ausdehnung von Werkstoffen beobachten. Die thermische Ausdehnung eines Materials entspricht mikroskopisch der Vergrößerung der Atomabstände, d. h. einer Verschiebung der Ruhelage r 0 zu größeren Werten, bei denen der Anstieg der Wechselwirkungskraftkurve F i ( r ) (vgl. Gleichung (4.2), (4.3); Abb. 4.2) geringer ist, wodurch sich bei Temperaturerhöhung ein niedrigerer E-Modul ergibt (vgl. Gleichung (4.5) - (4.8)). Bei niedrigen Temperaturen ( T < 0,5 ⋅ T s ) ergibt sich für Metalle eine nahezu lineare Abhängigkeit des EModuls von der Temperatur. T E ( T ) = E ( 0K ) ⋅ § 1 - 0,5 ⋅ -----· © T s¹
(4.38)
Bei höheren Temperaturen ergibt sich jedoch oft eine nichtlineare Abhängigkeit des E-Moduls von der Temperatur. In der Regel reicht jedoch ein quadratischer Ansatz aus, um die Temperaturabhängigkeit des E-Moduls auch für höhere Temperaturen ( T < 0,8 ⋅ T s ) zu beschreiben. Die Temperaturabhängigkeit des E-Moduls für verschiedene Lotwerkstoffe ist in Abb. 4.5 dargestellt. U mittlerer Aufenthaltsort
0 T2 > 0 K U th
r
0K r 0 (0K)
r 0 (T2 )
Abb. 4.7 Schematische Darstellung der Temperaturabhängigkeit der Atomabstand-Potenzialkurve, adaptiert aus [225]
5.1 Phänomenologie der plastischen Verformung
157
5 Plastische Verformung 5.1 Phänomenologie der plastischen Verformung 5.1.1 Erscheinungsformen Die plastische Verformung eines polykristallinen Metalls wird üblicherweise mit dem in Abb. 1.5 dargestellten Verformungsverhalten assoziiert, bei dem das Material nach dem Erreichen einer Fließspannung sich plastisch zu verformen beginnt und der Deformation nur noch einen geringen Widerstand entgegensetzt, während es sich unterhalb dieser Fließgrenze elastisch verformt und der Deformation einen hohen Widerstand entgegenbringt. Ein solches Verhalten existiert allerdings nur bei T = 0K . Oberhalb 0K ergibt sich ein wesentlich differenzierteres Bild. Die Art und Weise, wie sich ein Werkstoff plastisch verformt, kann dann nicht mehr einem bestimmten Beanspruchungsparameter zugeordnet werden, sondern hängt von einem komplexen Zusammenhang zwischen verschiedenen Parametern ab, unter denen die Spannung, die Verformungsgeschwindigkeit, die Temperatur sowie die Werkstoffstruktur die wichtigsten sind. Der Werkstoffwiderstand, den ein sich plastisch verformendes Material einer bestimmten Beanspruchung, z. B. einer Spannung, entgegenbringt, kann bei einer explosionsartigen Verformung, welche nur wenige Millisekunden bzw. Mikrosekunden dauert, sehr viel größer sein als bei einer instantanen Verformung, welche im Sekundenbereich abläuft. Trägt eine plastische Verformung hingegen einen allmählichen Charakter, sodass diese sich in einem Zeitraum von mehreren Minuten bis zu einigen Jahren hinzieht, so ist der durch den Werkstoff aufgebaute Widerstand gegen die Verformung in der Regel sehr viel geringer als bei einer instantanen Verformung. In typischen Strukturen von elektronischen Produkten, wie z. B. dem Lotkontakt eines flächenkontaktierten Halbleiterbauelementes in einem Mobiltelefon, treten sehr oft alle Möglichkeiten der plastischen Verformung auf (vgl. 2.4.5), wodurch eine sehr grundlegende Darstellung der vielfältigen Erscheinungsformen plastischer Verformung notwendig wird, welche sich im Gegensatz zur phänomenologischen Beschreibung der elastischen Verformung (vgl. 4.1) nicht über eine einfache Darstellung der Werkstoffreaktion durch einen funktionalen Zusammenhang zwischen den Verformungsparametern Spannung und Dehnung erreichen lässt. Im Diagramm in Abb. 4.1 sind die Werkstoffreaktionen der elastischen und plastischen Verformung einander gegenübergestellt. Hieraus lässt sich die Abgrenzung der plastischen gegenüber der elastischen Verformung ersehen. Wird im Gegensatz zur elastischen Verformung die Beanspruchung, d. h. die Dehnungsänderung über der Zeit, beginnend bei null (A) bis zu einem Wert gesteigert, welcher
158
5 Plastische Verformung
oberhalb der Grenze εF liegt (C), und danach wieder auf null abgesenkt (E), so ergibt sich in diesem für den Belastungsteilabschnitt A-C eine im Ursprung beginnende Gerade mit dem Anstieg E0, welche beim Erreichen des Punktes σF bzw. εF ihren Anstieg (= Werkstoffwiderstand) verringert. Für den Belastungsteilabschnitt C-E ergibt sich eine in Punkt C beginnende Gerade mit dem Anstieg E0, die rechts vom Ursprung (in Punkt E) die Abszisse schneidet. Plastische Verformung verläuft bei Belastungssteigerungen und -absenkungen nicht auf der gleichen Linie, d. h., sie ist irreversibel. Der Abstand zwischen Ausgangspunkt A und Endpunkt E entspricht dem Betrag der plastischen Gesamtverformung des Werkstoffes. An Punkten, die nicht auf der Abszisse liegen, setzt sich die Gesamtverformung des Werkstoffes sowohl aus Anteilen plastischer als auch elastischer Verformung zusammen, wodurch es nicht möglich ist, den Betrag der reinen plastischen Verformung in einem beliebigen Spannungszustand direkt zu bestimmen. Der Verlauf der plastischen Verformung kann jedoch auch abweichend von dem in Abb. 4.1 dargestellten Regelfall erfolgen, weshalb das Bemühen bestand, andere Formen der Darstellung zu finden, welche geeignet sind, die Gesamtphänomenologie der plastischen Verformung adäquat wiederzugeben.
5.1.2 Verformungsmechanismenkarten Um zu einer übersichtlichen Darstellung der verschiedenen Erscheinungsformen plastischer Verformung zu gelangen, haben verschiedene Autoren [33, 243, 244] versucht, ein zusammenhängendes Bild der plastischen Verformung von kristallinen Werkstoffen über sogenannte Verformungsmechanismenkarten (engl. Deformation Mechanism Maps) zu geben. Die bekanntesten Arbeiten stammen dabei von Frost und Ashby [33], welche für eine große Anzahl von Werkstoffen Verformungsmechanismenkarten entwickelt haben. Die Idee der Karten besteht darin, verschiedene der plastischen Verformung zugrunde liegende Einzelmechanismen, z. B. Versetzungsgleiten, Versetzungsklettern, Korngrenzengleiten oder Diffusionsprozesse, als einen kinetischen Vorgang zu betrachten, welcher durch einen Zusammenhang zwischen Spannung, Verformungsgeschwindigkeit, Temperatur und Struktur gekennzeichnet ist. In den Karten wird dargestellt, in welchem Spannungs-Temperatur-Verformungsgeschwindigkeitsregimen ein bestimmter Mechanismus für die phänomenologisch erfassbare Verformung des Werkstoffes ausschlaggebend ist. Nach Ansicht von Frost und Ashby sind vor allem Scherspannungs-Temperatur-Diagramme mit überlagerten Äquidehnungsratelinien für den ingenieurtechnischen Gebrauch nützlich. Es lassen sich jedoch auch andere Formen der Darstellung, z. B. Scherspannungs-Scherrate-Diagramme verwenden (vgl. Abb. 5.1). Um Karten verschiedener Materialien miteinander vergleichen zu können, sind die Achsen des Diagramms auf die Werkstoffparameter Schmelztemperatur T s und Schermodul τ normiert worden. In den Verformungsmechanismenkarten wird der ( T ⁄ T s ;τ ⁄ G ) -Parameterbereich in einzelne Sektionen unterteilt, in denen jeweils ein bestimmter Mecha-
5.1 Phänomenologie der plastischen Verformung
159
Normierte Scherspannung t/G
nismus vorherrschend ist. Die Sektionsgrenzen entsprechen ( T, τ ) -Parameterpaaren, bei denen 2 oder mehr Mechanismen den gleichen Beitrag zur Gesamtdehnungsrate leisten. Die in Abb. 5.1 dargestellte Verformungslandkarte hat das typische Aussehen einer Karte für kubisch-flächenzentrierte Metalle (z. B. Cu, Ni, Ag, Al, Pb). Die darin eingezeichneten vorherrschenden Mechanismen, wie Versetzungsgleiten, Versetzungsklettern, Korngrenzengleitung durch KG-Diffusion oder Korngrenzengleitung durch Volumendiffusion, beruhen auf den Erkenntnissen zur plastischen Verformung von Metallen, welche bei Publikation der ersten Verformungsmechanismenkarten Anfang der siebziger Jahre vorlagen. Inzwischen existieren eine Reihe neuer Erkenntnisse [245-252], welche die von Frost und Ashby [33] zusammengefassten Grundgedanken zur Kinetik der plastischen Verformung in vielen Punkten erweitern. Dennoch soll sich die Erläuterung der metallphysikalischen Hintergründe an der in [33] vorgenommenen Darstellung orientieren, da sich diese durch ihre Transparenz und Klarheit sehr gut eignet, um später die wichtigen Zusammenhänge in der messtechnischen Erfassung und modellhaften Beschreibung der plastischen Verformung einordnen zu können. Um sehr umfangreiche Abhandlungen zu vermeiden, wird auf den Versuch einer detaillierten Darstellung aller bisherigen Ansätze zu den Elementarmechanismen, wie er beispielsweise in [252] vorgenommen wurde, verzichtet. Stattdessen soll ein Kurzabriss zur Versetzungskinetik in 5.2 erfolgen, welcher den Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen zu den verschiedenen Erscheinungsformen der plastischen Verformung (5.3 - 5.5) bildet.
10
-1
10
-2
10
-3
A 10-1s -1 B
10
-4
10
-5
10
-6
C D 10-10s -1 0,2
0,4
0,6
E 0,8
1,0
Homologe Temperatur T/Ts
Abb. 5.1 Verformungsmechanismenkarte aus [33], A: Versetzungsgleiten, B:Versetzungsklettern, C: Korngrenzengleitung, D: Diffusionskontrollierte Verformung durch Korngrenzendiffusion, E: Diffusionskontrollierte Verformung durch Matrixdiffusion
160
5 Plastische Verformung
Wichtige ergänzende, auf neueren Experimenten beruhende Detailerkenntnisse sollen in den Abschnitten 5.4.3.1 bis 5.4.3.7 direkt im Zusammenhang mit den speziellen Phänomenen bei der plastischen Verformung bestimmter metallischer Werkstoffklassen besprochen werden. Hierbei sei darauf verwiesen, dass viele der neueren Modelle zu den Elementarmechanismen nicht widerspruchsfrei sind und sehr oft das experimentell ermittelte Werkstoffverhalten nicht wiederzugeben vermögen [246, 253]. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache sowie im Bestreben einer möglichst breiten Darstellung des plastischen Verformungsverhaltens konkreter in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeter Werkstoffe wird eine in ihrer Allgemeingültigkeit möglicherweise eingeschränkte Darstellung der Versetzungskinetik gewählt, welche jedoch alle für das Verständnis der beschriebenen Sachverhalte notwendigen Grundgedanken enthält.
5.2 Kinetik der plastischen Verformung 5.2.1 Versetzungsbewegung Der Hauptmechanismus plastischer Verformung ist die Bewegung von Versetzungen durch den Kristall. Da es eine große Anzahl von Möglichkeiten gibt, in denen Versetzungen plastische Deformationen in makroskopischen Strukturen hervorrufen können, ist die Beschreibung der Grundmechanismen plastischer Verformung sehr komplex. Metalle können sich beispielsweise in ihrem plastischen Verformungsverhalten bereits deutlich unterscheiden, sobald sie unterschiedlichen Kristallsystemen angehören. Neben dieser starken strukturellen Abhängigkeit plastischer Verformung existiert die schon erwähnte Abhängigkeit von äußeren Parametern, wie Dehnungsgeschwindigkeit, Temperatur oder Art der Beanspruchung, welche eine kurze, übersichtliche bzw. vollkommene Beschreibung der Mechanismen plastischer Verformung unmöglich macht. Aus diesem Grund soll hier eine vereinfachte Beschreibung der Grundmechanismen erfolgen, welche die wesentlichen Phänomene darstellt, um so eine Beschreibung des grundsätzlichen theoretisch qualitativen Verständnisses plastischer Verformung mit dem Ziel einer sachgemäßen Einordnung bestimmter experimentell beobachteter Phänomene anzustreben. Um die der makroskopisch beobachteten plastischen Verformung zugrunde liegenden Elementarmechanismen zu verstehen, ist es zunächst notwendig, die Wirkung einer aufgebrachten Scherspannung auf die im realen Kristallgitter vorhandenen Versetzungen darzustellen. Wie in Abschnitt 3.2.3.3 dargestellt, existieren zwei Arten von linienhaften Gitterstörungen in einem Kristall - Stufenversetzungen und Schraubenversetzungen. Die Bewegung einer Stufenversetzung unter Wirkung einer Scherspannung ist schematisch in Abb. 5.2 dargestellt. Dazu ist der Kristall so geschnitten worden, dass der Versetzungskern normal zur Bildebene
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
t
t
A B
D
t
A
C
B
t t
161
D
C
t
t
t
t
t
Abb. 5.2 Bewegung einer Stufenversetzung unter Wirkung einer Scherspannung
steht und die Scherkräfte entlang der Ober- und Unterseite des Kristalls aufgebracht werden. Im spannungsfreien Zustand hat Atom A den gleichen Abstand zu Atom B wie zu Atom C. Beim Aufbringen einer Scherspannung nähert sich Atom A jedoch immer mehr Atom C und entfernt sich von Atom B. Im Ergebnis dieser Bewegung findet einer Umordnung der Atome in der Nähe des Versetzungskerns statt, sodass dieser sich nicht mehr zwischen den Atomen A, B, C befindet, sondern zwischen die Atome C, D, E bewegt wurde. Diese Bewegung des Versetzungskerns führt zunächst nicht zu einer äußerlich feststellbaren plastischen Verformung des Materials. Erst wenn nach und nach weitere Umordnungen der Atome in der Nähe des Versetzungskerns erfolgen, sodass dieser eine Materialoberfläche erreicht, wird auch makroskopisch eine plastische Verformung sichtbar. Die Bewegung von Versetzungen unter Wirkung einer Scherspannung wird als Versetzungsgleiten bezeichnet. Die Ebene, auf der sich der Versetzungskern bewegt, ist die Gleitebene und die Richtung, in der die Gleitung erfolgt, entspricht der Gleitrichtung. Die Bewegung einer Schraubenversetzung ist in Abb. 5.3 schematisch dargestellt. Der durch die Wendel einer Schraubenversetzung (vgl. 3.2.3.3) gestörte Kristallbereich entspricht dem Mantel eines Zylinders, dessen Achse vertikal von A nach B verläuft. Wird eine Scherkraft entlang der Ober- und Unterseite des Kris-
162
5 Plastische Verformung
D
A
C
B
t
t
D
A B
D
A' C
A
B
C
t
t
Abb. 5.3 Bewegung einer Schraubenversetzung unter Wirkung einer Scherspannung
talls aufgebracht, erfolgt das Abgleiten dieser Schraubenversetzung nach links. Im Unterschied zur Stufenversetzung, welche in Richtung der wirkenden Scherspannung abgleitet, bewegt sich die Schraubenversetzung entlang der Normalen der aufgebrachten Scherspannung. Durch die fortlaufende Bewegung der Schraubenversetzung nach links kommt es zu einer Relativbewegung der unteren und oberen Kristallhälfte, sodass makroskopisch eine plastische Verformung erfassbar ist, wenn die Schraubenversetzung an die Werkstoffoberfläche gelangt. In realen Kristallen liegt jedoch oftmals ein gemischter Versetzungstyp vor, sodass die Segmente der Versetzungslinie sich sowohl aus Stufen- als auch aus Schraubenversetzungen zusammensetzen. Die Abgleitung einer solchen gemischten Versetzung ist schematisch am Beispiel eines Versetzungsrings in Abb. 5.4 dargestellt. Dieser Versetzungsring vergrößert oder verkleinert unter einer wirken-
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
163
b
b
b
b b
b
Abb. 5.4 Bewegung eines Versetzungsrings unter Wirkung einer Schubspannung, gleichmäßig (links) und ungleichmäßig
den Schubspannung seinen Durchmesser, da sich die Stufenversetzungssegmente in Richtung dieser Spannung bewegen (Abb. 5.4a), während die Schraubenversetzungssegmente quer zu ihr abgleiten. Für den Fall, dass einer der beiden Versetzungstypen über eine höhere Beweglichkeit im Kristall verfügt, verlängern sich vor allem die Segmente dieses Typs unter Wirkung einer angelegten Schubspannung (Abb. 5.4b). Neben dieser grundlegenden vereinfachten Betrachtung des Abgleitens von Stufen- und Schraubenversetzungen ergeben sich aus der Atomanordnung im Kristallgitter weitere Argumente für die Art und Weise, in der die Abgleitung im Kristall stattfindet. Da die Abgleitung durch die Bewegung von Versetzungen entlang einer Gleitebenen erfolgt, müssen die Versetzungslinie v und die Bewegungsrichtung r der Versetzung in dieser Gleitebene liegen. Auch der Burgersvektor b , der die Gleitrichtung angibt, muss in dieser Ebene liegen. Für die Lage der Gleitebene mit dem Normalenvektor n ergibt sich unter Einhaltung der genannten Bedingungen n⊥b und n⊥v und n⊥r ,
(5.1)
dass eine Stufenversetzung bzw. eine gemischte Versetzung diese fest vorgeben, da b und v nicht parallel sind. D. h., die Lage der Gleitebene ergibt sich für die Stufenversetzung aus b×v n = -------------b×v
(5.2)
164
5 Plastische Verformung
Nur für den Fall einer reinen Schraubenversetzung, bei der b und v parallel sind, ergibt sich keine zwingende Festlegung für die Bewegungsrichtung der Versetzung. Daher kann diese durch sogenanntes Quergleiten auch Hindernisse umgehen.
5.2.2 Versetzungskinetik
5.2.2.1 Verformungsrategleichungen Um zu einer einheitlichen Darstellung der verschiedenen, die plastische Verformung bestimmenden Mechanismen zu gelangen, werden diese über die makroskopischen Variablen Spannung (genauer Scherspannung) τ , Temperatur T und Ver· formungsrate (genauer Scherrate) γ dargestellt, wobei letztere in Abhängigkeit von den beiden ersten bestimmt wird: · γ = f ( τ, T )
(5.3)
Dieser Betrachtung liegt eine Vereinfachung bezüglich der Werkstoffstruktur zugrunde, welche als konstant angesehen wird, was im Fall mittlerer und hoher homologer Temperaturen nur für eine quasistatische Verformung (vgl. 5.4.3.1) zutreffend ist. Der Betrag einer makroskopisch erfassbaren Deformation in Form einer Scherung hängt auf der einen Seite von der Anzahl der in einem Kristall bewegten Versetzungen und auf der anderen Seite von dem von ihnen zurückgelegten Gleitweg ab. Abb. 5.5 verdeutlicht dies anhand der Bewegung von Stufenversetzungen in einem idealisierten Kristallquader. Definiert man die makroskopisch sichtbare Scherung als s γ = --- , h
(5.4)
wobei h der Höhe des Kristallquaders entspricht und s die Verschiebung der oberen parallel zur Scherkraft τ verlaufenden Deckfläche gegenüber der Grundfläche des Quaders ist. Geht man für diese Betrachtung davon aus, dass alle Versetzungen nach der plastischen Deformation die Oberfläche des Kristalls erreichen, so ergibt sich ihre individuelle Gleitbewegung aus b ⋅ x i ⁄ L , wobei b dem Burgervektor entspricht, x i der Abstand der Versetzung von der linken Kristallfläche ist und L der Länge des Kristalls in Gleitrichtung entspricht. Da sich die makroskopische Verschiebung der Deck- zur Grundfläche s aus der Summe der individuellen Gleitbewegungen der Versetzungen ergibt, erhält man für die Scherung des Kristalls:
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
b b γ = ---------- ⋅ ¦ x i = ---------- ⋅ N ⋅ x tot , L⋅h L⋅h
165
(5.5)
wobei N der Gesamtmenge der Versetzungen entspricht und x tot die durchschnittliche Versetzungsbewegung auf den einzelnen Gleitebenen darstellt. Ersetzt man den Term N ⁄ Lh durch die Versetzungsdichte ρ (eigentlich ρ = Nz ⁄ L hz , wobei z die Dicke des betrachteten Kristallquaders ist), so erhält man: γ = ρ ⋅ b ⋅ x tot
(5.6)
Aus Gleichung (5.6) geht hervor, dass die makroskopisch erfassbare plastische Scherung mit den mikroskopischen Größen Versetzungsdichte ρ und durchschnittliche Gleitlänge bx tot einer Versetzung zusammenhängt [241]. Wird Gleichung (5.6) nach der Zeit abgeleitet, so ergibt sich eine Beziehung zwischen Scher· dehnungsrate ( γ ) und der durchschnittlichen Versetzungsgeschwindigkeit ( v tot = dx tot ⁄ dt ) aller Versetzungen: · γ = ρ ⋅ b ⋅ v tot
(5.7)
Aufgrund der Tatsache, dass im Gegensatz zu dem in Abb. 5.5 dargestellten vereinfachten Beispiel in einem realen Kristall in der Regel nicht alle Versetzungen frei beweglich sind, ist es zweckmäßig, sich anstelle des Produktes ρ ⋅ v tot , welches sich auf die Gesamtheit aller Versetzungen sowie ihrer Durchschnittsgeschwindigkeit bezieht, sich alternativ über das Produkt ρ m ⋅ v nur auf die Versetzungsdichte aller beweglichen Versetzungen ρ m und deren durchschnittliche
t z D
L
Di
h
xi
t Abb. 5.5 Beziehung zwichen einer makroskopisch beobachtbaren Scherung und der mikroskopischen Versetzungsbewegung
166
5 Plastische Verformung
Geschwindigkeit v zu beziehen. Hierdurch gelangt man zur Orowan-Gleichung [254], welche die Kinetik der Versetzungsbewegung beschreibt. · γ = ρm ⋅ b ⋅ v
(5.8)
Die funktionale Abhängigkeit der Versetzungsdichte ρm von der Spannung wird von Argon [255] mit σ 2 ρ m = α ⋅ § -----------· © G ⋅ b¹
(5.9)
angegeben, wobei α eine Konstante ist. Die Durchschnittsgeschwindigkeit v einer Versetzung ergibt sich aus der auf sie wirkenden Kraft pro Längeneinheit F = b ⋅ τ und ihrer Mobilität M . v = F⋅M
(5.10)
Das Problem der Beschreibung der Versetzungskinetik wird damit auf die Beschreibung bzw. Berechnung der Mobilität M einer Versetzung zurückgeführt. Diese ist davon abhängig, wie schnell das Segment einer Versetzungslinie bestimmte Hindernisse (z. B. das periodische Potenzial des Gitters, Versetzungswälder, Ausscheidungen) überwinden kann. Damit hängt die Mobilität neben der mechanischen Spannung und Temperatur vor allem von Form und Natur der Hindernisse ab. Auf den ersten Blick behindert die Vielfalt von Hindernissen die Entwicklung einheitlicher Verformungsrategleichungen. Bei genauerer Betrachtung lassen sich Hindernisse jedoch in zwei große Gruppen einteilen, solche, die individuell umgangen bzw. durchschnitten werden (z. B. harte Ausscheidungen), und solche, die kollektiv überwunden werden (z. B. das periodische Potenzial des Gitters). Im Folgenden sollen die Verformungsrategleichungen in Abhängigkeit von den für die Mobilität wichtigen Größen Spannung, Temperatur und Natur des Hindernisses beschrieben werden.
5.2.2.2 Niedertemperaturplastizität Im Bereich niedriger Temperaturen, d. h. T < 0,3 ⋅ T s , finden vor allem die unter 5.3.1.1 und 5.3.1.2 beschriebenen Prozesse der instantanplastischen Verformung statt. Obwohl diese Verformungsprozesse zunächst nicht als zeitabhängig eingestuft wurden, ist die Kinetik der Versetzungsbewegung nahezu immer hinderniskontrolliert, d. h., die Wechselwirkung mit anderen sich bewegenden Versetzungen, mit Korngrenzen, mit dem periodischen Potenzial des Gitters oder mit Ausscheidungen bestimmt die Verformungsgeschwindigkeit bzw. bei einer gegebenen Verformungsgeschwindigkeit (so ist in der Regel das Vorgehen zur Aufstel-
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
167
lung des in Abb. 1.5 dargestellten Spannungs-Dehnungs-Diagramms) wird die Größe der Fließspannung bestimmt. Jedoch ist in vielen polykristallinen Metallen die Fließspannung nur sehr gering (sowohl absolut als auch im Vergleich mit anderen Faktoren, wie der Korngröße) von der Dehnungsrate abhängig, wodurch gerechtfertigterweise in den meisten gängigen Beschreibungen der Fließspannung eine Abhängigkeit von der Dehnungsrate (und damit eine zeitabhängige Beschreibung) nicht betrachtet wird. Geht man für den beschriebenen Temperaturbereich von Einzelhindernissen aus, die überwunden werden müssen, so lässt sich die Durchschnittsgeschwindigkeit einer Versetzung beim Überwinden dieser Einzelhindernisse, welche mit einer Frequenz φ auftritt, aus ΔF τ v = β ⋅ b ⋅ φ ⋅ exp – ------- ⋅ § 1 – -----· kT © τ 0¹
(5.11)
berechnen [33, 256], wobei β eine Konstante ist, ΔF der Aktivierungsenergie entspricht, bei der das Hindernis auch ohne äußere Scherspannung überwunden werden würde, und τ0 die Fließspannung darstellt, bei der das Hindernis auch ohne thermische Aktivierung überwunden werden würde. Aus (5.8), (5.9) und (5.11) ergibt sich eine Beziehung der Dehnungsgeschwindigkeit für eine durch die Überwindung von Einzelhindernissen bestimmte plastische Verformung: ΔF τ 2 · τ γ = α ⋅ β ⋅ φ ⋅ § ----· ⋅ exp – ------- ⋅ § 1 – -----· © G¹ kT © τ 0¹
(5.12)
Durchdringen Versetzungen kollektiv das Metallgitter, so oszilliert das Potenzial ihres Versetzungskerns in der Bewegungsrichtung mit einer Wellenlänge, welche dem Gitterabstand der Kristallmatrix entspricht. Um den Potenzialberg zu überwinden, der zwischen den zwei angrenzenden und als stabile Verweilposition zu betrachtenden Potenzialmulden liegt, ist das Aufbringen einer bestimmten Scherspannung τp notwendig, die als Peierls-Nabarro-Spannung bezeichnet wird. Das kollektive Überwinden eines Potenzialberges findet oberhalb 0 K versetzt statt. Nachdem zuerst ein kurzes Segment der Versetzungslinie mit thermischer Unterstützung in die nächste Potenzialmulde gelangte, wird der verbliebene Teil der Versetzungslinie unter Wirkung der anliegenden Scherspannung Stück für Stück in die nächste Potenzialmulde gezogen. Für diesen Prozess, welchem eine Aktivierungsenergie ΔFp zugeordnet ist, kann die Versetzungsgeschwindigkeit wie folgt beschrieben werden ΔF p τ p q ½ · v = γ p ⋅ b ⋅ exp ® – ---------- ⋅ § 1 – § -----· · ¾ , © τ p¹ ¹ © ¯ k⋅T ¿
(5.13)
168
5 Plastische Verformung
wobei γp eine materialabhängige Konstante ist, welche, wie die Exponenten p, q, aus dem Experiment bestimmt wird. Für viele Metalle ergibt sich mit p = 3 ⁄ 4 und q = 4 ⁄ 3 ein guter Fit an die experimentellen Daten [33, 256]. Aus den Gleichungen (5.8), (5.9) und (5.13) lässt sich somit eine Beziehung für die Dehnungsgeschwindigkeit einer von Versetzungsbewegungen durch das Metallgitter bestimmten Plastizität formulieren: 3 --4 ° ΔF p τ τ· · · § --§ · γ = γ p ⋅ - ⋅ exp ® – ---------- ⋅ 1 – ----© G¹ © ¹ τp ° k⋅T ¯
4 --3½
° ¾ ° ¿
(5.14)
5.2.2.3 Hochtemperaturplastizität - Gleiten und Klettern Wird ein polykristallines Metall einer Temperatur von über 0,5 Ts ausgesetzt, das entspricht bei SnPb37 einer Temperatur von -45 °C, so gelangt es in den Bereich der Hochtemperaturplastizität. In diesem Bereich ist die plastische Verformung sehr stark von Temperatur und Zeit (bzw. Dehnungsrate) abhängig. Das liegt daran, dass bei hohen Temperaturen Versetzungen die Fähigkeit des Kletterns gewinnen. Der Prozess des Kletterns ist schematisch in Abb. 5.6 dargestellt. Dabei wird die Lage einer Stufenversetzung im Kristallgitter durch die Adsorption einer Leerstelle um eine Ebene verschoben. Klettern, d. h. die Verschiebung der Stufenversetzung in die entgegengesetzte Richtung, kann durch den Einbau einer zusätzlichen Leerstelle in das Atomgitter erfolgen. Für das Überwinden von Hindernissen ist die Kletterbewegung von Bedeutung, da die in ihrer Gleitbewegung durch ein Hindernis festgehaltenen Versetzungen hierdurch die Möglichkeit erhalten, sich durch eine Kletterbewegung von diesem Hindernis zu befreien, um dann frei weiter gleiten zu können. Weertman [257, 270, 272] unternahm einen der ersten Ansätze, Kriechverformung über den Mechanismus des Versetzungskletterns zu beschreiben. Er ging dabei davon aus, dass der Kriechprozess aus einem Gleitprozess besteht, durch den Versetzungen relativ große Wege x g zurücklegen, welcher von einem Kletterprozess gefolgt wird, bei dem zwar nur eine geringe Distanz x c zurückgelegt wird, der aber aufgrund seiner geringen Geschwindigkeit der Versetzungsbewegung v c der die Gesamtverformungsrate bestimmende Prozess ist. Die Geschwindigkeit, mit der Versetzungen klettern und annihilieren, wird durch den Konzentrationsgradienten zwischen der Leerstellenkonzentration im thermodynamischen Gleichgewicht und der Leerstellenkonzentration nahe der kletternden Versetzung bestimmt. Erstere ergibt sich aus Q c v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· , © KT¹
(5.15)
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
169
b
Abb. 5.6 Schematische Darstellung des Kletterns einer Stufenversetzung
wobei Q v der Energie zur Bildung einer Versetzung entspricht, wenn sich das Material im spannungsfreien Zustand befindet. Wirkt jedoch eine Spannung auf das Kristallgitter, so kommt es in der Umgebung einer Versetzung aufgrund der durch den Kletterprozess geleisteten Arbeit zu einer Änderung der Leerstellenkonzentration. Entsteht infolge des Kletterprozesses eine Leerstelle, so entspricht die veränderte Leerstellenkonzentration an diesem Ort d+
cv
Q – σΩ = c 0 ⋅ exp §© – ------v-·¹ ⋅ exp §© -----------·¹ . kT KT
(5.16)
Analog ergibt sich die Leerstellenkonzentration für den Fall, dass durch den Kletterprozess eine Leerstelle absorbiert wird +σ n ⋅ Ω Q dc v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ exp § ------------------· , © kT ¹ © KT¹
(5.17)
wobei σ n die Spannung ist, unter deren Wirkung sich das Metall verformt und Ω dem Atomvolumen entspricht. Der Gradient der Leerstellenkonzentration Δc v zwischen Orten, an denen das Klettern von Versetzungen mit der Abgabe von Leerstellen verbunden ist, und solchen, an denen es zur Absorption von Leerstellen kommt, ergibt sich aus –σn ⋅ Ω Q Δc v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ sinh § ------------------· , © kT ¹ © KT¹
(5.18)
170
5 Plastische Verformung
wobei sich unter der Annahme kleiner Spannungen der Ausdruck in (5.18) zu σn ⋅ Ω Q Δc v = c 0 ⋅ exp §© – ------v-·¹ ⋅ exp §© ---------------·¹ kT KT
(5.19)
vereinfacht. Aus dem Gradienten der Leerstellenkonzentration Δc v zwischen kletternden Versetzungen ergibt sich ein Leerstellenfluss zwischen diesen Orten. Die Größe dieses Leerstellenflusses und damit die Geschwindigkeit des Klettermechanismus von Leerstellen hängt von der tatsächlichen Anordnung der Versetzungen im Kristallgitter ab. Unter Annahme eines Diffusionsradius R 0 , welcher mit dem Abstand zwischen Versetzungen zusammenhängt, gelangt Weertman zu folgendem Ausdruck für die Geschwindigkeit v c , mit der eine Versetzung unter der Wirkung einer in Richtung ihres Burgersvektors b wirkenden Spannung σ n klettert σn ⋅ Ω R0 Dv v c = 2π ⋅ § ------· ⋅ § ---------------· ⋅ ln § ------· , © b ¹ © kT ¹ © b¹
(5.20)
wobei D v der Diffusionskoeffizient für die korrespondierende Leerstellenbewegung ist, welche bei Temperaturen oberhalb 0,6 Ts durch Matrixdiffusion dominiert wird. Zu vergleichbaren Ergebnissen bei der Beschreibung des Kletterprozesses gelangten auch andere Autoren, wie Hirth und Lothe [258]. Wenn die durchschnittliche Versetzungsgeschwindigkeit v mit xg v ≅ ----- ⋅ v c xc
(5.21)
angenähert wird, so ergibt sich aus (5.8), (5.9) die quasistatische Kriechrate mit xg D V EΩ τ 3 · γ = A 1 ⋅ ------2- ⋅ § --------· ⋅ § -----· ⋅ § ---· , © kT ¹ © x c¹ © E¹ b
(5.22)
wobei A 1 einer Konstante entspricht, D V den Koeffizienten für Selbstdiffusion darstellt und E den Elastizitätsmodul repräsentiert. Der Wert von 3 für den Spannungsexponenten in (5.22) repräsentiert das sogenannte natürliche Potenzgesetzkriechen. Alternativ zu dem von Weertman ausgearbeiteten theoretischen Modell des Versetzungskletterns zeigen spätere Ansätze [252, 253] andere Mechanismen zur kletterbeherrschten Versetzungsbewegung auf. Gemeinsam ist all diesen Ansätzen, dass sie einen Spannungsexponenten von 3 voraussagen. Verschiedene experimentelle Ergebnisse zeigen jedoch, dass das so beschriebene Verformungsverhalten
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
171
eher eine Ausnahme ist und sich stattdessen folgende Formulierung zur Beschreibung der Dehnungsrate für diesen Mechanismus eignet: DV ⋅ G ⋅ b τ n · γ = A 2 ⋅ ----------------------- ⋅ § ----· , © G¹ k⋅T
(5.23)
wobei n Werte zwischen 3 und 10 annimmt. Die zurzeit existierenden theoretischen Modelle können das über (5.23) beschriebene Verhalten nicht ausreichend erklären und finden keine Begründung für die experimentell ermittelten Werte von n und A2. Für Temperaturen unterhalb 0,6 Ts wird angenommen, dass die Diffusion durch Versetzungskerne der dominierende Transportmechanismus für die Bewegung von Versetzungen ist [317]. Der Beitrag dieser Diffusion für die Dehnungsrate kann über (5.23) ausgedrückt werden, indem der Matrixdiffusionskoeffizient DV durch einen effektiven Diffusionskoeffizienten Deff ersetzt wird 10 ⋅ a c § σ · 2 - ⋅ ---- , D eff = D V + D C ⋅ -------------2 © G¹ b
(5.24)
wobei ac dem Durchmesser des Gebietes des Versetzungskerns entspricht, in welchem gegenüber der Matrixdiffusion erhöhte Diffusionsgeschwindigkeiten erreicht werden, und Dc den Diffusionskoeffizienten in diesem Gebiet darstellt, welcher in vielen Fällen dem Korngrenzendiffusionskoeffizienten entspricht. Übersteigt die Spannung Werte von etwa 10-3 G, so wird die Dehnungsgeschwindigkeit zunehmend vom Versetzungsgleiten bestimmt. In diesem Fall kann die Dehnungsrate auch nicht mehr über ein einfaches Potenzgesetz (wie (5.23)) beschrieben werden. Stattdessen wird ein Ansatz nach (5.25) verwandt, der sowohl zur Beschreibung der Dehnungsrate für mittlere Spannungen (Versetzungsklettern und Diffusion durch Versetzungskerne) als auch für hohe Spannungen (Versetzungsgleiten) geeignet ist D eff ⋅ G ⋅ b τ · γ = A 3 ⋅ -------------------------- ⋅ sinh § α ⋅ ----· © G¹ k⋅T
n
,
(5.25)
wobei A3 und α Materialkonstanten sind. 5.2.2.4 Diffusionskontrollierte Verformung Ist das Material sehr geringen Spannungen ausgesetzt, wird die plastische Verformung durch Diffusionsprozesse dominiert. Hierunter fällt z. B. die Deformation eines Korns aufgrund der Bewegung von Leerstellen, welche einem Potenzialfeld
172
5 Plastische Verformung
folgen, das durch ein äußeres Spannungsfeld hervorgerufen wurde. Die Dehnungsgeschwindigkeit bei Diffusion ergibt sich nach [33] 42 D σ ⋅ Ω· γ = ------ ⋅ ---------- ⋅ ----------π k ⋅ T d2
(5.26)
π ⋅ δ ⋅ D GB D = D V + ------------------------- , dg
(5.27)
g
wobei dg die Korngröße, Ω das Atomvolumen, DV der Bulkdiffusionskoeffizient, DGB der Korngrenzendiffusionskoeffizient und δ der effektive Korngenzenabstand sind. Bei hohen Temperaturen tritt diffusionsdominierte plastische Verformung infolge Matrixdiffusion (Nabarro-Herring-Kriechen) und bei niedrigen Temperaturen infolge Korngrenzendiffusion (Coble-Kriechen) auf. Bei großen Korngrößen, welche für die Größenverhältnisse der Mikroelektronik allerdings keine Rolle spielen, wurde anstatt des Diffusionskriechens ein auf Klettern und Gleiten von Versetzungen basierender Mechanismus beobachtet, welcher durch einen linear-viskosen Ansatz beschrieben werden kann und als Harper-Dorn-Kriechen bezeichnet wird. Die Temperaturabhängigkeit der Kriechmechanismen kommt im Wesentlichen durch die Temperaturabhängigkeit der Diffusion zustande, welche – bezogen auf den Diffusionskoeffizienten – sich im Allgemeinen aus dem Arrhenius-Ansatz ergibt Q D = D 0 ⋅ exp § – ----------· , © k ⋅ T¹
(5.28)
wobei Q der dem dominierenden Transportmechanismus zugehörigen Aktivierungsenergie entspricht und D0 als eine Kalibrierungskonstante für den Diffusionskoeffizienten zu betrachten ist.
5.2.3 Bedeutung der Kinetik der Versetzungsbewegung für die Beschreibung und Charakterisierung der plastischen Verformung Wie den Darstellungen in 5.2.1 bis 5.2.2.4 entnommen werden kann, existieren in Abhängigkeit von den äußeren Parametern Spannung, Temperatur und Verformungsgeschwindigkeit unterschiedliche Mechanismen, welche der plastischen Verformung von Metallen zugrunde liegen. Diese bewirken auch ein qualitativ unterschiedliches phänomenologisches Verformungsverhalten. Aus diesem Grund ist es für die Beschreibung des plastischen Verformungsverhaltens nicht möglich, eine einfache zusammenhängende Darstellung zu verwenden wie für das elastische
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
173
Normierte Scherspannung t/G
Verformungsverhalten. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die in 5.2.1 bis 5.2.2.4 vorgenommenen Betrachtungen die Zeit- und Strukturabhängigkeit des plastischen Verhaltens außer Betracht lassen, um zu einer in ihrer Gesamtkomplexität erfassbaren Gesamtdarstellung des plastischen Verhaltens in Form von Verformungsmechanismenkarten (siehe Abb. 5.7) zu gelangen. Diese mechanismenorientierte Unterteilung der plastischen Verformung soll auch als Grundlage für die weitere Beschreibung dienen. Dabei sollen in Abschnitt 5.3 zunächst die Erscheinungsformen plastischer Verformung besprochen werden, welche mit dem Versetzungsgleiten assoziiert werden. Die Dominanz der auf Versetzungsgleiten basierenden Verformungsmechanismen liegt in der Regel im Bereich niedriger homologer Temperaturen, da hier durch die geringe thermische Aktivierung alle auf Festköperdiffusion beruhenden Mechanismen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Im Anschluss daran soll im Abschnitt 5.4 eine sehr detaillierte Darstellung der der zeit- und temperaturabhängigen Verformung zugrunde liegenden Mechanismen erfolgen, welche üblicherweise im Bereich hoher homologer Temperaturen auftreten und daher mit dem durch die hohe thermische Aktivierung verbundenen Mechanismen der Festköperdiffusion assoziiert werden können. Die in 5.3 und 5.4 besprochenen Mechanismen unterscheiden sich jedoch nicht nur bezüglich der Temperatur, sondern auch im Hinblick auf die im Werkstoff auftretenden Spannungsbeanspruchungen. In der Verformungsmechanismenkarte in Abb. 5.7 wird eine grobe Einteilung zwischen diesen grundsätzlichen Verformungsarten und den damit in Zusammenhang stehenden globalen Beanspruchungen gegeben, um eine allgemeine Orientierung zwischen den später zu besprechenden Details der Elementarmechanismen und den für die phänomenologische Erscheinung der Verformung wichtigen Grundparametern 10
-1
10
-2
10
-3
10
-4
10
-5
10
-6
Instantanplastische Verformung (siehe 5.3)
Zeitabhängigkeit und Temperaturabhängigkeit der plastischen Verformung (siehe 5.4)
0,2
0,4
0,6
0,8
1,0
Homologe Temperatur T/Ts
Abb. 5.7 Einteilung der Arten der Deformation in einer Verformungslandkarte
174
5 Plastische Verformung
zu erhalten. Grundsätzlich sind mit den in Abschnitt 5.3 dargestellten Erscheinungsformen plastischer Verformung im Bereich niedriger homologer Temperaturen auch hohe Spannungsbeanspruchungen verbunden, damit eine plastische Verformung des Werkstoffs überhaupt einsetzt. Im Gegensatz setzt plastische Verformung bei den in Abschnitt 5.4 beschriebenen Mechanismen im Bereich hoher homologer Temperaturen oft schon bei sehr geringen Spannungsbeanspruchungen ein. Zum Abschluss sollen in Abschnitt 5.5 die Besonderheiten der plastischen Verformungsreaktion bei wechselnder Beanspruchung angerissen werden, bei denen Materialgedächtniseffekte eine wichtige Rolle spielen, welche sich so nicht mehr einfach, d. h. analog zu den Verformungsmechanismenkarten für einsinnige Beanspruchung, darstellen lassen, da die Vielfalt der entstehenden Effekte sowie deren unterschiedliche Ausbildung in Abhängigkeit von der Materialstruktur eine einfache, übersichtliche Beschreibung unmöglich macht.
5.3 Niedertemperaturplastizität 5.3.1 Merkmale Die plastische Verformung von Metallen im Bereich geringer homologer Temperaturen wird in der Regel mit der in Abb. 5.8 dargestellten Spannungs-Dehnungs-Kurve assoziiert, d. h., die plastische Verformung beginnt nach Überschreiten eines als Fließspannung gekennzeichneten Beanspruchungswerts. Anders als in
s E
R
Einschnürung
R
p0,2
Bruch
sF Fließgrenze
0,1% Fließgrenze
Zugfestigkeit
m
0,1 % Dehnung
e
Bruchdehnung A
Abb. 5.8 Typisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm eines metallischen Werkstoffs mit wichtigen mechanischen Werkstoffkennwerten, adaptiert aus [316]
5.3 Niedertemperaturplastizität
175
Energie
D
A
Spannung
tf
0
D
A Position des Versetzungskerns
Abb. 5.9 Potenzialverlauf und daraus abgeleiteter Kraftverlauf für die Bewegung einer Versetzung von A nach D (vgl. Abb. 5.2)
den Betrachtungen zur Kinetik der Versetzungsbewegung (vgl. 5.2.2) wird bei der phänomenologischen Betrachtung der plastischen Verformung bei niedrigen Temperaturen ein Zusammenhang zwischen Spannung und Verformung anstatt zwischen Spannung und Verformungsrate bevorzugt. Diese Betrachtungsweise wird plausibel, wenn man die der Niedertemperaturverformung zugeordneten Ratengleichungen (5.12) und (5.14) genauer analysiert. Der funktionale Zusammenhang zwischen Verformungsrate und Spannung ist in beiden Gleichungen durch einen quadratischen und einen exponentiellen Term gekennzeichnet. Wenn die Aktivierungsenergie hoch ist, was vor allem beim Überwinden von Einzelhindernissen der Fall ist, bestimmt der exponentielle Term die Spannungsabhängigkeit der Verformungsrate. Für den umgekehrten Fall bedeutet dies, dass die Abhängigkeit der Fließspannung von der Verformungsrate gering ist. Gleichzeitig existiert eine hohe Abhängigkeit des plastischen Fließens von der Werkstoffstruktur, sodass die vorhandene geringe Abhängigkeit von der Verformungsrate für eine Beschreibung des plastischen Verhaltens bei niedrigen Temperaturen unbedeutend ist. Diese starke Abhängigkeit von der Werkstoffstruktur wird plausibel, wenn der Unterschied zwischen der Niedertemperaturplastizität von ein- und polykristallinem Material betrachtet wird.
5.3.1.1 Plastische Deformation in Einkristallen Wird die Versetzungsbewegung unter Berücksichtigung der anziehenden und abstoßenden zwischenatomaren Wechselwirkungen betrachtet, so ergibt sich die in Abb. 5.9 schematisch dargestellte Potenzial-Positions-Kurve bzw. die daraus abgeleitete Kraft-Positions-Kurve für die Bewegung einer Versetzung durch das Atomgitter. Daraus ist zu erkennen, dass das Gitter der Versetzungsbewegung einen periodisch auftretenden Widerstand entgegenbringt. Peirels und Nabarro haben
176
5 Plastische Verformung
diesen Widerstand unter Annahme einer sinusförmigen Potenzialänderung während der Versetzungsbewegung mit 2πa τ f = G ⋅ sin § – --------------------· © ( 1 – ν )b¹
(5.29)
abgeschätzt, wobei G der Schubmodul, ν die Querkontraktionszahl, a der vertikale Abstand zwischen Gleitebenen und b das Gleitinkrement ist. Aus Gleichung (5.29) lässt sich ableiten, dass der periodische Widerstand des Gitterpotenzials am kleinsten ist, wenn a groß und b klein ist, d. h., Gleitung erfolgt bevorzugt in den dicht gepackten Ebenen eines Kristallgitters. Für einen kubisch-flächenzentrierten Kristall sind beispielsweise die Ebenen vom Typ [111] und die Richtungen vom Typ <110> am dichtesten gepackt. Da in diesem Kristallgitter vier solche Ebenen existieren, auf denen jeweils drei unabhängige Gleitrichtungen vorhanden sind, ergeben sich insgesamt 12 unabhängige Gleitsysteme, d. h. Kombinationen aus Gleitebenen und Gleitrichtungen. Da eine auf einen Kristall aufgebrachte Schubspannung τ in der Regel nicht parallel zu einem Gleitsystem ausgerichtet ist, trägt nur die parallel zum Gleitsystem wirkende Komponente τ GS zur Versetzungsbewegung bei. Für einen einachsig belasteten Zugstab (Abb. 5.10), wie er auch in den Betrachtungen zum Spannungs-Dehnungs-Diagramm in Abschnitt 1.4.2.2 herangezogen wird, ergibt sich diese Komponente aus dem Schmid’schen Schubspannungsgesetz: τ GS = σ ⋅ cos λ ⋅ cos θ
(5.30)
wobei der Term cos λ ⋅ cos θ dem Schmidfaktor entspricht. Nimmt man das Spannungs-Dehnungs-Diagramm eines kubisch-flächenzentrierten Einkristalls,
F
q
n
l m A A0
F
Abb. 5.10 Lage eines Gleitsystems innerhalb eines Zugstabes
5.3 Niedertemperaturplastizität
177
wie z. B. Cu, auf, so ergeben sich die in Abb. 5.11 dargestellten Verläufe, wobei Abb. 5.11a die tatsächlich in [318] ermittelten Verläufe darstellt und Abb. 5.11b eine schematische Darstellung des Verlaufes für den Fall vornimmt, bei welchem der Kristall gegenüber der Belastungsachse so ausgerichtet ist, dass die resultierende Schubspannung in einem bestimmten Gleitsystem deutlich größer als die resultierenden Schubspannungen in allen anderen Systemen ist. In diesem Fall ist der Verlauf plastischer Verformung im Spannungs-Dehnungs-Diagramm in 3 Bereiche unterteilt. Bereich I beginnt nach elastischer Verformung des Kristalls bei Erreichen der notwendigen resultierenden Schubspannung im dominierenden Gleitsystem. In diesem Bereich können die Versetzungen lange Wege zurücklegen, bis sie miteinander wechselwirken. Er wird daher auch als Bereich der Einfachgleitung bezeichnet und besitzt nur eine geringe Verfestigung (d. h. einen geringen Verformungswiderstand). Ihm schließt sich Bereich II mit einer stark ansteigenden Verfestigung an, die auf Reaktionen zwischen Versetzungen primärer und sekundärer Gleitsysteme sowie auf Versetzungsvervielfachung - und damit Zunahme der Versetzungsdichte - durch Frank-Read-Quellen zurückzuführen ist. Im sich daran anschließenden Bereich III nimmt der Anstieg der Verfestigung durch Prozesse der dynamische Erholung, wie z. B. dem Quergleiten von Schraubenversetzungen, wieder ab.
5.3.1.2 Plastische Deformation in Polykristallen Wird das Spannungs-Dehnungs-Verhalten bei der plastischen Verformung eines Einkristalls mit dem eines polykristallinen Werkstoffes des gleichen Metalls, z. B. Cu, verglichen, so zeigen sich deutliche Unterschiede (Abb. 5.12). Das Einsetzen plastischer Verformung findet im polykristallinen Metall erst bei wesentlich höheren Spannungen statt und auch der Bereich von Einfachgleitung, d. h. geringe Ver-
50
C23
C29
t II tI 0 0
C26 C27
40
C2 3
Scherspannung t
t III
29
III
C
II
Effektive Scherspannung [MPa]
I
7
30
C2
20
6
C2
10 0
Scherdehnung
Abb. 5.11 Abgleitkurven eines Cu-Einkristalls aus [318]
0
0,05
0,1
0,15
0,2
Scherdehnung
0,25
0,3
0,35
178
5 Plastische Verformung
festigungszunahme, ist im Gegensatz zum Einkristall nicht zu beobachten. Diese Unterschiede zwischen plastischer Ein- und Vielkristallverformung sind vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen führt die unterschiedliche Orientierung der verschiedenen Körner im polykristallinen Werkstoff bei einer gegebenen äußeren Spannung zu einem individuellen Abgleitverhalten der Versetzungen in jedem einzelnen Korn (vgl. Abb. 5.11). Was aber noch viel wichtiger ist, ist die Tatsache, dass abgeglittene Versetzungen, wenn sie eine Korngrenze erreichen, aufgrund der unterschiedlichen Orientierung der Gleitsysteme im Nachbarkorn nicht in diesem weitergleiten können. Andererseits können sie auch das Korn an dessen Oberfläche nicht verformen, d. h. von der Korngrenze einfach aufgenommen werden, da hierdurch der Zusammenhalt der Körner nicht mehr gewährleistet wäre. Infolgedessen stauen sich die Versetzung und alle ihr auf der gleichen Gleitebene folgenden Versetzungen vor der Korngrenze auf. Schließlich wird die durch diese Aufstauung erzeugte lokale Spannungskonzentration so groß, dass dadurch im Nachbarkorn trotz ungünstiger Orientierung Versetzungsquellen aktiviert werden. Die in den benachbarten Körnern bereitgestellten Versetzungen lagern sich daraufhin so in Korngrenzennähe an, dass bei plastischer Verformung der Körner der Zusammenhalt unter ihnen trotzdem gewahrt bleibt. Da die durch die Versetzungsaufstauung erzeugte Spannungskonzentration mit wachsender Korngröße zunimmt [164], wird der Spannungs-Dehnungs-Verlauf bei instantanplastischer Verformung neben dem Abgleitverhalten des Einkristalls auch sehr stark durch die Gefügestruktur bestimmt (vgl. 3.2.3), wodurch sich für die instantanplastische Verformung in polykristallinen Metallen ein Spannungs-Dehnungs-Verlauf ergibt, der sich zunächst durch eine sehr hohe Verfestigung auszeichnet, welche mit zunehmender Dehnung rasch absinkt. Durch die beschriebenen Versetzungswechselwirkungen an den Korngrenzen ist die Fließspannung im polykristallinen Werkstoff deutlich höher.
s in MPa 300
Cu-Polykristall
200
100
Cu-Einkristall
10%
20%
30%
40%
Abb. 5.12 Abgleitkurven eines Cu-Einkristalls und eines Cu-Polykristalls
50%
e
5.4 Hochtemperaturplastizität
179
5.4 Hochtemperaturplastizität 5.4.1 Merkmale Wie in 5.2.2 ausgeführt, wird bei der plastischen Verformung bei hohen Materialtemperaturen das Versetzungsgleiten durch einen Kletterprozess ergänzt, welcher mit einer Leerstellendiffusion zusammenhängt und wesentlich die Geschwindigkeit der Versetzungsbewegung beeinflusst. Aus diesem Grund weist die plastische Verformung bei hohen Materialtemperaturen sowohl starke Zeitabhängigkeit, d. h. eine Abhängigkeit der Fließspannung von der Verformungsgeschwindigkeit, als auch eine hohe Temperaturabhängigkeit auf. Zunächst sollen die durch die Zeitabhängigkeit entstehenden vielfältigen Erscheinungsformen der plastischen Verformung von Metallen bei hohen Materialtemperaturen dargestellt werden, indem die · · mehrseitigen Beziehungen zwischen den Verformungsvariablen ( σ, σ, ε, ε, t ) durch eine Reihe verschiedener spezialisierter Experimente charakterisiert werden. Zu den grundlegenden und etablierten Versuchen, mit denen das zeitabhängige plastische Verformungsverhalten untersucht wird, zählen der Versuch mit konstanter Dehnungsrate, der Kriechversuch und der Relaxationsversuch. Beim Versuch mit konstanter Dehnungsrate wird die Probe einer Dehnungsbe· anspruchung ausgesetzt, welche die Bedingung ε = const. erfüllt. Aus dieser · Lastbedingung ergibt sich mit ε = ε ⋅ ( t – t 0 ) ein von der Verformungsreaktion · unabhängiger Zusammenhang zwischen Verformungsvariablen ε, ε, t , sodass · sich die Verformungsreaktion über die Variablen σ, σ als Funktion von ε oder t ergibt. Für das Darstellung des zeitabhängigen Verhaltens hat sich wegen seiner s e1, T 1 e1, T 2 e2, T 1 e1, T 3 e3, T 1 e1 > e2 > e3 T1 < T2 < T3
e Abb. 5.13 Spannungs-Dehnungs-Diagramm des gleichen Werkstoffs bei unterschiedlichen Verformungsgeschwindigkeiten und Materialtemperaturen
180
5 Plastische Verformung
Vergleichbarkeit zum Spannungs-Dehnungs-Diagramm die Form σ = f ( ε ) als die zweckmäßigste herausgestellt (Abb. 5.13 a). Da es sich hierbei in der Regel um · eine monotone Funktion handelt, enthält die Darstellung von σ = f ( ε ) keine zusätzlichen Informationen, verdeutlicht jedoch den Verlauf der Verfestigung (Abb. 5.13 b). Für das in Abb. 5.13 a dargestellte zeitabhängige Verformungsverhalten wurden vier verschiedene Versuche mit mittleren Verformungsgeschwin–4 –7 –1 · digkeiten, z. B. ε = ( 10 …10 ) ⋅ s durchgeführt und eine Versuchstemperatur gewählt, die einer mittleren bis hohen homologen Materialtemperatur entspricht, z. B. T h = 0,5 ⋅ T s . Aus den in Abb. 5.13 a eingetragenen Verformungsreaktionen wird ersichtlich, dass das plastische Fließen eines metallischen Werkstoffes sich bei hohen Temperaturen in Abhängigkeit von der Verformungsgeschwindigkeit ändert. Die Spannung, bei der die plastische Verformung einsetzt, wird um so niedriger je langsamer die Verformung stattfindet. Weiterhin ist zu e
I
II
III
t e
e
I
I
II
II
III
III
t
e
Abb. 5.14 Kriechversuch, I: primäres Kriechen, II: sekundäres Kriechen, III: tertiäres Kriechen
5.4 Hochtemperaturplastizität
181
s
t
Abb. 5.15 Relaxationsversuch
beobachten, dass nach einer anfänglichen Verfestigung, welche in einem kleinen Anfangsdehnungsbereich stattfindet, keine weitere Verfestigung bei weiterer Werkstoffverformung einsetzt. Beim Kriechversuch wird die Probe einer Spannungsbeanspruchung ausgesetzt, welche die Bedingung σ = const. erfüllt. Aus dieser Lastbedingung ergibt sich, · dass σ = 0 ist und demzufolge sich die Verformungsreaktion als Beziehung · unter den Variablen ε, ε, t ergibt. Die Diagramme in Abb. 5.14 zeigen die aus dem Versuch folgenden Verformungsreaktionen in den Darstellungen ε = f ( t ) · · (Abb. 5.14 a), ε = f ( t ) (Abb. 5.14 b) und ε = f ( ε ) (Abb. 5.14 c), wobei aufgrund der mit der Zeit stetig wachsenden Kriechdehnung eine der drei Kurven zur Charakterisierung der Verformungsreaktion beim Kriechversuch ausreichend wäre. Allerdings ist es zum Verständnis der offensichtlich dreigeteilten Kriechkurve nützlich, alle drei Darstellungen des Verformungsverlaufes zu betrachten. Beim Relaxationsversuch wird die Probe zunächst einer Spannungs- oder Dehnungsbeanspruchung (bzw. einer kombinierten Beanspruchung) ausgesetzt und dann zu Beginn des Versuches in dem momentan erreichten Verformungszustand · eingefroren, d. h. ε = const. bzw. ε = 0 . Während des Versuches wird σ über t aufgezeichnet. In der Regel ergibt sich der in Abb. 5.15 dargestellte Spannungsabfall über der Zeit. Aus den in den Abb. 5.13 bis Abb. 5.15 dargestellten Verformungsreaktionen lassen sich die verschiedenen, äußerlich wahrgenommenen Erscheinungsformen des zeitabhängigen plastischen Verformungsverhaltens ablesen. Wird ein Material bei einer erhöhten Temperatur über einen bestimmten Zeitraum mit einer Spannung beansprucht bzw. mit einer mittleren Geschwindigkeit gedehnt, so ist eine allmähliche plastische Verformung des Materials zu beobachten. Die Spannung, bei der diese plastische Verformung einsetzt, ist um so niedriger je langsamer die
182
5 Plastische Verformung
Probe verformt wird (Gleiches gilt auch andersherum). Wird das Material nach Auftrag einer Beanspruchung in einem bestimmten Verformungszustand eingefroren, so findet ein Abbau der Spannung im Material statt. In der Anwendung findet die zeitabhängige Verformung jedoch nicht nur als Folge der bisher dargestellten Beanspruchungsarten statt, bei welchen eine oder mehrere Variablen als konstant bzw. null angenommen werden. In solchen Fällen kann es z. B. gleichzeitig zur plastischen Verformung und zum Spannungsabbau im Material kommen. Aus diesem Grund gibt es für die Charakterisierung und Beschreibung des zeitabhängigen Verhaltens über Werkstoffparameter verschiedene Ansätze, von denen die wichtigsten nachfolgend besprochen werden sollen.
5.4.2 Beschreibung des zeitabhängigen Verformungsverhaltens Aus der Vielschichtigkeit der Erscheinungsformen beim zeitabhängigen Verformungsverhalten ergibt sich das Problem, eine einfache und nachvollziehbare Beschreibung des Verhaltens zu finden, welche eine Charakterisierung über wenige aussagekräftige Parameter ermöglicht und damit zum einen eine Vorstellung von Verformungsverhalten gibt und andererseits einen Vergleich zwischen verschiedenen Werkstoffen zulässt. Für eine solche Beschreibung ist es notwendig, einen Verformungszustand zu finden, der für verschiedene Arten der Belastung vergleichbar ist und sich eindeutig definieren lässt. Werden die Verläufe der Beanspruchungsfunktion und der Verformungsreaktion beim Versuch mit konstanter Dehnungsrate (Abb. 5.13) mit denen des Kriechversuchs (Abb. 5.14) verglichen, so ergibt sich zwar für den in beiden Diagrammen eingezeichneten Bereich I eine voneinander verschiedene Charakteristik, im Bereich II weisen beide Verläufe jedoch dieselben Spezifika auf - eine konstante Dehnungsrate sowie eine konstante · Spannung. Dieser Verformungszustand σ, ε = const. wird in beiden Versu· chen über unterschiedliche Beanspruchungen - ε = const. für den Versuch mit konstanter Dehnungsrate und σ = const. für den Kriechversuch - erreicht und kann auch über viele dazwischen liegende Beanspruchungszustände erreicht werden. Offensichtlich handelt es sich bei diesem Zustand um einen eingeschwungenen Verformungszustand bei der zeitabhängigen Verformung, der über das Durchlaufen von von der Beanspruchungsart abhängigen Zwischenzuständen (Bereich IVerformung) eingenommen wird. Aufgrund seiner Unabhängigkeit von der Beanspruchungsart ist dieser eingeschwungene Zustand, welcher sich durch · σ, ε = const. auszeichnet und als quasistatische Kriechverformung bezeichnet wird, sehr gut geeignet, um das zeitabhängige Verformungsverhalten in einer ersten Näherung effektiv zu beschreiben. Wie später noch gezeigt wird (vgl. 5.4.3.3 - 5.4.3.7), lässt sich dabei die Dehnungsrate bei quasistatischer Kriechver· formung ε ss sehr einfach als Funktion der Spannung und der Temperatur ausdrükken:
5.4 Hochtemperaturplastizität
· ε ss = f ( σ, T )
183
(5.31)
Obwohl die Beschreibung des quasistatischen Kriechverhaltens bereits eine sehr effektive Möglichkeit bietet, das zeitabhängige Verformungsverhalten für viele technische Anwendungen mit hinreichender Genauigkeit zu beschreiben, ist für einzelne Belastungsfälle in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik eine weiter reichende und detailliertere Beschreibung erforderlich. Hierzu ist es notwendig, sich mit dem Verlauf des transienten Bereiches (Bereich I) bei der Kriechverformung zu befassen. Besonders für die in Abb. 5.14 dargestellte Kriechkurve existieren in der Literatur eine Reihe unterschiedlicher Beschreibungen. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, den Verlauf der Kriechkurve als Potenzreihe darzustellen [319]: · ε =
–ni
¦i ai ⋅ ti
,
(5.32)
wobei a i und n i Funktionen der Temperatur T und der Spannung σ sind. In der Regel sind mehrere Glieder dieser Potenzreihe für eine befriedigende Beschreibung notwendig. In besonderen Fällen, wie in Gleichung (5.33) 1 3 –2 · ε = --- ⋅ β ⋅ t ⋅ ( ε – ε 0 ) , 3
(5.33)
reicht jedoch das erste Glied aus. Die Formulierung in Gleichung (5.33) geht aus der Lösung einer Differenzialgleichung hervor, welche sich wiederum auf die Gleichung für das sogenannte Andrade-Kriechen zurückführen lässt [252, 320] ε = β⋅t
1⁄3
+ ε0 ,
(5.34)
wobei β ein konstanter Vorfaktor ist und ε 0 die instantane Dehnung bei Lastauftrag charakterisiert. Um den Zustand des quasistatischen Kriechens (Bereich II in Kriechkurve, Abb. 5.14) isoliert zu beschreiben, muss in der Potenzreihe in Gleichung (5.32) n = 0 gesetzt werden, sodass sich folgender Ausdruck für ε ergibt · ε = ε ss ⋅ t + ε 0 ,
(5.35)
· wobei ε ss der quasistatischen Kriechrate entspricht. Durch Kombination von Gleichung (5.35) mit der Formulierung für das Andrade-Kriechen ergibt sich ε = β⋅t
1⁄3
· + ε ss ⋅ t + ε 0
(5.36)
184
5 Plastische Verformung
Diese Formulierung lässt sich um einen weiteren Term zur Beschreibung des tertiären Kriechens (Bereich III in Kriechkurve, Abb. 5.14) erweitern, welche von Graham und Walles vorgeschlagen wurde [319] ε = ε0 + β ⋅ t
1⁄3
3 · + ε ss ⋅ t + γ ⋅ t
(5.37)
Aus dieser Gleichung, welchen den gesamten Verlauf der Kriechkurve in Abb. 5.14 wiedergibt, ergibt sich allerdings, dass für den Grenzwert t → 0 die · Kriechrate ε → ∞ strebt, was den Vorstellungen über die Kinetik des Kriechprozesses grundsätzlich widerspricht. Von McVetty wurde daher eine andere mathematische Formulierung vorgeschlagen, welche das Problem einer unendlichen Anfangskriechrate umgeht [321]. Zusammen mit adäquaten Formulierungen für den Bereich des tertiären Kriechens ergibt sich [322] t · ε = ε 0 + ε p ⋅ 1 – exp § – ----- · + ε ss ⋅ t + ε t ⋅ exp [ p ⋅ ( t – t t ) ] , © τp ¹
(5.38)
wobei ε p die Dehnung ist, die der primären Kriechphase zugerechnet werden kann, t t der Zeitpunkt ist, an dem die tertiäre Kriechphase beginnt und τ p , ε t und p weitere Materialkonstanten sind. Für die Beschreibung des tertiären Kriechens mit dem Term ε t ⋅ exp [ p ⋅ ( t – t t ) ] ergibt sich das praktische Problem, den Zeitpunkt t t zu bestimmen. Aus diesem Grund wurde die Formulierung aus Gleichung (5.38) wie folgt modifiziert [252, 323] t – tf t · ε = ε 0 + ε p ⋅ 1 – exp § – ----- · + ε ss ⋅ t + ε t ⋅ exp § ---------- · , © τp ¹ © τt ¹
(5.39)
wobei t f die experimentell leicht bestimmbare Zeit bis zum Bruch ist, ε t die Dehnung ist, die der tertiären Kriechphase zugerechnet werden muss und τ t eine weitere Materialkonstante darstellt. Da der Term für das quasistatische Kriechen · aufgrund des geringen Wertes von ε ss ebenso wie der Term für die instantane Dehnung ε 0 nur einen unbedeutenden Beitrag an der Gesamtdehnung leisten, wurde von Evans und Wilshire eine vereinfachte Beschreibung der Kriechkurve über das sogenannte Theta-Konzept vorgeschlagen [324, 325] ε = θ 1 [ 1 – exp ( – θ 2 ⋅ t ) ] + θ 3 [ exp ( – θ 4 ⋅ t ) – 1 ] ,
(5.40)
welches auf der additiven Überlagerung zweier Exponentialfunktionen besteht, die über vier Parameter θ 1 …θ 4 charakterisiert werden, welche aufgrund dieser völlig empirischen Kurvenbeschreibung keinen physikalischen Bezug mehr besitzen und anhand experimentell gewonnener Kriechkurven als spannungs- und temperaturabhängige Größen gewonnen werden müssen.
5.4 Hochtemperaturplastizität
185
Alle in den Gleichungen (5.32) - (5.40) dargestellten empirischen Beschreibungen der Kriechkurve beziehen sich auf den Beanspruchungsfall σ, T = const. , welcher in praktischen Beanspruchungsfällen in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik jedoch selten vorhanden ist. Dennoch bestehen verschiedene Bemühungen [326 - 328], die aus den Kriechkurven gewonnenen Parameter zur Beschreibung des transienten Verformungsverhaltens von Sn-basierten-Loten in elektronischen Aufbauten einzusetzen. Am weitesten gehen dabei die Arbeiten von Deplanque [328], der versucht, über eine Verformungs-Zeit-Relation auch eine Veränderung der Spannungsbeanspruchung bei der Beschreibung des transienten Verformungsverhaltens zu berücksichtigen. Eine andere Möglichkeit, transientes Verformungsverhalten zu beschreiben, besteht in der Verwendung viskoplastischer Stoffgesetze. Wippler, Kullig und Kuna [329] haben dabei eine auf den Materialmodellen von Chaboche [330] beruhende Materialroutine für das FEM-Programm ABAQUS entwickelt und auf der Basis von verschiedenen Experimenten an SnAgCu-Lot kalibriert.
5.4.3 Grundmechanismen
5.4.3.1 Kinetik der Versetzungsbewegung und Strukturentwicklung Um einen Zusammenhang zwischen den phänomenologisch beobachteten Erscheinungsformen der zeitabhängigen Verformung und ihren physikalischen Grundmechanismen herstellen zu können, ist es wichtig, zwischen der Kinetik zeitabhängiger (und gleichzeitig temperaturabhängiger) plastischer Verformung für eine konstante Struktur und der Kinetik der Strukturentwicklung zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen der Kinetik konstanter und variabler Strukturen wurde über verschiedene Experimente verdeutlicht [331, 332]. Am deutlichsten geht er aus dem in Abb. 5.16 dargestellten transienten Kriechexperiment hervor. Die beiden gestrichelten Linien zeigen die zeitabhängige Verformungsreaktion für den Fall einer konstanten Spannungsbeanspruchung zweier verschiedener Spannungsniveaus. Die Volllinien zeigen hingegen die zeitabhängige Verformungsreaktion, wenn während des Kriechexperiments die Beanspruchung zwischen diesen beiden Spannungsniveaus hin und her wechselt. Dabei ist zu erkennen, dass im Fall der Spannungsreduzierung von σ1 auf σ2 die Verformungsgeschwindigkeit unter den Wert der zugehörigen Verformungsgeschwindigkeit bei einer konstanten Spannungsbeanspruchung mit σ2 fällt. Dies zeigt, dass bei zeitabhängiger Verformung bei einer höheren Beanspruchung ( σ1 ) eine „härtere“ Struktur entwickelt wird, welche der Verformung einen höheren Widerstand entgegensetzt. Im Zeitpunkt der Beanspruchungsreduzierung bleibt diese Struktur erhalten, woraus sich eine zunächst niedrigere Verformungsrate als bei der gleichen Beanspruchung mit jedoch niedrigerer Beanspruchungsvorgeschichte ergibt. Bei Aufrechterhaltung dieser niedrigeren Beanspruchung ( σ2 ) erhöht sich jedoch mit zunehmender Ver-
186
5 Plastische Verformung
10-2
Kriechrate [1/s]
4,31 MPa
10-3
10-4
2,84 MPa 10-5 0
0,08
Kriechdehnung
0,16
0,24
Abb. 5.16 Transientes Kriechverhalten, verbunden mit Spannungsänderungen [331, 332]
formung die Verformungsrate wieder und läuft gegen den Wert der Verformungsgeschwindigkeit bei konstanter Beanspruchung mit σ2 . Wird daraufhin die Beanspruchung wieder von σ2 auf σ1 gesteigert, so ergibt sich aus der nun vorhandenen „weicheren“ Struktur eine gegenüber dem Fall mit konstanter Beanspruchung ( σ1 ) höhere Verformungsrate, welche sich im Verlauf einer weiteren Verformung wieder auf den Wert der Verformungsrate bei konstanter Beanspruchung σ1 absenkt. 5.4.3.2 Versetzungsstruktur Um einen Zusammenhang zwischen der Versetzungsbewegung und der makroskopisch erfassbaren Verformung herzustellen, wurde in 5.2.2.1 die Orowan-Glei· chung (5.8) verwendet, welche die Schergeschwindigkeit γ in Abhängigkeit von der Versetzungsdichte aller beweglichen Versetzungen ρ m und deren durchschnittlicher Geschwindigkeit v darstellt. Wird ein Kriechversuch betrachtet, so ändern sich die Beträge von ρ m und v infolge der Verformung und müssen daher als zeitabhängige Größen behandelt werden. Neben dieser Zeitabhängigkeit existiert jedoch auch noch eine Ortsabhängigkeit, wenn nicht die globale Verformung des gesamten Probekörpers, sondern eine lokale Verformungsrate betrachtet wird. Die makroskopisch beobachtete plastische Verformung ergibt sich aus einer hete-
5.4 Hochtemperaturplastizität
187
rogenen lokalen Abgleitung. Obwohl momentan noch keine durchgehende Theorie existiert, gibt es zahlreiche experimentelle Befunde, die zeigen, dass es zwischen der makroskopisch beobachteten Verformungsgeschwindigkeit und der über mikrostrukturanalytische Verfahren (TEM, SAED, EBSD) ermittelten Versetzungsstruktur einen Zusammenhang gibt. Nach dem momentanen Erkenntnisstand zur Entwicklung der Versetzungsstruktur bei der plastischen Verformung von Metallen bei erhöhten Temperaturen erhöht sich mit dem Beginn der plastischen Verformung zunächst die Gesamtversetzungsdichte. Durch die Wechselwirkungen zwischen den Versetzungen kann es zum Aufbau von Zellwänden mit geringem Orientierungsunterschied Θ kommen. Wird weiterhin von einem polykristallinen Werkstoff ausgegangen, in welchem die Fehlwinkel zwischen Körnern zwischen Θ = 10° - 62° betragen, so bilden sich innerhalb dieser Körner Subkörner aus, deren niedrig-energetische Korngrenzen durch die Versetzungswechselwirkungen während der Kriechverformung gebildet werden. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die Fehlwinkel der Subkorngrenzen Θ ≤ 1° betragen. Aus der Bildung von Subkörnern folgt, dass die Mikrostruktur von polykristallinen Metallen nicht allein durch die durchschnittliche Korngröße, sondern für den Fall der Kriechverformung auch durch die durchschnittliche Subkorngröße λ , den durchschnittlichen Fehlwinkel der Subkorngrenzen Θ λ und die Dichte der nicht in den Subkorngrenzen befindlichen Versetzungen ρ f gekennzeichnet ist. 5.4.3.3 Mechanismencharakteristik der Verformungskinetik Wenn, wie in 5.4.1 dargestellt, die plastische Verformung eines Werkstoffs bei höheren Materialtemperaturen unter Wirkung einer konstanter Last hervorgerufen wird, so lässt sich experimentell in der Regel eine Verformungsreaktion beobachten, welche sich in drei Bereiche unterteilen lässt (vgl. Abb. 5.14). Nachdem der erste Bereich bzw. das primäre Kriechen, in welchem sich das Material durch Änderungen in der Versetzungsstruktur verfestigt, durchlaufen wurde, beginnt der zweite Bereich bzw. das sekundäre Kriechen bzw. das quasistatische Kriechen. In diesem Bereich kommt es zu keiner weiteren Materialverfestigung. Aufgrund der komplexen Vorgänge während der Strukturentwicklung im ersten Bereich ist es zweckmäßig, anstelle einer Gesamtbeschreibung eingeschränkte Beschreibungen bestimmter Verformungszustände anzufertigen. Anfang der 1950er Jahre wurde erkannt, dass die Charakterisierung des Kriechverhaltens über den Zusammenhang zwischen der quasistatischen Verformungskinetik und bestimmten Beanspruchungsparametern, wie Scherspannung τ und der Temperatur T , sehr nützlich ist. Auf der Basis dieser Zusammenhänge war es möglich, verschiedene Arten der plastischen Hochtemperaturverformung zu klassifizieren und diese über experimentell gestützte theoretische Betrachtungen zu werkstoffphysikalischen Grundmechanismen identifizieren zu können.
188
5 Plastische Verformung
Die Vorstellungen über bestimmte Grundmechanismen der Verformung und ihre Zuordnung zu bestimmten Werkstoffklassen waren eine elementare Voraussetzung, um überhaupt geeignete Methoden zur experimentellen Untersuchung der Hochtemperaturplastizität sowie Ansätze zur Modellierung des Verformungsverhaltens zu finden. Durch die vielfältigen gegenseitigen Abhängigkeiten der die Hochtemperaturverformung von metallischen Werkstoffen bestimmenden physikalischen Parameter, wie Spannung, Dehnungsgeschwindigkeit, Temperatur und Werkstoffstruktur, ergäbe sich für die Charakterisierung der Hochtemperaturverformung eines bestimmten Werkstoffes ein nahezu nicht beherrschbares Experimentalprogramm, lägen nicht Vorstellungen über das zu erwartende qualitative Verformungsverhalten vor. Für diese experimentelle Charakterisierungsaufgabe hat sich die Beschreibung der Verformungskinetik über drei Parameter etabliert die mechanische Spannung σ , die Temperatur T und einen Mikrostrukturparameter, wie z. B. die Korngröße d g , den Phasenabstand d λ oder die Größe von Ausscheidungen d p . Dazu wird üblicherweise der Betrag der quasistatischen Kriech· geschwindigkeit ε ss über folgende Beziehung bestimmt · A⋅D⋅G⋅b b p σ n εss = ---------------------------- ⋅ § -----· ⋅ § ----· , © d g¹ © G¹ k⋅T
(5.41)
wobei D dem Diffusionskoeffizienten entspricht (mit D = D 0 ⋅ exp ( – Q ⁄ RT ) . Q entspricht der Aktivierungsenergie, R ist die Gaskonstante und D 0 stellt die spezifische Diffusionsgeschwindigkeit dar, G der Schermodul bei der entsprechenden Temperatur T ist, b den Burgersvektor darstellt, k der Boltzmannkonstante entspricht und A ein dimensionsloser Vorfaktor ist. Die Charakteristik eines vorherrschenden Kriechmechanismus lässt sich anhand der beiden Exponenten ablesen, welche als inverser Korngrößenexponent p und als Spannungsexponent n bezeichnet werden. Da die Kriechverformung in der Regel mit spezifischen Diffusionsmechanismen verbunden ist, gibt die im Diffusionskoeffizienten D implizit enthaltene Aktivierungsenergie Q Auskunft über den der Kriechverformung zugrunde liegenden Mechanismus, wenngleich dieser Wert oft weniger eindeutig ist als die sehr charakteristischen Werte für p und n [247]. Im Gegensatz zur Niedertemperaturplastizität, die durch die Wechselwirkung der Versetzungsbewegung mit bestimmten Elementen der Werkstoffstruktur (z. B. Gitter, Korngrenzen) gekennzeichnet war, können bei der Hochtemperaturplastizität verschiedene Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Elementen der Werkstoffstruktur (z. B. Gitter, Leerstellen, Versetzungen, Korngrenzen, Ausscheidungen) gleichzeitig auftreten und darüber hinaus kooperativ zusammenwirken, was eine eindeutige Zuordnung oft erschwert. In der Regel treten die mit einer Versetzungsbewegung verbundenen Mechanismen vor allem innerhalb einzelner Körner auf. Diese intergranularen Mechanismen repräsentieren häufig den Hauptmechanismus der Hochtemperaturverformung, wenn von üblichen Belastungsbedingungen ausgegangen wird. Unter besonderen Voraussetzungen kann jedoch auch ein Abgleiten einzelner Körner entlang ihrer Korngrenzen stattfinden. Ebenso
5.4 Hochtemperaturplastizität
189
Tabelle 5.1 Mechanismencharakteristik der Verformungskinetik bei hohen Temperaturen [247] Mechanismus
Q
p
n
Kornde- Korngrenz- Quelle formtion effekte
Intragranulare Versetzungsbewegungsmechanismen (Abgleiten von Kristallebenen) Versetzungsklettern
QV
0
4,5
ja
nein
[266]
Gleiten und Klettern von Versetzungen
QV
0
3
ja
nein
[267]
Haper-Dorn-Kriechen
QV
0
1
ja
nein
[268]
Korngrenzengleiten (Abgleiten verschiedener Körner gegeneinander) Korngrenzengleiten bei Kriechverformung
QV
1
3
nein
ja
[269]
Korngrenzengleiten bei Superplastizität
Q KG
2
2
nein
ja
[269]
Nabarro-Heering-Kriechen
QV
2
1
ja
ja
[262], [263]
Coble-Kriechen
Q KG
3
1
ja
ja
[264]
Diffusionskriechen
kann der Leerstellendiffusion eine dominante Rolle zukommen, wenn die homologen Materialtemperaturen zwar hoch, jedoch die mechanischen Beanspruchungen sehr niedrig sind. Tabelle 5.1 gibt einen kurzen Überblick über verschiedene Mechanismen mit den dazugehörigen charakteristischen Werten für Q , p und n sowie ihre Zuordnung zu intergranularen Versetzungsbewegungsmechanismen, Korngrenzengleiten und Diffusionskriechen.
5.4.3.4 Charakteristik intragranularer Versetzungsbewegungsmechanismen Als intragranulare Mechanismen werden solche verstanden, welche nur durch Wechselwirkung mit Strukturelementen entstehen, welche in der Strukturhierarchie (vgl. 3.2.1) unterhalb von Körnern angesiedelt sind. Die plastische Verformung der meisten ingenieurtechnisch verwendeten polykristallinen Werkstoffe lässt sich bei hohen Temperaturen sehr oft auf intragranulare Versetzungsbewegungen zurückführen, da diese in der Regel sehr große Körner besitzen. In Werkstoffen mit einer feinen Kornstruktur - wie sie aufgrund der allgemeinen Strukturabmessungen in elektronischen Aufbauten gewöhnlich vorkommen - können intragranulare Mechanismen dann von Bedeutung sein, wenn nur ein Korn bzw. wenige Körner über dem Querschnitt der Werkstoffstruktur zu finden sind, da diese dann wie einkristalline Materialien behandelt werden müssen. Nachdem Anfang der 1950er Jahre aus experimentellen Befunden klar geworden war, dass sich die plastische Verformung metallischer Werkstoffe bei erhöhten
190
5 Plastische Verformung
Temperaturen von der bei niedrigen Temperaturen unterscheidet [333], bestand das Bemühen, diese auch theoretisch nachvollziehen zu können. Die Aufgabenstellung einer solchen theoretischen Modellbetrachtung bestand grundlegend darin, zu erklären, wodurch es ohne Spannungssteigerung zu einem kontinuierlichen Abgleiten von Kristallebenen kam und weshalb die Geschwindigkeit dieses Abgleitvorganges mit einem Mechanismus zusammenhing, der selbst durch Prozesse der Festkörperdiffusion bestimmt war. In einem ersten theoretischen Modell ging Weertman [270] davon aus, dass sich Vesetzungsaufstauungen (pile-ups) an unbeweglichen Versetzungskonfigurationen (Lomer-Cottrell-Versetzungen) bilden, welche gleichmäßig im Kristall verteilt sind. Da die Existenz von Lomer-Cottrell-Versetzungen jedoch experimentell nicht bewiesen werden konnte, entwickelte Weertman [271, 272] eine modifizierte Variante dieses Modells, welche davon ausgeht, dass Versetzungsringe auf verschiedenen Gleitebenen von gleichmäßig verteilten Quellen (z. B. Frank-Read-Quellen) emittiert werden (siehe Abb. 5.17). Durch die Spannungsfelder um die Versetzungsringe entstehen verschiedene Wechselwirkungen, wenn zwei Ringe auf benachbarten Ebenen einander passieren wollen. Durch ihre Fähigkeit zum Quergleiten annihilieren sich passierende Schraubenversetzungssegmente, wenn diese ein unterschiedliches Vorzeichen aufweisen. Dieses Annihilieren der Schraubenversetzungssegmente blockiert wiederum die Bewegung der verbleibenden Stufenversetzungssegmente, welche sich infolgedessen aufstauen und dadurch eine Rückspannung erzeugen, die die Emission neuer Versetzungsringe zum Erliegen bringt. Im Modell wird nun angenommen, dass die äußersten Stufenversetzungssegmente der Versetzungsringaufstauung durch Kletterprozesse annihilieren, wodurch wiederum ein neuer Versetzungsring durch die Quelle emittiert werden kann. Unter der in 5.2.2.3 ausgeführten Annahme, dass kletternde Versetzungen je nach Richtung Leerstellen absorbieren bzw. generieren, entsteht eine vom Kletterprozess und damit von der Leerstellendiffusion abhängige Verformungskinetik mit einem Spannungsexponenten von n = 4,5 und einer Aktivierungsenergie, die der Volumendiffusion entspricht (Q = Qv). In späteren Versionen seines Modells modifiziert Weertman wiederum seine Vorstellungen über die Versetzungsanordnung, da experimentelle Beobachtungen keine Hinweise auf Versetzungsaufstauungen geben [252, 265]. Dies ändert jedoch nichts an der ermittelten Spannungsabhängigkeit der Verformungsrate mit n = 4,5. Diese kommt allerdings durch die Annahme einer konstanten und von der wirkenden Spannung unabhängigen Dichte von Versetzungsquellen zustande. Verwirft man diese experimentell nicht zu belegende Idee, so gelangt man zu den bereits in 5.2.2.3 ausführlich dargestellten Modellvorstellungen über einen kletterprozesskontrollierten quasistatischen Kriechprozess mit einem Spannungsexponenten von n = 3 und einer Aktivierungsenergie, die der Volumendiffusion Q V entspricht. Aufgrund der intragranularen Betrachtungsweise dieses Modells existiert keine Korngrößenabhängigkeit, d. h. der Korngrößenexponent p = 0. Ein anderer theoretischer Ansatz für intragranulare Versetzungsbewegungsmechanismen stützt sich auf die Bewegung von Schraubenversetzungen mit Sprün-
5.4 Hochtemperaturplastizität
191
Abb. 5.17 Modellvorstellung eines intergranularen Kletter- und Gleitprozesses nach Weertman [271]
gen. Die bekanntesten Arbeiten stammen dabei von Barett und Nix [273]. Ausgehend von der Annahme, dass Sprünge in Schraubenversetzungen, welche sich nicht innerhalb einer selben Gleitebene befinden, nur bewegt werden können, wenn Leerstellen emittiert werden, ergibt sich eine Erhöhung der Leerstellenkonzentration gegenüber der Gleichgewichtskonzentration in der Umgebung der Sprünge. Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Rückstellkraft auf den Sprung gleich der wirkenden äußeren Kraft ist, woraus sich analog zu den Betrachtungen von Weertman (vgl. 5.2.2.3, Gleichung (5.15) - (5.22)) eine entsprechende Rate für das Klettern von Schraubenversetzungen berechnen lässt. Dadurch, dass die Abhängigkeit der Versetzungsdichte von Schraubenversetzungen mit der dritten Potenz angenommen wird, gelangt der Ansatz zu einem Spannungsexponenten von n = 4. Neuere Ansätze beruhen auf komplexeren Gleichungssystemen, welche die parallele Wirkung mehrerer Mechanismen unter Ausbildung spezifischer infolge plastischer Verformung entstehender werkstoffstruktureller Elemente, z. B. Versetzungsdipole, berücksichtigt. Für diese komplexen Ansätze ergeben sich jedoch nur nummerische Lösungen. Diese sagen Spannungsexponenten im Bereich von n = 3 ... 4 voraus [274, 275]. In einer Betrachtung einer großen Anzahl vorliegender Kriechdaten kommen Frost und Ashby in [33] zu dem Schluss, dass das theoretisch beschriebene Verformungsverhalten eher eine Ausnahme ist, da experimentell für die meisten Metalle und Legierungen ein charakteristischer Spannungsexponent zwischen n = 4…10 bestimmt wurde. In einer neueren Analyse jüngerer Kriechdaten von Al, Cu und Cr0,5Mo0,5V0,25-Stahl gelangt Wilshire [246] zu der Aussage, dass der Spannungsexponent bei mittleren Spannungen bei n ≥ 4 liegt. Blum [245] widerspricht jedoch der Anschauung, dass tatsächlich eine Diskrepanz zwischen der theoretischen Beschreibung und der experimentellen Charakterisierung des Kriechverhaltens vorliegt, indem eine nichtadäquate Versuchsführung als Ursache für die ermittelten Unterschiede verantwortlich gemacht wird. Dabei argumentiert er, dass der
192
5 Plastische Verformung
Zustand einer quasistatischen Kriechverformung, welcher allein durch ein Gleichgewicht zwischen der Generation und Annihilierung von Versetzungen gekennzeichnet ist, bei gleichzeitigem Auftreten dynamischer Rekristallisationsvorgänge, wie sie bei hohen Spannungen und Temperaturen vorkommen, nicht erreicht werden kann. Viele Modellmaterialien, wie z. B. Cu, Ni, Ag, neigen jedoch zu starken Rekristallisationserscheinungen. Eine Ausnahme bilden jedoch Al und α -Fe. Tatsächlich konnte ein Spannungsexponent von n = 3 an Aluminiumproben bei niedrigen Spannungen nachgewiesen werden [260, 261]. Ein zum theoretischen Ansatz adäquates Experiment verlangt seiner Ansicht nach die Aufrechterhaltung einer konstanten Versetzungsstruktur, was versuchsmethodisch jedoch sehr schwierig ist.
5.4.3.5 Charakteristik von Korngrenzgleitprozessen Beim Korngrenzengleiten, d. h. beim Abgleiten von Körnern gegeneinander, handelt es sich um einen Prozess, der auf einer hohen Ebene der Strukturhierarchie stattfindet. Um einen solchen Verformungsmechanismus unter Beibehaltung der allgemeinen Strukturintegrität eines Werkstoffes zu ermöglichen, sind jedoch begleitende Prozesse notwendig, welche von niedriger gestellten Elementen der Strukturhierarchie, z. B. Leerstellen und Versetzungen, getragen werden. Korngrenzgleitprozesse werden vor allem in Zusammenhang mit superplastischer Verformung von metallischen Werkstoffen diskutiert. Zum Erreichen sehr hoher Verformungsgrade (mehrere hundert bis tausend Prozent) müssen unter kontinuumsmechanischen Gesichtspunkten, z. B. bei der Betrachtung eines Zugversuches, besondere Bedingungen erfüllt werden. Dies lässt sich am einfachsten nachvollziehen, wenn der Zusammenhang zwischen der zeitabhängigen Probenverlängerung dl ⁄ dt und der bei einsetzender Kriechverformung der Probe zu erwarteten Versuchskraft F in einer vereinfachten impliziten Form aufgestellt wird: n dl ----- ⋅ 1 --- = C ⋅ § F ---· , © A¹ dt l
(5.42)
Hierbei entspricht l der Probenlänge, A dem Probenquerschnitt, C einer temperatur- und gefügeabhängigen Konstanten und n dem Spannungsexponenten. Wird in Gleichung (5.42) die erste Zeitableitung der Gleichung zur Berechnung des Probenvolumens eingesetzt (unter Annahme eines konstanten Probenvolumens während des gesamten Zugversuches) dl 1 ----- ⋅ 1 --- = – dA ------- ⋅ --- , dt l dt A
(5.43)
5.4 Hochtemperaturplastizität
193
so ergibt sich eine Beziehung für die Abhängigkeit der Querschnittsverjüngungsrate – d A ⁄ d t vom Probenquerschnitt A n (1 – n) dA – ------- = C ⋅ F ⋅ A dt
(5.44)
Aus Gleichung (5.44) kann abgeleitet werden, dass die auf Versetzungsgleiten und -klettern basierenden Verformungsmechanismen n ≥ 3 zu einer Beschleunigung der Verjüngungsrate bei abnehmendem Probenquerschnitt führen (d. h. selbstbeschleunigende Einschnürung), die um so stärker wird je höher n ist. Infolgedessen werden bei monotoner plastischer Verformung nur geringe Bruchdehnungen erreicht. Bei auf Diffusionsprozessen ( n = 1 , Coble- oder Nabarro-HerringKriechen) basierenden Verformungsmechanismen ist die Verjüngungsrate unabhängig vom Probenquerschnitt (d. h. stabile Einschnürung), wodurch sehr große Verformungen erzielt werden könnten. Allerdings sind die geringen Verformungsgeschwindigkeiten dieser Mechanismen irrelevant für die meisten technischen Belange. Bei Korngrenzgleitprozessen beträgt n = 2…3 . Hierdurch schreitet die Einschnürung zwar konstant fort, allerdings beschleunigt sich dieser Prozess kaum selbst. Dadurch sind größere Verformungen als bei auf Versetzungsgleiten und klettern basierenden Verformungsmechanismen möglich. Pearson [276] war einer der Ersten, der superplastische Verformung an speziell präparierten SnPb- und SnBi-Legierungen nachwies. Voraussetzung für das Zustandekommen superplastischer Verformung sind jedoch bestimmte Gefügemerkmale und Verformungsbedingungen [277], wie geringe Korngröße (d < 10 μm) und globulare Kornform, hohe Verformungstemperaturen T > 0,5 Ts und moderate Verformungsraten ε/ dt = 10-2 ... 10-6. Die der superplastischen Verformung zugrunde liegenden physikalischen Mechanismen sind zum Teil umstritten [278]. Viele Autoren gehen allerdings von Korngrenzengleiten und Korngrenzenmigration als den grundlegenden Mechanismen aus [45, 277, 279, 280], welche sich aufgrund der Größe von Körnern gut experimentell beobachten lassen. Das Prinzip des Korngrenzengleitens ist schematisch in Abb. 5.18 dargestellt. Die Verschiebung findet in allen drei Raumrichtungen (x, y, z) gleichzeitig statt. Der Spannungsvektor zeigt dabei entweder schräg zur Abgleitfläche (entsprechende Korngrenze) oder liegt in der Ebene dieser Fläche. In der Regel sind der Abgleitvektor a und der Spannungsvektor und die Raumwinkel θ, ϕ gegeneinander verdreht. Diese Verdrehung, welche für gleichzeitig ablaufende Einzelabgleitprozesse jeweils unterschiedlich ist, macht eine Modellbetrachtung des Korngrenzengleitens sehr schwierig. Die offensichtliche Komplexität von Korngrenzenabgleitmechanismen führt jedoch zu der These, dass dieser Prozess nur in Verbindung mit anderen Verformungsmechanismen stattfinden kann. Da reale polykristalline Materialien mannigfaltige Individualformen von Körnern aufweisen, ist der Abgleitprozess nur in Zusammenhang mit Prozessen der Korngrenzenmigration vorstellbar, welche wiederum Versetzungs- oder Leerstellenbewe-
194
5 Plastische Verformung
q
Korn 1
Korn 2
w
s
a
v
y
s
u
A
B
A
w
s B
Abb. 5.18 Schematische Darstellung eines Abgleitprozesses zwischen zwei Körnern, wobei a der Abgleitvektor zwischen Korn 1 und Korn 2 ist und u, v und w die Verschiebungen in x-, y- und zRichtung charakterisieren (aus [247]).
gungen voraussetzen. Vorstellungen über das Zusammenwirken von Leerstellenbewegung und Korngrenzengleiten sind schematisch in Abb. 5.19 dargestellt. Die linke Abbildung skizziert dabei den Fall für einen Werkstoff mit verhältnismäßig großen Körnern, welche eine Subkornbildung innerhalb des Korns erlauben. Die Bewegung von Versetzungen entlang der Korngrenze führt zu einem Aufstau am Tripelpunkt A. Die dadurch hervorgerufene Spannungskonzentration aktiviert die Versetzungsbewegung im Nachbarkorn. Diese führt zu intergranularen Mechanismen der Versetzungsbewegung, welche, wie in 5.4.3.4 beschrieben, durch Kletterprozesse bestimmt werden. Diese bestimmen wiederum die Geschwindigkeit des Abgleitens, sodass der Gesamtverformungsprozess durch einen Spannungsexponenten von n = 3 und eine Aktivierungsenergie, die der Volumendiffusion Q V entspricht, charakterisiert ist. Es existiert eine Korngrößenabhängigkeit mit p = 1. Wenn die Körner allerdings so klein werden, dass intragranulare Mechanismen nicht mehr zum Tragen kommen können, führt die durch den Versetzungsaufstau hervorgerufene Spannungskonzentration im Korngrenzentripel A zu einer Versetzungsaufstauung an der gegenüberliegenden Korngrenze in Punkt B (rechte Skizze in Abb. 5.19). Versetzungen dieser Aufstauung klettern in die Korngrenze. Dieser Mechanismus kontrolliert die Geschwindigkeit des Abgleitprozesses, welcher infolgedessen durch einen Spannungsexponenten von n = 2 und eine Aktivierungsenergie, die der Korngrenzendiffusion Q KG entspricht, charakterisiert ist. Es exis-
5.4 Hochtemperaturplastizität
d >l
d
(a)
A
(c)
195
D
B
C
(d)
(e)
Abb. 5.19 Schematische Darstellung von Rachinger-Korngrenzengleiten für große Körner (a), in denen eine Subkornbildung stattfindet, und Korngrenzengleiten für kleine Körner ohne Subkornbildung (b-e) [247]
tiert jedoch eine Korngrößenabhängigkeit mit p = 2. Im Gegensatz zum davor beschriebenen Mechanismus resultiert die Gesamtverformung ausschließlich auf Korngrenzengleiten, da intragranulare Mechanismen aufgrund der kleinen Korngröße nicht stattfinden können.
5.4.3.6 Charakteristik von Diffusionsmechanismen Um plastische Deformation von metallischen Werkstoffen zu erklären, wird in der Regel die Kinetik der Versetzungsbewegung betrachtet (vgl. 5.2.1), da Versetzungen als Träger plastischer Verformungsinkremente angesehen werden. Es gibt jedoch auch die Möglichkeit, dass plastische Verformung ohne Beteiligung von Versetzungen hervorgerufen wird, indem ein beanspruchungsgerichteter Massentransport durch Festkörperdiffusion stattfindet. Die Ersten, die die Möglichkeit eines solchen Mechanismus theoretisch in Betracht zogen, waren Nabarro [262] und Herring [263]. Später betrachtete Coble [264] die Möglichkeit eines beanspruchungsgerichteten Massentransportes, welcher anders als bei den Betrachtungen von Nabarro und Herring nicht durch das Kristallgitter, sondern über Korngrenzen erfolgt. Das Zustandekommen eines gerichteten Massentransportes kann sehr einfach verstanden werden, wenn, wie in Abb. 5.20 skizziert, ein kubischer Einkristall an zwei gegenüberliegenden Seiten einer Zugspannung σ z ausgesetzt wird, während
196
5 Plastische Verformung (b)
(a)
entleerte Zone
Leerstellenfluss
Einlagerungszone
Abb. 5.20 Prinzip diffusionskontrollierter plastischer Verformung: a) Leerstellenfluss innerhalb eines idealisiert gedachten kubischen Einkristalls bzw. entlang seiner Korngrenzen, b) Entwicklung von entmischten Gebieten durch gerichtete Festkörpertransportmechanismen [247]
auf alle orthogonal dazu verlaufenden Seiten eine Druckspannung σ d wirkt. Gleichzeitig wird angenommen, dass der Einkristall keine Versetzungen enthält und dass alle Quellen und Senken für Leerstellen sich an den Kristalloberflächen befinden. Vergleicht man die Erzeugung einer Leerstelle an der Oberfläche mit der Entfernung eines Atoms aus dem Kristallgitter, so wird klar, dass bei der Diffusionsbewegung dieses Atoms zu einer unter Druckspannung stehenden Oberfläche Arbeit mit dem Betrag von σd Ω verrichtet wird, wobei Ω dem Atomvolumen entspricht. Damit entsteht an den Druckspannungsflächen eine gegenüber dem thermodynamischen Gleichgewicht verringerte Leerstellenkonzentration mit +σd ⋅ Ω Q dc v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ exp § -----------------· © kT ¹ © KT¹
(5.45)
An den Zugspannungsflächen kommt es analog zu einer Erhöhung der Leerstellenkonzentration mit d+
cv
– σz ⋅ Ω Q = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ exp § ----------------· © kT ¹ © KT¹
(5.46)
Dieser Unterschied in der Leerstellenkonzentration zwischen Zug- und Druckflächen führt zu dem in Abb. 5.20 a) skizzierten Leerstellenfluss, welcher entweder durch den Kristall oder über die Korngrenzen erfolgen kann. Der in der Gegenbewegung zum Leerstellenfluss stattfindende Atomtransport führt zu einer Ablagerung von Atomen an den Druckflächen sowie zu einer Anlagerung an den Zugflächen, in dessen Folge eine Streckung des Einkristalls in Zugrichtung und eine Stauchung in Druckrichtung entsteht. Für den Fall des Leerstellenflusses durch das
5.4 Hochtemperaturplastizität
197
Kristallgitter (Nabarro-Herring-Kriechen) ist der Gesamtverformungsprozess durch einen Spannungsexponenten von n = 1 und eine Aktivierungsenergie, die der Volumendiffusion Q V entspricht, charakterisiert. Die Korngrößenabhängigkeit beträgt p = 2. Für den Fall des Leerstellenflusses entlang der Korngrenze (CobleKriechen) ist der Gesamtverformungsprozess durch einen Spannungsexponenten von n = 1 und eine Aktivierungsenergie, die der Korngrenzendiffusion Q KG entspricht, charakterisiert. Die Korngrößenabhängigkeit beträgt p = 3. Ein weiteres Merkmal des Diffusionskriechens ist in Abb. 5.20 b) skizziert. Wenn ein durch Diffusionskriechen verformter Werkstoff gleichmäßig verteilte harte Ausscheidungen bzw. Teilchen enthält, kommt es dort, wo der Werkstoff durch Zugspannungen gestreckt wird, zu einer Verarmung an diesen Ausscheidungen bzw. Teilchen, während es an den Druckspannungsflächen zu einer Anreicherung kommt. Um bei der durch Diffusionskriechen hervorgehobenen Streckung von Körnern in Zugrichtung sowie ihre Stauchung in Druckrichtung nicht die strukturelle Integrität des Werkstoffs zu verlieren, d. h., um eine Porenbildung in den Korngrenzen zu verhindern, ist eine laterale Verschiebung der Körner gegeneinander notwendig. Dieser Prozess wird im Allgemeinen als Lifshitz-Gleiten bezeichnet. Obwohl er phänomenologisch sehr stark dem in 5.4.3.5 besprochenen Prozess des RachingerGleitens ähnelt, ist er auf einen grundlegend anderen physikalischen Hintergrund zurückzuführen. Lifshitz-Gleiten erlaubt die beim Diffusionskriechen entstehenden Formveränderungen der Körner, wobei es jedoch nicht zu einer Veränderung der Kornanzahl kommt.
5.4.3.7 Mechanismencharakteristik in Legierungen Die bisherige Behandlung der Mechanismencharakteristik der Versetzungsbewegung bezog sich auf reine Metalle, wenngleich einige der besprochenen Mechanismen, z. B. Korngrenzengleiten, auch in mehrphasigen Metallen, d. h. in Legierungen, stattfinden. Generell ist die Beschreibung der Versetzungsbewegung in Legierungen, d. h. in der Mehrzahl technisch angewendeter metallischer Werkstoffe, schwierig, da es aufgrund ihres vielschichtigen Aufbaus (vgl. 3.2.1) zu einer großen Anzahl verschiedener Wechselwirkungen kommen kann, welche sich neben den Problemen in der theoretischen Beschreibung vor allem sehr schwer experimentell nachweisen lassen, da die verschiedenen Strukturelemente eines mehrphasigen Stoffgemischs selten in klar definierten geometrischen Formen bzw. Größen vorliegen. Zu den für die Kinetik der Versetzungsbewegung in Legierungen wichtigsten Wechselwirkungen zählen solche mit gelösten Substitutionsatomen (vgl. 3.2.3.2), Ausscheidungsteilchen (vgl. 3.2.3.7) oder Teilchen einer zweiten Phase (vgl. 3.2.3.5). Aus versetzungstheoretischer Sicht ist es zunächst unerheblich, mit welchen Hindernissen, d. h. gelösten Fremdatomen oder Fremdteilchen, die Versetzungen wechselwirken. Der Mechanismus, mit dem es einer Versetzung gelingt, ein Hin-
198
5 Plastische Verformung
dernis zu überwinden, hängt von der Steifheit der Versetzung und der Hindernisstärke, genauer vom Verhältnis zwischen der Hinderniskraft F und der Versetzungslinienspannung T , ab. Wenn die maximale Hinderniskraft ( F max = 2 ⋅ T ) infolge der Wechselwirkung zwischen Versetzungen mit einem Hindernis entstehen kann, so wird dieses als hart (bzw. nicht schneidbar) betrachtet und muss durch die Versetzungslinie umgangen werden. Bei dieser als Orowan-Mechanismus bezeichneten Hindernisumgehung biegt sich die Versetzungslinie durch, sodass hinter einem Hindernis zwei Liniensegmente entgegengesetzten Vorzeichens in eine antiparallele Position kommen und annihilieren. Dadurch wird die Versetzungslinie vom Hindernis abgetrennt, um das sie einen konzentrischen Versetzungsring hinterlässt. Die zur Durchbiegung des freien Versetzungsliniensegments der Länge l erforderliche Schubspannung ergibt sich nach der Peach-Köhler-Gleichung [141, 288] aus F = τ⋅b⋅l,
(5.47)
wobei b dem Burgersvektor entspricht und F eine am Versetzungsliniensegment angreifende vorwärtstreibende Kraft ist, welcher der Linienspannung T , d. h. der Spannung, die versucht, die Versetzungslinie immer wieder gerade zu ziehen, entgegenwirkt, die sich aus 2
G⋅b T = -------------l
(5.48)
ergibt, wobei G dem Schubmodul entspricht. Beim kritischen Wert von 2 F = 2 ⋅ T = G ⋅ b ergibt sich die notwendige Durchbiegeschubspannung τ min für die halbkreisförmige Durchbiegung der Versetzungslinie F G⋅b τ min = --------- = ----------- , b⋅l l
(5.49)
welche gleichzeitig die aufzubringende Schubspannung zum Abgleiten der Kristallebenen ist. Dementsprechend ergibt sich bei harten Hindernissen die für den Umgehungsmechanismus aufzuwendende Spannung (Orowan-Spannung, Δτ OR ) aus G⋅b Δτ OR = § -----------· , © lH ¹
(5.50)
wobei l H dem planaren Hindernisabstand, d. h. den Abstand zwischen zwei benachbarten Hindernissen in der jeweilig angenommenen Gleitebene, entspricht. Handelt es sich um ein sogenanntes weiches Hindernis, so hält dieses der maximalen erreichbaren Kraft in der Wechselwirkung mit einer Versetzungslinie nicht
5.4 Hochtemperaturplastizität
199
stand, d. h. F < F max = 2 ⋅ T , wodurch es durch die Versetzungslinie geschnitten wird, noch bevor diese die kritische halbkreisförmige Durchbiegung für den Orowan-Prozess erreicht. Nach einer Rechnung von Friedel [141, 281-283], bei der eine Versetzungslinie als gestreckt betrachtet wird ( F ≤ 0,2 ⋅ T ), folgt für diesen Fall l ----- = lH
2 ⋅ T· § ---------, © F ¹
(5.51)
was plausibel erscheint, wenn davon ausgegangen wird, dass die Versetzungslinie mit zunehmender Krümmung gleichzeitig immer mehr Hindernisse berührt, sodass sich die mittlere freie Versetzungslinienlänge l immer mehr dem Hindernisabstand l H nähert. Durch Kombination der Gleichungen (5.48) und (5.51) folgt für die Schneidspannung Δτ S =
F · 3 § G ⋅ b· § ----------⋅ ----------© G ⋅ b¹ © l H ¹
(5.52)
Verschiedene Untersuchungen und Überlegungen, welche andere Aspekte des Werkstoffgefüges (z. B. räumliche Verteilung der Hindernisse) bzw. der Art der Wechselwirkungen betrachten, kommen zu dem Schluss, dass die in einer realen Legierung tatsächlich auftretende Orowan-Spannung um etwa 20 % niedriger liegt [141, 284-287] G⋅b Δτ OR = 0,8 ⋅ § -----------· , © lH ¹
(5.53)
wenngleich dieser Vorfaktor in Abhängigkeit von der Geometrie der Hindernisse in weiten Grenzen schwanken kann. Für den Fall weicher Hindernisse wurde die Fleischer-Friedel-Abschätzung (Gleichung (5.52)) von Schwarz und Laubusch korrigiert, da z. B. nur bei sehr kleinen Zumischungen von Substitutionsatomen in einem Mischkristall von einer wechselwirkungsfreien Konfiguration zwischen ihren elastischen Feldern auszugehen ist. Unter Berücksichtigung weiterer Wechselwirkungseffekte gelangen sie auf folgende Abschätzung für die Schneidspannung bei einer üblichen Mischkristallhärtung [141] Δτ MKH = k ⋅ G ⋅ β
4⁄3
⋅c
2⁄3
,
(5.54) 2
wobei für die Konzentration gelöster Substitutionsatome c = ( b ⁄ l H ) angenommen wird, β einem Wechselwirkungskoeffizienten entspricht, der verschiedene Effekte, wie z. B. die paraelastische Wechselwirkung durch Atomradienun-
200
5 Plastische Verformung
terschiede (vgl. 3.2.3.2; Tabelle 3.2) oder die dielastische Wechselwirkung durch die Veränderung des Schubmoduls beinhaltet, und k ein Vorfaktor ist. Die in einem Mischkristallgitter gelösten Substitutionsatome wirken auf atomarem Niveau und stellen gegenüber der Versetzungsbewegung weiche Hindernisse dar. Neben den bereits aufgeführten Wechselwirkungen mit sich bewegenden Versetzungslinien ergeben sich durch die gelösten Substitutionsatome auch Änderungen bezüglich der Festkörperdiffusion, welche unter Beteiligung verschiedener Atomsorten stattfindet, wodurch sich in Abhängigkeit der Anordnung der Substitutionsatome verschiedene Diffusionsgeschwindigkeiten einstellen können. Da die gelösten Substitutionsatome bei höheren homologen Materialtemperaturen an Beweglichkeit zunehmen, können sie zu Kristallpositionen mit großer Wechselwirkungsenergie in der Nähe von Versetzungen diffundieren. Dadurch bilden sich sogenannte Wolken von Substitutionsatomen um die Versetzung, welche die Bewegung der Versetzungen behindern. Die Bewegung der Versetzungen mit Substitutionsatomwolken erfolgt als viskoses Gleiten, d. h. ν ∼ σ , und die Wolken werden mit den sich bewegenden Versetzungen mitgeführt. Beim Überschreiten einer kritischen Spannung reißen sich die Versetzungen allerdings von den Wolken los und verfügen dadurch schlagartig über eine höhere Geschwindigkeit, wodurch es zu Instabilitäten in der plastischen Gesamtverformung kommen kann. Aufgrund des viskosen Charakters der Versetzungsbewegung mit Substitutionsatomwolken ergeben sich für die Mischkristallhärtung Spannungsexponenten von n = 3…5 [252, 259]. Demgegenüber kann der Spannungsexponent in teilchengehärteten Legierungen sehr hohe Werte bis zu n = 40 annehmen [252, 287, 290]. Derart hohe Werte von n, welche durch die klassische Theorie der Kriechdeformation nicht abgedeckt werden, wurden unter anderem auch in bleifreien Lotwerkstoffen, wie z. B. eutektischem SnAgCu [289] ( n = 13…19 ) , festgestellt. Aus diesem Grund wurde in [290-292] für die werkstoffmechanische Modellierung von Kriechprozessen in ausscheidungs- und teilchengehärteten Legierungen ein Modell vorgeschlagen, welches die Behinderung der Versetzungsbewegung durch harte Teilchen über ein Kriechfestigkeitsinkrement σ th = σ – σ m ( σ : äußere Spannung; σ m Kriechfestigkeit der entsprechenden teilchenfreien Metallmatrix) berücksichtigt. Mit dem empirischen Wert von σ th kann die Spannungsabhängigkeit der quasistatischen Kriechrate teilchengehärteter Legierungen mit σ – σ th · Q ε = A 2 ⋅ § -----------------· ⋅ exp § – ----------· © E ¹ © k ⋅ T¹
(5.55)
beschrieben werden, wobei der Spannungsexponent n einen Wert von ca. 4 annimmt und Q der Aktivierungsenergie für Selbstdiffusion der teilchenfreien Metallmatrix entspricht. Über den Charakter des Kriechfestigkeitsinkrements σ th existieren verschiedene Erkenntnisse. So wurde in Experimenten an einer Ni-20Cr-2ThO2-Legierung [287] festgestellt, dass es sich bei σ th um eine konstante Schwelle handelt, unterhalb derer kein Kriechen stattfindet. Demgegenüber kam Lagneborg [291] durch
5.5 Wechselverformung
201
Experimente an einer Ni-18,4Cr-2,6Al-Legierung zu der Erkenntnis, dass das Kriechfestigkeitsinkrement bei σ > σ th konstant ist ( σ th = const. ), während es bei σ ≤ σ th zu einer Funktion σ' th = k ⋅ σ
σ ≤ σth
(5.56)
der angelegten äußeren Spannung σ wird. In diesem Fall erfolgt die Beschreibung des Kriechverhaltens teilchengehärteter Materialien für den Spannungsbereich σ ≤ σ th mit einer aus den Gleichungen (5.55) und (5.56) abgeleiteten Formulierung: σ n n Q · ε = A 3 ⋅ ( 1 – k ) ⋅ § ---· ⋅ exp § – --------- , © E¹ © k ⋅ T¹
(5.57)
wobei n wiederum einen Wert von ca. 4 annimmt und Q der Aktivierungsenergie für Selbstdiffusion der partikelfreien Metallmatrix entspricht. Auch für teilchengehärtete Lotwerkstoffe, wie z. B. SnAg4Cu0,5 [293], konnten bei Raumtemperatur unterhalb einer Spannung von σ = 6,5 MPa konstante Werte von n = 4,4 und Q = 88,4 KJ/mol (Q = 96.7 KJ/mol für Kriechen von β-Sn [294]) ermittelt werden, während oberhalb dieser Spannung (bei Anwendung von Gleichung (5.23)) sich der Wert des Spannungsexponenten bis auf n = 20 (bei σ = 25 MPa ) steigerte. Der Zweck der Einführung eines teilweise variablen (vgl. Gleichung (5.56)) Kriechfestigkeitsinkrements σ th besteht darin, die Wirkung der Mikrostruktur auf das Kriechverhalten über σ th = f ( Mikrostruktur ) darstellen zu können. Experimente haben gezeigt, dass der Wert von σ th sowohl mit dem Volumenanteil als auch mit der Größe und Form der harten Ausscheidungen korreliert [295-297]. Dabei besteht bei ausscheidungs- und teilchengehärteten Werkstoffen die Besonderheit, dass aufgrund von verformungsbedingten mikrostrukturellen Veränderungen des Werkstoffes unterschiedliche Werte von σ th bei verschiedenen Verformungsgraden zu beobachten sind [287, 298].
5.5 Wechselverformung 5.5.1 Merkmale In allen bisherigen Betrachtungen zur plastischen Verformung wurde immer eine Beanspruchung gewählt, welche entweder kontinuierlich gesteigert wurde (vgl. Abb. 4.1) bzw. über einen bestimmten Zeitraum konstant gehalten wurde (vgl. Abb. 5.14; Abb. 5.15). Die Möglichkeit, die Beanspruchungsrichtung umzukehren, um somit eine Deformation in entgegengesetzter Richtung zu erzielen,
202
5 Plastische Verformung
wurde von allen bisherigen Betrachtungen nicht berührt. Aufgrund ihrer vielfältigen Erscheinungsformen bei einsinniger Verformung ist die Phänomenologie einer plastischen Rückverformung bei weitem komplexer als die einer elastischen Rückverformung, welche sich sehr einfach als Übergang einer Federstreckung in eine Federstauchung vorstellen lässt. Hierbei steht vor allem die Frage im Vordergrund, wie die sich bei einsinniger Beanspruchung entstandene Versetzungsstruktur bei Gegenbeanspruchung weiterentwickelt. Analog zu dem in Abb. 4.1 dargestellten Versuch sollen die wesentlichen Merkmale der Werkstoffreaktion bei Wechselverformung anhand eines klassischen Wechselbeanspruchungsexperimentes mit einem einfachen Beanspruchungsprofil dargestellt werden. Die Beanspruchung, d. h. die Dehnungsänderung über der Zeit, wird dabei beginnend bei null (A) nur bis einem Wert gesteigert, welcher oberhalb der Fließgrenze εF , σF liegt (B), danach wird die Beanspruchung mit dem inversen Anstieg der bisherigen Dehnungs-Zeit-Gerade (zwischen A-B) wieder abgesenkt, sodass diese, nachdem sie die Abszisse geschnitten hat, bis zu Punkt C läuft. Der Ordinatenwert von C hat dabei den negativen Betrag von B. Von C aus wird die Beanspruchung mit dem Anstieg der ersten Dehnungs-Zeit-Geraden (zwischen A-B) bis zum Punkt D gesteigert, wobei wiederum die Abszisse geschnitten wird. Der Ordinatenwert von D entspricht dem von B (vgl. Abb. 5.21). Werden die in diesem Experiment ermittelten Spannungs- und Dehnungsverläufe in ein Spannungs-Dehnungs-Diagramm übereinander aufgetragen, so ergibt sich zunächst der in 5.1.1 besprochene und in Abb. 4.1 dargestellte Verlauf. Nach der Lastumkehr in Punkt B ergibt sich eine von dort beginnende Gerade mit dem Anstieg E0 (elastische Verformungsreaktion), die rechts vom Ursprung die Abszisse schneidet. Nachdem in Ordinatenrichtung ein charakteristischer Wert (beispielsweise 2 ⋅ σF ) durchlaufen wurde, beginnt sich der Anstieg, d. h. der s
s B
D
B, D
sF
A
A
t
e
-sF C
C
Abb. 5.21 Versuch mit zyklischer Dehnungsbeanspruchung in Form einer symmetrischen Dreiecksfunktion über der Zeit
5.5 Wechselverformung
203
Werkstoffwiderstand, gegen die Rückverformung abzusenken, da sich das Material in entgegengesetzter Richtung plastisch rückverformt. Nachdem in Punkt C eine Lastumkehr eingeleitet wurde, verformt sich das Material in entgegengesetzte Richtung wieder mit einem Anstieg E0 und schneidet links vom Ursprung die Abszisse. Nachdem in Ordinatenrichtung wiederum ein charakteristischer Wert (z. B. 2 ⋅ σF ) durchlaufen wurde, beginnt sich der Anstieg, d. h. der Werkstoffwiderstand, gegen die Rückverformung abzusenken, da sich das Material nun wieder in Vorwärtsrichtung plastisch zu verformen beginnt. Bei weiterer Verformung wird Punkt D erreicht, der abhängig vom zyklischen Verfestigungsverhalten (vgl. Abb. 5.23) mit Punkt B identisch sein kann, sodass der Verformungsverlauf des Werkstoffes im Spannungs-Dehnungs-Diagramm zwischen den Lastpunkten B und D eine Hysteresenform um den Ursprung beschreibt.
5.5.2 Beschreibung der Wechselverformung Im Gegensatz zum äquivalenten Versuch mit monotoner Belastung, welcher mit einer konstanten Dehnungsrate durchgeführt wird (vgl. 5.1.1 und Abb. 4.1), erhält man beim zyklischen Versuch keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Spannung und Dehnung, sondern eine Spannungs-Dehnungs-Hysterese, welche in ein auf vier Quadranten erweitertes Spannungs-Dehnungs-Diagramm aufgetragen wird (Abb. 5.22). Aus der Hysterese lassen sich bestimmte Werkstoffkennwerte direkt bestimmen. Der Elastizitätsmodul entspricht dem Anstieg der Spannungs-Dehnungs-Kurve direkt nach dem Lastumkehrpunkt. Die doppelte Gesamtdehnungs-
E
s
ε
Neukurve
t
Ds
Depl
e
De
Abb. 5.22 Spannungs-Dehnungs-Hysterese, Δσ = doppelte Spannungsamplitude,Δε = doppelte Dehnungsamplitude, Δεpl = doppelte plastische Dehnungsamplitude
204
5 Plastische Verformung
amplitude 2Δε = 2 ( Δε el + Δε pl ) , die der Werkstoff erfährt, entspricht dem Abstand der beiden Lastumkehrpunkte. Entsprechendes gilt für die Gesamtspannungsamplitude. Die reine plastische Dehnungsamplitude Δε pl ⁄ 2 ergibt sich aus der Hälfte der Strecke zwischen den beiden Schnittpunkten der Hysterese mit der Dehnungsachse. Dadurch lassen sich aus der Spannungs-Dehnungs-Hysterese
a) Zyklische Verfestigung
σ
ε
t
σ
ε
t
b) Zyklische Entfestigung
ε
σ
σ
c) Zyklische Relaxation
σ
ε
ε
t
t
t
σ
ε
t
d) Zyklisches Kriechen
σ
σ
ε
t
t
ε
Abb. 5.23 Mögliche Verformungsreaktionen infolge zyklischer Belastung in Abhängigkeit des Werkstofftyps und der Beanspruchungsart: a) zyklische Verfestigung, b) zyklische Entfestigung, c) zyklische Relaxation, d) zyklisches Kriechen [304, 312]
5.5 Wechselverformung
205
(Abb. 5.22) - im Gegensatz zur monotonen Spannungs-Dehnungs-Kurve (Abb. 5.8) - auch sehr kleine plastische Dehnungen sehr genau bestimmen. Beim zyklischen Aufbringen einer Dehnung in Form einer symmetrischen Dreiecksfunktion über der Zeit wird durch die Kombination der verschiedenen Beanspruchungsparameter (Dehnungsamplitude Δε ⁄ 2 , Periodendauer t p oder Frequenz f und Zyklenzahl N ) ein bestimmtes Aussehen der Verformungshysteresen in der Werkstoffreaktion erzeugt. Aus den Unterschieden zwischen diesen Hysteresen lassen sich weitere Eigenschaften bzw. Parameter des Werkstoffes ablesen. Eine Möglichkeit der Gestaltung zyklischer Verformungsexperimente besteht im Beibehalten von Dehnungsamplitude Δε ⁄ 2 und Periodendauer t p mit dem Ziel, die Veränderung der Hysterese über der Zyklenanzahl zu beobachten (Abb. 5.23). Dadurch lässt sich feststellen, ob sich ein Werkstoff bei Wechselbeanspruchung ver- oder entfestigt. Eine andere Gestaltungsmöglichkeit von Verformungsexperimenten mit zyklischer Beanspruchungsfunktion besteht in der Veränderung der Amplitude Δε ⁄ 2 unter Beibehaltung der Verschiebegeschwindigkeit. Dadurch erhält man die Darstellung des zyklischen Werkstoffverhaltens in Bezug auf mehrere Dehnungsamplituden, mit der die Hysteresen ermittelt wurden. In dem in Abb. 5.24 dargestellten Versuch werden dazu jeweils zwei Zyklen mit konstanter Amplitude durchgeführt und die Werkstoffreaktion aufgezeichnet. Im nächsten Schritt wird die Amplitude um das Inkrement ε i gesteigert und weitere zwei Zyklen mit konstanter Amplitude durchgeführt. Das Ausführen von zwei aufeinanderfolgenden identischen Dreiecksdehnungen ist erforderlich, da sich das Gedächtnis des Materials (vgl. 5.5.4) zu Beginn des ersten Zyklus in einem unbekannten Zustand befindet. Bei der Durchführung zweier aufeinanderfolgender identischer Belastungszyklen determiniert hingegen der erste Zyklus das Materialgedächtnis, wodurch der zweite Zyklus eine klar definierte Spannungs-DehnungsHysterese erzeugt. Im Ergebnis dieses Versuches entsteht ein Satz von Spannungs-
s ε
t
Abb. 5.24 Spannungs-Dehnungs-Hysteresen für unterschiedliche Amplituden [32]
e
206
5 Plastische Verformung
Dehnungs-Hysteresen. Durch Verbindung der Wendepunkte im ersten Quadranten ergibt sich eine eindeutige Spannungs-Dehnungs-Kurve, wie sie auch im Versuch mit monotoner Belastung und konstanter Dehnungsrate entsteht. Diese wird als Zyklische-Spannungs-Dehnungs-Kurve bezeichnet. Die Darstellung der Zyklischen-Spannungs-Dehnungs-Kurve wird sehr oft unter Abzug der elastischen Verformungsreaktion in der Form σ = f ( Δε pl ) vorgenommen. Bei der Charakterisierung eines Werkstoffes über eine Spannungs-Dehnungs-Kurve wird - wie beim Spannungs-Dehnungs-Diagramm - keine wesentliche Abhängigkeit der Verformung von der Zeit angenommen, d. h., es wird vom Auftreten niedertemperaturplastischer Verformungsmechanismen ausgegangen. Um die Dehnungsrateabhängigkeit, d. h. die Zeitabhängigkeit, der SpannungsDehnungs-Hysterese zu bestimmen, wird der Versuch mit zyklischer Dehnungsbeanspruchung einer symmetrischen Dreiecksfunktion über der Zeit unter Beibehaltung einer konstanten Amplitude mit veränderlicher Periodendauer ausgeführt (Abb. 5.25). Analog zur Versuchsvariante mit veränderlicher Amplitude werden jeweils zwei identische Zyklen pro Periodendauer ausgeführt. Zwischen diesen Doppelzyklen wird eine Relaxationsperiode durchgeführt, die die im Material verbleibenden Spannungen nach Beendigung zweier Zyklen abbauen sollen. Bleibende Spannungen, welche beim direkten Übergang von einer zur nächsten Periodendauer auftreten, führen zwar nicht zu einer Verfälschung der Messung, in Einzelfällen können jedoch die dadurch entstehenden asymmetrischen Hysteresen nur schlecht ausgewertet werden, da sie von einer Materialrelaxation überlagert werden, da die Dehnungsrateabhängigkeit der Spannungs-Dehnungs-Hysteresen vor allem auf Kriechprozesse zurückzuführen ist. Die soeben beschriebene Versuchsvariante mit sich zyklisch wiederholender Dreiecksdehnung unterschiedlicher Periodendauern korrespondiert - bezogen auf Experimente monotoner Belastung mit Experimentalreihen von Zugversuchen, welche mit verschiedenen konstanten Dehnungsraten durchgeführt wurden.
σ
ε
t
t3 t2
tRELAX
tRELAX 2.t1
t1
tRELAX 2.t2
2.t3
Abb. 5.25 Spannungs-Dehnungs-Hysteresen für verschiedene Dehnungsraten
ε
5.5 Wechselverformung
207
5.5.3 Mechanismencharakteristik bei Wechselverformung
5.5.3.1 Verformungsreaktion bei zyklischer Beanspruchung Um die Besonderheiten der elementaren werkstoffphysikalischen Mechanismen der Wechselverformung geeignet darzustellen, soll zunächst der phänomenologische Zusammenhang zwischen Versagen und Beanspruchung betrachtet werden. In Abb. 5.26 ist das Werkstoffversagen bei einsinniger und bei sich zyklisch wiederholender Wechselbeanspruchung gegenübergestellt. Wie in den Abschnitten 5.3.1.1 und 5.3.1.2 angeführt, ist die Verfestigung bei plastischer Verformung infolge einsinniger Beanspruchung durch Elementarprozesse der Versetzungsvervielfachung gekennzeichnet. Durch diese Versetzungsmultiplikation entsteht eine immer höhere Anzahl von auf verschiedenen Ebenen abgleitenden Versetzungen, welche aufgrund ihrer steigenden Dichte im Kristall sich in ihrer Abgleitbewegung zunehmend zu blockieren beginnen. Das mit zunehmender Verformung steigende Spannungsniveau (sowohl global über der Probe als auch lokal zwischen Versetzungen) führt im Zusammenhang mit der sich ausbildenden Versetzungsstruktur je nach Verformungsbedingungen zu verschiedenen ein Versagen des Werkstoffes hervorrufenden Mechanismen, wie dem Aufreißen zwischenatomarer Bindungen (vgl. 3.2.2.1) durch starke Zugspannungen, dem Lunker- bzw. Porenwachstum und der Hohlraumbildung im Werkstoffinneren bzw. der Kerbbildung an der Werkstoffoberfläche. Im Spannungs-Dehnungs-Diagramm (Abb. 5.26) wird das Einsetzen dieser Versagensmechanismen durch ein scheinbares Abflachen des Werkstoffwiderstandes bei zunehmender Verformung gekennzeichnet. Wie aus den Entlastungskurven (E3 gegenüber E2) hervorgeht, ist dieses Abflachen jedoch auf eine Verringerung des effektiven Probenquerschnittes durch Versagensmechanismen zurückzuführen [299]. Bei sich zyklisch wiederholender Wechselbeanspruchung tritt Werkstoffversagen auf, auch wenn die Dehnungsbeanspruchung innerhalb eines einzelnen Zyklus so niedrig ist, dass sie bei einsinniger Beanspruchung noch nicht zum Versagen geführt hätte (entspricht Beanspruchung bei Fall 2 in Abb. 5.26). Versagen infolge Wechselbeanspruchung kann in Abhängigkeit vom Werkstoff sogar dann auftreten, wenn global, d. h. über der gesamten Probenlänge, eine rein elastische Verformung vorgenommen wird. Es gibt jedoch auch sogenannte dauerfeste Werkstoffe, die unter einer zyklischen elastischen Beanspruchung nicht zum Versagen neigen (entspricht Fall 4 in Abb. 5.26). Das Auftreten von Versagensmechanismen bei Spannungsniveaus, die signifikant unterhalb der Streckgrenze liegen, hängt mit den Besonderheiten der sich bei zyklischer Wechselbeanspruchung ausbildenden Versetzungsstrukturen zusammen, durch die stark lokalisierte plastische Verformungsreaktionen hervorgerufen werden können, welche pro Zyklus zwar nur zu einer geringen, z. T. kaum nachweisbaren Schädigung des Werkstoffes führen, die sich in kumulativer Weise jedoch zu einem Wert steigern, bei dem dann ein vollständiges Werkstoffversagen auftritt.
208
5 Plastische Verformung
5.5.3.2 Versetzungsanordnungen bei zyklischer Beanspruchung Im Ergebnis zahlreicher Untersuchungen an einkristallinen Werkstoffen mit einem kubisch-flächenzentrierten Kristallgitter [299-310] konnten verschiedene Formen der Versetzungsanordnung bei eingeschwungener Werkstoffreaktion ermittelt werden. Die schematische Darstellung in Abb. 5.27 verdeutlicht das Auftreten der verschiedenen Formen von Versetzungsanordnungen in Abhängigkeit von der zyklischen Dehnungsamplitude (bzw. Lastwechselzahl) und dem Gleitcharakter im jeweiligen Werkstoff. Für das Verständnis der weiteren Beschreibungen zu den Versetzungsanordnungen ist es in Bezug auf die Vorstellungen bei einsinniger Beanspruchung wichtig, wahrzunehmen, dass die Verformungen, welche im linken Teil des Diagramms in Abb. 5.27 erreicht werden, so klein sind –5 ( Δε pl < 10 ) , dass sie bei einer plastischen Verformung infolge einsinniger Beanspruchung in der Regel nicht betrachtet werden. Bei diesen sehr kleinen Verformungen führen Versetzungsbewegungen als auch die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Versetzungen bzw. zwischen Versetzungen und Hindernissen wie Korngrenzen und Fremdphasen zu Veränderungen in der Mikrostruktur, so dass infolge einer zyklischen plastischen Wechselverformung typische Arten bestimmer Mikrostrukturänderungen hervorgerufen werden. Eine Art der Mikrostrukturänderung, welche aus einer stabilen Versetzungsanordnung resultiert, besteht in der Bildung persistente Gleitbänder. Durch sie wird eine Konzentration der plastischen Verformung auf bestimmte Materialgebiete hervorgerufen, da die Versetzungsbewegung hauptsächlich innerhalb dieser Gleitbänder stattfindet. Persistente Gleitbänder wurden vor allem in kfz-Metallen, wie Cu
s
s s
Ds
e
2
m3
2
1
m2
m1
Bruch
2
e
3
4
2 3 4
m4 > m3 > m2 > m1
e
a)
e
1
4
m4
s
e
1 3
s
10
4
10
5
10
6
10
7
10
8
NB
b)
Abb. 5.26 Zusammenhang von Versagen und Beanspruchung bei a) einsinniger und b) sich zyklisch wiederholender Beanspruchung. Bild a) zeigt eine Spannungs-Dehnungs-Kurve. Bild b) zeigt den Verlauf der Spannungsamplitude der Spannungs-Dehnungs-Hysterese über der Zyklenzahl.
5.5 Wechselverformung
209
wellige Gleitung planare Gleitung
Stapelfehlerenergie
oder Ni, beobachtet und waren dort in der Regel parallel zur Ebene dichtester Packung ausgerichtet [305-307]. Sie bilden sich jedoch nur dann aus, wenn eine zyklische plastische Wechselverformung mit sehr geringen Amplituden auftritt. Eine andere Art der Mikrostrukturänderung, welche ebenfalls aus einer stabilen Versetzungsanordnung resultiert, besteht in der Bildung von Versetzungszellstrukturen, die im fortschreitenden Stadium zu Subkorngrenzen führen können, wie sie auch für die Kristallerholung typisch sind [308-310]. Versetzungszellen sind dreidimensionale Gebilde. Sie bilden sich dann aus, wenn eine zyklische plastische Wechselverformung mit sehr großen Amplituden auftritt. Die Ausbildung von Versetzungszellen bzw. Subkörnern wurde vor allem bei erhöhten Temperaturen bzw. bei Werkstoffen mit großer Stapelfehlerenergie in Zusammenhang mit sogenannter welliger Gleitung beobachtet. Form und Größe der Versetzungszellen bzw. Subkörner sind vor allem von der Amplitude der plastischen Wechselverformung, der Temperatur, der Anzahl der Wechselverformungszyklen als auch von den Wechelwirkungen mit Korngrenzen und Fremdphasen abhängig [311]. So geht aus [312] beispielsweise hervor, dass die Zellgröße mit zunehmender Dehnungsamplitude sinkt. Die Folge der Bildung von Versetzungszellen ist, dass sich - vergleichbar zur Kristallerholung vor dem Einsetzen von Rekristallisationsprozessen (vgl. 3.5.2.1) Versetzungen annihilieren als auch sich innerhalb von Versetzungszellgrenzen bzw. Subkorngrenzen energetisch günstig anordnen [305, 306]. Wenn die Versetzungsdichte innerhalb der Versetzungszellen sinkt, ergeben sich für die noch vor-
Versetzungszellen Aderstrukturen, Dipole, persistente Gleitbänder
Gemischte Strukturen Planare Anordnungen, Versetzungsgruppen
10
5
10
6
7
10 Bruchlastspielzahl N B
plastische Dehnungsamplitude Δεpl
Abb. 5.27 Schematische Übersicht der Versetzungsanordnung von kubisch-flächenzentrierten Metallen bei Ermüdungsversuchen [299]
210
5 Plastische Verformung
handenen frei beweglichen Versetzungen größere freie Weglängen, welche wiederum zu einem geringeren Widerstand gegen plastische Verformung führen. Hieraus ergibt sich eine zyklische Entfestigung des Materials, die nicht auf die Bildung von Mikrorissen oder Poren im Material zurückzuführen ist [305, 313].
5.5.3.3 Aufbau von Subkörnern Metallische Werkstoffe mit mittlerer und höherer Stapelfehlerenergie zeigen schon bei geringen Anfangsverformungen eine ausgeprägte Neigung zur Vielfachgleitung, d. h., neben dem primären Gleitsystem sind auch eine Reihe sekundärer Gleitsysteme aktiviert. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen diesen sich auf kreuzenden Gleitebenen bewegenden Versetzungen kommt es zur Ausbildung von Versetzungszellstrukturen, die bei steigender Verformung zunehmen und dann Subkorngrenzen bilden können. Die Unterscheidung zwischen Versetzungszellwänden und Subkorngrenzen ergibt sich aus dem geometrischen Arrangement der Versetzungen. Der Terminus Versetzungszellwände wird im Allgemeinen dann gebraucht, wenn die Grenze Dipole oder Multipole enthält, welche sich ausbilden, wenn sich Stufenversetzungen entgegengesetzten Vorzeichens auf naheliegenden parallelen Ebenen (ca. 20 ... 30 nm) anordnen, jedoch im Unterschied zu quergleitfähigen Schraubenversetzungen sich nicht annihilieren können. Hierdurch haben Versetzungszellwände eine bestimmte räumliche Ausdehnung senkrecht zur Grenzfläche, d. h. eine Dicke. Bei Subkorngrenzen handelt es sich hingegen um Kleinwinkelkorngrenzen (vgl. 3.2.3.4), d. h. um Versetzungsnetzwerke ohne Dipole. Bei zunehmender Verformung kommt es zur Aufstauung von immer mehr Dipolen in den Versetzungszellwänden und damit zur Erhöhnung der Versetzungsdichte, wodurch zunehmend Prozesse der dynamischen Erholung einsetzen, wodurch die Zellwände der Versetzungszellen immer schärfer werden und zunehmend einen Subkorngrenzencharakter einnehmen. Eine andere Form der Umwandlung von Versetzungszellwänden in Subkorngrenzen tritt bei thermischer Aktivierung auf, da hierdurch Dipole annihilieren können und nur geometrische Versetzungen übrig bleiben, die einen bestimmten Missorientierungswinkel zwischen benachbarten Subkörnern hervorrufen. Durch die Umwandlung von Versetzungszellwänden in Subkorngrenzen sinkt der relative Anteil von Dipolen in den Grenzen (zu Beginn nahe 100%) gegen null. Bei höheren homologen Materialtemperaturen erhöht sich der Subkorngrenzencharakter der Zellwände mit zunehmender Verformung, bis der Zustand einer quasistatischen Kriechverformung erreicht wird. Versetzungszellwände sind daher eher typisch für Niedrigtemperaturplastizität, welche durch eine permanente Verfestigung gekennzeichnet ist, während Subkorngrenzen vor allem bei Hochtemperaturverformung ausgebildet werden, wenn sich ein eingeschwungener Verformungszustand, d. h. keine Verfestigung, einstellt [141, 251, 259, 314].
5.5 Wechselverformung
211
5.5.4 Materialgedächtniseffekte
5.5.4.1 Der Bauschinger-Effekt Im vorhergehenden Abschnitt konzentrierte sich die Beschreibung verschiedener Versuchsvarianten zur Ermittlung der Spannungs-Dehnungs-Hysterese zunächst auf einen Vergleich zu äquivalenten Versuchen mit monotoner Belastung. Neben solchen Parametern, die sich sowohl aus monotonen Versuchen als auch aus reversiblen Versuchen bestimmen lassen, liefern letztere noch zusätzliche Aussagen über die Verformungsreaktion von Werkstoffen. Ein wichtiges Phänomen ist dabei das Materialgedächtnis. Erfährt ein Material zunächst eine Zugbeanspruchung (Abb. 5.28) bis in den Bereich der plastischen Verformung (Punkt B), so erfolgt die nachfolgende Entlastung zunächst so lange elastisch, bis eine plastische Rückverformung einsetzt (Punkt C). Dabei ist die Elastizitätsgrenze für das Einsetzen plastischer Rückverformung erniedrigt. Dieser Effekt wird nach seinem Entdecker [315] als Bauschinger-Effekt bezeichnet. Bei erneuter Zugbeanspruchung über den Punkt B hinaus folgt das Material jedoch nicht der erwarteten gestrichelten Kurve, sondern erinnert sich an die Vorverformung und verformt sich entlang der Linie, die ohne Entlastung beschritten worden wäre. Diese scheinbare Fähigkeit des Werkstoffs, sich den bisher durchlaufenen Spannungs-Dehnungs-Pfad zu merken, wird als Materialgedächtnis bezeichnet. s
s B D
B, D
C
E
C
A
A
t
e
Abb. 5.28 Materialgedächtnis und Bauschinger-Effekt (adaptiert aus [32])
5.5.4.2 Lastwechseleffekte Alle bisherigen Betrachtungen bezogen sich vor allem auf stetige Beanspruchungsänderungen und ließen den Fall einer sprunghaften Beanspruchungsände-
212
5 Plastische Verformung
rung weitestgehend unbetrachtet. Obwohl sprunghafte Beanspruchungsänderungen sich nicht notwendigerweise aus typischen Feldbelastungen ergeben, sind diese sehr nützlich, um typische Charakteristika des transienten Verformungsverhaltens, d. h. der Übergangsreaktion, zu erhalten [141, 252, 259]. Grundsätzlich lässt sich jede Sprungantwort in folgende drei Anteile zerlegen: • Eine instantan einsetzende elastische Verformungsreaktion, welche aufgrund des in 4.2.1 beschriebenen Mechanismus der Gitterverzerrung direkt an jede Änderung der Spannung gekoppelt ist. • Eine anelastische Reaktion, welche bei einer Spannungsreduktion mit einer Rückbewegung der sich an Hindernissen aufgestauten bzw. durchgebogenen Versetzungssegmente verbunden ist und damit zu einer Relaxation weitreichender innerer Rückspannungen führt oder welche bei einer Spannungserhöhung zu einer Vorwärtsbewegung, d. h. einer stärkeren Durchbiegung der an Hindernissen aufgestauten Versetzungssegmente, und damit zu einem Aufbau der weitreichenden inneren Rückspannungen führt. • Eine plastische Verformungsreaktion, welche einer Versetzungsbewegung bei der wirkenden Spannung entspricht, welche zusätzlich zur anelastischen Reaktion stattfindet. Es ist schwierig, deutlich zwischen den beiden Arten nichtelastischer Verformung zu unterscheiden. Allerdings findet die anelastische Reaktion in der Regel in einem kurzen Zeitraum nach dem Spannungssprung statt, während die plastische Reaktion unabhängig von der verstrichenen Zeit nach dem Sprung ist und nur von der Höhe der wirkenden Spannung abhängt. Sind die aufgebrachten Spannungsreduktionen klein, so ist in der Regel zu beobachten, dass sich die plastische Verformung mit verringerter Geschwindigkeit fortsetzt, ohne dass sich anelastische Rückverformungen im Zeit-Dehnungs-Verlauf bemerkbar machen. Haben die aufgebrachten Spannungsreduktionen hingegen einen beträchtlichen Betrag, wird die weitere Verformung nach dem Spannungssprung zunächst von anelastischen Rückverformungen dominiert und die Verformungsgeschwindigkeit ändert das Vorzeichen. Diese Rückverformung ist eine Folge der weitreichenden, während der vorangegangenen Verformung aufgebauten inneren Rückspannungen. Es existieren vielfältige Anstrengungen, den Betrag der inneren Rückspannung zu bestimmen, welche vor allem zum sogenannten Dip-Test geführt haben. Hierbei wird versucht, den Betrag der Spannungsreduktion so zu wählen, dass die durch die wirkende Spannung verursachte Vorwärtsbewegung von Versetzungen genau durch die durch Rückspannung verursachte Rückwärtsbewegung ausgeglichen wird, sodass die globale Verformungsgeschwindigkeit null ist. Jedoch haben eine Reihe von Untersuchungen gezeigt, dass die experimentelle Bestimmung der inneren Rückspannung ein sehr komplexes und experimentell sehr schwierig zu beherrschendes Thema ist [252]. Trotz dieser Komplikationen liefert der Spannungsreduktionstest wichtige Hinweise zur Abschätzung der inneren Rückspannung [141].
6.1 Technische Ursachen von Ausfällen
213
6 Schädigung 6.1 Technische Ursachen von Ausfällen Das Versagen einer mechanisch funktionellen Struktur zeigt sich phänomenologisch durch einen Bruch, welcher die jeweilige Struktur in mindestens zwei nicht mehr miteinander verbundene Bereiche teilt. Diese für einen (mechanischen) Ausfall charakteristische makroskopisch beobachtbare Erscheinung des Bruches ist allerdings nur der Endzustand, welchem üblicherweise eine weniger sichtbare kontinuierliche Schädigung des Werkstoffes vorausgeht. Bevor die physikalischen Einzelmechanismen dieser Schädigung als auch die Methoden ihrer Beurteilung bzw. Berechnung beschrieben werden, soll zuvor kurz auf den Zusammenhang zwischen den Ausfällen und der Zuverlässigkeit eines technischen Systems eingegangen werden, da es für die Einordnung der verschiedenen Konzepte zur theoretischen Analyse von Schädigungsvorgängen notwendig ist, zunächst die Beziehungen der einzelnen Termini untereinander deutlich zu machen und voneinander abzugrenzen. Der Begriff der Zuverlässigkeit eines technischen Systems bezeichnet die Eigenschaft, eine bestimmte Funktion fehlerfrei unter definierten Bedingungen über einen festgelegten Zeitraum zu erfüllen. Unter dem Oberbegriff der Zuverlässigkeit sind verschiedene technische Kennwerte definiert, welche die Zeitperiode angeben, in der ein Bauelement, eine Baugruppe oder ein Gerät mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit einwandfrei funktioniert. Das Problem des Begriffes der Zuverlässigkeit eines technischen Systems ist, dass dieser eine Eigenschaft kennzeichnet, die sich nicht direkt untersuchen bzw. beschreiben lässt. Um die Zuverlässigkeit beschreiben zu können, ist es notwendig, ihre Komplementärgröße, die Unzuverlässigkeit bzw. den Ausfall zu beschreiben bzw. zu untersuchen. In dieser Weise ist die nichtmessbare Eigenschaft Zuverlässigkeit an das erfassbare Ereignis eines Ausfalls gebunden. In umgekehrter Richtung gilt diese Beziehung jedoch nicht. Zum Verständnis der Beziehung zwischen den Begriffen Zuverlässigkeit und Ausfall der Zuverlässigkeit ist es zweckmäßig, den Begriff der Zuverlässigkeit eines technischen Systems von dem der Qualität zu unterscheiden (vgl. Tabelle 6.1). Diese klare Trennung von Zuverlässigkeit und Qualität wird in der Fachliteratur nicht immer vollzogen, da beide Aspekte die Lebensdauer eines Produktes in gleicher Weise beeinflussen. Die Qualitäts- und Zuverlässigkeitssicherung komplexer elektronischer Systeme erfordert eine Reihe von Aktivitäten während der Entwicklungs- und Produktionsphase. Zu diesen gehören u. a. die Berechnung der Betriebsfestigkeit, die Durchführung von Analysen und Prüfungen, die Wahl und Qualifikation von Bauteilen und Materialien, eine Dokumentation der Fertigungsschritte, eine Beurteilung der Eignung der Fertigungsverfahren für das angestrebte Produkt und eine Überprüfung von Fertigungstoleranzen während der laufenden Produktion. Wäh-
214
6 Schädigung
rend die Qualitätsarbeit darauf ausgerichtet ist, Konformität zu getroffenen Spezifikationen zu erreichen und die Stabilität des Fertigungsprozesses zu verbessern, zielt die Zuverlässigkeitsarbeit darauf ab, die fehlerfreie Funktion eines Produktes für definierte Umgebungsbedingungen abzusichern. Dabei beziehen sich Zuverlässigkeitsbetrachtungen oftmals auf ein noch zu entwickelndes Produkt und gehen davon aus, dass dieses ein Idealprodukt ist, welches in höchster Qualität und ohne strukturelle Mängel gefertigt wurde. Tabelle 6.1 Ziele und Methoden in den Bereichen Qualität und Zuverlässigkeit zur Vermeidung von Ausfällen in technischen Erzeugnissen während einer von der Anwendung geforderten Mindestlebensdauer Qualität
Zuverlässigkeit
-Eingangskontrolle
-Design
-Prozesskontrolle
-Werkstoffauswahl
-Prozessverifikation
-Last- und Feldbedingungen
-Technologieoptimierung
-Ausfallmechanismen
-Konformitätsprüfung
-Transformationsgleichungen
-Akzeptanzkriterien
-Lebensdauerprognosen
Für die Einordnung bestimmter Arten von Ausfallen zu zuverlässigkeitsrelevanten und zuverlässigkeitsirrelevanten Typen ist es notwendig, ihre Ursachen genau zu betrachten. Für die Beantwortung der Frage, warum es im Laufe der Geschichte in technischen Anlagen und Geräten immer wieder zu zum Teil in ihrer Auswirkung sehr katastrophalen Ausfällen kam, konnten aus den historisch gesammelten Erfahrungen in [334] zwei wichtige Ursachen ausgemacht werden: (1) Nachlässigkeiten während der Entwurfs-, Konstruktions- und Fertigungsphase oder der Nutzung einer technischen Anlage, d. h., durch Berechnungsfehler, Fabrikationsmängel oder Überlasten bei Fehlbedienung kommt es zum Ausfall eines strukturellen Elementes der Anlage. (2) Verwendung neuer Materialien oder Technologien, wodurch unerwartete (unerwünschte), nicht vorhersehbare Effekte hervorgerufen werden. Zwischen diesen beiden Arten von Ursachen ist bei der angestrebten Vermeidung von Ausfällen grundsätzlich zu unterscheiden. Beide enthalten sowohl zuverlässigkeitsrelevante als auch qualitätsrelevante Aspekte. Die im ersten Fall zusammengefassten Fehler kommen, wenn sie nicht durch eine mangelnde Qualifikation bzw. Nachlässigkeit der Nutzer (Qualitätsproblem) bzw. durch eine Fehleinschätzung von potenziellen Umweltbelastungen hervorgerufen werden (kein den Werkstoff betreffendes Problem), vor allem durch eine unsachgemäße Anwendung von Rechenmethoden und Bewertungskriterien zustande. Letzteres hängt in der Regel
6.2 Materialphysik der Schädigung
215
mit unzureichenden Vorstellungen über die vielfältigen Wege zusammen, auf denen ein Fehler im Werkstoff entstehen kann. Die dem zweiten Fall zugeordneten Fehlermöglichkeiten lassen sich wesentlich schwieriger verhindern, da die Verwendung neuer Materialien oder Technologien neue unbekannte Fehlermechanismen hervorrufen kann, die beim Entwurf nicht vorhersehbar waren. In der Regel treten bei der Einführung neuer Werkstoffe oder Technologien aus Mangel an Erfahrung in nicht unbeträchtlichem Umfang Qualitätsprobleme während der Fertigung auf. Methodisch ist die Bewältigung solcher Probleme vor allem an Technologieoptimierungen gebunden, in denen stabile Werkstoffkombinationen zusammen mit dafür geeigneten Fertigungsverfahren gesucht werden müssen, um unvorhersehbare werkstoffphysikalische Mechanismen der Materialschwächung weitestgehend zu unterdrücken. Dies wird zweckmäßigerweise am schnellsten über die experimentellen Methoden der physikalischen Fehleranalyse erreicht. Zwar existieren für verschiedene prominente werkstoffphysikalische Schädigungsmechanismen entsprechende theoretische Berechnungsmodelle. Allerdings können diese in der Regel erst dann nutzbringend angewendet werden, wenn eine entsprechend breite Basis experimenteller Befunde vorhanden ist.
6.2 Materialphysik der Schädigung 6.2.1 Problematik der Ursacheninterferenz Aufgrund der hohen Komplexität der verschiedene Schädigungen hervorrufenden Prozesse kommt es selbst bei scheinbar überschaubaren Verhältnissen immer wieder zu Überraschungen, wodurch eine deterministische Gesamtmethodik zur Bewertung oder Berechnung zuverlässigkeitsrelevanter Schädigungsprozesse technischer Systeme unmöglich ist. Bei der Darstellung der verschiedenen einer Schädigung zugrunde liegenden Mechanismen sollen daher zunächst einige der für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik häufig auftretenden nichtmechanischen Degradationsvorgänge in metallischen Strukturen kurz umrissen werden, bevor dann auf typische mechanische Mechanismen der Schädigung eingegangen wird und die wichtigsten damit verbundenen Möglichkeiten sowie die Methoden, mit denen der Grad der Schädigung berechnet werden kann, dargestellt werden. Die werkstoffphysikalisch technischen Ursachen von Ausfällen in elektronischen Aufbauten sind sehr vielfältig und umfassen mehr Faktoren als die in 2.4 innerhalb der thermisch-mechanischen Problematik beschriebenen Mechanismen. Sehr oft hängen diese von den spezifisch zum Einsatz gebrachten Werkstoffkombinationen, Montagetechnologien, Bauelementen bzw. Verdrahtungsträgern ab. Auch die sich später aus den konkreten Feldbedingungen ergebenden Lastbedingungen haben großen Einfluss auf das Auftreten bestimmter Ausfälle. Es ist unmöglich, hierfür eine allgemeine Klassifizierung vorzunehmen - dafür ist die
216
6 Schädigung
Zahl der verschiedenen möglichen Schädigungsmechanismen zu groß. Nachfolgend sollen daher eine Auswahl der wichtigsten in elektronischen Aufbauten auftretenden nichtmechanischen werkstoffphysikalischen Schädigungsmechanismen kurz mit den ihnen zugrunde liegenden Wirkmechanismen dargestellt werden.
6.2.2 Wichtige nichtmechanische Schädigungsmechanismen Die Schädigungsproblematik in elektronischen Aufbauten ist sehr viel komplexer als die klassischer Schädigungsszenarien im Anlagen-, Fahrzeug- oder Maschinenbau. Eine Ursache dieser Komplexität besteht in der paritätischen Kombination von metallischen, keramischen und polymeren Werkstoffen, welche eine Reihe problematischer Grenzflächen nach sich zieht und aufgrund des qualitativ unterschiedlichen mechanischen Verhaltens dieser Werkstoffgruppen auch immer zu thermisch induzierten mechanischen Spannungen führt, welche oft Auslöser für die Aktivierung anderer nichtmechanischer Mechanismen sind. Ein anderer Grund ergibt sich aus der zahlreichen Verwendung verschiedener chemischer Prozesse bei der Herstellung elektronischer Aufbauten. In Kombination mit den während des Betriebes vorhandenen elektrischen Potenzialfeldern führen die aus diesen Prozessen stammenden Rückstände oft zu schwer vorhersehbaren elektrochemischen Reaktionen in verschiedenen Strukturen des Aufbaus. In Zusammenhang mit den für die eingesetzten Werkstoffe oft hohen homologen Temperaturen im Betrieb ergeben sich darüber hinaus nicht unbeträchtliche Möglichkeiten für Stofftransportprozesse. Insgesamt lässt sich die Vielzahl der verschiedenen in elektronischen Aufbauten ablaufenden Schädigungsmechanismen kaum überblicken. Im Schema in Abb. 6.1 wird ein grober Überblick über die verschiedenen grundlegenden Triebkräfte und ihre bevorzugten Wirkungsorte in elektronischen Aufbauten gegeben. Bei katastrophalen Ausfällen aufgrund eines spezifischen Mechanismus ist es oft nicht leicht, diesen in seiner Ursache-Wirkung-Kette zurückzuverfolgen. Manchmal haben geringfügige Änderungen, z. B. bei den in der Produktion eingesetzten Hilfsstoffen, langfristig verheerende Auswirkungen auf die Zuverlässigkeit. Jedoch gibt es bestimmte Erscheinungen, die besonders häufige nichtmechanische Ursachen katastrophaler Schäden in elektronischen Aufbauten darstellen. Überblicksartig ist eine Auswahl dieser wichtigen nichtmechanischen Mechanismen nachfolgend dargestellt, wobei die Reihenfolge der Aufzählung keinen Bezug zur Bedeutung der jeweiligen Mechanismen hat. Elektrische Ausfallmechanismen: Elektrische Ausfallmechanismen treten vor allem am Halbleiterbauelement, aber auch in passiven Bauelementen auf. Infolge dieser elektrischen Ausfälle kann es zur Überhitzung kommen und nachfolgend auch ein nicht ursächlicher mechanischer Schaden hervorgerufen werden. Zu den wichtigsten elektrischen Ausfallmechanismen gehören beispielsweise: 1) elektrische Durchbrüche in Isolationsschichten, wie Gateoxiddurchbrüche durch Generation von Traps aufgrund von Leckströmen oder Durchbrüche im Dielektrikum von
6.2 Materialphysik der Schädigung
Hauptwirkungsort im elektronischen Aufbau 1. Verbindungsebene elektrisches Funktionselement z.B. Transistor, Kondensatorplatten
2. Verbindungsebene
physisches Bauelement z.B. BGA, CC
Triebkraft
217
Mechanismus (Beispiel)
3. Verbindungsebene
Baugruppe
nuklear
a-Strahlung
elektrisch
Dielektrikumsdurchschlag
elektrisch-chemisch
Elektrolytische Migration
chemisch
Korrosion
thermisch-chemisch
Feuchtigkeitsmigration
thermisch
Gefügevergröberung
thermisch-mechanisch
Schichtspannungen
mechanisch
Stoß, Vibration
Abb. 6.1 Natur der verschiedenen Triebkräfte von Schädigungsmechanismen mit ihren bevorzugten Wirkungsorten in elektronischen Aufbauten
Keramikkondensatoren aufgrund mechanischer Beanspruchung, 2) Hot Carrier Degradation, stark beschleunigte Ladungsträger bauen sich nach Streuung am Gateoxidgitter in dieses ein und verschlechtern dessen elektrische Eigenschaften, 3) Elektrostatische Entladung (ESD), die Energie zu hoher Spannungsimpulse kann z. B. mikroelektronische Strukturen (Source-Drain-Bereich, Vias, Leitbahnen) aufschmelzen oder zu Durchbrüchen in dünnen Isolationsschichten führen. Kirkendall-Effekt: Der Kirkendall-Effekt ist eine zur Festkörperdiffusion gehörige Erscheinung, bei der sich durch unterschiedliche Interdiffusionsgeschwindigkeiten eine asymmetrische Leerstellenkonzentration entlang der Diffusionsgrenzfläche ausbildet. Ist beispielsweise die Diffusionsgeschwindigkeit von A-Atomen im B-Gitter größer als die von B-Atomen im A-Gitter, ergibt sich als Konsequenz ein Fluss der für die Festkörperdiffusion verantwortlichen Leerstellen vom B-Gitter in das A-Gitter. Durch Vereinigung von Leerstellen ergeben sich innere Oberflächen in Form von Poren, welche als Senken für den Leerstellenfluss von B nach A wirken. Durch das Aufsammeln immer neuer antransportierter Leerstellen vergrößern sich diese Poren zu makroskopisch sichtbaren Hohlräumen - den sogenannten Kirkendall-Voids (Löchern). Dadurch wird das A-Material porös und verliert an Festigkeit. Unerwünschte intermetallische Phasenbildung: In Abhängigkeit von den Materialkonzentrationen und einwirkenden Temperaturen kann es in metallischen Mehrkomponentenverbunden zur Ausbildung von intermetallischen Phasen kommen, durch welche die Festigkeit des Verbundes, z. B. durch mangelnde Kompatibilität der Phasengrenzfläche, herabgesetzt wird. Ein typisches Beispiel für solche unerwünschten intermetallischen Phasenbildungen ist die beim Golddrahtbonden zur Anschlusskontaktierung von Si-Chips an
218
6 Schädigung
der Au/Al Grenzfläche stattfindende intermetallische Phasenausbildung und umwandlung. Bei ungünstig gewählten Materialvorräten kann es zur Bildung der Au4Al-Phase (Purpurpest) kommen, welche schlechte Hafteigenschaften besitzt und zum Ablösen des Bonddrahtes führt. Gleiches passiert bei vollständiger Umwandlung des Al-Vorrates in die entsprechenden AuAl-Phasen, da diese nicht auf Si haften. Ähnliche Vorgänge können auch beim Löten mit Sn-haltigen Loten stattfinden. Die beim Lötvorgang gebildeten Cu3Sn- und Cu6Sn5-Phasen wachsen unter Temperatureinfluss beständig weiter und verspröden damit die Verbindungsstelle. Solche Versprödungen könnten bei entsprechenden (thermo-)mechanischen Belastungen zum Abriss der Cu-Pads von der Leiterplatte führen. Versprödungen: Materialversprödungen können durch Legierungsreaktionen bei oder nach Verbindungsvorgängen auftreten und durch die Herabsetzung der Duktilität eines Verbindungswerkstoffs zu Brüchen in den Verbindungspartnern führen. Erhebliche Versprödungen in Sn-basierten Loten können auch durch in Lot gelöstes Tauchgold hervorgerufen werden, welches ursprünglich auf den Lötpads zum Oxidationsschutz aufgebracht war. Elektromigration: Wenn Leitbahnen, wie die von Umverdrahtungen auf Halbleiterbauelementen, sehr dünn sind, können sehr hohe Stromdichten auftreten. Diese verursachen einen sogenannten Elektronenwind, welcher Atome innerhalb der Leitbahn bewegen kann. Infolgedessen wird Material von der einen Seite zur anderen bewegt, sodass dort, wo es wegbewegt wird, Unterbrechungen entstehen können, während es dort, wo das Material angelagert wird, es zu Kurzschlüssen kommen kann. Elektrolytische Migration: Salze aus z. B. Flussmittelresten, aber auch chemische Funktionsgruppen in Harzen von Basismaterialien können bei Feuchteeinwirkung Kriechstrompfade zwischen Leitbahnen unterschiedlichen Potenzials erzeugen. Entlang dieser Strompfade kann Leitbahnmaterial elektrolytisch aufwachsen, bis es zwischen den Leitbahnen zum Kurzschluss kommt. Die verschiedenen aufgeführten nichtmechanischen Mechanismen stehen in einem sehr unterschiedlichen Verhältnis zu mechanischen Schädigungsmechanismen. Bestimmte Mechanismen, wie z. B. der Kirkendall-Effekt oder die Versprödungsreaktionen, haben direkten Einfluss auf die strukturelle Integrität und die mechanischen Eigenschaften eines Werkstoffs und sind daher meist Vorläufermechanismen für eine spätere mechanische Schädigung einer entsprechenden Struktur. Andere Mechanismen, wie z. B. die elektrolytische Migration, wirken in der Regel unabhängig von mechanischen Aspekten der Schädigung. Sie können jedoch indirekt, z. B. über starke Wärmeentwicklung in Kurzschlussstrompfaden, thermisch induzierte mechanische Spannungen bzw. Werkstoffeigenschaftsänderungen hervorrufen und auf diese Weise zu Vorläufermechanismen einer späteren mechanischen Schädigung werden.
6.2 Materialphysik der Schädigung
219
6.2.3 Mechanismen der mechanischen Schädigung von Werkstoffen
6.2.3.1 Problematik der Mechanismenvielfalt im Schädigungsverlauf Die Mechanismen der Schädigung von Werkstoffen hängen mit den in Kapitel 4 und Kapitel 5 dargestellten Mechanismen der Verformung zusammen. Um diesen Zusammenhang grob einzuordnen, soll auf das zur Erläuterung der Grundbegriffe von Verformungsreaktionen in Abb. 1.5 dargestellte Spannungs-Dehnungs-Diagramm zurückgegriffen werden. Der in diesem Diagramm eingezeichnete Zusammenhang zwischen Spannungsbeanspruchung und Gestaltänderung wurde dort zunächst idealisiert dargestellt. Eine in einem realen Experiment aufgenommene Kraft-Verlängerungs-Kurve würde, wie in Abb. 6.2 dargestellt, nicht dem in Abb. 1.5 angedeuteten idealisierten Verlauf folgen, sondern ab einer bestimmten Dehnung unter ihm wegknicken. Ursache für die Diskrepanz zwischen der idealisierten und der real in einem Experiment aufgenommenen Verformungskurve ist das Auftreten von Schädigungsprozessen, welche in Begleitung der ablaufenden Verformungsmechanismen auftreten. Im Unterschied zur idealisierten Verformungskurve durchläuft die reale Kurve ein Maximum und fällt von dort kontinuierlich wieder ab, bis es zum Versagen, d. h. zum letalen Bruch, kommt. Dieser nichtmonotone Verlauf der Kurve kommt durch Überlagern der durch Verformungsmechanismen hervorgerufenen Materialverfestigung gegenüber der durch Schädigungsmechanismen hervorgerufenen lokalen plastischen Einschnürung zustande. Während durch den ersten Mechanismus der Werkstoffwiderstand mit fortschreitender Verformung ansteigt, wird durch den zweiten Prozess der effektive Querschnitt der Probe kontinuierlich verringert. Bei Erreichen von Punkt B
s
elastisch
plastisch
idealisierte Verformungskurve B C
sF
reale in einem Experiment aufgenommene Verformungskurve
A
E
e Abb. 6.2 Idealisierte und reale experimentell aufgenommeneVerformungskurve für metallische Werkstoffe im Spannungs-Dehnungs-Diagramm
220
6 Schädigung
halten sich beide Prozesse die Waage, wodurch der Strukturkörper (in diesem Fall die Probe) instabil wird, da sein Widerstand gegen Verformung bei weiterer Verformung sinkt. Anhand dieses sehr einfachen Beispiels für das Zusammenwirken von Verformungs- und Schädigungsprozessen wird unter Berücksichtigung der in Kapitel 4 und Kapitel 5 dargestellten Vielfalt der Verformung deutlich, wie schwierig es ist, für Werkstoffe Beanspruchungsgrenzen festzulegen, in denen ihre strukturelle Integrität gewahrt bleibt, d. h., es nicht zum Versagen des Werkstoffs kommt. Exemplarisch sollen dazu die im Spannungs-Dehnungs-Diagramm in Abb. 6.3 dargestellten realen Deformationskurven für unterschiedliche Arten der Verformung betrachtet werden. Kurve A zeigt das Verhalten eines Werkstoffes, dessen plastische Fließfähigkeit mit dem Ziel, eine höhere Festigkeit zu erreichen, durch das Zusetzen bestimmter Legierungselemente drastisch herabgesetzt wurde. Im Spannungs-Dehnungs-Diagramm weist das Material ein für spröde Werkstoffe charakteristisches Verhalten auf und verformt sich weitestgehend linear-elastisch, bis bei Erreichen seiner Festigkeit σ A abrupt zerbricht. Die Kurven B und C zeigen das übliche duktile Verhalten eines metallischen Werkstoffs bei unterschiedlichen Verformungsbedingungen, wobei sich die Kurve B auf instantanplastische Verformung, d. h. eine Verformung bei hohen Geschwindigkeiten und niedriger homolo-
s
sA
A W Bruch A W Bruch B
sB
B W Bruch C
sC
C
eA
eB
eC
e
Abb. 6.3 Schematische Darstellung real experimentell aufgenommener Verformungskurven für metallische Werkstoffe im Spannungs-Dehnungs-Diagramm für unterschiedliche Formen von Verformungsverhalten: A) gehärtete Legierung mit geringer plastischer Fließfähigkeit; B) gewöhnliche duktile Metalllegierung bei instantanplastischer Verformung (hohe Verformungsgeschwindigkeit oder niedrige homologe Temperatur), C) gewöhnliche duktile Metalllegierung bei Kriechverformung (niedrige Verformungsgeschwindigkeit bei hoher homologer Temperatur)
6.2 Materialphysik der Schädigung
221
ger Temperatur, bezieht, während Kurve C den entgegengesetzten Fall einer Kriechverformung, d. h. eine Verformung bei niedrigen Geschwindigkeiten und hoher homologer Temperatur, darstellt. Für die einzelnen Kurven ergeben sich unterschiedliche Bedingungen, unter denen es zum letalen Riss kommt. Während dieser bei Kurve A mit dem Erreichen der maximalen Festigkeit zusammenfällt, tritt er bei den Kurven B ein, wenn sequenziell zunächst die maximale Festigkeit erreicht und danach auch eine maximale Bruchdehnung überschritten wurde. Im Fall der Kurve C spielt hingegen die im Material auftretende Spannungsbeanspruchung keine Rolle (es wird nicht einmal die Fließspannung erreicht). Stattdessen hängt das Auftreten eines letalen Bruches allein mit dem Erreichen der maximalen Bruchdehnung zusammen. Werden die beim Verformungsvorgang bis zum Bruch aufgetretenen maximalen Spannungsbeanspruchungen im Werkstoff verglichen, so ergibt die Reihenfolge σ A > σ B > σ C . Bei den erreichten Bruchdehnungen ergibt sich hingegen die umgekehrte Reihenfolge ε C > ε B > ε A . Wird stattdessen die zum Erreichen des Bruches aufgewendete Energie als Kriterium herangezogen, ergeben sich die höchsten Werte für den in Kurve B dargestellten Verformungsprozess W Bruch B > W Bruch C > W Bruch A . Aus diesem Vergleich wird deutlich, dass schon bei sehr einfachen und leicht überschaubaren Randbedingungen, wie sie für die im Spannungs-Dehnungs-Diagramm in Abb. 6.3 dargestellten Verformungsformen vorherrschen, eine sehr differenzierte Betrachtungsweise notwendig ist, um das Eintreten von Materialschädigungen nachzubilden. Betrachtet man nicht einen einzelnen Werkstoff im Probekörper, sondern einen Verbund von Werkstoffen, wie er in einem elektronischen Aufbau auftritt, so wird klar, dass für die Beschreibung des schädigungsmechanischen Verhaltens eine einfache Kenngröße, wie z. B. die Festigkeit oder die maximale Bruchdehnung, nicht ausreichend sein kann. Aufgrund des komplexen strukturellen Aufbaus von metallischen Werkstoffen (vgl. 3.2) und der Vielfalt der den verschiedenen werkstoffmechanischen Verformungsreaktionen zugrunde liegenden Mechanismen (vgl. 4.2, 5.2 - 5.5) existiert auch eine Vielzahl von unterschiedlichen Wegen, auf denen es zum Versagen des Materials kommt. Welche dieser Wege bis zur letztendlichen Ausbildung eines letalen Risses eingeschlagen wird, hängt wesentlich von den Beanspruchungen, wie der Temperatur, dem Spannungszustand, dem zeitlichen Verlauf der aufgebrachten Spannungen und Dehnungen als auch der zeitlichen Entwicklung der Werkstoffstruktur infolge der wirkenden Umweltbedingungen, ab. Obwohl es bei einer bestimmten Form der Beanspruchung (z. B. einem Kriechbruch durch konstante statische Belastung bis zum Ausfall) gelingt, den genauen Mechanismus vom unbeanspruchten Ausgangszustand bis zum Versagen detailliert aufzuzeigen, ist es in der Regel nicht möglich, das komplexe Zusammenwirken verschiedener Mechanismen in nichttrivialen Beanspruchungssituationen nachzuverfolgen. Um dennoch Schädigungsverläufe für die in realen Anwendungen nicht untypischen komplexen Beanspruchungssituationen voraussagen zu können, wird in der Regel eine Bewertung der Schädigung über bestimmte Schädigungskriterien vorgenommen, welche nicht notwendigerweise an einen konkreten physikalischen
222
6 Schädigung
Mechanismus gekoppelt sein müssen. Üblicherweise geht man für die Berechnung der Gesamtschädigung von einer Superposition der Schädigungswirkung verschiedener Einzelmechanismen aus, wie sie schematisch in Abb. 6.4 dargestellt ist [14]. Voraussetzung für solche zusammenfassende Betrachtungen ist jedoch das Vorhandensein einzelner Schädigungskriterien, mit denen es gelingt, die Wirkung spezifischer Beanspruchungen unter Berücksichtigung der struktureller Gegebenheiten gut nachzubilden. Hierzu haben sich im Zusammenhang mit bestimmten im Laufe der technischen Entwicklung aufgetretenen Schadensfällen verschiedene Konzepte herausgebildet, welche es ermöglichen, Aussagen über Schädigungsverhalten in technischen Strukturen zu treffen. Da die Mechanismen der mechanischen Schädigung für den Entwurf funktionell-struktureller Verbunde in elektronischen Aufbauten eine wichtige begrenzende Randbedingung dahin gehend darstellen, dass sichergestellt werden muss, dass die in diesem Verbund auftretenden Beanspruchungen nicht zum Werkstoffversagen in einzelnen Bereichen dieses Verbundes führen, gab es in den letzten Jahren vielfältige Bemühungen, die in der Regel aus dem Maschinen-, Flugzeugund Anlagenbau stammenden Konzepte für diesen Bereich nutzbar zu machen. Die ersten Ansätze bestanden dabei in der Nutzung einfacher Beziehungen, wie sie zur Absicherung der Betriebsfestigkeit im Anlagen-, Kraftwerks- und Fahrzeugbau verwendet wurden. Im Gegensatz zu den typischen Problemfällen in diesen Anwendungsgebieten sind Schadensfälle im Bereich elektronischer Aufbauten durch verschiedene, mit den Merkmalen dieser Aufbauten verbundene Besonder-
Ermüdung
Zeitstandsfertigkeit
Kriechen
Sa
e
log (N)
S
N (t)= N (s / X (t))
Rm
Dauer
Zeit E (t) = > s ij(t)
Mikroskopische Schädigung Eij
Zeit / Durchlauf
Temperatur
X (t)
G (t), v (t) = > s ij(t)
X (t)
ò ( ( )) ( ) ( ) t
Fr ( t ) = 1 -
Umgebungsbedingungen
0
1 - Fa
s(t)ij X(t)ij
*j*
n N(t)
j-1
d
n N(t)
Abb. 6.4 Berechnung der Lebensdauer aus verschiedenen Komponenten der Materialschädigung - entnommen aus [14]. Dargestellt wird die Berechnung einer normalisierten verbleibenden Festigkeit Fr in Abhängigkeit von einem generalisierten Fehlerkriterium Fa, einer Anzahl von Lastwechseln n und dem Schädigungszustand eines kritischen Elementes N.
6.2 Materialphysik der Schädigung
223
heiten gekennzeichnet. Aus Werkstoffsicht sind elektronische Aufbauten komplexe Materialverbunde, welche eine große Anzahl heterogener Grenzflächen aufweisen, von denen viele sogar einen Übergang zwischen Werkstoffen unterschiedlicher Klassen, d. h. Metall/Polymer, Keramik/Polymer oder Metall/ Keramik, darstellen. Schäden im Sinne eines funktionellen Ausfall des elektronischen Systems sind in vielen Fällen ein Resultat unterschiedlicher, in ihrer Ursachennatur (vgl. 6.2.2, Abb. 6.1) nicht identischer, oft an verschiedenen Orten des Aufbaus parallel als auch sequenziell ablaufender Schädigungsprozesse. Die üblichen Ausfälle im Anlagen-, Kraftwerks- und Fahrzeugbau sind - abgesehen von einigen Sonderformen, wie der Spannungsrisskorrosion - oft das Resultat eines in einer kritischen Struktur aufgrund einer eindeutigen Ursachennatur auftretenden, zum Teil in verschiedenen Stadien fortschreitenden Schädigungsprozesses. Aus diesem Grund ist es wichtig, beim Versuch der Übertragung der in den genannten Anwendungsgebieten erarbeiteten Konzepte zur Schädigungsbewertung auf den Bereich der elektronischen Aufbauten zunächst den Ausgangspunkt zu verstehen, von welchem aus das entsprechende Konzept in den genannten Gebieten erarbeitet wurde. Obwohl sich viele dieser Konzepte als fester Bestandteil in der Betriebsfestigkeitsbewertung von technischen Anlagen und Geräten etabliert haben, verlangt ihre transdisziplinäre Nutzung im Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik unter Umständen eine Weiterentwicklung oder Modifizierung dieser Konzepte (z. B. Versagenshypothesen, Lebensdauermodelle), um diese auf die beschriebenen Besonderheiten von Schädigungsvorgängen in elektronischen Aufbauten anpassen zu können. Von Michel [335, 336] wurde daher beispielsweise der Begriff „Fracture Electronics“ eingeführt, welcher als verkürzender Arbeitsbegriff für die Bruchprobleme in der Mikroelektronik und Mikrotechnik steht und eine Abgrenzung von den unter dem Begriff „Fracture Mechanics“ bekannten klassischen Bruchproblemen (vgl. 6.3.2.1 und 7.2.2) vorzunehmen versucht. In ähnlicher Weise wird von Reifsnider [14] darauf hingewiesen, dass die klassischen Versagenshypothesen (wie von Coulomb, Tresca oder von Mieses), wie sie für homogene isotrope Werkstoffe Verwendung finden, für die Schadensanalyse im Bereich elektronischer Aufbauten nicht nützlich seien, stattdessen müssten Wege gefunden werden, wie lokale Beanspruchungs- und Schadengrößen miteinander korreliert werden können. Werden die bisher für die Bewertung der Schädigung in elektronischen Aufbauten eingesetzten Konzepte betrachtet, so ist festzustellen, dass sich ein Großteil der zu Beginn gemachten Schädigungsbetrachtungen auf die Nutzung der Coffin-Manson-Beziehung (vgl. 6.3.3.3) bezog. Jedoch wurde sehr schnell klar, dass aufgrund der hohen homologen Materialtemperaturen sowie der sehr verschiedenen Temperatur-Zeit-Belastungen elektronischer Aufbauten eine detailliertere Betrachtung der verschiedenen Schädigungsmechanismen notwendig war. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wurde durch Anwendung des Strain-Range-Partioning-Konzeptes (vgl. 6.3.3.3) gesucht [28]. Ein anderer Ansatz, eine universale Lösung zu finden, welche in der Lage ist, die verschiedenen Formen der Schädigung zu berücksichtigen, bestand in der Betrachtung der treibenden Kräfte bei Rissvorgängen durch
224
6 Schädigung
Methoden der Bruchmechanik. Durch ein unzureichendes Verständnis für bruchmechanische Methoden auf der einen Seite und der komplexen Schädigungsabläufe in spezifischen Werkstoffen (z. B. SnPb-Lot) der Aufbau- und Verbindungstechnik auf der anderen Seite gelang es allerdings nicht, die erwarteten genauen Voraussagen für Schädigungsverläufe zu erzielen [337]. Große Erfolge bei der Anwendung bruchmechanischer Konzepte wurden hingegen auf dem Gebiet der Mikrosystemtechnik erzielt. Allerdings betrafen die dort vorgenommenen Bewertungen vor allem keramische Werkstoffe, wie das wegen der umfangreichen Möglichkeiten seiner Funktionalisierung sehr breit eingesetzte Silizium [338].
6.2.3.2 Mechanismencharakteristik der Schädigungskinetik Obwohl sich im Resultat der verschiedenen in einem Werkstoff auftretenden Schädigungsprozesse immer ein letaler Bruch einstellt, welcher die jeweilige Struktur in mindestens zwei nicht mehr miteinander verbundene Bereiche teilt, können die phänomenologischen Erscheinungsformen dieser Brüche sehr verschieden sein. Die finale Erscheinungsform des Bruches hängt von Werkstofftyp und den aufgetretenen Belastungsbedingungen ab. Daher lassen Bruchbilder oft Rückschlüsse auf die Ursachen des Werkstoffversagens zu. Die Analyse der Bruchfläche ist eine praktikable und recht eindeutige Möglichkeit, Hinweise auf die Ursachen für einen Versagensvorgang zu finden. Zum Beispiel sind für eine Ermüdungsbruchfläche Schwingungsstreifen typisch oder eine Wabenstruktur für einen Gewaltbruch. In dem sich damit beschäftigenden wissenschaftlichen Teilgebiet der Fraktografie werden die phänomenologischen Erscheinungsformen der Brüche grundsätzlich nach ihrem äußerem Erscheinungsbild in Spaltbrüche oder Duktilbrüche, nach ihrem Risspfad in transgranulare oder intergranulare Brüche, nach dem Belastungsverlauf in Gewaltbrüche, Schwingungsbrüche oder Kriechbrüche eingeteilt [150, 339, 340]. Um einen Zusammenhang zwischen den phänomenologisch beobachteten Erscheinungsformen des Bruches und seinen physikalischen Grundmechanismen herstellen zu können, ist es wichtig, zwischen den verschiedenen Mechanismen der Schädigungskinetik zu unterscheiden. Bruchvorgänge in metallischen Festkörpern unter konstanter bzw. monoton steigender Beanspruchung sind in der Regel auf folgende Grundmechanismen zurückzuführen [341, 342]: • Aufreißen von Atombindungen durch starke Zugspannungen ( = Spaltbruch) • Intragranulares Porenwachstum an Einschlüssen und Lunkern ( = Duktilbruch) • Einschnürung durch plastisches Fließen (= Duktilbruch) • Intergranulares Porenwachstum durch spannungsgerichtete Festkörperdiffusionsprozesse (= Kriechbruch) • Verformungsunterstützter chemischer Angriff an Rissspitzen (= Spannungsrisskorrosion)
6.2 Materialphysik der Schädigung
225
In Abhängigkeit vom Verformungsverhalten des Werkstoffs und der Form der Beanspruchung (konstant, monoton steigend oder zyklisch wechselnd) kann sich der Bruchverlauf in bis zu vier verschiedene Phasen einteilen, in welchen unterschiedliche Schädigungsmechanismen dominieren. Diese treten vor allem dann als deutlich unterscheidbare Einzelschädigungsphasen auf, wenn es keine eindeutigen äußeren Faktoren gibt, welche zu Rissvorgängen führen, d. h. an einer unbeanspruchten glatten Probe, welche mit einer homogen verteilten, in ihrem absoluten Betrag sehr niedrigen Wechselbeanspruchung beaufschlagt wird. In einem solchen Fall ergibt sich der in Abb. 6.5 dargestellte Ablauf der Schädigung [343-347].
Versetzungsbewegung
Risskeimbildung
Mikrorisswachstum
Rissfortschritt physikalisch
Makrorisswachstum
Rissfortschritt stabil
Rissfortschritt technisch
Restbruch Rft. instabil
Risseinleitung technisch
Technischer Anriss (0,5 mm ... 1 mm)
Abb. 6.5 Phasen der Materialschädigung aus [343]
Eine Unterscheidung der vier Schädigungsphasen ist sowohl aus werkstoffphysikalischer (grundlagenbezogen) als auch aus technischer Sicht (anwendungsbezogen) zweckmäßig. In der ersten Phase tritt in der Regel eine Schädigung (Veränderung) des mikrostrukturellen Werkstoffaufbaus in einer ansonsten anrissfreien Ermüdungsphase mit Verfestigung bzw. Entfestigung auf. Die durch Versetzungsbewegungen und Risskeimbildung gekennzeichnete werkstoffphysikalische Risseinleitungsphase und der durch Mikrorisswachstum charakterisierte Teilprozess des stabilen Rissfortschritts bilden aus ingenieurmäßiger Sicht die Schädigungsphase bis zum sogenannten technischen Anriss (vgl. Abb. 6.5 - Risseinleitung technisch). In der Regel kann hier nicht eindeutig zwischen einer mikrostrukturellen Schädigung und dem Entstehen eines technischen Anrisses differenziert werden [346, 347]. Der Risskeimbildungs- und Mikrorisswachstumsprozess hängt stark von den Gefügeeigenschaften des Werkstoffes ab. Die entstandenen Risslängen liegen noch in der Größenordnung der einzelnen Körner des Gefüges (vgl. 3.2.1). Experimentelle Befunde weisen bei Vorliegen einer Zug-Druck-Belastung auf ein stark gefügebeeinflusstes und daher in der Regel intergranulares Mikrorisswachstum in der Ebene maximaler Schubspannung hin, wobei die Risslängen das drei- bis fünffache der Korndurchmesser betragen [348]. Aufgrund dieser starken Wechselwirkung mit der Werkstoffstruktur lässt sich der Rissfortschritt aufgrund seiner besonders stark ausgeprägten statistischen Streuung nur sehr schwer über allgemeine,
226
6 Schädigung
von der konkreten Werkstoffstruktur unabhängige Kenngrößen beschreiben, was einfache mathematische Ansätze zur Rissfortschrittsberechnung erschwert [343, 346]. Nachdem sich ein technischer Anriss gebildet hat, erfolgt in der Regel eine Veränderung des Ausbreitungspfades und es stellt sich ein stabiles Wachstum des Einzelrisses oder mehrerer koaleszierender Mikrorisse (vgl. Abb. 6.5 - Rissfortschritt technisch) senkrecht zur Richtung der größten wirkenden Zugspannung in einer bestimmten kritischen Bruchebene ein [349]. In dieser Phase ist die Wechselwirkung des sich ausbreitenden Risses mit der Werkstoffstruktur von eher untergeordneter Bedeutung, sodass die Rissfortschrittsberechnung über geeignete mathematische Ansätze möglich wird.
6.2.3.3 Bruchmechanismenkarten Da die Art und Weise, wie die Schädigung eines Werkstoff abläuft, nicht einem bestimmten Beanspruchungsparameter zugeordnet werden kann, sondern von einem komplexen Zusammenhang zwischen verschiedenen Parametern abhängt, unter denen die Spannung, die Verformungsgeschwindigkeit, die Temperatur sowie die Werkstoffstruktur die wichtigsten sind, ist es für die Beschreibung der Schädigung wichtig, die verschiedenen Formen der Schädigungsmechanismen richtig zuzuordnen. Mit dem Ziel, eine übersichtliche Darstellung der verschiedenen Erscheinungsformen von Schädigungsprozessen zu erstellen, wurde analog zu den Bemühungen bei der Darstellung des Verformungsverhaltens in den sogenannten Verformungsmechanismenkarten (vgl. 5.1.2) von verschiedenen Autoren [350-356] mit der Erarbeitung sogenannter Bruchmechanismenkarten begonnen. Die heute verbreitetesten Arbeiten stammen dabei von Ghandi und Ashby [353, 354], welche für eine große Anzahl von metallischen Werkstoffen Bruchmechanismenkarten entwickelt haben. In Abb. 6.6 ist eine Bruchmechanismenkarte vereinfacht schematisch dargestellt. Einer solchen Karte liegt die Idee zugrunde, verschiedene phänomenologische Erscheinungsformen von Brüchen, die in der Regel mit bestimmten Schädigungsmechanismen zusammenhängen, in einen allgemeinen Zusammenhang mit den Beanspruchungsgrößen Spannung und Temperatur (zum Teil auch mit Verformungsgeschwindigkeit und Werkstoffstruktur) zu bringen. In den Karten wird angezeigt, welche phänomenologische Erscheinungsform eines Bruches in welchem Spannungs-Temperatur-Bereich zu erwarten ist. Um Karten verschiedener Werkstoffe untereinander vergleichen zu können, sind die Achsen des Diagramms auf die Werkstoffparameter Schmelztemperatur T s und Elastizitätsmodul E normiert worden. In den Bruchmechanismenkarten wird der ( T ⁄ T s ; ( σ ⁄ E ) ) -Parameterbereich in einzelne Sektionen unterteilt, in denen jeweils eine bestimmte Bruchform vorherrschend ist. Im Bereich niedriger Temperaturen tritt in der Regel Spaltbruch ein, wenn eine kritische Spannung überschritten wird. Oberhalb einer bestimmten Spröd-zu-Duktilbruch-Übergangstemperatur
6.2 Materialphysik der Schädigung
227
ändert sich die Bruchform in einen intragranularen Duktilbruch, dem in der Regel Mechanismen des Porenwachstums an Einschlüssen und Lunkern zugrunde liegen. Der Bereich des intragranularen Duktilbruchs verbreitert sich zu höheren Temperaturen hin, da die Prozesse des plastischen Fließens zunehmend von der Verformungsrate abhängig werden. Dies bedeutet, dass die Prozesse des Porenwachstums auch unterhalb der kritischen Spannung für einen Bruch bei instantaner plastischer Verformung stattfinden. Sinken die Spannungen im Bereich höherer homologer Temperaturen noch weiter ab, kommt es zu einem Übergang von intragranularen zu intergranularen Porenwachstumsprozessen. Letztere finden an Korngrenzen statt und basieren auf diffusiven Prozessen, wie spannungsgerichteten Leerstellenbewegungen, während den zuerst genannten eher Versetzungsbewegungen zugrunde liegen [342]. Zum Verständnis der Schwierigkeiten, welche sich bei der Modellierung der Materialschädigung ergeben, sollen in den folgenden Abschnitten wichtige, den verschiedenen Formen von Brucherscheinungen zugrunde liegende werkstoffphysikalische Mechanismen kurz umrissen werden. In Abschnitt 6.2.3.4 werden die grundlegenden physikalischen Betrachtungen zum Spaltbruch dargelegt. Um die verschiedenen Formen von Schädigungsverläufen bei Duktil- und Kriechbruch darstellen zu können, ist es notwendig, die Mechanismen, welche zum Entstehen von Rissen führen, getrennt von Mechanismen zu betrachten, mit denen diese entstandenen und sehr kleinen Risse im Laufe einer fortgeführten Beanspruchung zu wachsen beginnen. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, da in Abhängigkeit davon, wie ein Bauteil beschaffen ist und welcher Beanspruchung es ausgesetzt 10 -1 transgranularer Duktilbruch
Normierte Normalspannung s/E
10 -2
Zerreißen infolge dynamischer Rekristallisation
Spaltbruch
10 -3
10 -4
intergranularer Kriechbruch
10 -5 kein Bruch 10 -6
0,2
0,4
0,6
0,8
1,0
Homologe Temperatur T/Ts
Abb. 6.6 Schematische Darstellung einer Bruchmechanismenkarte (adaptiert aus [342])
228
6 Schädigung
wird, entweder die Phase der Rissentstehung oder die des Risswachstums den Schädigungsverlauf dominieren kann. Aus diesem Grund werden in den Abschnitten 6.2.3.5 und 6.2.3.6 die verschiedenen dem intragranularen oder dem intergranularen Porenwachstum zugehörigen Mechanismen getrennt nach den Phasen der Rissbildung und des Risswachstums dargelegt.
6.2.3.4 Bruch auf atomarem Niveau Rissvorgänge in einem Material treten dann ein, wenn zum einen ein ausreichend hoher Betrag an mechanischer Spannung vorhanden ist und gleichzeitig genügend mechanische Arbeit verrichtet wird, um auf dem untersten Strukturniveau (vgl. 3.2.1 und 3.2.2.1) Atombindungen entweder im Kristallgitter oder zwischen einzelnen Kristalliten aufzubrechen. Für das grundsätzliche Verständnis dieses Vorgangs auf atomaren Niveau soll zwischen diesen beiden Varianten der Einfachheit halber nicht unterschieden werden, da sich bezüglich der nun folgenden allgemeinen Abschätzung für die erforderliche Spannung und Arbeit keine Unterschiede ergeben. Aufbauend auf den in 4.2.1 gemachten Betrachtungen zur Verzerrung des Kristallgitters beziehen sich alle folgenden Überlegungen auf den hinteren Teil der in Abb. 4.2 dargestellten Wechselwirkungskraft-AtomabstandsKurve, welcher in Abb. 6.7 noch einmal mit den für die Bruchproblematik relevanten Details dargestellt ist. Um die Bindung zwischen zwei Atomen zu lösen, muss eine Kraft der dargestellten Anziehungskraft entgegenwirken, damit die Atome aus der Ruhelage r0 über dem Punkt der Destabilisierung der Bindung rD auseinandergezogen werden. Zur Abschätzung der Anziehungskraft auf Atomniveau wird deren Verlauf als die erste Hälfte der vollen Periode einer Sinusfunktion idealisiert angenommen: π⋅r F = F min ⋅ sin § ----------------· , © r D – r 0¹
(6.1)
wobei F min die interatomare Bindungskraft ist und alle anderen Variablen den in Abb. 4.2 bzw. Abb. 6.7 dargestellten Funktionen entsprechen. Im Sinne einer weiteren Vereinfachung für die hier vorgenommene Abschätzung wird die Sinusfunktion in Gleichung (6.1) durch ihr Argument ersetzt π⋅r F = F min ⋅ ---------------rD – r0
(6.2)
Entsprechend dieser vereinfachenden Annahme ergibt sich die Steifigkeit der Bindung k aus:
6.2 Materialphysik der Schädigung
229
U
0
r Bindungsenergie
Fi Bindungsenergie k
F = Fmin sin (pr/(rD-r0))
0
r Bindungskraft
Fmin r0 rD
Abb. 6.7 Schematische Darstellung der Anziehung zwischen zwei Atomen (Potenzial U, innere Wechselwirkungskraft Fi=-dU/dr, Steifigkeit in der Ruhelage k=d2U/dr). Um die Bindung zwischen zwei Atomen aufzubrechen, müssen die Atome aus der Ruhelage r0 bis zum Punkt der Destabilisierung der Bindung rD auseinander gezogen werden [334].
π k = F min ⋅ ---------------rD – r0
(6.3)
Werden beide Seiten dieser Gleichung mit der Anzahl von Bindungen pro Flächeneinheit und der Distanz der Ruhelage multipliziert, lässt sich sehr leicht eine Formulierung ableiten, in der der Elastizitätsmodul E an die Stelle von k rückt und F min durch eine Kohäsivspannung σ K ersetzt wird. Aufgelöst nach σ K ergibt sich dann: E ⋅ ( rD – r0 ) σ K = ---------------------------π ⋅ r0
(6.4)
230
6 Schädigung
Wird weiterhin davon ausgegangen, dass der Abstand zwischen dem Punkt der Ruhelage und dem Punkt der Destabilisierung, ( r D – r 0 ) , etwa dem Atomabstand in der Ruhelage r 0 entspricht, so ergibt sich folgende einfache Abschätzung für die Beziehung zwischen σ K und E : E σ K ≈ --π
(6.5)
Da sich nach Aufbrechen der Atombindungen zwei neue Oberflächen mit der jeweiligen Oberflächenenergie γ s bilden, lässt sich folgende Energiebilanz für den Bruch auf atomarer Ebene formulieren: ∞
EB =
³ F dx
= 2 ⋅ γs ,
(6.6)
r0
wobei E B der Bindungsenergie entspricht und F eine in Zugrichtung wirkende Kraft ist. Damit ergibt sich die Oberflächenenergie aus 1 γ s = --2
rD – r0
³ 0
rD – r0 π⋅r σ K ⋅ sin §© ----------------·¹ dx = σ K ⋅ ---------------rD – r0 π
(6.7)
Aus der Substitution von Gleichung (6.4) in Gleichung (6.7) und Auflösung nach σ K ergibt [334]: σK =
E ⋅ γs -----------r0
(6.8)
Wie aus der oben durchgeführten Abschätzung hervorgeht, liegt der theoretische Wert für die Festigkeit eines Materials im Bereich von E ⁄ π . Tatsächlich liegen experimentell bestimmte Festigkeiten jedoch viel niedriger. Bei spröden Werkstoffen beträgt der Unterschied zwischen theoretischer und experimentell bestimmter Festigkeit sogar drei bis vier Größenordnungen [334]. Aus diesen deutlichen Diskrepanzen zwischen makroskopisch beobachteter Festigkeit und korrespondierender atomarer Kohäsivspannung lässt sich schlussfolgern, dass Inhomogenitäten der Werkstoffstruktur zu einer drastischen Erhöhung des Betrages des Spannungszustandes an einzelnen Atombindungen führen. Diese festigkeitsmindernden Inhomogenitäten können entweder Poren, Oberflächenrisse oder Mikrorisse im Werkstoffgefüge sein. Aber auch durch plastische Verformung erzeugte Versetzungsstrukturen können zu lokalisierten Spannungserhöhungen auf atomarer Ebene führen, wodurch Rissinitiierungen entstehen, aus denen sich bei weiterer
6.2 Materialphysik der Schädigung
231
mechanischer Belastung große Makrorisse bilden können. Hieraus ergibt sich eine bestimmte Komplexität bei der theoretischen Beschreibung von Rissentstehung und -wachstum, da sich in Abhängigkeit von Material und Beanspruchung sehr unterschiedliche Möglichkeiten für die Erzeugung lokal erhöhter Spannungszustände ergeben, welche Auslöser von Rissen sind.
6.2.3.5 Rissentstehung Wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, sind die Prozesse der Rissentstehung vielschichtig und lassen daher keine einheitliche werkstoffunabhängige Beschreibung zu. Eines der elementaren Probleme besteht darin, dass viele der bei der Rissentstehung ablaufenden Prozesse auf atomaren Niveau stattfinden, sodass sie sich nur an sehr speziellen Laborproben untersuchen lassen. Einer Rissbildung gehen in der Regel Prozesse der Lokalisierung der plastischen Verformung voraus, d. h., spezifische, der plastischen Verformung zugrunde liegende Mechanismen treten örtlich gebündelt auf, sodass an dieser Stelle eine für die Schädigung auf atomaren Niveau notwendige Beanspruchung auftritt. Beim Prozess der Lokalisierung kommt es analog zu den Verformungsmechanismen (vgl. 5.3.1, 5.4.3, 5.5.3) zu einer Wechselwirkung zwischen den Versetzungen und Leerstellen mit bestimmten Elementen der Werkstoffstruktur (z. B. Gitter, Korngrenzen, Ausscheidungen). In Abhängigkeit von der Art dieser Wechselwirkung treten unterschiedliche Mechanismen der Rissentstehung auf. Sie unterteilen sich grob in intragranularen Rissbildungsmechanismen, dazu zählen alle Mechanismen, die auf einer Wechselwirkung mit Elementen der Strukturhierarchie (vgl. 3.2.1) unterhalb von Körnern basieren, und intergranulare Mechanismen, d. h. Mechanismen, die an Korngrenzen bzw. Phasengrenzen wirken. Eine typische Form von intragranularen Rissbildungsmechanismen sind Verformungslokalisierungen aufgrund der Ausbildung persistenter Gleitbänder bei zyklischer Verformung (vgl. 5.5.3.2). In diesen werden bei zyklischer Verformung Versetzungen ständig erzeugt und annihiliert. Infolge der Annihilation von Versetzungsdipolen des Leerstellentyps kommt es zur Bildung von Leerstellen, wodurch der Werkstoff in Form einer Protrusion an der Oberfläche austritt [341]. Die im Gitter einzelner Körner auftretenden persistenten Gleitbänder können jedoch auch intergranulare Mechanismen der Rissbildung auslösen, indem ein Versetzungsaufstau im persistenten Gleitband an der Korngrenze eine Spannungskonzentration hervorruft. In Abhängigkeit von der Beschaffenheit der Korngrenze können die so induzierten Zugspannungen ausreichen, um die Korngrenze aufzureißen [341]. Allerdings ist bei diesem eher bei niedrigen homologen Materialtemperaturen auftretenden Mechanismus der Rissbildung eher von intragranularen Rissbildungen auszugehen. Der Übergang zu intergranularen Mechanismen findet vor allem bei hohen homologen Materialtemperaturen in Zusammenhang mit den mit der Kriechverformung zusammenhängenden Elementarmechanismen statt [357, 358]. Einer der wichtigsten Mechanismen besteht dabei in der Bildung von
232
6 Schädigung
Poren an den Korngrenzen infolge der durch Spannungsgradienten verursachten Bewegung von Leerstellen oder Versetzungen (vgl. Abb. 6.8). Wenn ein einzelnes Korn in einem Werkstoffgefüge an einer Seite Druckspannungen und an einer anderen Zugspannungen erfährt, so kommt es gemäß dem in 5.2.2.3 in Zusammenhang mit dem Versetzungsklettern dargestellten Mechanismus des Leerstellenflusses (Gleichungen (5.15) - (5.20)) zur gerichteten Leerstellenbewegung. Damit an der Korngrenze eine Kondensation dieser Leerstellen zu einer Pore erfolgen kann, muss jedoch analog zu den Ableitungen in 6.2.3.4 und 3.4.1.2 eine für die mit den sich bildenden Porenoberflächen hinzukommende Oberflächenenergie γ s sich ergebende Energiebilanz erfüllt werden. Aus den Abhandlungen in [359-361] * ergibt sich, dass die Porenbildungsrate P stark von der Temperatur T und der wirkenden Spannungsbeanspruchung σ abhängig ist * ΔF P ∼ exp § – -------· , © kT ¹
(6.9)
wobei 3
16 ⋅ π ⋅ γ ΔF = ----------------------s2 3⋅σ
(6.10)
der aufzubringende Betrag an Freier Energie für die Bildung einer stabilen Pore ist. Die für die Bildung stabiler Poren erforderlichen Spannungen sind zwar niedriger als beim einfachen Zerreißen von Atombindungen, liegen jedoch mit einer Größenordnung von etwa E ⁄ 100 deutlich über den für Kriechverformungen üblichen Spannungsbeanspruchungen [358]. Daraus folgt, dass Porenbildung durch Leerstellenkondensation an Korngrenzen nur dann erfolgen kann, wenn gleichzeitig durch andere Mechanismen hohe lokale Spannungskonzentrationen erzeugt werden. Hierfür werden in der Literatur drei Mechanismen vermutet. Zum einen können an Korngrenzentripeln hohe lokale Spannungskonzentrationen auftreten, wenn dort gleichzeitig Prozesse der Korngrenzengleitung ablaufen. Eine andere
K or ng re
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Teilchen
s
s
K
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ng
re
e nz
ng
le
ite
n
s Gleitband Korngrenze
s
Abb. 6.8 Schematische Darstellung der Porenbildungsmechanismen aus [358]
6.2 Materialphysik der Schädigung
233
Möglichkeit ergibt sich in teilchengehärteten Legierungen, wenn die harten Phasenteilchen sich genau auf einer Korngrenze der weichen Matrix befinden, an der ebenfalls Korngleitprozesse ablaufen. Eine Möglichkeit, welche kein Korngrenzengleiten voraussetzt, ist das Aufstauen von Versetzungen an Korngrenzen.
6.2.3.6 Risswachstum Bleiben die Spannungsbeanspruchungen, welche zur Bildung kleiner Initialrisse bzw. Poren geführt haben, bestehen, so können in der unmittelbaren Umgebung der Rissspitze aufgrund lokaler Spannungsüberhöhungen Mechanismen der plastischen Verformung ablaufen. Als Rissspitze wird dabei der Teil des Initialrisses bzw. der Pore verstanden, welcher den kleinsten Radius besitzt. Je nach Beanspruchung und homologer Materialtemperatur kann es an der Rissspitze zu kristallografischem Gleiten, zu Versetzungsbewegungen durch Kriechmechanismen oder zur Leerstellendiffusion kommen [358]. Da die ersten beiden den in 5.3 und 5.4 besprochenen Verformungsmechanismen entsprechen, sollen sich die folgenden Betrachtungen auf das Porenwachstum durch Leerstellendiffusion konzentrieren. Die Pfade der Leerstellendiffusion an einer Pore des Radius a sind für den Fall weniger, gleichmäßig entlang der Pore verteilter Leerstellen in Abb. 6.9 dargestellt. Das Wachstum der Pore wird dabei ausschließlich durch gerichtete Diffusion hervorgerufen, ohne dass Mechanismen der plastischen Verformung daran beteiligt sind. Die Diffusion der Leerstellen findet zunächst entlang der Porenoberfläche und danach entlang der angrenzenden Korngrenzen statt. Die Wachstumsgeschwindigkeit entspricht folglich dem langsamsten dieser beiden Transportprozesse, d. h. entweder dem Korngrenzen- oder dem Oberflächendiffusionsprozess. Wird davon ausgegangen, dass der Korngrenzendiffusionsprozess der langsamere und damit bestimmende Prozess ist, so ergibt sich die Porenwachstumsgeschwindigkeit nach den in [362, 363] getroffenen Ableitungen aus
2b
Oberflächendiffusion Korngrenzendiffusion
2a
Abb. 6.9 Schematische Darstellung des Porenwachstums durch Leerstellendiffusion aus [358].
234
6 Schädigung
d KG ⋅ D KG ⋅ Ω ⋅ σ da -, ------ = ----------------------------------------2 dt a ⋅k⋅T
(6.11)
wobei d KG die Dicke der Korngrenze, D KG der Koeffizient für Korngrenzenselbstdiffusion und Ω das Atomvolumen ist. Die aus Gleichung (6.11) hervorgehende lineare Spannungsabhängigkeit des Porenwachstums durch Leerstellendiffusion konnte jedoch über experimentelle Befunde nur selten bestätigt werden [358]. Wird davon ausgegangen, dass der Oberflächendiffusionsprozess der langsamere und damit bestimmende Prozess ist, so nimmt das Porenwachstum eine äußere Gestalt an, welche mit einem klassischen Risswachstum vergleichbar ist, da Leerstellen an der Rissspitze schneller abdiffundieren, als sie von der Porenoberfläche nachgeliefert werden. Die Porenwachstumsgeschwindigkeit, welche im Gegensatz zum zuerst beschriebenen Prozess nicht mehr mit einer Formstabilität der Pore verbunden ist, ergibt sich für den Bereich niedriger Spannungen nach den in [364] getroffenen Ableitungen aus 3
ds ⋅ Ds ⋅ Ω ⋅ σ da----= ----------------------------------, 2 dt 2 ⋅ k ⋅ T ⋅ γs
(6.12)
wobei d s ⋅ D s der Oberflächendiffusionsrate entspricht. Die aus Gleichung (6.12) hervorgehende Spannungsabhängigkeit des Porenwachstums mit der dritten Potenz entspricht experimentellen Beobachtungen [365, 366]. Die beschriebenen diffusionsgesteuerten Porenwachstumsprozesse können durch Wechselwirkung mit umgebenden Prozessen der Kriechverformung beschleunigt werden, da hierdurch die charakteristische Diffusionslänge für den Leerstellentransport durch die Korngrenze verkürzt wird. Dies ist besonders bei hohen Spannungen und hohen
2b
L
L
Oberflächendiffusion Potenzgesetz- Korngrenzendiffusion kriechen
Korngrenzen- Potenzgesetzdiffusion kriechen 2a
Abb. 6.10 Schematische Darstellung des gekoppelten Porenwachstums durch Leerstellendiffusion und Potenzgesetzkriechen aus [358].
6.3 Modellierung der Materialschädigung
235
Dehnraten der Fall, wodurch es zu einer starken Beschleunigung des Porenwachstums kommen kann (vgl. Abb. 6.10).
6.3 Modellierung der Materialschädigung 6.3.1 Problematik der Schädigungsmodellierung Wie aus den Ausführungen zur Rissbildung (vgl. 6.2.3.5) und zur Rissfortpflanzung (vgl. 6.2.3.6) hervorgeht, handelt es sich bei Schädigungsprozessen in der Regel um lokalisiert im Werkstoff ablaufende physikalische Mechanismen. Im Gegensatz zur Verformung, bei der angenommen wird, dass sie bei homogener äußerer Belastung gleich verteilt über dem Querschnitt des Werkstoffs stattfindet, muss bei Schädigungsprozessen davon ausgegangen werden, dass trotz homogener äußerer Belastung sich an einer bestimmten Stelle im Querschnitt des Werkstoffs ein Anriss bildet, der sich von dort aus über den Querschnitt auszubreiten beginnt. Der Ort der Rissentstehung hängt dabei nicht unmittelbar mit der Belastung zusammen. Für die Nachbildung von Schädigungsprozessen in einem Modell wirft dies ein Problem auf, wenn - wie bei den werkstoffmechanischen Modellen - ein funktionaler Zusammenhang zwischen vorgegebener Belastung und im Werkstoff erfolgender Schädigungsreaktion angestrebt wird. Grundsätzlich wäre es zwar möglich, die konkreten werkstoffstrukturellen Spezifika, d. h. Korngrenzen, Ausscheidungen, harte Phasenteilchen usw., einem Modell vorzugeben, um so lokale Spannungsüberhöhungen zu ermitteln und Orte der Rissentstehung abzuschätzen. Für praktische ingenieurtechnische Belange ist ein solches Vorgehen sehr aufwendig, da derselbe Werkstoff in verschiedenen in einer Serienproduktion gefertigten Bauteilen gleichen Typs immer ein anderes strukturelles Aussehen haben wird und somit viele Varianten möglicher Werkstoffgefüge in die Berechnungen einbezogen werden müssen. Auch die Nachbildung der Rissbildung ist für ingenieurtechnische Anwendungen schwierig. Zwar liegen für die verschiedenen möglichen Mechanismen physikalische Modelle vor, allerdings ist die experimentelle Verifizierung dieser Prozesse sehr aufwendig, sodass nur für wenige ausgesuchte “Modellwerkstoffe“, wie Cu oder Ni, entsprechende Modellparameter vorliegen. Eine Ausweitung dieser Experimente auf alle technisch verfügbaren Legierungen erscheint unrealistisch. Überdies ist die Modellierung mechanischer Prozesse über viele Größenordnungen hinweg, d. h. von der Makroebene bis auf das atomare Niveau, sehr schwierig, da hierzu viele Zwischenmodelle notwendig sind, welche die Zusammenhänge zwischen den Mechanismen in den einzelnen Strukturebenen herstellen. Aus den genannten Gründen haben sich für ingenieurtechnische Belange Formen der Modellierung durchgesetzt, bei denen durch die Vorgabe bestimmter Randbedingungen bzw. durch bestimmte Vereinfachungen die eingangs für die
236
6 Schädigung
Nachbildung schädigungsmechanischer Prozesse genannten Schwierigkeiten umgangen werden, sodass für die Anwendung praktisch nutzbare Schädigungsberechnungen ermöglicht werden. Zu den weit verbreitetsten Modellformen zählen dabei die kontinuumsmechanisch abgeleiteten Konzepte der Bruchmechanik und der Kontinuumsschädigungsmechanik sowie verschiedene empirische Ermüdungsmodelle.
6.3.2 Bruchmechanische Konzepte „Die Bedeutung des Pilotprogramms beim U.S. Naval Research Laboratory und die der Risstheorie von Griffith aus dem Jahr 1920 sollte nicht überbetont werden. Die grundsätzlichen Ideen der Analysen ergaben sich nahezu offensichtlich aus allgemeinen Prinzipien und wären zu jeder Zeit bei Vorhandensein einer ausreichenden Motivation zustande gekommen. Tatsächlich war es so, dass die bestehende Praxis, Sicherheitsfaktoren über vorhandene Schadensfälle abzuschätzen, einfach zu teuer wurde und dringend einer Ablösung durch ein rationaleres Vorgehen bedurfte. Innovativer Fortschritt bei Werkstoffen und Konstruktionen benötigte ein besseres Verständnis der Bruchfestigkeit und verbesserte Methoden der Bruchvermeidung.“ George R. Irwin in Journal of Metals, Juli 19971
6.3.2.1 Hintergrund bruchmechanischer Konzepte Der Zweck bruchmechanischer Konzepte besteht darin, die Analyse und Voraussage des Risswachstums ohne explizite Kenntnis der werkstoffphysikalischen Schädigungsmechanismen durchführen zu können. Das methodische Vorgehen besteht dabei in der Verwendung verschiedener Konzepte, welche die Verteilung von Spannung und Dehnung in der Nähe der Rissspitze charakterisieren. In Versuchen an speziellen Modellproben wird der Zusammenhang zwischen einem bestimmten bruchmechanischen Parameter und der Rissausbreitung bestimmt. Mit Hilfe der so erhaltenen Kennwerte lassen sich durch Anwendung der bruchmechanischen Konzepte auf Rissvorgänge in realen Strukturen Aussagen zum Rissfortschritt ableiten [357]. Die heute bekannten bruchmechanischen Konzepte gehen auf Arbeiten von Inglis [367] aus dem Jahr 1913 zurück, in denen er das Konzept von Spannungskonzentrationen an geometrischen Diskontinuitäten vorschlug, um so eine Erklärung dafür zu geben, weshalb Brüche in der Regel von Rissen, Löchern oder anderen 1. Das Zitat stammt aus einem Übersichtsaufsatz über die historische Entwicklung des Bruchverständnisses [374] (übersetzt durch den Autor).
6.3 Modellierung der Materialschädigung
237
Defekten ausgehen. Diese Überlegungen wurden wenige Jahre später von Griffith [368] weitergeführt, indem er diese mit Hypothesen zur Energiebilanz während der Rissbildung kombinierte und daraus das Konzept einer kritischen Risslänge ableitete, ab der es in spröden Werkstoffen zur instabilen Rissausbreitung kommt. In theoretischen Analysen leitete er eine inverse Beziehung zwischen der Bruchspannung und der Wurzel der Risslänge ab. Experimentell konnte dieser Ansatz jedoch nur an sehr spröden Glasproben bestätigt werden. Alle Versuche, das Griffith-Konzept auch auf Metalle anzuwenden, scheiterten, wodurch keine praktische Nutzbarkeit des Konzeptes gegeben war. Erst im Jahr 1956 wurde durch Irwin ein für ingenieurtechnische Belange geeignetes Energiefreisetzungsrate-Konzept vorgestellt, welches auf den theoretischen Ansätzen von Griffith aufbaute und vorhergegangene Überlegungen [372, 370] zum lokalen plastischen Fließen an der Rissspitze berücksichtigte. Kurze Zeit später veröffentlichte Irwin seinen wichtigsten Aufsatz [372] zur Bruchmechanik, in welchem er durch Nutzung der Westergaard-Näherung [373] zeigte, dass die Amplitude der Spannungen oder Verformungen vor der Rissspitze in sich elastisch verformenden Medien durch einen einzigen Parameter charakterisiert werden kann. Die Einführung dieses heute allgemein als Spannungsintensitätsfaktor K bezeichneten Parameters war einer der wichtigsten Meilensteine für das sich entwickelnde Gebiet der Bruchmechanik. Die Größe von K hängt von der äußeren Belastung sowie der Größe und Form von Riss und Bauteil ab. Es konnte weiter gezeigt werden, dass K eindeutig zur Energiefreisetzungsrate ins Verhältnis gesetzt werden kann, was zeigt, dass eine Korrelation zwischen den Spannungsund Energieansätzen besteht [375, 334]. In Abhängigkeit vom Verformungsverhalten der Werkstoffe werden verschiedene bruchmechanische Konzepte zur Bewertung rissbehafteter Bauteile verwendet. Grundsätzlich wird zwischen der linear-elastischen Bruchmechanik (LEBM) und der elastisch-plastischen Bruchmechanik (EPBM), welche auch als Fließbruchmechanik (FBM) oder Zähbruchmechanik bezeichnet wird, sowie der zeitabhängigen Bruchmechanik (ZBM) unterschieden. Ausschlaggebend ist, in welchem Ausmaß plastische Verformungen vor der Rissspitze den Bruchvorgang begleiten und ob diese sich zeitlich verändern. Sind die Fließbereiche vor der Rissspitze groß und ist damit der Radius der plastischen Zone nicht mehr klein gegenüber der Risslänge, verlieren die einfacheren Konzepte der LEBM ihre Gültigkeit und es muss die EPBM zur Anwendung kommen. Sollen darüber Zeitabhängigkeiten betrachtet werden, kommt in Abhängigkeit von der Rissgeschwindigkeit und vom Materialverhalten eines von mehreren Konzepten innerhalb der ZBM zum Tragen - die dynamische Bruchmechanik für schnelle Risse in der Größenordnung der Schallgeschwindigkeit im jeweiligen Werkstoff, die viskoelastische Bruchmechanik für zeitabhängige Rissvorgänge in Polymeren sowie die Kriechbruchmechanik für langsame Rissausbreitung in Keramiken und Metallen.
238
6 Schädigung
6.3.2.2 Linear-elastische Bruchmechanik Das LEBM-Konzept ermöglicht die quantitative Vorhersage des Versagens eines angerissenen Bauteiles als Folge von instabiler Rissausbreitung. Zunächst wird das Spannungsfeld um einen Riss betrachtet. Dabei wird angenommen, dass das Spannungsfeld auf eine elastische Verzerrung zurückgeführt werden kann. Dies ist nur möglich, wenn die am Körper anliegende Spannung gleichmäßig verteilt und der Körper um den Riss homogen und isotrop ist. Um einen solchen Spaltbruch unter überwiegend linear-elastischen Verformungsbedingungen vorauszusagen, existieren zwei wesentliche Konzepte. Das erste baut auf einer Energiebilanz auf, welche die notwendigen Bedingungen für den Bruch formuliert. Das zweite verwendet die Amplitude einer Rissspitzen-Spannungsintensität, welche einen kritischen Wert überschreiten muss, damit es zum Bruch kommt.
Energiebilanz-Ansatz In der von Griffith [368] durchgeführten Energiebilanz-Betrachtung wird als Voraussetzung für die Vergrößerung einer Bruchfläche A um dA formuliert, dass die Gesamtenergie H sich entweder verkleinern sollte oder zumindest konstant bleiben muss. Wird eine Platte betrachtet, welche durch eine konstante Spannung σ beansprucht wird und einen Anriss der Länge 2a enthält, so ergibt sich unter der Annahme, dass die Breite der Platte b » 2a ist und dass ein ebener Spannungszustand vorherrscht, die folgende Energiebilanz W d H- = d Π- + d ---------s = 0 ----------dA dA dA
(6.13)
bzw. dW dΠ – ------- = ---------s , dA dA
(6.14)
wobei Π die potenzielle Energie ist, welche durch die elastische Streckung der Platte zustande kommt. Zur ihrer Berechnung nutzt Griffith die Spannungsanalyse von Inglis [367], um für den in Abb. 6.11 abgebildeten Riss zu zeigen, dass 2
2
π⋅σ ⋅a ⋅d Π = Π 0 – ------------------------------- , E
(6.15)
wobei Π 0 die potenzielle Energie der ungerissenen Platte ist und d der Plattendicke entspricht. W s entspricht der Arbeit, welche zur Bildung der zwei neuen Oberflächen notwendig ist und sich aus
6.3 Modellierung der Materialschädigung
239
s
d 2a
s Abb. 6.11 Riss durch die Dicke einer dünnen Platte, welche unter Zugbeanspruchung steht.
Ws = 4 ⋅ a ⋅ d ⋅ γs
(6.16)
ergibt, wobei γ s die Oberflächenenergie des Materials ist [334], d. h. 2
dΠ π⋅σ ⋅a – ------- = --------------------dA E
(6.17)
und dW s --------- = 2 ⋅ γ s dA
(6.18)
Aus den Gleichungen (6.17) und (6.18) ergibt sich eine Bruchspannung von σB =
2 ⋅ E ⋅ γs -------------------- . π⋅a
(6.19)
Gleichung (6.19) gilt jedoch nur für sehr spröde Werkstoffe. Bei der Anwendung auf Metalle zeigte sich, dass es zu einer deutlichen Unterbewertung der
240
6 Schädigung
Bruchfestigkeit kommt. Irwin und Orowan modifizierten daher die Lösung von Griffith, indem sie einen zusätzlichen Energiebetrag für plastische Verformung vor der Rissspitze in die Bilanz mit aufnahmen, sodass sich die Bruchspannung aus σB =
2 ⋅ E ⋅ ( γs + γp ) ----------------------------------π⋅a
(6.20)
ergibt, wobei γ p die plastische Verformungsarbeit ist, die im Material vor der Rissspitze geleistet wird, welche in Metallen üblicherweise deutlich größer als γ s ist [334]. Im Gegensatz zu Bruchvorgängen in spröden Werkstoffen, in denen Risse hauptsächlich durch das Aufreißen von Atombindungen gebildet werden, kommt es in Metallen zu einer erheblichen Versetzungsbewegung in der Nähe der Rissspitze, aus welcher ein zusätzlicher Betrag von Verformungsarbeit resultiert. Obwohl Irwin und Orowan die Formulierung in Gleichung (6.20) ursprünglich für Metalle gemacht haben, lässt sich durch die Einführung einer spezifischen Bruchenergie w B folgende Generalisierung dieser Formulierung erreichen σB =
2 ⋅ E ⋅ wB ---------------------- , π⋅a
(6.21)
wobei durch w B in Abhängigkeit vom Werkstoff auch Anteile viskoelastischer bzw. zeitabhängiger plastischer Verformungen vor der Rissspitze als auch andere Effekte, wie das Verzweigen von Rissen, berücksichtigt werden können.
Spannungsintensitätsfaktoren-Ansatz Bei der Bewertung von Rissen mit dem Rissspitzen-SpannungsintensitätsAnsatz wird in drei verschiedene sogenannte Bruchmoden (Abb. 6.12) unterschieden, mit denen ein Riss in Abhängigkeit von der Form der Beanspruchung an der Rissspitze vorangetrieben wird. Der üblicherweise mit dem Index römisch eins bezeichnete Modus I, ist der sogenannte Rissöffnungsmodus, d. h., es werden die Rissufer spiegelsymmetrisch gegenüber der x-z-Ebene in Richtung der x-y-Ebene auseinandergezogen. Der Modus II ist der sogenannte Gleitmodus, d. h., die Rissufer gleiten symmetrisch auf der x-z-Ebene und in Richtung der x-y-Ebene gegeneinander ab. Modus III ist der Zerreiß- oder Torsionsmodus, d. h., die Rissufer gleiten spiegelsymmetrisch zur x-y-Ebene in Richtung y-z-Ebene gegeneinander ab. Bruchmechanische Betrachtungen beziehen sich in der Regel auf Mode I-Belastungen, da die meisten in Metallen auftretenden Risse unter dieser Bedingung stattfinden. In der Praxis reißen Bauteile mit Innen- bzw. Oberflächenrissen, die auf Zug oder Biegung beansprucht werden, überwiegend in Modus I. Überdies exis-
6.3 Modellierung der Materialschädigung
241
F
y
x
F
F
z F F Mode I
F Mode II
Mode III
Abb. 6.12 Bruchmodi
tiert für Risse in den Moden II und III bzw. für sich überlagernde Bruchmoden (engl. mixed-mode) keine vollständig etablierte Theorie [375]. Das Konzept der Spannungsintensitat ermöglicht die quantitative Erfassung der das Risswachstum vorantreibenden Kräfte unter Annahme eines überwiegend linear-elastischen Verformungsverhaltens des Werkstoffes. Ausgangspunkt für den Spannungsintensitätsfaktor-Ansatz waren geschlossene mathematische Ausdrücke zur Spannungsberechnung in einem sich als isotrop linear-elastisch verformenden rissbehafteten Körper, welche durch verschiedene Autoren [372, 373, 376] vorgelegt wurden. Eine generalisiertere Lösung zur Spannungsberechnung im Raum vor der Rissspitze, welche nicht auf die unmittelbare Rissspitzenumgebung begrenzt ist, wurde von Williams [377] formuliert:
σ ij
m ----
∞ k 2 (m) = § ------· ⋅ f ij ( θ ) + ¦ A m ⋅ r ⋅ g ij ( θ ) , © r¹ m=0
(6.22)
wobei σ ij dem Spannungstensor entspricht (vgl. 4.3.5), die (Polar-)Koordinatenparameter r und θ gemäß der in Abb. 6.13 gegebenen Definition zu verwenden sind, k eine Konstante ist und f ij eine dimensionslose Funktion von θ ist, die nur von der Geometrie des Bauteils (bzw. der Probe) und der Risslänge abhängt. Wie aus der Formulierung von Gleichung (6.22) hervorgeht, leisten die Terme höherer Ordnung nur für größere Werte von r einen signifikanten Beitrag. Mit anderen Worten, in der Nähe der Rissspitze, d. h. r → 0 , wird die Spannungsverteilung nahezu ausschließlich vom ersten Term bestimmt. Aus diesem geht hervor, dass die Spannungsverteilung direkt vor der Rissspitze immer einer 1 ⁄ r Funktion folgt, unabhängig davon, wie die konkrete Geometrie des rissbehafteten Körpers aussieht. In gleicher Weise kann gezeigt werden, dass die Verformung an der Rissspitze sich proportional zu r verhält. Durch Gleichung (6.22) wird eine Sin-
242
6 Schädigung
y
syy txy
sxx tyx
q Rissspitze
x
Abb. 6.13 Rissspitzenkoordinatensystem mit entsprechenden Spannungszuständen vor der Rissspitze. Die z-Achse steht normal zum Blatt.
gularität an der Rissspitze ( r = 0 ) für den asymptotischen Spannungsverlauf im rissbehafteten Körper beschrieben. Jeder Bruchmodus besitzt die gleiche 1 ⁄ r Singularität an der Rissspitze, jedoch hängen die anderen beiden Faktoren ( k und f ij ) vom Bruchmodus ab. Zur Vereinfachung wird k gegen einen sogenannten Spannungsintensitätsfaktor K ausgetauscht, wobei K = k 2π . Die drei möglichen Spannungsintensitätsfaktoren erhalten den gleichen Index wie die Bruchmoden, also K I , K II oder K III . Entsprechend finden für die Bruchmoden I, II, III folgende Formulierungen für die Spannungsfelder vor der Rissspitze in einem isotropen, linear-elastischen Material Verwendung: KI (I) (I) lim σ ij = ------------- ⋅ f ij ( θ ) r→0 2πr ( II )
lim σ ij
r→0
( III )
lim σ ij
r→0
K II ( II ) = ------------- ⋅ f ij ( θ ) 2πr K III ( III ) = ------------- ⋅ f ij ( θ ) 2πr
(6.23)
(6.24)
(6.25)
Wenn das singuläre Spannungsfeld im Modus I auf der Rissebene, d. h. θ = 0 , betrachtet wird, ergeben sich die gleichen Spannungsverläufe in x- und in y-Richtung
6.3 Modellierung der Materialschädigung
KI σ xx = σ yy = -----------2πr
243
(6.26)
Für θ = 0 ergibt sich keine Schubkomponente, was bedeutet, dass in der Rissebene eine reine Mode I-Belastung vorliegt. Das Diagramm in Abb. 6.14 zeigt schematisch den Verlauf von σ yy , d. h. die normal zur Rissebene stehende Spannungskomponente über der Entfernung von der Rissspitze. Die Gültigkeit des über Gleichung (6.26) berechneten Verlaufes beschränkt sich auf die unmittelbare Umgebung vor der Rissspitze, welche durch die 1 ⁄ r Singularität beherrscht wird. Die weit von der Rissspitze im Bauteil vorliegende Spannungsverteilung wird von den äußeren Randbedingungen bestimmt. Wird ein rissbehaftetes Bauteil beispielsweise durch eine homogen angreifende Zugkraft belastet, so nähert sich σ yy mit zunehmender Entfernung vom Riss einem konstanten Wert σ ∞ an. Innerhalb der singulären Zone gelten die unter 6.2.3.4 formulierten Ableitungen zum Bruch auf atomarer Ebene. Der Spannungsintensitätsfaktor K gibt über die Amplitude der Singularität an der Rissspitze Auskunft, d. h., Spannungen in der Nähe der Rissspitze verhalten sich proportional zu K . Über K lässt sich auch die Spannungs- und Dehnungsverteilung in der Nähe der Rissspitze als Funktion von den Koordinatenparametern r und θ bestimmen. Der Spannungsintensitätsfaktor K ist damit eine einparametrige Beschreibung der Rissspitzenbeanspruchung, da er die Einflussgrößen äußere Kräfte und vorhandene Risslänge miteinander kombiniert, d. h., ein rissbehaftetes Bauteil ist der gleichen wirksamen Rissspitzenbeanspruchung ausgesetzt, wenn entweder eine hohe äußere Kraft auf einen kurzen Riss wirkt oder eine niedrige äußere Kraft auf einen langen Riss. Der quantitative Betrag der Rissspitzenbeanspruchung, welcher darüber entscheidet, ob der Riss wächst, lässt sich einfach an K ablesen, wodurch der Rissspitzen-Spannungsintensitäts-Ansatz das effektivste und damit bedeutungsvollste Konzept der Bruchmechanik ist [334]. syy
sµ KI 2pr Rissspitze
r durch Singularität beherrschte Zone
Abb. 6.14 Spannungsverteilung normal zur Rissebene bei Mode I-Belastung
244
6 Schädigung
6.3.2.3 Nichtlineare Bruchmechanik Aufgrund des relativ einfach beschreibaren werkstoffphysikalischen Mechanismus für das Aufbrechen von Atombindungen lassen sich die verschiedenen Ansätze zur Beurteilung von Rissvorgängen in der linear-elastischen-Bruchmechanik in einer Art und Weise ableiten, in der ein sehr enger Zusammenhang zwischen den werkstoffphysikalischen Elementarmechanismen und dem kontinuumsmechanischen Ansatz (z. B. Spannungsintensitätsfaktor-Ansatz) herrscht. Legt man anstelle der idealisierten Voraussetzung eines rein linear-elastischen Verformungsverhaltens das im Realfall wahrscheinlichere Auftreten elastischer und inelastischer Verformungserscheinungen zugrunde, so ist es aufgrund der verschiedenen diesen Deformationsphänomenen zugrunde liegenden Mechanismen schwer, eine umfassende mechanismenorientierte Beschreibung von Bruchvorgängen anzufertigen. Zwar ist es möglich, bestimmte Vorgänge isoliert in verschiedenen Einzelmodellen zu betrachten. Jedoch ergeben sich daraus keine klaren Ableitungen für das Aufstellen kontinuumsmechanischer Beschreibungen. Aus diesem Grund existiert im Fall nichtlinearen Verformungsverhaltens eine stärkere Diskrepanz zwischen den kontinuumsmechanischen Analysen der den Riss vorantreibenden Kräfte auf der einen Seite und den tatsächlich an der Rissspitze auftretenden werkstoffphysikalischen Elementarmechanismen auf der anderen Seite [342]. Unter Berücksichtigung der aufgeführten Problematik bei nichtlinearem Verformungsverhalten besteht das Ziel einer effektiven kontinuumsmechanischen Analyse, eine universelle Charakterisierung des Rissspitzenbeanspruchungsfeldes anzufertigen, welche dieses für verschiedene Belastungsbedingungen über geeignete Parameter beschreibt. Die heute am weitesten verbreiteten Ansätze sind das JIntegral und das C*-Integral. Außerdem existiert das sogenannte Rissspitzenaufweitungsverfahren (Crack Tip Opening Displacement, CTOD), welches allerdings nicht näher besprochen werden soll.
Der J-Integral-Ansatz Für ebene Verformungsfelder wurde in unabhängigen Arbeiten von Cherepanov [379] und Rice [380] ein wegunabhängiges Linienintegral diskutiert, mit dem sich das Bruchverhalten bei elastisch-plastischem Verformungsverhalten beschreiben lässt. Dieser als J-Integral bezeichnete Ansatz beruht auf einem Linienintegral mit geschlossenem Integrationsweg um die Rissspitze J =
du j
- ⋅ ds· ³ §© W ⋅ dy – σ ij ⋅ n i ⋅ -----¹ dx
Γ
mit
(6.27)
6.3 Modellierung der Materialschädigung
245
y Ti uj
r
q Rissspitze
0
x
ds
ni
Abb. 6.15 Definition des J-Integrals
ε ij
W =
³ σij ⋅ dεij
,
(6.28)
0
wobei Γ ein beliebiger Integrationsweg um die Rissspitze ist, n i den nach außen gerichteten Normalenvektor auf Γ darstellt, W der Verformungsenergiedichte entspricht und σ ij der Spannungstensor und ε ij der Verschiebungstensor ist, u j dem entsprechenden Verschiebungsvektor und ds dem zugehörigen Bogenelement des Integrationsweges entspricht (vgl. Abb. 6.15). [375] Aufgrund der Formulierung des J-Integrals besteht eine wichtige Bedingung darin, dass die Verformungsenergiedichte Potenzialcharakter besitzt. Das hat zur Folge, dass nur monoton belastete Bauteile bzw. Proben über das J-Integral bewertet werden können, während Wechsellasten unzulässig sind. Die Bestimmung des J-Integrals kann sowohl experimentell als auch nummerisch erfolgen. Die experimentelle Bestimmung des J-Integrals erfolgt, indem die zur Verformung eines rissbehafteten Körpers verrichtete mechanische Arbeit bei zwei inkrementell nacheinander erreichten Risslängen zugrunde gelegt wird: J = –
∂ F ⋅ --- ⋅ dx , ∂a ³ b
(6.29)
wobei F der Kraft, welche auf den Probekörper der Dicke b aufgebracht wurde, entspricht und dx die inkrementellen Verschiebungen des Lastangriffs-
246
6 Schädigung
punktes während des Experimentes sind [342]. Die nummerische Bestimmung des J-Integrals ist hingegen sehr viel komplizierter [378]. Im Spezialfall einer linearelastischen Verformung ergibt sich für den Fall des ebenen Spannungszustandes folgende Beziehung zwischen J und K 2
K J = -----IE
(6.30)
bzw. 2
2
KI ( 1 – ν ) J = ------------------------E
(6.31)
für den Fall des ebenen Verzerrungszustandes.
Der C*-Integral-Ansatz Nachdem sich das J-Integral als Konzept zur Bewertung von Brüchen bei elastisch-plastischen Verformungsverhalten etabliert hatte, entwickelten sich Ansätze zur Beschreibung des Kriechrissverhaltens bei Hochtemperaturanwendungen. Das C*-Integral, mit dem sich das Risswachstumsverhalten bei quasistatischer Kriechverformung beschreiben lässt, wurde unter anderem von Landes und Begley vorgeschlagen [383]. Hierbei wird auf die Hoff’sche Analogie [384] zurückgegriffen, dass, wenn ein nichtlinearer elastischer Körper, welcher der Beziehung ε ij = f ( σ ij ) folgt, und ein viskoser Körper, welcher durch die Beziehung · ε ij = f ( σ ij ) gekennzeichnet ist, demselben zeitlichen Spannungsverlauf ausgesetzt sind, dann entwickelt sich in beiden die gleiche Spannungsverteilung für dieselbe Belastung [334]. Das C*-Integral zeichnet sich dadurch aus, dass gegenüber dem J-Integral Spannungen gegen Spannungsraten und Verschiebungen gegen Verschiebungsraten ausgetauscht werden du· j
- ⋅ ds· , ³ §© w· ⋅ dy – σij ⋅ ni ⋅ -----¹ dx
C* =
(6.32)
Γ
wobei w· die Verformungsrateenergiedichte mit · ε kl
w· =
·
³ σij ⋅ dεij 0
(6.33)
6.3 Modellierung der Materialschädigung
247
ist. Durch verschiedene Autoren wurde das C*-Integral als Beanspruchungsparameter zur Beschreibung für Kriechrisswachstum vorgeschlagen. Analog zum JIntegral ergibt sich die Möglichkeit, es über die Bewegung der Lastangriffspunkte an einem Probekörper zu bestimmen. Durch eine Pfadunabhängigkeit charakterisiert es das Rissspitzenfeld und steht damit in engem Zusammenhang mit dem Bruchverlauf [342].
6.3.2.4 Problematik der Rissspitzenplastizität Bei einer rein linear-elastischen Betrachtung der Spannungsverteilung vor der Rissspitze wird an dieser eine unendlich große Spannung vorausgesagt. Tatsächlich ist dies jedoch nicht möglich, da bei sehr hohen, im Bereich vor der Rissspitze auftretenden Spannungen werkstoffphysikalische Mechanismen aktiviert werden, in deren Folge inelastische Verformungen in einem kleinem Bereich um die Rissspitze auftreten, welche diese abstumpfen, sodass immer ein endlicher Rissspitzenradius entsteht. Gleichzeitig wird die Spannung im Bereich der Rissspitze durch diese Verformungen reduziert. Ist der Bereich der inelastischen Verformung klein (Kleinbereichsfließen, engl. small-scale yielding) lässt sich durch Korrekturen an einfachen LEBM-Beschreibungen der Spannungsverteilung das veränderte Spannungsfeld vor der Rissspitze abschätzen. Um die Größe der plastischen Zone zu ermitteln, wurde von Irwin vorgeschlagen, die Entfernung von der Rissspitze r F , bei welcher die Spannung bei der rein elastischen Analyse der Spannungsverteilung der Fließspannung σ F des Materials entspricht, zu verwenden (siehe Abb. 6.16). Da es aufgrund der inelastischen Verformungen jedoch zu einer Spannungsumverteilung kommt, ist der Radius r p der plastischen Zone größer als der bei der elastischen Abschätzung angenommene. Für die Abschätzung von r p wird angenommen, dass die Flächen unter der elastischen und der elastisch-plastischen Spannungsverteilungsfunktion vor der Rissspitze gleich sein müssen, damit das Kräftegleichgewicht gegenüber der äußeren Belastung erhalten bleibt, sodass sich aus der Bedingung ry
K
dx – σ F ⋅ r F ³ ------------2πx
= σF ⋅ ( rp – rF )
(6.34)
0
folgende Lösung für r p ergibt 1 K 2 r p = 2 ⋅ r F = --- § ------· π © σ F¹
(6.35)
Ist die Größe der plastischen Zone klein gegenüber der Risslänge, bleibt die Lösung für Spannungsverteilung um die Rissspitze erhalten und wird nur durch
248
6 Schädigung
syy
sF
Rissspitze
r
rF
rp
ideal elastisches Verhalten
ideal elastisch-plastisches Verhalten
Abb. 6.16 Rissspitzenplastizität
eine kleine Fließzone vor der Rissspitze ergänzt, welche den bisherigen Verlauf dort abschneidet. Wenn sich das Problem der Rissspitzenplastizität aufgrund der Größe der plastischen Zone nicht mehr durch den Fall des Kleinbereichfließens abdecken lässt, lassen sich Form und Größe der plastischen Zone nur mit nummerischen Verfahren ermitteln, da beide dann stark von der Form des Bauteils abhängig sind. Bei steigender Belastung kann sich die plastische Zone über den gesamten Querschnitt des Bauteils ausbreiten. Die Berechnung der Spannungsverläufe in der Nähe der Rissspitze wurde von Hutchinson [381] und von Rice und Rosengreen [382] vorgenommen. Dabei gingen sie davon aus, dass das Verfestigungsverhalten des Werkstoffes bei einsetzender plastischer Verformung einer Potenzfunktion folgt, wie sie von der Ramberg-Osgood-Beziehung [386] vorhergesagt wird. Unter Berücksichtigung der gleichzeitig stattfindenden elastischen Verformung ergibt sich folgende Beziehung für den einachsigen Beanspruchungsfall: σ N ε σ ----- = ------ + α ⋅ § ------· , © σ F¹ εF σF
(6.36)
wobei σ F , ε F die entsprechende Fließspannung und -dehnung sind, α ein dimensionsloser Vorfaktor ist und N der Verfestigungsexponent (engl. strain hardening exponent) ist. Das von Hutchinson, Rice und Rosengreen berechnete Spannungsfeld (HRR-Feld) hat die Form
6.3 Modellierung der Materialschädigung
249
1 ------------
§ ·N+1 E⋅J -¸ ⋅ σ ij ( N, θ ) σ ij ( r, θ ) = σ F ⋅ ¨ ----------------------------2 © α ⋅ σ F ⋅ I n ⋅ r¹
(6.37)
N ------------
α ⋅ σF § ·N+1 E⋅J -¸ ⋅ ε ij ( N, θ ) , ε ij ( r, θ ) = -------------- ⋅ ¨ ----------------------------E © α ⋅ σ 2 ⋅ I ⋅ r¹ F
(6.38)
n
wobei σ ij dem Spannungstensor und ε ij dem Verschiebungstensor entspricht (vgl. 4.3.5), die (Polar-) Koordinatenparameter r und θ gemäß der in Abb. 6.13 gegebenen Definition zu verwenden sind und σ ij ( N, θ ) , ε ij ( N, θ ) dimensionslose Winkelfunktionen sind, welche nummerisch bestimmt werden müssen. I n ist eine Integrationskonstante, welche sowohl von N als auch vom Spannungszustand (d. h. ebener Verformungszustand oder Spannungszustand) abhängt. Aus den Gleichungen (6.37) und (6.38) geht hervor, dass sich für verschiedene Risse in unterschiedlichen Bauteilen des gleichen Werkstoffs, welche den gleichen Wert für J aufweisen, der gleiche asymptotische Spannungsverlauf ergibt und das entsprechende Rissverhalten daher identisch sein sollte - wenngleich einschränkend hinzugefügt werden muss, dass die Spannungen in der plastischen Zone im ebenen Verzerrungszustand kleiner sind als im ebenen Spannungszustand. Während das J-Integral die Spannungsfelder vor der Rissspitze in einem sich elastisch oder elastisch-plastisch verformenden Werkstoff charakterisiert, werden in einem sich viskos, d. h. sich zeitabhängig plastisch verformenden Werkstoff, die Spannungsfelder vor der Rissspitze ausschließlich durch das C*-Integral definiert. Die Hoff’sche Analogie impliziert dabei, dass das C*-Integral pfadunabhängig ist, da auch das J-Integral pfadunabhängig ist. Wenn davon ausgegangen wird, dass sich das Material im Zustand der quasistatischen Kriechverformung befindet und zur Beschreibung des ratenabhängigen Verformungsverhaltens ein einfaches Potenzgesetz angewendet werden kann n · ε ij = A ⋅ σ ij ,
(6.39)
wobei der Vorfaktor A und der Spannungsexponent n Materialkonstanten sind, ist es möglich, ein HHR-Feld für Spannungen und Dehnraten nahe der Rissspitze zu formulieren 1 -----------
n+1 C* σ ij ( r, θ ) = § -------------------· ⋅ σ ij ( n, θ ) © A ⋅ I n ⋅ r¹
(6.40)
250
6 Schädigung n -----------
n+1 C* ⋅ ε ij ( n, θ ) , ε ij ( r, θ ) = § -------------------· © A ⋅ I n ⋅ r¹
(6.41)
wobei σ ij , ε ij , r , θ , σ ij ( n, θ ) , ε ij ( n, θ ) und I n die gleiche Bedeutung wie die entsprechenden Parameter in den HRR-Feld-Beziehungen in Gleichung (6.37) und (6.38) haben. Bei Kriechrissbildung und -fortpflanzung durch Kondensation von Leerstellen an Korngrenzen mit anschließendem Porenwachstum (vgl. 6.2.3.5 und 6.2.3.6) lässt sich bei monotoner Belastung das Versagen in der Regel dem Erreichen einer kritischen Bruchdehnung ε B zuordnen [385]. Somit lässt sich über das HRR-Feld ein Ausdruck für die Kriechrissrate ableiten. 1 ----------n+1
n ----------n+1
⋅ ( C* ) ( A ⋅ Δa ) a· = -------------------------------------------------------εB
(6.42)
Die von Gleichung (6.42) vorhergesagte Abhängigkeit des Kriechrisswachstums von ( C* )
n ----------n+1
konnte experimentell bestätigt werden [342].
6.3.2.5 Bewertung der Rissausbreitung bei Wechselbelastung In allen bisherigen Betrachtungen zur Bewertung rissbehafteter Bauteile über bruchmechanische Konzepte wurde immer eine Beanspruchung zugrunde gelegt, welche entweder kontinuierlich gesteigert wird oder über einen bestimmten Zeitraum konstant gehalten wird. Die Möglichkeit, rissbehaftete Bauteile einer Wechselbeanspruchung auszusetzen, wurde von allen bisherigen Betrachtungen nicht berührt. Dafür ist es zunächst notwendig, bestimmte etablierte Formen der Beschreibung von Wechselbeanspruchungen über festgelegte ingenieurtechnische Kennwerte zu erläutern. Diese Formen der Beschreibung von Wechselbeanspruchungen haben nicht ursächlich mit den Konzepten der Bruchmechanik zu tun, sondern entstanden ursprünglich in Zusammenhang mit der Entwicklung von empirischen Ermüdungsmodellen (vgl. 6.3.3). Ausgangspunkt für die in Abb. 6.17 schematisch gezeigte Darstellung von Wechselbeanspruchungen war die Intention, die an technische Anlagen und Fahrzeugen auftretenden Schwingungsbeanspruchungen über geeignete Kennwerte darzustellen. Aus diesem Grund liegt der Darstellung die Überlegung zugrunde, dass die Bemessung des Bauteils gegenüber der Amplitude einer Schwingbeanspruchung so erfolgt ist, dass diese in ihrem Betrag deutlich unterhalb einer für die Formstabilität des Bauteils kritischen Beanspruchung liegt. Zur grundsätzlichen Beschreibung einer Schwingbeanspruchung wer-
6.3 Modellierung der Materialschädigung
251
s smax3
smax2 smin3 0
t
smax1 smin2
smin1
Druckschwellbeanspruchung 1
Wechselbeanspruchung -µ < R < 0
Zugschwellbeanspruchung 0
Abb. 6.17 Schematische Darstellung der Beanspruchungsbereiche einer Wechselbeanspruchung mit Angabe der kennzeichnenden Beanspruchungsgrößen
den daher vor allem die Spannungen in den Lastumkehrpunkten benutzt und daraus die Kennwerte Spannungsverhältnis R σ min K min R = ----------- = -----------, σ max K max
(6.43)
Spannungsamplitude Δσ ⁄ 2 bzw. S a (andere Notation für Wöhler-Kurven (SN-Kurven) üblich, vgl. 6.3.3.2) Δσ ⁄ 2 = S a = σ max – σ min = σ max ⋅ ( 1 – R )
(6.44)
bestimmt. Um die Anwendung des Spannungsintensitätsfaktors K nicht auf eine statische Rissausbreitung zu begrenzen, kann in analoger Weise ein Spannungsintensitätsfaktor für Wechselbelastungen ΔK ΔK = K max – K min = K max ⋅ ( 1 – R )
(6.45)
bestimmt werden. Eine symmetrische Wechselbeanspruchung liegt für σ max = – σ min und damit R = – 1 vor. In Abhängigkeit vom Spannungsverhältnis und der Belastung stellt sich eine entsprechende Rissfortschrittsrate ein. Wenn
252
6 Schädigung
Bereich I:
Bereich II:
Bereich III:
Risswachstum unterhalb kontinuumsmechanischer Beschreibungsmöglichkeiten
kontinuumsmechanische Beschreibung d. Risswachstums über Potenzgesetz
Instabilität d. Risswachstums
log (da/dN)
Bereich III
Bereich II da n dN = A(DK)
Bereich I A
DK th
log (DK)
K IC
Abb. 6.18 Schematische Darstellung des typischen Risswachstumsverhaltens in metallischen Werkstoffen bei Wechselbeanspruchung
dieser Zusammenhang in einem doppeltlogarithmischen Diagramm dargestellt wird (Abb. 6.18), ergibt sich ein S-förmiger Verlauf, welcher sich in drei Bereiche unterteilen lässt [387]. Der Bereich I ist durch ein sehr langsames Risswachstum gekennzeichnet, welches unterhalb eines kritischen Schwellenwertes ΔK th aussetzt. Die Beschreibung des Risswachstums auf der Basis kontinuumsmechanischer Ansätze ist im Bereich I nicht möglich, da die dem Risswachstum zugrunde liegenden Prozesse komplexere Wechselwirkungen mit der Werkstoffstruktur beinhalten. Die durchschnittlichen Risswachstumsraten im Bereich I liegen üblicherweise in einem Bereich von –9 da ⁄ dN ≤ 10 m ⁄ Zyklus , wodurch klar wird, dass der tatsächlich erreichte Rissfortschritt stark von lokalen Charakteristika der Werkstoffstruktur (3.2.1), wie Versetzungsdichten, Leerstellenkonzentration, Korngrenzenbeschaffenheit oder Einschlüssen, abhängt [387]. Im Bereich II tritt in der Regel ein sogenanntes Potenzgesetzrisswachstum auf, welches sich über die Paris-Erdogan-Gleichung [388] beschreiben lässt m da ------- = A ⋅ ( ΔK ) dN
(6.46)
6.3 Modellierung der Materialschädigung
253
und kaum von den werkstoffstrukturellen Gegebenheiten abhängt. Hierbei sind A und m Werkstoffparameter, welche über die Beständigkeit eines Materials gegenüber Wechselbeanspruchungen Auskunft geben. Auf der Bruchfläche eines im Bereich II ermüdeten metallischen Werkstoffs ergeben sich charakteristische Schwingungsstreifen, an denen sich die Rissfortschrittsgeschwindigkeit posthum, z. B. nach Schadensfällen, bestimmen lässt. Der Bereich III ist aufgrund des hohen Spannungsintensitätsfaktors durch eine sehr schnelle Rissausbreitung gekennzeichnet, welche stark von der Bauteilgeometrie und den werkstoffstrukturellen Gegebenheiten abhängt. Mit zunehmenden Werten von ΔK ergibt sich ein Übergang zur instabilen Rissausbreitung, die bei einem kritischen Wert K IC erreicht wird. Um dem Fall großer plastischer Zonen vor der Rissspitze und damit dem Fehlen eines dominierenden asymptotisch verlaufenden Spannungsfeldes Rechnung tragen zu können, wurde von Dowling und Begley [389], Dowling [390] und Wüthrich [391] vorgeschlagen, das J -Integral-Konzept auf den Bereich des Ermüdungsrisswachstums mit starker elastisch-plastischer Wechselverformung vor der Rissspitze auszuweiten. Analog zur Nutzung von ΔK bei elastischen Wechselbeanspruchungen wurde das ΔJ -Integral definiert, welches in einer der Paris-Erdogan-Gleichung verwandten Formulierung genutzt wird, um einen Ausdruck für das zyklische Risswachstum da ⁄ dN zu erhalten da- = A′ ⋅ ( ΔJ ) m′ -----, dN
(6.47)
wobei A′ und m' vom Werkstoff abhängige Parameter sind. Für die Berechnung des ΔJ -Integrals muss die Spannungs-Dehnungs-Hysterese in Abb. 6.19 betrachtet werden, in welcher die Spannungen und Dehnungen am unteren Wende(1) (1) (2) (2) punkt die Werte σ ij , ε ij und am oberen Wendepunkt die Werte σ ij , ε ij haben. Unter Verwendung dieser Definition für die elastisch-plastische Wechselbeanspruchung vor der Rissspitze ergibt sich das ΔJ -Integral als Linienintegral mit geschlossenem Integrationsweg um die Rissspitze [334] ΔJ =
dΔu j
- ⋅ ds· ³ §© ΔW ( Δεij ) ⋅ dy – ΔTi ⋅ ---------¹ dx
(6.48)
Γ
mit (2)
ε kl
ΔW ( ε kl ) =
³ Δσ ij ⋅ d( Δε ij ) 0
ε kl
=
³ (1) ε kl
(1)
( σ ij – σ ij ) ⋅ dε ij ,
(6.49)
254
6 Schädigung
wobei Γ ein beliebiger Integrationsweg um die Rissspitze ist, ΔT i und Δu j den Veränderungen im nach außen gerichteten Normalspannungsvektor auf Γ und dem entsprechenden Verschiebungsvektor zwischen den Umkehrpunkten (1) und (2) in der Spannungs-Dehnungs-Hysterse in Abb. 6.19 entsprechen. ΔW ist die entsprechende Verformungsenergiedichte für den Fall elastisch-plastischer Wechselverformungen, wobei ΔW nur der Verformungsarbeit entspricht, welche auf dem von Punkt (1) nach Punkt (2) verlaufenden Hysteresehalbast verrichtet wird, und nicht der Verformungsarbeit, welche durch die vollständige Hystereseschleife eingeschlossen wird [334]. Alle anderen Größen entsprechen den Definitionen des J -Integrals in Gleichung (6.27). Das Konzept des ΔJ -Integrals hat verschiedene Schwächen, aus denen Zweifel für die Anwendbarkeit auf praktische Fälle resultieren. Dadurch, dass die Verformungsenergiedichte ΔW Potenzialcharakter besitzt, bezieht sich das über die Gleichungen (6.48) und (6.49) definierte Integral nur auf den Belastungshalbast der Spannungs-Dehnungs-Hysterese. Da auch über das ΔJ -Integral nur monoton belastete Bauteile bzw. Proben bewertet werden können, verlangt seine Anwendung auf den Bereich von Wechselbeanspruchungen symmetrische Hysteresenformen bei den elastisch-plastischen Verformungen vor der Rissspitze. Diese lassen sich zwar mit den in der Literatur beschriebenen Standardmethoden [389, 392] für spannungs- und dehnungskontrollierte Versuche an Probekörpern zur Bestimmung der ΔJ -Werte einfach erreichen, sind aber in der Praxis an rissbehafteten Bauteilen nicht notwendigerweise vorhanden, was die Gültigkeit bei der Übertragung der Werte möglicherweise einschränkt. Experimentelle Befunde [390] in verschiede-
s
(sij(2); eij(2))
Neukurve
e
(sij(1); eij(1)) Abb. 6.19 Schematische Darstellung der Spannungs-Dehnungs-Hysterese aufgrund des elastischplastischen Verformungsverhaltens vor der Rissspitze bei Wechselbeanspruchung
6.3 Modellierung der Materialschädigung
255
nen Legierungen zeigen, dass der elastisch-plastische ΔJ -Ansatz besonders gut für die bruchmechanische Charakterisierung bei hohen Spannungsamplituden, kurzen Risslängen und Rissausbreitung an Kerben geeignet ist. Diese Korrelationen sind insofern überraschend, als dass die Bedingungen für symmetrische Hystereseformen kaum gegeben sein dürften, wenn ein schnell wachsender Ermüdungsriss in der Phase der elastischen Entlastung betrachtet wird, besonders wenn die Risslängen kurz und die Spannungsamplituden hoch sind [393]. Im Bereich sicherheitsrelevanter Bauteilauslegungen für die in Kernkraftwerken eingesetzten Reaktordruckbehälter existieren erhebliche Zweifel an der Verwendung des J -Integrals (und damit auch des ΔJ -Ansatzes) als geeigneter bruchmechanischer Parameter. Als kritischer Belastungsfall werden hierbei sogenannte „Notkühltransienten“ angesehen, wobei von einem nicht vernachlässigbaren Grad der Plastifizierung an der Rissspitze bei der Betrachtung rissbehafteter Reaktorbehälterdruckwände ausgegangen wird. Wie in [394] ausgeführt wird, verliert das J -Integrals seine ursprüngliche Deutung, sobald diese Plastifizierung eintritt. In seiner originären Formulierung ist das J -Integral wegunabhängig und ein Maß für die Singularität des Spannungsfeldes vor der Rissspitze bei elastisch-plastischem Verformungsverhalten. Treten jedoch Entlastungen oder Spannungsumlagerungen vor der Rissspitze auf, so verliert die Annahme eines singulären Feldes vor der Rissspitze ihre Gültigkeit, sodass die eindeutige Beziehung zwischen den Spannungen und Dehnungen verloren geht und das J -Integral wegabhängig wird. Zur Veranschaulichung ist die Notkühltransiente in einer schematischen Darstellung eines Spannungsintensitäts-Temperatur-Diagramms in Abb. 6.20 gezeigt. Um die beschriebenen Schwierigkeiten, die bei der Verwendung des J -Integral auftraten, zu umgehen, wurden verschiedene Modifikationen [395-401] des Linienintegrals vorgeschlagen, deren Vor- und Nachteile in [394, 402, 337] diskutiert werden. Diese Erweiterungen berücksichtigen jedoch nur den Fall rein mechanischer Belastung unter der Annahme infinitesimaler Dehnungen. Allerdings können Volumenkräfte und Rissuferbelastungen etc. über zusätzliche Integrale noch hinzu* gefügt werden. Nachfolgend soll das ΔT -Integral von Atluri, Nishioka und Nakagaki [397] näher erläutert werden. * Zur Erläuterung des ΔT -Integrals wird in den Ausführungen in [394] zunächst vom ΔJ -Integral ausgegangen. Dabei werden die in Abb. 6.21 gezeigten Pfadund Geometriebezeichnungen verwendet. Betrachtet wird ein rissbehaftetes Bauteil mit einem Riss in x-Richtung. An der Rissspitze wird dieser Riss von zwei Pfaden umfasst. Γ bezeichnet den Pfad um die Rissspitze im Abstand ε und C 2 + C 3 + C 4 einen weiter außen liegenden Pfad. Die entsprechenden Richtungen der Normalenvektoren m und n sind in Abb. 6.21 dargestellt. Wird die x-Komponente (Rissrichtung) des wegunabhängigen J -Vektors betrachtet, die Formänderungsarbeit ΔW gemäß der in Gleichung (6.49) gegebenen Definition verwendet und weiterhin angenommen, dass t i die Komponente des Spannungsvektors bezüglich des orientierten Oberflächenelements t i = σ ij ⋅ m j und u i die Komponente des Verschiebungsvektors ist, so ergibt sich analog zu Gleichung (6.48) das ΔJ -Integral für die beiden Pfade um die Rissspitze:
Bruchzähigkeit, Spannungsintensität K
256
6 Schädigung
elastisch-plastisches Wekstoffverhalten
Lastmaximum
J-Integral Formulierung nicht gültig
Zeit
elastisches Werkstoffverhalten Temperatur
Abb. 6.20 Schematische Darstellung eines Spannungsintensitäts-Temperatur-Diagramms zur Beschreibung einer Notkühltransiente [394]
ΔJ 1 = lim
ε→0
=
³
³ [ ΔW ⋅ m1 – ( ti + Δti ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δti ⋅ Δui, 1 ) ] ds
,
(6.50)
Γ
[ ΔW ⋅ m 1 – ( t i + Δt i ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δt i ⋅ Δu i, 1 ) ] ds
C2 + C3 + C4
wobei die mit Δ beschriebene Differenz dem Inkrement der jeweiligen Größe von Lastschritt n auf Lastschritt n + 1 entspricht. Werden die die Verformung vor der Rissspitze charakterisierenden Spannungs-Dehnungs-Hysteresen in Abb. 6.22 betrachtet, so wird klar, dass bei elastisch-plastischem Verformungsverhalten vor der Rissspitze die Formänderungsarbeit ΔW von der Belastungsgeschichte abhängt. Hierdurch entsteht eine Wegabhängigkeit von ΔJ 1 , sodass das Integral entlang des Pfades Γ nicht mehr dem Integral entlang des Pfades C 2 + C 3 + C 4 entspricht. Beim T*-Integral von Atluri wird nun zum äußeren Pfad ein Integral mit der Eigenschaft addiert, dass die Summe von ΔJ 1 entlang des äußeren Pfades C 2 + C 3 + C 4 und einem hinzugefügten Integral ΔI 1 gleich dem ΔJ 1 -Integral ent* lang des inneren Pfades Γ ist. Der resultierende Integralwert von ΔT 1 wird dadurch definiert, dass der Abstand des Γ -Pfades von der Rissspitze gegen null läuft.
6.3 Modellierung der Materialschädigung
257
y C=C2+C3-G+C4
C3 Rissspitze C4
0 ni G V
x
mi ds C2
Va ni, mi
Abb. 6.21 Definition des T*-Integrals
*
ΔT 1 = lim
ε→0
³
= lim
ε→0
³ [ ΔW ⋅ m 1 – ( ti + Δti ) ⋅ Δui, 1 – ( Δti ⋅ Δui, 1 ) ] ds
(6.51)
Γ
[ ΔW ⋅ m 1 – ( t i + Δt i ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δt i ⋅ Δu i, 1 ) ] ds + ΔI 1
C2 + C3 + C4
Demzufolge ergibt sich ΔI 1 aus der Differenz der Integrale entlang der unterschiedlichen Pfade
³
ΔI 1 = – lim
ε→0 C2 + C3 + C4 – Γ
[ ΔW ⋅ m 1 – ( t i + Δt i ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δt i ⋅ Δu i, 1 ) ] ds
(6.52)
Im nächsten Schritt lässt sich das Linienintegral durch Anwendung des Satzes von Gauß in ein Volumenintegral überführen [394]: ΔI 1 = – lim
³
ε→0 V – Vε
[ ΔW ,1 – ( σ ij + Δσ ij ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δσ ij ⋅ Δu i, 1 ) ] dV
(6.53)
258
6 Schädigung
y
Rissspitze
1
2
4
3
x
zyklische elastisch-plastische Verformung
rpc rpm
monotone elastisch-plastische Verformung
s
s
sF
sF
e
1
e
s
s
sF
sF
e
3
e
2
4
Abb. 6.22 Die Verformung des Werkstoffs charakterisierende Spannungs-Dehnungs-Hysteresen in unterschiedlichen Abständen vor der Rissspitze
6.3 Modellierung der Materialschädigung
259
Gemäß den Ausführungen in [394] ergibt sich unter Berücksichtigung der Gleichgewichtsbedingung σ ij, j = 0 und der Kompatibilitätsbedingung ε ij = 1 ⁄ 2 ⋅ ( u i, j + u j, i ) sowie durch näherungsweise Berechnung des Inkrements der Formänderungsarbeit ΔW über Anlegen einer Sekante an das gekrümmte Stück der Spannungs-Dehnungs-Hysterese, d. h. ΔW ≈ ( σ ij + 1 ⁄ 2Δ σ ij )ε ij , folgende Formulierung für ΔI 1 : ΔI 1 = – lim
³
ε→0 V – Vε
[ ( σ ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ σ ij, 1 )ε ij – ( ε ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ ε ij, 1 )σ ij ] dV (6.54)
Durch Wiedereinsetzen in Gleichung (6.51) ergibt sich das weg- und gebietsun* abhängige, inkrementell formulierte ΔT -Integral von Atluri: *
³
ΔT 1 =
[ ΔW ⋅ m 1 – ( t i + Δt i ) ⋅ Δu i, 1 – ( Δt i ⋅ Δu i, 1 ) ] ds
(6.55)
C2 + C3 + C4
³
+ lim
ε→0
[ ( σ ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ σ ij, 1 )ε ij – ( ε ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ ε ij, 1 )σ ij ] dV
V – Vε
Wird zum Ausgangspunkt der Herleitung in Gleichung (6.50) zurückgekehrt, so wird klar, dass der erste Term dem ΔJ -Integral entspricht, während das darauf folgende Volumenintegral offensichtlich als Korrekturterm zur Erzielung einer Weg* und Gebietsunabhängigkeit für das ΔT -Integral dient, d. h. *
ΔT 1 = ΔJ 1 + lim
³
ε→0 V – Vε
(6.56)
[ ( σ ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ σ ij, 1 )ε ij – σ ij ( ε ij, 1 + 1 ⁄ 2 ⋅ Δ ε ij, 1 ) ] dV
Zur Interpretation von Gleichung (6.56) wird in [394] ausgeführt, dass sich das Volumenintegral über das gesamte Gebiet zwischen Rissspitze und dem Weg der * ΔJ -Integralauswertung erstreckt. Der Wert des ΔT -Integrals entspricht der Summe der Inkremente aller Lastschritte, welche so zu wählen sind, dass die Spannungs-Dehnungs-Hysterese im ausgewerteten Gebiet um die Rissspitze vollständig abgefahren wird. Aus Abb. 6.21 wird weiterhin ersichtlich, dass das Integral dem Grenzwert des Wegintegrals für einen auf die Rissspitze schrumpfenden Integrationspfad ent* spricht, d. h. dass das ΔT -Integral und das ΔJ -Integral an der Rissspitze gleich * sind. Durch das ΔT -Integral eröffnet sich die Möglichkeit, eine Berechnung durch ein Wegintegral über einen beliebigen äußeren Pfad und ein Gebietsintegral über das von diesem Pfad und dem Rissspitzenpfad eingeschlossene Volumen aus* zuführen. Die Anwendbarkeit des ΔT -Integrals für zyklisches Risswachstum mit Entlastungs- und Wiederbelastungsphasen wurde in [398-400] gezeigt. Auersperg
260
6 Schädigung *
et al. [403] demonstrierten die Anwendung des ΔT -Integrals für zyklisches Risswachstum in Lotkontakten in elektronischen Aufbauten, welche Temperaturwechseln unterzogen worden sind. Allen bisherigen Betrachtungen zur Bewertung rissbehafteter Bauteile bei Wechselbeanspruchung betrafen vor allem die Analyse rein mechanischer Beanspruchungen. Was in diesem Zusammenhang bisher nicht diskutiert wurde, ist die Möglichkeit, rissbehaftete Bauteile einer thermisch-induzierten Wechselbeanspruchung auszusetzen, wodurch sich eine Betrachtung der Schädigungswirkung sowohl durch mechanische Beanspruchung als auch durch Temperaturbeanspruchung erforderlich macht. Wie in 2.1 bereits ausführlich diskutiert, sind solche Belastungen für den Bereich der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik typisch. Sie gehören allerdings auch zu den oft zitierten klassischen Problemfällen im Kraftwerksbau [58, 59, 378, 404-406]. In beiden Fällen sind Temperaturänderungen die vorherrschende Ursache des Entstehens mechanischer Wechselbeanspruchungen, welche außerdem im Zusammenhang mit den für die relevanten Werkstoffe hohen Einsatztemperaturen stehen, bei denen diffusionskontrollierte Verformungsmechanismen wie das Kriechen dominieren (vgl. 2.1, Abb. 2.1). Aus diesem Grund ist es angebracht, auf die speziellen Erfahrungen bei der Bewertung von Kriech-Ermüdungs-Rissen aus der Kraftwerkstechnik einzugehen, welche einen dominierenden Schadensfall für Kraftwerke im Mittel- und Spitzenlastbereich darstellen, da das komplexe Zusammenwirken von Kriech- und Ermüdungsmechanismen eine drastische Wirkung auf die zulässige Betriebsdauer der jeweiligen Kraftwerkskomponenten haben kann [378, 404]. Die beobachtete beschleunigte Schädigung bei Kriech-Ermüdungs-Rissausbreitung hat keine leicht durchschaubaren Ursachen. Es wird vermutet, dass zeitabhängige Vorgänge der Verformung und die zyklisch induzierten Ermüdungsvorgänge aufgrund ihrer verschiedenen Grundmechanismen gleichzeitig additiv zur Schädigung beitragen können. Die Effektivität ihres Zusammenwirkens hängt von der Bildungsgeschwindigkeit der Kriechporen im Vergleich zur Ermüdungsrisswachstumsgeschwindigkeit ab. Wenn die Kriechporenbildungsrate deutlich höher ist als die Ermüdungsrisswachstumsgeschwindigkeit, d. h., wenn es zu einem überwiegend intergranularen Verlauf des Hauptrisses kommt, wird die Schädigung vorwiegend durch den Anteil der Kriechrissausbreitung bestimmt sein (Abb. 6.23 a). Wenn die Kriechporenbildungsrate hingegen erheblich langsamer ist als die Ermüdungsrisswachstumsgeschwindigkeit, d. h., es kommt überwiegend zu einem transgranularen Verlauf des Hauptrisses, wird die Schädigung vorwiegend durch die Ermüdungsrissausbreitung (Abb. 6.23 b) bestimmt sein. Bei einer Parität des eingebrachten Schädigungsbetrages durch beide Prozesse kommt es zu einer sehr effektiven Schwächung der Werkstoffintegrität durch Überlagerung beider Schadensmechanismen (Abb. 6.23 c). Eine schematische Darstellung aller drei möglichen Arten der Kriech-Ermüdungs-Rissausbreitung ist in Abb. 6.23 gezeigt [378].
6.3 Modellierung der Materialschädigung
261
Weil keines der etablierten Konzepte der Bruchmechanik den Fall der KriechErmüdungs-Rissausbreitung behandelt, werden die damit verbundenen Betrachtungen in der Regel mithilfe einer Kombination aus LEBM- und FBM-Konzepten behandelt. In dem Fall, dass das Risswachstum vorwiegend zeitunabhängig ist, wird das Risswachstum durch den Spannungsintensitätsfaktor ΔK beschrieben. Wenn die Kriechprozesse dominieren, sind Konzepte der Fließbruchmechanik, wie das C*-Integral, gefordert [406]. Ein wichtiger Transformationsparameter für die Berechnung des Kriech-Ermüdungs-Rissfortschritts bei zyklischer, thermisch induzierter mechanischer Wechselbeanspruchung sind die Haltezeit und die Frequenz des Temperaturzyklus. Dabei errechnet sich die Frequenz aus der Zykluszeit. Abnehmende Frequenz bzw. zunehmende Haltezeit bewirken hierbei eine Zunahme der Rissfortschrittsrate da ⁄ dN über einen weiten Bereich der Rissfortschrittskurve [378, 405]. überwiegendes Kriechrisswachstum
überwiegendes Ermüdungsrisswachstum
gemischtes KriechErmüdungs-Risswachstum
s
s
s
s
s
s
a)
b)
c)
Abb. 6.23 Schematische Darstellung der möglichen Formen von Kriech-Ermüdungs-Rissausbreitung: a) überwiegendes Kriechrisswachstum; b) überwiegendes Ermüdungsrisswachstum; c) gemischtes Kriech-Ermüdungs-Risswachstum
6.3.3 Empirische Ermüdungsmodelle
6.3.3.1 Hintergrund empirischer Ermüdungsmodelle Empirische Ermüdungsmodelle verwenden in der Regel einen Spannungsamplitude-Lebendauer- oder einen Dehnungsamplitude-Lebensdauer-Ansatz, um das Versagen eines unter zyklischer Wechselbeanspruchung stehenden Bauteils vor-
262
6 Schädigung
herzusagen. Empirische Ermüdungsmodelle finden oft Verwendung, wenn die Auswirkungen von Veränderungen der Betriebsbedingungen, der Werkstoffauswahl oder der Bauteilgeometrie auf die Lebensdauer abgeschätzt werden sollen. Im Bereich des Maschinen- und Anlagenbaus werden sie außerdem dazu verwendet, das Ermüdungsrisswachstum bis zu Risslängen von ca. 1mm nachzubilden. Ihr ingenieurtechnisches Anwendungsfeld liegt im Gegensatz zu bruchmechanischen Konzepten vor allem in der Beschreibung des Rissbildungsprozesses, während sie zur Charakterisierung von Risswachstumsprozessen nur unter besonderen Bedingungen geeignet sind. Eine Ausnahme bildet jedoch das Risswachstum im Bereich kleiner Risse, in dem mit empirischen Ermüdungsmodellen oft zutreffende Beschreibungen erzielt werden können. Daher sind empirische Ermüdungsmodelle für solche Versagensbeschreibungen prädestiniert, in denen die Prozesse der Rissbildung und des Kurzrisswachstums die Lebensdauer eines Bauteils dominieren [407]. Die meisten der heute bekannten empirischen Ermüdungsmodelle gehen auf die Arbeiten von August Wöhler [408] für das preußische Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten zurück. Obwohl Wöhler nicht der einzige war, welcher sich frühzeitig mit Fragen der Ermüdung von metallischen Werkstoffen beschäftigte, wurde er durch seine zwischen 1850 und 1875 durchgeführten Versuchen an Eisenbahnwagenachsen der bekannteste. Er führte Biege-, Zug-, Druckund Torsionsversuche durch, um kritische Spannungen zu ermitteln, unterhalb derer es nicht mehr zum Versagen bei schwingender Beanspruchung kam. Für seine Versuche verwendete er richtige Achsen als auch verkleinerte Modellprobekörper und entwickelte darüber ein Dauerfestigkeitskonzept, aus welchem Richtwerte für die Maschinen- und Fahrzeugkonstruktion ableitbar waren. Ausgehend von Spannungsamplitude-Lebendauer-Ansätzen, welche sich vor allem zur Beschreibung der hochzyklischen Ermüdung (engl. High Cycle Fatigue, HCF) eignen, entwickelten sich später Dehnungsamplitude-Lebensdauer-Ansätze (z. B. die Coffin-Manson-Beziehung), welche die Effekte plastischer Verformung im Bereich der niederzyklischen Ermüdung (engl. Low Cycle Fatigue, LCF) besser zu berücksichtigen in der Lage sind. Später zeigte sich, dass diese Konzepte auch zur Beschreibung der thermischen Ermüdung geeignet waren, bei der bei zyklischen thermischen Schwankungen in Materialverbunden bzw. durch Temperaturgradienten in einem Material mechanische Beanspruchungen ausgelöst wurden. Aus diesem Grund schienen die Modelle auch zur Beschreibung von Ermüdungsausfällen in elektronischen Aufbauten geeignet zu sein, in denen Temperaturzyklen, z. B. durch Selbsterwärmung bei Ein- und Ausschalten, die Hauptbeanspruchungsart sind.
6.3.3.2 Spannungsamplitude-Lebendauer-Ansätze Der Spannungsamplitude-Lebendauer-Ansatz ist eine einfache Methodik, in der Daten aus Schwingversuchen in einem sogenannten Wöhler-Diagramm (oder S-N-
Wöhlerkurve
Dauerfestigkeitsgrenze
Zeitfestigkeit
Dauerfestigkeit
Bruchschwingspielzahl log (NB)
a)
Spannungsamplitude log (Sa)
Spannungsamplitude log (Sa)
6.3 Modellierung der Materialschädigung
263
Wöhlerkurve
Dauerfestigkeitsgrenze
Zeitfestigkeit
Dauerfestigkeit
Bruchschwingspielzahl log (NB)
b)
Abb. 6.24 Qualitative Verläufe von charakteristischen Wöhler-Kurven für (a) Werkstoffe mit echtem Dauerfestigkeitsverhalten und (b) Werkstoffe mit Grenzschwingzahl
Diagramm) eingetragen werden, wobei die Spannungsamplitude S a über dem Logarithmus der Bruchlastspielzahl N B aufgetragen wird. Das Wöhler-Diagramm ist aus ingenieurtechnischer Sicht nach wie vor die wichtigste Darstellung für das Versagensverhalten bei zyklischer Wechselbelastung, welche für die Auswahl von Werkstoffen bzw. für die Auslegung von Bauteilen genutzt wird. Die Erstellung einer Wöhler-Kurve verlangt jedoch eine hohe Anzahl von Dauerschwingversuchen, welche bei verschiedenen Spannungsamplituden S a und einer konstanten Mittelspannung bis zum Werkstoffversagen durchgeführt werden, da es oft eine nicht unerhebliche Schwankungsbreite in den Ergebnissen für eine bestimmte Spannungsamplitude S a bezüglich einer konstanten Mittelspannung gibt [309]. Der Verlauf der Wöhler-Kurve, d. h. der funktionale Zusammenhang zwischen der Spannungsamplitude S a und der Bruchlastspielzahl N B , nimmt in Abhängigkeit vom Werkstoff eine charakteristische Form an. Bestimmte Werkstoffe, z. B. Stähle mit raumzentriertem Fe-Gitter als auch heterogene Nichteisenmetalllegierungen, zeigen dabei ein Wechselverformungsverhalten, bei dem unterhalb einer bestimmten Spannungsamplitude kein Ausfall infolge zyklischer Belastung feststellbar ist (vgl. Abb. 6.24). Diese Spannungsamplitude wird als Dauerschwingfestigkeit bezeichnet. Andere Werkstoffe - darunter alle kubisch-flächenzentrierten Metalle, wie Cu, Ni, Al, aber auch α -Messing als auch austenitische Stähle - weisen allerdings kein derartiges Verhalten auf und besitzen daher eine Grenzschwingzahl, welche sich 7 8 im Bereich von 10 …10 Schwingspielen aufhält [309, 410, 411]. In Abb. 6.24 sind die qualitativen Verläufe der charakteristischen Typen von Wöhler-Kurven für diese verschiedenen Arten von Werkstoffen einander gegenübergestellt.
264
6 Schädigung
Für die Nachbildung der im Wöhler-Diagramm aufgetragenen Zusammenhänge zwischen Bruchlastspielzahl N und Spannungsamplitude S ergaben sich im Laufe der Zeit folgende Modellgleichungen [409]: 1870 Wöhler
lg(N B) = a – b ⋅ S a
(1)
1910 Basquin
lg(N B) = a – b ⋅ lg(S a )
(2)
1914 Stromeier
lg(N B) = a – b ⋅ lg(S a – S D )
(3)
1955 Stüssi
lg(N B) = a – b ⋅ lg(S a – S D ⁄ ( R m – S a ) )
(4)
1963 Bastenaire
lg(N B) = a – b ⋅ lg(S a – S D ) – b ⋅ ( R m – S a )
c
(5)
Hierbei sind a, b, c die entsprechenden Modellparameter und S D entspricht der Dauerfestigkeit. Wenn die Modellgleichungen in einem halb- oder doppeltlogarithmischen Diagramm aufgetragen werden, ergeben sich aus den Gleichungen (1) und (2) Geraden, welche den Zusammenhang im Bereich der Zeitfestigkeit (vgl. Abb. 6.25) wiedergeben. Der asymptotische Übergang vom Bereich der Zeitfestigkeit in den Bereich der Dauerfestigkeit wird durch Gleichung (3) wiedergeben, während die Gleichungen (4) und (5) einen S-förmigen Verlauf der Wöhler-Kurve darstellen, um sowohl den Übergang in die Dauerfestigkeit als auch den in die Kurzzeitfestigkeit darzustellen. Mit den letzten beiden Gleichungen gelingt zwar bereits eine gute Beschreibung des in Schwingversuchen experimentell ermittelten Versagensverhaltens, jedoch fehlen bisher verallgemeinerungsfähige Angaben über die Parameterwerte der entsprechenden Wöhlerliniengleichungen [409]. Folgt man der in Abb. 6.25 gezeigten allgemeinen Darstellung einer WöhlerLinie, so ergibt sich zur Modellierung des Versagens im Zeitfestigkeitsbereich folgende Formulierung [409] S a –k N = N D ⋅ § ------· © S D¹
für S a ≥ S D ,
(6.57)
mit der Abgrenzung zum Dauerfestigkeitsbreich in der Form N = ∞
für S a < S D
(6.58)
und einer Abgrenzung zum Kurzzeitfestigkeitsbereich bei der Formdehngrenze S F mit S a < S F ⋅ ( 1 – R ) ⁄ 2 , wobei R das Spannungsverhältnis zwischen der unteren und oberen Spannung in der Schwingungsamplitude ist, d. h. R = – 1 , wenn die Mittelspannung null ist. Wenn aufgrund des Werkstoffverhaltens kein Dauerfestigkeitswert S D mit der zugehörigen Schwingspielzahl N D am Abknickpunkt von Zeit- zur Dauerfestigkeitslinie zu Verfügung steht, lässt sich Gleichung (6.57) gleichwertig auch wie folgt formulieren
6.3 Modellierung der Materialschädigung
265
Spannungsamplitude log (Sa)
Formfestigkeit Kurzzeitfestigkeit
Formdehngrenze
Zeitfestigkeitsgerade
Zeitfestigkeit
k Dauerfestigkeitsgrenze
Dauerfestigkeit
Kurzzeitfestigkeit
Zeitfestigkeit
Dauerfestigkeit
Schwingspielzahl log (Na)
Abb. 6.25 Kennwerte einer Wöhler-Linie und Abgrenzung der Bereiche Dauerfestigkeit, Zeitfestigkeit und Kurzzeitfestigkeit
S a –k N = N A ⋅ § -----· © S A¹
für S a ≥ S D ,
(6.59)
wobei S A und N A Versuchspunkte auf der Zeitfestigkeitslinie mit dem Exponenten k sind.
6.3.3.3 Dehnungsamplitude-Lebensdauer-Ansätze Wie aus dem Diagramm in Abb. 6.25 und den Gleichungen (6.57) - (6.59) hervorgeht, liefert der Spannungsamplitude-Lebendauer-Ansatz keine Aussagen für den Kurzzeitfestigkeitsbereich, in dem es aufgrund der hohen Beanspruchungen zum Auftreten plastischer Verformungen kommt. Mit steigender plastischer Dehnungsamplitude nimmt die Abhängigkeit der Ausfallschwingspielzahl von der Spannungsamplitude ab, bis diese im Bereich der niederzyklischen Ermüdung vor allem von der Dehnungsamplitude abhängt. Die grundlegenden Zusammenhänge zum Versagensverhalten im Kurzzeitfestigkeitsbereich, d. h. zum Versagen bei den mit hohen Beanspruchungen verbundenen zyklischen plastischen Wechselverformungen, wurden unabhängig vonein-
266
6 Schädigung
ander durch Arbeiten von Coffin [413] und Manson [414] erbracht. Aus umfangreichen experimentellen Untersuchungen konnte der folgende empirische Zusammenhang zwischen der aufgebrachten plastischen Dehnungsamplitude Δε pl ⁄ 2 und der Bruchlastspielzahl N B gefunden werden 1 ---
NB
Δε pl c = A 1 ⋅ § ----------· , © 2 ¹
(6.60)
wobei A 1 ein Vorfaktor ist und c der Anstieg der Fitgeraden in der sogenannten Coffin-Manson-Auftragung in der doppellogarithmischen Darstellung von Δε pl ⁄ 2 über N B ist. Die Verwendung von Δε pl ⁄ 2 anstelle von Δε pl ergibt sich aus der Tatsache, dass bei zyklischer Wechselbeanspruchung der Werkstoff innerhalb einer Spannungs-Dehnungs-Hysterese die doppelte Gesamtdehnungsamplitude Δε = Δε el + Δε pl erfährt (vgl. 5.5.2, Abb. 5.22). Bei sehr kleinen plastischen Dehnungsamplituden ergibt sich das Problem, dass sich diese vor allem bei großen Zyklenzahlen nur sehr schwierig experimentell bestimmen lassen [412]. Aufgrund der zu erwartenden Fehler bei der Bestimmung von kleinen Δε pl wurde von Landgraf [415] vorgeschlagen, die Gesamtdehnungsamplitude Δε ⁄ 2 doppellogarithmisch über der Bruchlastspielzahl N B aufzutragen. Im Diagramm in Abb. 6.26 ist diese Auftragung schematisch dargestellt. Diese Darstellung widerspiegelt den Zusammenhang zwischen dem in 6.3.3.2 dargestellen Spannungsamplitude-Lebendauer-Ansatz und dem in diesem Abschnitt erläuterten Dehnungsamplitude-Lebensdauer-Ansatz. Wie sich sehr leicht erkennen lässt, ergibt sich aus der in Abb. 6.26 vorgenommenen Darstellung der Gesamtdehnungsamplitude über der Bruchlastspielzahl eine bessere Möglichkeit, das Versagensverhalten über den gesamten Belastungsbereich darzustellen als mit der in Abb. 6.25 vorgenommenen Auftragung der Spannungsamplitude über der Bruchlastspielzahl, da durch die Verwendung der Gesamtdehnungsamplitude Δε el Δε pl Δσ Δε pl Δε - + ---------- = ----------- + -------------- = --------2 2 2⋅E 2 2
(6.61)
als Beanspruchungsparameter dieser sowohl die Spannungsamplitude über den Term Δσ ⁄ 2 E als auch die plastische Dehnungsamplitude Δε pl ⁄ 2 als additive Größe enthält, wodurch der in der Basquin-Gleichung (Gleichung (2)) formulierte Zusammenhang für den Bereich der Zeitfestigkeit und der im Coffin-MansonAnsatz (Gleichung (6.60)) formulierte Zusammenhang für den Bereich der Kurzzeitfestigkeit sich additiv in der Formulierung eines funktionalen Gesamtzusammenhanges zwischen der Gesamtdehnungsamplitude Δε ⁄ 2 und der Bruchlastspielzahl N B ergänzen
6.3 Modellierung der Materialschädigung
267
Gesamtdehnungsamplitude log (e/2)
eB
C
sB E
NB ~ 103...104
Niederzyklische Ermüdung (LCF)
b
Hochzyklische Ermüdung (HCF)
Bruchlastspielzahl log (NB)
Abb. 6.26 Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen Gesamtdehnungsamplitude (elastisch + plastisch) und Bruchlastspielzahl
b σB c Δε ------ = ------ ⋅ ( N B ) + ε B ⋅ ( N B ) , E 2
(6.62)
sodass alle Bealstungszustände unterhalb der Dauerfestigkeit über eine Formulierung erfassbar sind. Die Vorfaktoren σ B und ε B ergeben sich aus den Schnittpunkten mit der entsprechenden Fitgeraden für die Basquin- und Coffin-MansonGleichung mit der Dehnungsamplitudenachse und korrelieren im Idealfall mit der Dauerfestigkeit und der Bruchdehnung des Materials. Die in den Gleichungen (1) - (6.62) formulierten empirischen Beziehungen beruhen auf der Korrelation experimentell ermittelter Ermüdungslastspielwechsel mit einem messtechnisch vergleichsweise einfach erfassbaren Beanspruchungsparameter, welcher das aufgebrachte Belastungsprofil wiedergibt. Grundsätzlich betrachtet keiner der beiden dargestellten Parameter (Spannungsamplitude bzw. Dehnungsamplitude) die Art und Weise, wie die entsprechende Belastung aufgebracht wurde. So wird in der in Gleichung (6.60) dargestellten Coffin-MansonBeziehung die Ermüdungslastspielwechselzahl ausschließlich mit der plastischen Dehnungsamplitude in Verbindung gebracht ohne das Beanspruchungsprofil, d. h.
268
6 Schädigung
die Temperatur bzw. die Frequenz, mit der die entsprechenden Dehnungsamplituden aufgebracht wurden, zu berücksichtigen. Wie unter anderem in Versuchen an Kupfer [416] bei niedrigen homologen Temperaturen ( T = 77 K … 295 K ) nachgewiesen werden konnte, ergibt sich für den durch die Coffin-Manson-Beziehung dargestellten Zusammenhang zwischen der Bruchlastspielzahl N B und der plastischen Dehnungsamplitude Δε pl keine Abhängigkeit von der Temperatur T . Wie jedoch andere Versuche [417-421] gezeigt haben, lassen sich diese Aussagen nicht ohne weiteres auf den Bereich höherer homologer Materialtemperaturen übertragen, da die dann im Material auftretenden Spannungen mit der entsprechenden Dehnrate zusammenhängen. Infolgedessen hängt das Ermüdungsverhalten dann nicht nur vom Betrag der Beanspruchung ab, sondern wird auch vom Beanspruchungsprofil beeinflusst. Um diesen Effekt zu berücksichtigen, wurde von Coffin [422] folgende Modifikation der Beziehung in Gleichung (6.60) vorgenommen Δε pl = A 2 ⋅ ( ν
k–1
β
⋅ NB ) ,
(6.63)
wobei ν die Frequenz der Wechselbeanspruchung ist und A 2 , k , β Materialkonstanten sind. Diese Form der Formulierung einer Frequenzabhängigkeit wurde aus experimentellen Beobachtungen abgeleitet, nach denen k
ν ⋅ t B = const.
(6.64) k–1
⋅ N B wird daher oft ist, wobei t B die Zeit bis zum Versagen ist. Der Term ν als frequenzmodifizierte Ermüdungslastspielwechselzahl bezeichnet [10]. In verschiedenen Fällen erwies sich diese Formulierung jedoch nicht als adäquate Beschreibung der Frequenz- und Zeitabhängigkeit bei erhöhten homologen Materialtemperaturen [423]. Alternativ zu den Versuchen von Coffin, die Abhängigkeit der Ermüdung von der Belastungsfrequenz in eine empirische Formulierung einzubringen, entwickelte die Gruppe um Manson [424, 425] das sogenannte Strain-Rate-Partitioning-Konzept (SRP), um den Einflüssen der Belastungsfrequenz auf die Werkstoffermüdung gerecht zu werden. Dabei wurde angenommen, dass die Schädigung während der Kriechverformung verschieden von der bei instantanplastischer Verformung ist. Außerdem bringen Zugbeanspruchungen einen anderen Schädigungsgrad als Druckbeanspruchungen ein. Die plastische Gesamtdehnungsamplitude Δε pl wird folglich in vier Komponenten Δε pp , Δε pc , Δε cc , Δε cp zerlegt, wobei die Indizes c für Kriechverformung und p für instantanplastische Verformung stehen. Der jeweils erste Index steht für Zug- und der zweite für Druckbeanspruchung während eines Ermüdungswechselbeanspruchungszyklus. Zu den vier Komponenten der Gesamtdehnungsamplitude gehören entsprechend vier Teilermüdungsparameter n pp , n pc , n cc , n cp , sodass die Gesamtermüdungslastspielwechselzahl sich aus
6.3 Modellierung der Materialschädigung
n pp n pc n cc n cp 1 ------ = ----------- + ----------+ ---------- + ----------N Bpp N Bpc N Bcc N Bcp NB
269
(6.65)
ergibt, wobei die Ermüdungslastspielwechselzahlen der vier Einzelkomponenten N Bpp , N Bpc , N Bcc , N Bcp unabhängig voneinander über einen entsprechenden Coffin-Manson-Ansatz bestimmt werden müssen.
6.3.3.4 Dehnungsenergie-Lebensdauer-Ansätze Alternativ zu den empirischen Spannungsamplitude-Lebendauer- und Dehnungsamplitude-Lebensdauer-Beziehungen entwickelte Morrow [426] einen Ansatz, welcher sowohl die in einem Bauteil auftretenden Spannungen als auch Dehnungen berücksichtigen sollte, um das Versagen bei zyklischer Wechselbeanspruchung vorhersagen zu können. Als Kriterium für die Schädigung wählte er dabei die plastische Dehnungsenergie pro Zyklus, welche sich aus dem Flächeninhalt der entsprechenden Spannungs-Dehnungs-Hysterese ergibt (vgl. 5.5.2, Abb. 5.22). Hierbei ergibt sich der folgender Zusammenhang zwischen der Ermüdungslastspielwechselzahl N B und der zyklischen plastischen Dehnungsenergie ΔW pl
ΔW pl = W B ⋅
1 + 5η – ---------------1+η NB
,
(6.66)
wobei η dem zyklischen Verfestigungsexponenten entspricht und W B die sogenannte zyklische Ermüdungszähigkeit ist. Dabei wird angenommen, dass die Anzahl der Belastungswechsel bis zum Versagen sich als eine kumulative Funktion aufeinanderfolgender Spannungs-Dehnungs-Hysteresen ergibt und sich daher anders als in den Spannungsamplitude-Lebendauer- und DehnungsamplitudeLebensdauer-Beziehungen nicht einfach auf einen Spitzenwert der Spannung bzw. Dehnung während eines Belastungswechsels bezieht.
6.3.4 Kontinuums-Schadensmechanik Schadensmodellierung wird auf verschiedenen Größenniveaus durchgeführt und beginnt bei der Beschreibung elementarer Prozesse auf atomarem Niveau, wie sie beispielsweise durch die in 6.2.3.4 - 6.2.3.6 aufgeführten Modellgleichungen wiedergegeben wird. Durch solche mikromechanischen Ansätze, welche interatomare Potenzialfelder oder Gitter- und Fehlstellenanordnungen betrachten, ist es jedoch nicht möglich, die Schadensentwicklung in makroskopischen Bauteilen zu beschreiben. Hierzu ist es notwendig, ein Quasikontinuum einzuführen, indem Diskontinuitäten und heterogene Festkörper bei gleichzeitigem Ablauf von Schädi-
270
6 Schädigung
gungsprozessen durch ein idealisiertes pseudo-ungeschädigtes Kontinuum über die Nutzung von Zustandsvariablen und Dissipationsfunktionen dargestellt werden können. Der Ansatz der Kontinuums-Schadensmechanik (engl. continuum damage mechanics = CDM) besteht daher darin, durch Verwendung zeitlich veränderlicher Feldvariablen die durch Schädigungsvorgänge hervorgerufene Veränderung des mechanischen Verhaltens einer Struktur bechreiben zu können. Um die Schädigungsentwicklung auch für komplexe Beanspruchungsverhältnisse, wie KriechErmüdung, Wechselbeanspruchung mit veränderlichen Amplituden oder mehrachsige Beanspruchungszustände nachbilden zu können, wird angestrebt, reale Schädigungsmechanismen, wie die Entstehung und das Wachstum von Mikrorissen und Poren, im Modell nachzubilden. Solche Risse und Poren werden in der Kontinuums-Schadensmechanik als räumlich diskrete Materialdefekte in einer Kontinuumsdarstellung abgebildet [427]. Im Gegensatz dazu werden Risse in bruchmechanischen Konzepten explizit durch die Einführung von Rissoberflächen in einem ansonsten ungeschädigten Material nachgebildet. Dies beschränkt die Anwendung der Bruchmechanik in der Regel auf die Betrachtung weniger großer makroskopischer Risse, da diese Art der Schadensanalyse grundsätzlich davon ausgeht, dass nur ein Hauptriss vorhanden ist, welcher wächst, bzw. dass die Anzahl der Risse gering ist [428]. Für die Beschreibung des Rissfortschrittes unterliegen bruchmechanische Konzepte weiterhin dem Nachteil, dass sie die Vorschädigung von nicht in unmittelbarer Nähe des Risses liegenden Volumenelementen nicht berücksichtigen können. Schadensmechanische Konzepte umgehen diesen Nachteil, indem sie jedem Volumenelement eine virtuelle Pore zuordnen, die mit zunehmender Schädigung wächst und damit die Steifigkeit des Volumenelementes herabsetzt. Füllt die Pore das Volumenelement zu 100 % aus, so gilt dieses als durchgerissen. Die Anwendung der Kontinuums-Schadensmechanik ist jedoch komplizierter als die bruchmechanischer Methoden. Zur Bestimmung schadensmechanischer Parameter ist ein experimentell höherer Aufwand notwendig. Der Vergleich zwischen schadens- und bruchmechanischen Betrachtungsweisen ist in Abb. 6.27 schematisch dargestellt [427]. Zur Beschreibung der Poren- und Mikrorissbildung sowie ihres weiteren Wachstums verwendet die Kontinuums-Schadensmechanik eine Kontinuumsdarstellung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass nicht mehr der einzelne Mikroriss betrachtet wird, sondern die Darstellung über Rissdichte erfolgt. Anstelle dieser Rissdichte wird oft die Auswirkung der Risse auf die lokal gemittelten elastischen Eigenschaften verwendet, welche über eine Schädigungsvariable dargestellt werden kann [428]. Zur Definition dieser Schädigungsvariable an einem bestimmten Punkt des makroskopischen Kontinuums betrachtet man ein sogenanntes repräsentatives Volumenelement (RVE). Dieses kann eine beliebige Anzahl von Poren bzw. Mikrorissen enthalten. Die Mindestgröße des RVE bestimmt sich allein dadurch, dass die Kennwerte, welche durch die vorgenommene Mittelung im RVE gewon-
6.3 Modellierung der Materialschädigung
271
nen werden, die zugehörigen Mikroprozesse repräsentieren können. Gleichzeitig darf das RVE auch nicht zu groß gewählt werden, damit auch die Gradienten der makroskopischen Zustandsgrößen gut erfasst werden können. Die Mindestgröße eines RVE ist vom Material abhängig und hängt von den typischen strukturellen Inhomogenitäten einer bestimmten Werkstoffklasse ab. Von Leimaitre [429] wurden folgende RVE-Mindestvolumina vorgeschlagen • Metalle und Keramiken
(0,1 mm)3
• Polymere und Kompositwerkstoffe
(1 mm)3
• Holz
(10 mm)3
• Beton
(100 mm)3
Um die Wirkung der Schädigung auf das Materialverhalten darzustellen, wird das sogenannte Konzept der effektiven Spannung verwendet, d. h., bei einer Belastung durch eine äußere Kraft F trägt nicht mehr der gesamte RVE-Querschnitt die Last, sondern nur noch der ungeschädigte Teil des RVE [427, 428]. Liegt kein rein elastisches Werkstoffverhalten vor, ergibt sich eine sehr komplizierte Formulierung von Modellen, welche die grundlegenden Ideen der Schadensmechanik für praktische Anwendungen umsetzen können. In der Regel ist es für die Nachbildung des mechanischen Materialverhaltens daher nicht möglich, auf gewohnte physikalisch basierte Modelle zurückzugreifen. Hieraus resultiert einer der wesentlichen Nachteile schadensmechanischer Ansätze.
Versetzungen
0,0001
Poren Gleitbänder
0,001
Mikrorissbildung 0,01
Makrorissbildung
Mikrorissausbreitung
0,1
Makrorissausbreitung 10,0
1,0
Schadensmechanik
mm
Bruchmechanik Oberfläche
Oberfläche Körner Makroskopische Anrisse
Bruchmechanische Idealisierung
a
Makroskopischer Hauptriss
Abb. 6.27 Vergleich zwischen schadensmechanischen und bruchmechanischen Ansätzen, adaptiert aus [427]
272
6 Schädigung
Im Vergleich mit den anderen Methoden der Schädigungsbeschreibung verlangen sie in der Regel sehr aufwendige experimentelle Versuchsprogramme zur Materialdatenbestimmung. Überdies sind Daten aus willkürlichen Zuverlässigkeitstests nicht nutzbar, um vorhandene Modelle gegenüber den neuen experimentellen Befunden besser anzupassen.
7.1 Problematik der experimentellen Untersuchung
273
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden 7.1 Problematik der experimentellen Untersuchung „Die Versuchsanordnung wird einzig aus bekannten, in einer bestimmten Situation vorhandenen Methoden und Verfahren kombiniert. Während der Konfigurierung können jedoch praktische Unvollkommenheiten des Forschungspotentials den Problemlösungsprozeß aufhalten oder abbrechen. Unabhängig vom Experimentator wirkende (zufällige) Bedingungen oder solche, die bei der Konstruktion des Aufforderungssystems nicht bekannt waren, übersehen wurden, können einen Rückgriff zur Phase der Aufgabenstellung nötig machen und eine Umstrukturierung des Aufforderungssystems veranlassen. Das Experiment kann sogar jetzt undurchführbar werden und damit Unvermögen, ungelöste (methodenorientierte) Probleme nachweisen. Andererseits kann die praktische Konfigurierung der Versuchsanordnung über den raumzeitlichen und ökonomischen Aufwand zur Durchführung des Experiments entscheiden. Dem Auslassen dieses funktionalen Elements aus dem Verständnis des Begriffs Experiment kann daher nicht zugestimmt werden.“ Gert Wangermann in „Der Problemlösungsprozeß in der naturwissenschaftlich-experimentellen Forschung“, 19841
Die mit der Entwicklung der Werkstoffprüfung verbundene Schaffung von Normen und die Etablierung bestimmter Verfahren und Methoden auf diesem Gebiet lassen die experimentelle Ermittlung des mechanischen Verhaltens von Werkstoffen sehr oft als eher unproblematische Aufgabe erscheinen. Tatsächlich existieren jedoch in Abhängigkeit vom Werkstoff und den zu ermittelnden mechanischen Verhaltensformen nach wie vor eine Reihe offener Fragen. Hierbei ist es von außerordentlicher Bedeutung, zwischen den unterschiedlichen Zielen einer Werkstoffprüfung zu unterscheiden. Zu Beginn der Entwicklung der klassischen Werkstoffprüfung im 18. und 19. Jahrhundert stand zunächst die Ermittlung der Festigkeit eines Werkstoffs im Vordergrund. Untersuchungen dienten beispielweise dazu, die Sicherheit neuartiger Brückenkonstruktionen experimentell zu überprüfen [432]. Ganz anders war die Situation als Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts verstärkt versucht wurde, die thermisch-mechanischen Beanspruchungen in elektronischen Aufbauten durch theoretische Überlegungen zu bewerten. Dafür war die genaue Kenntnis des werkstoffmechanischen Verhaltens sowie der Schädigungsfunktion des zur Montage der Anschlusskontakte eingesetzten 1. Das Zitat stammt aus einem Beitrag von G. Wangermann in den im Akademie Verlag, Berlin erschienenen Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR [431]
274
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Zinn-Blei-Lotes von fundamentaler Bedeutung. Sehr schnell begann man zu hinterfragen, ob die bisher an großen Standardprobekörpern gewonnenen Erkenntnisse zum Deformations- und Schädigungsverhalten tatsächlich die Verhältnisse in den sehr kleinen Strukturen der Lotkontakte repräsentieren [452]. Mit den Methoden der klassischen Werkstoffprüfung war diese Frage jedoch nicht zu beantworten, da sich durch die unterschiedlichen Größenverhältnisse die Philosophie der Werkstoffprüfung grundsätzlich änderte. Die Gestaltung von Proben und Belastungsbedingungen zielte in der Regel auf die Untersuchung eines für einen Werkstoff repräsentativen Volumens, in welchem bestimmte Gefügemerkmale (z. B. Zahl und Größe von Körnern) vorhanden waren, welche der Werkstoff so auch, z. B. in einem zu bemessenden Bauteil, enthielt. Der Vorteil der Untersuchung an speziell gestalteten Proben gegenüber einer Bauteilprüfung besteht in einer guten Auswertbarkeit der Untersuchungen sowie in der Möglichkeit der gezielten Provozierung bestimmter Verformungs- und Schädigungsmechanismen. Die stark reduzierten Geometrieverhältnisse in Strukturen elektronischer Aufbauten verhindern jedoch das Konzept der Probenprüfung, da bei der Unterschreitung bestimmter Größendimensionen eine deutliche Wechselwirkung zwischen der Form, der Größe, den Herstellungsbedingungen und der Gefügeausbildung in kleinvolumigen Strukturen zu beobachten ist. Hieraus ergeben sich für die akkurate Bestimmung des mechanischen Verhaltens von Werkstoffen in kleinvolumigen Strukturen besondere Anforderungen an die Gestaltung entsprechender Versuche, d. h., die experimentelle Untersuchung kleinvolumiger Strukturen ist nicht durch einfache Verkleinerung bekannter Versuche und der dazugehörigen Probekörpergeometrien zu erreichen. Für die Erzielung relevanter Erkenntnisse zum Deformations- und Schädigungsverhalten ist es notwendig, eine bauteilorientierte und betriebsfallnahe Untersuchung an konkreten kleinvolumigen Strukturen durchzuführen, da die Abhängigkeit der Gefügeausbildung von Größe und Form dieser Strukturen sowie deren Herstellungsbedingungen keine zuverlässige Nachbildung eines repräsentativen Volumens zulässt. Aus diesen veränderten Anforderungen ergeben sich eine Reihe nicht einfach zu überblickender Besonderheiten, welche weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung von Versuchsausrüstungen für kleinvolumige Probenkörper haben. Im Gegensatz zu klassischen Prüfmaschinen muss die Konzeption von Versuchsapparaturen für kleinvolumige Körper immer unter den vielen Einschränkungen, welche die begrenzten Möglichkeiten der Probekörpergestaltung und die Spezifika der konkreten Werkstoffanwendung mit sich bringen, gesehen werden. Hinzu kommen Einschränkungen, welche mit der begrenzten Erfassbarkeit der Verformungsreaktionen an miniaturisierten Proben zu tun haben, sodass zum Teil besondere Strategien erforderlich sind, um bestimmte Verformungseigenschaften messtechnisch erfassen zu können. Zur Gewährleistung einer korrekten Bestimmung bestimmter mechanischer Eigenschaften an miniaturisierten Proben ist daher die Lösung vieler Detailprobleme notwendig. Trotz der erheblichen Unterschiede zur klassischen Werkstoffprüfung bildet diese den Ausgangspunkt für die Konzeption von Versuchen an kleinvolumigen
7.2 Entwicklung, Ziele und Verfahren der klassischen Werkstoffprüfung
275
Proben. Daher ist es wichtig, zunächst die Entwicklung der klassischen Werkstoffprüfung zu betrachten und die Grundgedanken ihrer wichtigsten Untersuchungstechniken nachzuvollziehen. Ausgehend von diesen Betrachtungen können die Vor- und Nachteile verschiedener technischer Umsetzungen beim apparativen Aufbau für die Untersuchung von Bulkproben und miniaturisierten Proben diskutiert werden. Die Diskussion konkreter technischer Umsetzungen beim apparativen Aufbau ist für die Bewertung verschiedener Versuchsergebnisse von entscheidender Bedeutung, da im Gegensatz zur klassischen Werkstoffprüfung im Mikrobereich keine etablierten Ansätze und Methoden beim experimentellen Vorgehen existieren, die wiederum Einfluss auf das ermittelte Werkstoffverhalten haben. Ein möglicher Fehler bei der wissenschaftlichen Interpretation von Versuchsergebnissen aus dem Mikrobereich besteht in der unzureichenden kritischen Betrachtung verschiedener Unzulänglichkeiten bei der experimentellen Erfassung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens an kleinstvolumigen Proben. Für die tiefgründige Beantwortung der mit dem Größeneffekt in Verbindung stehenden Fragen ist daher eine Betrachtung notwendig, welche Versuchsergebnisse nicht als absolut gültige Erkenntnisse einstuft, sondern diese stets in Verbindung mit der Art und Weise der Erzielung dieser Ergebnisse betrachtet.
7.2 Entwicklung, Ziele und Verfahren der klassischen Werkstoffprüfung 7.2.1 Historische Entwicklung Der Ausgangspunkt der klassischen Werkstoffprüfung wird von vielen im 18. Jahrhundert in England und Schweden angesiedelt [432, 433]. Vor allem im Zusammenhang mit dem Geschütz- und Brückenbau werden erste systematische Festigkeitsversuche durchgeführt mit dem Ziel, Kennwerte für die Abnahme von Stahlhalbzeug festzulegen. Zu diesem Zeitpunkt herrscht vor allem die Untersuchung ganzer Elemente und Profile vor. Der Bau von Prüfmaschinen nimmt dagegen in Frankreich seinen Anfang, wo 1758 durch Perronet eine Einrichtung zur Durchführung von Zug-Druck-Biege-Versuchen entwickelt wurde [432]. Vergleichbare Prüfmaschinen wurden auch in Deutschland, z. B. zur Prüfung von Kettenstäben für Brücken (1829), benutzt [435]. Ab dem Jahr 1850 nimmt die Zahl der Festigkeitsprüfungen deutlich zu und wurde zunehmend von staatlicher Seite unterstützt. So kamen die zwischen 1860-1870 durch Wöhler durchgeführten Schwingungsversuche an Stahl und Eisen auf Anordnung des preußischen Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten zustande [436]. Auch in der Stahlindustrie setzte eine Entwicklung der Materialprüfung ein. So wird bereits 1875 bei Krupp eine „Probieranstalt“ eingerichtet. Neben der Entwicklung von Prüfmaschinen kommt es auch auf methodischem Gebiet zu Fortschritten. Im Jahr 1884 findet auf Initiative von Bauschinger in München eine „Konferenz zur Ver-
276
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
einbarung einheitlicher Prüfmethoden“ statt [432]. Die Art und Weise, wie Werkstoffe am zweckmäßigsten zu untersuchen sind, wurde zunächst sehr stark durch die begrenzten apparativen Möglichkeiten bestimmt. Dabei muss beachtet werden, dass es in der frühen Phase der Werkstoffprüfung durch fehlende Regel- und Steuertechnik kaum möglich war, komplexe Belastungsverläufe an Proben zu erzeugen. Selbst das Einstellen einer konstanten Traversengeschwindigkeit war noch bis in die 1960er Jahre ein bedeutendes Problem [434]. Erst durch die Verfügbarkeit elektronischer und später computergesteuerter Maschinenregelungen ergaben sich vielfältige Möglichkeiten der freien Versuchsgestaltung. In der Zwischenzeit hatten sich jedoch bestimmte Arten der Versuchsdurchführung etabliert, welche bis in die heutige Zeit die Methodik der Werkstoffuntersuchung nicht unwesentlich bestimmen.
7.2.2 Verfahren und Ziele Das ursprünglichste und bis heute grundsätzlichste Ziel der mechanischen Werkstoffprüfung ist die Beurteilung der Befähigung eines aus einem bestimmten Werkstoff bestehenden Bauteils, die an ihm in der Praxis auftretenden Kraftwirkungen aufnehmen zu können [432, 437]. Diese Beurteilung erfolgt entweder am Bauteil selbst oder an einem Probeköper, welcher alle wesentlichen Eigenschaften des Werkstoffes in den entsprechenden Volumenelementen des Bauteils wiedergibt. Als zentrales Merkmal der Beurteilung wurde der Begriff der Festigkeit geprägt, der bis heute die Werkstoffcharakterisierung beherrscht. Die Festigkeitseigenschaften eines Werkstoffes lassen sich jedoch im Gegensatz zum Elastizitätsmodul oder der Poissonzahl nicht durch einen reinen Werkstoffkennwert charakterisieren, da es sich hierbei nicht um intrinsische Materialeigenschaften handelt. Je nachdem, auf welche Art und Weise ein Werkstoff beansprucht wird, stellt sich eine andere Werkstofffestigkeit ein. Aus diesem Grund haben sich eine Reihe verschiedener Werkstoffprüfverfahren entwickelt, um die Festigkeit von Werkstoffen für verschiedene in der Praxis auftretende Belastungen zu charakterisieren. Stand zu Beginn der Werkstoffprüfung die rein statische Festigkeitsprüfung im Mittelpunkt, so stellte sich bald heraus, dass bei wiederholten Belastungen durch die sogenannte Werkstoffermüdung die Festigkeit eines Werkstoffes weit unter der der einmaligen Belastung liegt [32, 447, 448]. Ausgelöst durch ein schweres Eisenbahnunglück 1842 in der Nähe von Versailles begann in vielen Ländern eine Untersuchung der Eisenbahntechnik mit dem Ziel, Ermüdungsbrüche sicher zu vermeiden [412]. Im Rahmen dieser Bestrebungen führte Wöhler seine Untersuchungen zur Ermüdung von Eisenbahnachsen durch [408]. Im Ergebnis dieser Untersuchungen entstand eine neue Versuchs- und Beurteilungssystematik, die anstelle der bis dahin üblichen einsinnigen Belastungen Wechselbelastungen verwendete. Die aus dieser Beurteilungssystematik abgeleitete Wöhler-Kurve, welche die Spannungsschwingbreite gegenüber der möglichen Lastwechselzahl darstellt, wurde in den Folgejahren immer weiter verbessert. Coffin [413] und Manson [414]
7.2 Entwicklung, Ziele und Verfahren der klassischen Werkstoffprüfung
Ds
277
De
2
2
10
Legierung 1
s0
4
10
5
10
6
a)
10
7
10
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T1 T2
Legierung 2
s0 10
10
-3
8
NB
10
-5
10
4
10
5
10
6
NB
b)
Abb. 7.1 Verschiedene grafische Darstellungen zur Beurteilung der Festigkeit eines aus einem bestimmten Werkstoff bestehenden Bauteils: a) Wöhler-Kurve und b) Ermüdungsrissausbreitungskurve (Δσ/2 = Spannungsamplitude und Δε/2 = Dehnungssamplitude der Wechselbeanspruchung, NB = Lastspielzahl bis zum Bruch (d. h. zum Versagen des Werkstoffs), adaptiert aus [309]
entdeckten später, dass die maximal mögliche Lastwechselzahl mit der Amplitude der plastischen Dehnung verknüpft ist (vgl. 6.3.3). Ein anderer, auf die Arbeiten von Griffith [368] und Inglis [367] zurückgehender Ansatz zur Bewertung der Festigkeit entwickelte sich rasch als Reaktion auf die zahlreichen Schäden an den während des zweiten Weltkrieges hergestellen „Liberty Schiffen“. Aus den Forschungsaktivitäten einer am Naval Research Laboratory in Washington arbeitenden Gruppe entwickelten sich sogenannte bruchmechanische Konzepte (vgl. 6.3.2). Im Unterschied zu den bisherigen Versagenskonzepten wird die für das Versagen verantwortliche Ausbreitung von Rissen mit einem lokalen Spannungs- und Dehnungsfeld in der Rissspitze in Verbindung gebracht und gezeigt, dass sich dieses durch einen einzigen Parameter, den Spannungsintensitätsfaktor, beschreiben lässt [372]. Die verschiedene Konzepte, welche sich im Laufe der Zeit zur Bewertung der Festigkeit herausbildeten, führten zu einer Reihe spezieller Versuchstechniken, welche oft auch mit einer eigenen Terminologie verbunden sind. Welche Versuchstechnik zur Bewertung der Festigkeit herangezogen wird, hängt in entscheidender Weise von der favorisierten Auslegung eines Bauteils ab [309]. So wird z. B. zur Auslegung eines Bauteils gegen Ermüdungsbeanspruchung die Zahl der Belastungszyklen bis zum Bruch an einer glatten Probe ermittelt. Die aus diesem Versuch gewonnenen Werte - Beanspruchungsamplitude gegen Bruchzyklenzahl werden dann in ein Wöhler-Diagramm (Abb. 6.24) eingetragen, aus dem später die zur Auslegung eines Bauteils aus einem bestimmten Werkstoff zulässigen Belastungen entnehmbar sind. Die Wöhler-Kurve liefert jedoch keine Angaben über den Verlauf der Schädigung, d. h. Rissentstehung und -ausbreitung, sondern erfasst nur den Zeitpunkt des Versagens. Aus diesem Grund existieren andere Verfahren, welche z. B. ausschließlich die Rissausbreitung in einem Material betrachten und
278
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
LCF-Probe (Ermüdungsprobe) ausgedehnte plastische Zone über gesamte Probe
Risspfad Bauteil
CT-Probe (Bruchmechanikprobe) kleine plastische Zone um Rissspitze
Abb. 7.2 Schematische Darstellungen verschiedener Arten von Versuchen sowie ihrer Probekörper zur Auslegung eines Bauteils (adaptiert aus [412]).
davon ausgehen, dass das Bauteil schon rissbehaftet sei. Die Auslegung des Bauteils richtet sich dann nach der Anzahl der Belastungszyklen, innerhalb derer der Anfangsriss bis auf eine kritische Risslänge gewachsen ist. Für die Länge des Anfangsrisses, sofern diese nicht durch zerstörungsfreie Verfahren detektierbar ist, wird die Auflösungsgrenze der eingesetzten zerstörungsfreien Verfahren angenommen. Die Abschätzung der Risswachstumszahl erfolgt auf der Basis bruchmechanischer Ansätze, deren Parameter aus Werkstoffversuchen an Proben mit einem definierten Anriss gewonnen werden [309]. Die beiden dargestellten Konzepte, welche zur Auslegung eines Bauteils dienen sollen, stützen sich auf völlig unterschiedliche Versuchstechniken. Diese Versuchstechniken sind durch eine bestimmte Spezifik in Probengestaltung, Lasteinleitung, Versuchsverlauf, Messgrößenaufnahme und Ergebnisdarstellung gekennzeichnet. Hierbei wird das Ziel verfolgt, bestimmte Sachverhalte der Werkstoffverformung und -schädigung an verschiedenen Bauteilen über einen speziell gestalteten Probeköper so nachzubilden, dass allgemeine, für beliebige Bauteilgeometrien verwendbare Werkstoffkennwerte gewonnen werden. Abb. 7.2 zeigt, wie durch die beiden dargestellten Konzepte eine Nachbildung der tatsächlichen Verhältnisse am Probekörper erfolgt. Durch die glatte Probe, in welcher beim Versuch eine homogene Beanspruchung herrscht, wird sehr gut der Fall einer großen plastischen Zone nachgebildet, wie er in einem intakten Bauteil in der Regel vorhanden ist. Die Probe mit Anriss, in welcher beim Versuch ein heterogener Beanspruchungszustand vorherrscht, widerspiegelt den Fall eines geschädigten Bauteiles mit einer kleinen plastischen Zone, welche sich an der Spitze eines Anrisses ausbildet.
7.2 Entwicklung, Ziele und Verfahren der klassischen Werkstoffprüfung
279
Die Gegenüberstellung dieser beiden beispielhaft dargestellten Versuchstechniken zeigt, wie sehr sich die Methodik der Werkstoffprüfung gegenüber den ursprünglichen Ansätzen der Beurteilung der Festigkeit über einfache statische Lasten gewandelt hat. Anstelle einfacher ingenieurmäßiger Verfahren und Beschreibungsformen sind eine Reihe hoch spezialisierter Versuche getreten, mit denen es möglich ist, die vielfältigen Erscheinungsformen der Schädigung eines Werkstoffes an einer Modellprobe nachzuvollziehen und entsprechende Beschreibungen ableiten zu können. Obwohl inzwischen eine große Vielfalt von Versuchsmethoden zur Bewertung der Festigkeit von Werkstoffen existiert, mit denen es möglich ist, die verschiedenen Erscheinungsformen des Werkstoffversagens in Bauteilen an spezialisierten Probekörpern im Labor nachzubilden, stößt das Konzept der reinen Festigkeitsprüfung auf ein grundsätzliches Problem. Aufgrund des komplexen Festigkeitsverhaltens ist es schwierig, einen Werkstoffersatz für ein bestimmtes Bauteil zu beurteilen. Festigkeitskennwerte lassen keine Schlussfolgerungen auf das Verhalten eines Bauteils im Betrieb zu, da sie nur Grenzbeanspruchungen betrachten, das Formänderungsverhalten jedoch unberücksichtigt bleibt. Einen Ausweg aus dieser Problematik bietet die Werkstoffmechanik, durch die die Zusammenhänge zwischen Werkstoffkennwert und Festigkeitsverhalten eines Bauteils berechenbar sind [432]. Werkstoffmechanische Berechnungen setzen jedoch wiederum eine umfangreiche Beschreibung des Verformungsverhaltens voraus, wodurch weitere Versuche notwendig werden, welche das Ziel haben, die Verformungsreaktion eines Werkstoffes unter einer bestimmten Beanspruchung zu beschreiben. Insgesamt ergibt sich hierdurch ein vielschichtiges Netzwerk verschiedener Versuche, welche zwar in ihrer Gesamtheit das Ziel der Eignungsbewertung eines Bauteils für eine bestimmte Anwendung verfolgen, als Einzelversuch jedoch zunächst Kennwerte liefern, aus welchen sich die Eignungsbewertung nicht unmittelbar ableiten lässt. Diese Bewertung ergibt sich oft aus komplexen Berechnungsmodellen, in denen Kennwerte aus verschiedenen Versuchen einfließen, d. h., jede Festigkeitsbewertung von Bauteilen setzt eine große Anzahl von Versuchen voraus. Bei der Betrachtung der Verfahren und Ziele von Werkstoffprüfverfahren muss deshalb zwischen vielschichtigen komplexen werkstoffwissenschaftlichen Materialprüfmethoden und einfachen standardisierten Verfahren unterschieden werden. Während erstere das Ziel verfolgen, die sehr komplexen und oftmals unbekannten Zusammenhänge der Werkstoffphysik zu untersuchen, werden letztere z. B. zur Qualitätssicherung bei der Fertigung von Halbzeugen oder Bauteilen eingesetzt. Daraus ergeben sich auch unterschiedliche Anforderungen an die einzusetzenden Prüfmethoden und - anlagen. Aus diesem Grund ist für die erste Gruppe vor allem Erreichung höchster Genauigkeiten bei der Erfassung von Messdaten wesentlich, während für die zweite Faktoren wie Vergleichbarkeit, Prüfdauer und Probendurchsatz von entscheidender Bedeutung sind.
280
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
7.2.3 Entwicklung miniaturisierter Versuche Mit der Entwicklung immer höher integrierter Schaltkreise während der siebziger Jahre wurde klar, dass die konventionelle Aufbautechnik mit DIP-Bauformen auf Leiterplatten nicht mehr den Anforderungen, die durch komplexe Systemarchitekturen gestellt wurden, genügte. Da die Verwendung von Multichipmodulen jedoch mit einem erheblichen Ausbeute- und Kostenproblem verbunden war, erschien die Verwendung von sogenannten Ceramic-Chip-Carriern (CCC) als geeigneter Ausweg [131-135]. Ceramic-Chip-Carrier bestanden aus einem zumeist quadratischen Keramikträger, in dessen Zentrum der Schaltkreis befestigt war und dessen Anschlusskontakte durch umlaufende Metallisierungen realisiert wurden (Abb. 7.3) Gegenüber den klassischen DIP-Bauformen besaßen sie den Vorteil eines deutlich verminderten Flächenbedarfs (1/5...1/3), wesentlich kleinerer Anschlussinduktivitäten, geringerer Kosten, eines geringeren Gewichts, einer höheren Bauelementezuverlässigkeit und höherer Anschlusszahlen [134]. Ihr Einsatzbereich war jedoch zunächst auf den sogenannten High-Perfomance-Bereich beschränkt, in dem keramische Substrate zum Einsatz kamen [132]. Anders als bei den DIP-Bauformen wurden die durch die unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten des für den Bauelementekörper verwendeten Al2O3- (α = 6 ppm/K) und des für kostengünstige Anwendungen als Substrat eingesetzten FR4-Trägermaterials (α = 17 ... 20 ppm/K) erzeugten thermischen Fehldehnungen nicht mehr durch Federwirkung der Anschlussbeine aufgenommen. Dadurch führten thermische Wechselbelastungen sehr schnell zum Versagen der Lotverbindungen, da diese bei CCC-Bauformen durch starke Verformungen der Lotkontakte ausgeglichen werden mussten [449]. Die Bewältigung dieses Problems wurde auf zwei verschiedenen Wegen versucht. Zum einen unternahm man Anstrengungen, den Ausdehnungskoeffizienten der Trägermaterialien, z. B. durch Kupfer-Invar-Einlagen [135], deutlich zu senken, zum anderen führte man oberflä-
Drahtbondverbindungen Halbleiterbauelement Gehäusedeckel (Keramik)
Anschlusskontakte Chipbondmetallisierung Umverdrahtungsmetallisierung Gehäusegrundkörper (Keramik)
Abb. 7.3 Schematische Darstellung einer Ceramic-Chip-Carrier-Bauelementeform (CCC)
7.2 Entwicklung, Ziele und Verfahren der klassischen Werkstoffprüfung
281
chenmontierbare Bauelementeformen mit nachgiebigen Anschlussbeinen ein [136, 137, 449]. Durch experimentelle Untersuchungen mit Dehnmessstreifen und holografischer Interferometrie gelang es Hall, Dudderar und Argyle [450], die sehr komplizierten Verformungsreaktionen an Lotkontakten von CCC-Aufbauten aufzuzeigen, welche durch die vereinfachte Annahme zweier steifer Platten, wie sie beispielsweise von Engelmaier [451] für die Ermüdungsfestigkeitsberechnungen verwendet wurden, nicht widergespiegelt wird. Hall [449] führt die experimentellen Arbeiten mit Dehnmessstreifen fort und schlussfolgert aus theoretischen Überlegungen auf einen komplexen Beanspruchungszustand der Lotkontakte während eines Temperaturzyklus, welcher sich nicht einfach aus dem Unterschied der Ausdehnungskoeffizienten von Bauelement und Verdrahtungsträger ergibt. Fox, Sofia und Shine [452] zeigen durch Temperaturwechseltests und isotherme Ermüdungsversuche an CCC-Aufbauten, dass die Art der der Lotkontaktverformung zugrunde liegenden Mechanismen (z. B. Kriechen) einen entscheidenden Einfluss auf die Ermüdungsfestigkeit der Kontakte hat. Diese Erkenntnis bildet den Ausgangspunkt für alle weiteren Arbeiten zur experimentellen Untersuchung mechanischer Eigenschaften an miniaturisieren Proben für Werkstoffe der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits von Hannula, Wanagel und Li [453] umfangreiche Experimente an dünnen Au-Drähte (25 μm Durchmesser) zum Drahtbonden durchgeführt worden. Rückblickend sind es jedoch vor allem die Arbeiten zu den mechanischen Eigenschaften der Lotkontakte, welche maßgebend für die Entwicklung einer experimentellen Methodik zur Untersuchung miniaturisierter Proben im Bereich der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik sind. Für das Verständnis der besonderen Problematik dieser Untersuchungen ist es wichtig, die mit dem mechanischen Verhalten der Lotkontakte verbundenen wissenschaftlichen als auch die technisch pragmatischen Fragen genauer zu betrachten. Weichlote sind - bezogen auf ihre Verwendung als mechanische Strukturelemente - eine sehr ungünstige Werkstoffauswahl. Aufgrund der hohen homologen Temperaturen im Einsatzbereich ( T hom = 0, 5…0, 9 T s ) können in Abhängigkeit von der momentanen Beanspruchungssituation verschiedene werkstoffphysikalische Mechanismen zur Verformung und Schädigung beitragen. Weiterhin muss von einer ständigen Veränderung des Lotgefüges ausgegangen werden, sodass anzunehmen ist, dass sich die mechanischen Eigenschaften der Lotwerkstoffe während der Lebensdauer ständig ändern. Bei der Erarbeitung von Experimenten für miniaturisierte Lotproben müssen daher neben der eigentlichen Verkleinerung auch eine Reihe von Besonderheiten für die korrekte Beschreibung des werkstoffmechanischen und schädigungsmechanischen Verhaltens von Weichloten im Anwendungstemperaturbereich beachtet werden. Die Konzeption von Prüfmaschinen für kleine Proben wird daher nicht nur durch einen geometrischen, sondern auch durch einen werkstoffspezifischen Aspekt bestimmt. Im mikrotechnischen Bereich kommen andere Werkstoffe als im makroskopischen Bereich zum Einsatz, da die Werkstoffauswahl hier vor allem technologisch bestimmt wird.
282
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben 7.3.1 Grundproblematik Die Entwicklung von Prüfmaschinen zur Untersuchung des mechanischen Verhaltens von Werkstoffen in sehr kleinsten Probengeometrien entstand verstärkt im Zusammenhang mit der Entwicklung der Mikrosystemtechnik in den letzten zwei Dekaden. Vor diesem Zeitpunkt wurde den sogenannten Kleinprüfmaschinen vergleichsweise entweder keine [433, 446] oder nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, da sie im Vergleich mit Standardprüfmaschinen kaum spezifische Besonderheiten aufwiesen [437]. Vergleicht man zum heutigen Zeitpunkt anhand des zur Verfügung stehenden Kraftmessbereiches die prinzipielle Anwendungsbreite von Groß-, Standard- und Kleinprüfmaschinen, so zeigt sich, dass die Spanne der Kraftmessbereiche bei den klassischen Standardprüfmaschinen, welche in etwa zwischen 1 kN ... 1000 kN liegt, oder die der Prüfmaschinen für große Proben, welche sich zwischen 1 MN ... 1000 MN aufhält, wesentlich kleiner ist als die der Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben, die den gesamten Bereich von 1 mN ... 1 kN überdeckt. Dieser gewaltigen, über 6 Größenordnungen verlaufenden Spanne der erfassbaren Kraftreaktionen liegen verschiedene Aufbauprinzipien der Prüfmaschinen zugrunde, die wiederum in verschiedenen Untersuchungszielen begründet liegen. Um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Prinzipien verstehen und ihre Eignung für die Bestimmung bestimmter Werkstoffkennwerte bewerten zu können, ist es notwendig, die einzelnen Entwicklungen anhand der ihnen zugrunde liegenden Fragestellungen zu spiegeln. In dieser problemorientierten Betrachtung, welche sich bei der Bewertung von Prüfmaschinen nicht nur auf die technischen Parameter, wie Kraftauflösung, Beanspruchungsgeschwindigkeit oder Maschinensteifigkeit, stützt, liegt einer der wesentlichen Unterschiede zur Besprechung von Standardprüfmaschinen, wie sie in [433, 437-446] vorgenommen wird. Ursache dieser unterschiedlichen Betrachtungsweise sind die unterschiedlichen Ausgangspunkte, welche zur Entwicklung der klassischen Standardprüfmaschinen und zur Entwicklung von Prüfmaschinen für stark miniaturisierte Proben führte. Anders als für die klassische Werkstoffprüfung hat das Versagen von Bauteilen in mikrotechnischen Aufbauten einen anderen Stellenwert, da es in der Regel keine wesentlichen Sachschäden bzw. Gefahr für menschliches Leben nach sich zieht. Zwar werden auch für den mikrotechnischen Bereich eine große Anzahl von Untersuchungen zur Festigkeit und zum Versagen von Werkstoffen durchgeführt, jedoch bilden diese in den seltensten Fällen die Grundlage sicherheitsrelevanter Bauteilauslegungen. Aufgrund der niedrigen Herstellungskosten und der unerheblichen Folgen eines Bauteilversagens ist es in der Praxis oft einfacher, die Betriebssicherheit an den konkreten mikrotechnischen Aufbauten direkt zu überprüfen, anstatt diese aus aufwendigen Berechnungen umfangreicher Werkstoffuntersuchungen zu erhalten.
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
283
Die verhältnismäßig starke Trennung von Bauteil und Werkstoff, die in der klassischen Werkstoffprüfung zur Entwicklung spezifischer Probekörper und Prüfverfahren führte, welche auf einen weiten Bereich zu untersuchender Werkstoffe angewendet wird, ist so in den Mikrotechniken nicht vorhanden. Aufgrund der vielschichtigen Funktionsanforderungen (z. B. elektrische, thermische, technologische und mechanische Eigenschaften) beschränkt sich zum einen die Auswahl auf eine kleine Gruppe von bevorzugten metallischen Werkstoffen, wie z. B. Au, Ag, Cu, Fe, Ni, Sn (bzw. ihre Legierungen), und es ergeben sich zum anderen enge Fenster bei der Herstellung verschiedener Legierungen. Zudem ergeben sich durch die besonderen Fertigungstechnologien auch Einschränkungen bezüglich der erreichbaren Geometrien von Bauteilen. Beide Faktoren haben einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Konzeption von Prüfapparaturen und -methodiken für miniaturisierte Proben.
7.3.2 Besonderheiten der Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
7.3.2.1 Grundsätzlicher Aufbau Die Entwicklung der Werkstoffprüfung wurde zum einen durch die im Laufe der Zeit gewonnenen Erkenntnisse zu den Schädigungsmechanismen bestimmt, aus welchen bestimmte Versuchsabläufe und Bewertungsverfahren abgeleitet wurden. Zum anderen bestimmte jedoch auch die Entwicklung der Prüftechnik selbst, auf welche Art und Weise das Verhalten der Werkstoffe charakterisiert werden konnte. Um das Verformungsverhalten eines Werkstoffes zu ermitteln, wurden bevorzugt Versuche mit einer sogenannten zügigen Beanspruchung eingesetzt [432]. Dabei wurde auf die Probe in einem Zug (daher zügig) eine zwangsläufige Verformung aufgebracht. Diese konnte auch stufenweise steigend oder mit zwischengeschalteten Entlastungen erfolgen. Da zu Beginn der Prüfmaschinenentwicklung die Möglichkeiten einer effektiven Steuerung der Versuche sehr begrenzt waren, wurde als vorgegebene Probenbelastung eine zwangsweise Reckung (bzw. Biegung) der Probe eingesetzt und deren Widerstand gegen diese Zwangsverformung, z. B. über ein Pendelmanometer, gemessen. Ausschlaggebend für diese Art der Versuchsführung war die gute technische Realisierbarkeit einer konstanten Reckgeschwindigkeit, welche wiederum zur Darstellung des Verformungsverhaltens in einem Spannungs-Dehnungs-Diagramm führte. In diesem Diagramm, aus dem auch viele wichtige mechanische Werkstoffkennwerte abgeleitet werden, wird die Verformung, d. h. die mechanische Dehnung, als unabhängige Variable und der Widerstand gegen die Verformung, d. h. die mechanische Spannung, als abhängige Variable dargestellt, obwohl werkstoffphysikalisch eine gegenseitige Abhängigkeit beider Variablen besteht. Diese Art der Versuchsführung und Darstellung des Verformungsverhaltens hat sich trotz der inzwischen entwickelten Möglichkeiten zur effektiven Versuchssteuerung erhalten. Hierdurch hat sich Laufe der Entwicklung
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
auch ein bestimmter systematischer Aufbau aus bestimmten Funktionskomponenten als günstig erwiesen. Dieser besteht im Allgemeinen aus einer Krafteinleitungsstruktur und einer Probeneinspannung, aus einem Antrieb, aus Messaufnehmern zur Kraft- und Verformungsmessung, aus einem Maschinenrahmen und einer Einheit zur Messdatenerfassung und Maschinensteuerung [432, 433, 437-446]. Für die Entwicklung von Ausrüstungen für Versuche an kleinvolumigen Proben war es zweckmäßig, sich an den aus der klassischen Prüftechnik bekannten Prinzipien zu orientieren. Jedoch mussten aufgrund der stark veränderten Anforderungen andere technische Lösungen als die, welche in typischen Zugprüfmaschinen verwendet werden, gefunden werden. Der prinzipielle Aufbau einer Prüfmaschine zur Durchführung von Zugversuchen ist in Abb. 7.4 dargestellt. Für Zugversuche wird in der Regel eine stabförmige Probe verwendet, welche unter Einwirkung einer momentfrei und monoton ansteigenden einachsigen Zugbeanspruchung gestreckt wird. Zur Durchführung eines Zugversuches muss zunächst eine geeignete Probe hergestellt und in den Einspannköpfen befestigt werden. Um eine Zugbeanspruchung auf die Probe aufbringen zu können, kann eine der beiden Einspannungen über einen mit dem Rahmen verbundenen Antrieb bewegt werden. Dabei entsteht eine Kraftwirkung gegen die andere Einspannung, welche über einen Kraftsensor fest dem Rahmen verbunden ist. Um die Unterschiede in der Realisierung klassischer Prüfmaschinen zu denen von Apparaturen für die Untersuchung kleinvolumiger Proben deutlich zu machen, sollen die entsprechenden Realisierungen für die einzelnen Komponenten einer Prüfmaschine einander gegenübergestellt werden. Ziel dieser Gegenüberstellung ist dabei nicht eine Aufstellung aller bisher verwendeten Lösungsmöglichkeiten. Vielmehr soll durch eine detaillierte Darstellung wesentlicher Merkmale wichtiger Lösungen der Zusammenhang zwischen den spezifischen Zielen und den daraus abgeleiteten Anforderungen zwischen der Prüfung groß- und kleinvolumiger Proben verdeutlicht werden. Dadurch soll eine Voraussetzung für eine kritische Bewertung verschiedener Gesamtkonzeptionen von apparativen Aufbauten geschaffen werden. Diese soll neben der Darstellung der sich ergebenden Grenzen für bestimmte Untersuchungen an kleinvolumigen Proben auch Vergleiche zu den grundsätzlichen Möglichkeiten solcher Untersuchungen gegenüber klassischen Versuchen ermöglichen.
7.3.2.2 Krafteinleitung und Einspannung Um eine Probe zu verformen, müssen an wenigstens zwei Stellen Kräfte auf die Probe übertragen werden. Ziel der Krafteinleitung ist die Herstellung eines definierten Beanspruchungszustandes in der Probe. In Abhängigkeit von der Art der zu erzielenden Beanspruchung und der Form der Probe kann sich die Notwendigkeit der Einspannung einer Probe ergeben. Eine solche Einspannung muss die angestrebte Krafteinleitung auf die Probe gewährleisten, ohne dass beim Einspannvorgang die Probe vorverformt wird [437].
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
285
Verhältnismäßig unkompliziert ist die Einspannung beim Druck- und Biegeversuch, da in beiden Fällen die angestrebte Krafteinleitung so gerichtet ist, dass sie die Probe gleichzeitig fixiert. Im Fall des Druckversuches erfolgt die Einleitung der Druckkraft über zwei Druckplatten, wobei die obere in der Regel kugelig gelagert ist, um beim Aufsetzen auf die Probe Fehlwinkel zwischen den beiden Platten und somit das Entstehen von Biegemomenten zu verhindern [432]. Im Fall des Biegeversuches gibt es verschiedene Möglichkeiten der Krafteinleitung. Zum einen wird in Dreipunktbiegung zur Erzielung eines maximalen Momentes in der Probenmitte und in Vierpunktbiegung zur Erzielung einer gleichmäßigen Momentverteilung
5
4
3
7
3
1 2
6
Abb. 7.4 Schematischer Grundaufbau einer Zugprüfmaschine: Querhaupt (1), Spindeln (2), Einspannvorrichtung (3), Maschinenrahmen (4), Kraftmessdose (5), Spindelantrieb mit Riemengetriebe und verschiedenen Übersetzungen (6), Muttern zur Bewegung des Querhauptes (7) (adaptiert aus [433])
286
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
F 2
F
F 2
F 2
a)
F 2
c)
F 2
b) F
F 2
F 2
F
F 2
F 2
F 2
d)
Abb. 7.5 Krafteinleitung beim Biegeversuch: a) Dreipunktbiegung, b) Vierpunktbiegung, c) linienförmige Probenlager, d) kreisförmige Probenlager
über die gesamte Probenlänge unterschieden. Weiterhin können die Probenlager linienförmig oder kreisförmig gestaltet werden (Abb. 7.5). Die letztere Gestaltungsvariante kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn bei spröden Proben ein Rissbeginn an den Probenkanten verhindert werden soll. Die Problematik der Einspannung besteht beim Biegeversuch darin, dass die durch sie übertragenen Druckkräfte in Abhängigkeit vom Probenmaterial sowohl kritische Spannungskonzentrationen als auch verfälschende Reibungskräfte an den Einspannstellen erzeugen können. Zu hohe Spannungskonzentrationen können eine Verformung bzw. Schädigung der Probe an den Einspannpunkten hervorrufen. Durch Abrundung der Einspannlager lassen sich entstehende Spannungskonzentrationen absenken, allerdings entstehen durch einen immer größeren Radius dieser Abrundungen und der damit erhöhten Kontaktflächen auch immer höhere Reibungskräfte an den Einspannungen. Da sich jedoch bei Biegung die Außenfläche des Körpers verlängern muss, bewirkt ein Fixieren der Probe durch Reibungskräfte an den Einspannungen
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
287
a)
b) Abb. 7.6 Formschlüssige Einspannung von Zugproben: a) gelochte Einspannflächen, b) Gewindeköpfe
einen unerwünschten Spannungszustand in der Probe, in dessen Folge eine zu große Steifigkeit bzw. zu hohe Biegefestigkeit gemessen werden kann. Diesem Effekt kann durch Verwendung geeigneter Dreh- oder Festkörpergelenke, welche mit den Einspannlagern verbunden sind, entgegengewirkt werden [437]. Durch Verwendung von Drehgelenken mit einem Festlager zur Probeneinspannung ist es möglich, Wechselbiegeversuche durchzuführen, wie sie z. B. in isothermen Ermüdungsversuchen [438] oder zu beschleunigten Thermowechselversuchen [439] an bestückten Leiterplatten verwendet werden. Anders als beim Druck- oder Biegeversuch wirken die beim Zugversuch zu übertragenen Zugkräfte einer Fixierung in der Einspannung entgegen. Um zu verhindern, dass beim Einleiten der gewünschten Zugkräfte die Probe aus der Einspannung herausgezogen wird, ist es notwendig, die Einspannung entweder formschlüssig oder reibungsschlüssig zu gestalten [437]. Da an der Stelle der form- als auch reibungsschlüssigen Krafteinleitung in die Probe ein für den Zugversuch unerwünschter Beanspruchungszustand hervorgerufen wird, muss die Probe so gestaltet werden, dass sie an beiden Seiten Einspannflächen aufweist, welche eine Kraftübertragung auf den eigentlichen Prüfbereich der Probe zulassen. Übliche Realisierungen für formschlüssige Einspannungen sind Proben mit gelochten Einspannflächen bzw. Proben mit Gewindeköpfen (Abb. 7.6). Bei reibungsschlüssigen Einspannungen muss eine Druckspannung auf den Einspannbereich der Probe einwirken, die zwar groß genug ist, um bei Übertragung der Zugkraft auf die Probe diese zu halten, gleichzeitig aber nicht so groß ist, dass sie unerwünschte Beanspruchungen in der Probe auslöst. Aus diesem Grund werden zur Realisierung einer reibungsschlüssigen Einspannung bevorzugt Einspannköpfe mit Keilbacken eingesetzt. Bei ihnen entsteht die für das Einklemmen der Probe erforderliche Querkraft als Folge des Gleitens der Backen in ihren Lagerungen. Dadurch steht die Klemmkraft stets in einer definierten Relation zur augenblicklich wirkenden
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Zugkraft (Abb. 7.7). Die rein mechanische Funktion der Keilbacken wurde später durch eine Spannhydraulik unterstützt. Dadurch sind auch Lastwechselreaktionen möglich, ohne dass die Gefahr besteht, dass sich die Probe ausspannt [437]. Neben der Keilbackenspannung existieren auch andere Arten hydraulisch, pneumatisch oder mechanisch betriebener Spannfutter. Schwierig ist die reibungsschlüssige Einspannung an Proben, welche nicht über Einspannflächen verfügen (z. B. Drähte, Folien, Seile). Für solche Proben existieren besondere, an die Probe angepasste Einspannvorrichtungen, z. B. Rollenaufnahmen. Bei anderen Belastungsarten, wie z. B. Scher- oder Torsionsbeanspruchung, ergibt sich in der Regel eine wesentlich komplexere Einspannproblematik als beim Druck- , Biege- oder Zugversuch, sodass sich die gewünschte Beanspruchungsform oft nur näherungsweise im Probekörper erreichen lässt. Ein typisches Beispiel für solche Einspannungen ist der Isiopescu-Probekörper (vgl. 7.4.3) für Scherbeanspruchungen, bei welchem prinzipbedingt keine klare Aufteilung in Probe und Einspannung vorgenommen werden kann. Die Güte der erreichten Scherspannung ist bei diesem Probekörper vom zu untersuchenden Materialverhalten abhängig, wodurch er - verglichen mit den bisher besprochenen Einspannungen - eine weniger generische Lösung darstellt, sodass in der Regel eine theoretische Analyse zur richtigen Interpretation der experimentell erzielten Ergebnisse notwendig wird. Noch komplizierter wird der Sachverhalt, wenn eine kombinierte Belastung, z. B. Zug- und Torsionsbeanspruchung, auf die Probe aufgetragen werden soll. Für solche Fälle sind angepasste Lösungen erforderlich, welche unter anderem die werkstoffmechanischen Besonderheiten des zu untersuchenden Materials berücksichtigen, welche sich allerdings dann für eine Gruppe sich ähnlich verhaltender Werkstoffe einsetzen lassen. Wird die Problematik der Einspannung in Bezug auf Untersuchungen im Mikrobereich betrachtet, so besteht einer der entscheidenden und grundlegenden Unterschiede im Aufbau von Prüfmaschinen der klassischen Werkstoffprüfung und Apparaturen zur Untersuchung kleinvolumige Proben in der Art und Weise, wie Einspannungen zur gezielten Krafteinleitung an den Probeköpern realisiert werden. Für die Genauigkeit, mit der mechanische Kennwerte eines kleinvolumigen Probekörpers aufgenommen werden können, ist das mit dem Konzept der Einspannung verbundene Prinzip der gezielten Krafteinleitung von ausschlaggebender Bedeutung. Wie in 7.1 bereits erläutert, wird bei Versuchen an kleinvolumigen Proben eine bauteilorientierte und betriebsfallnahe Untersuchung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens angestrebt. Im Gegensatz dazu bestand die Absicht bei den dargestellten Einspannungen für Druck-, Biege- und Zugversuch darin, einen idealisierten Versuch mit einem klar definierten Beanspruchungszustand zu schaffen, welcher eine hohe Vergleichbarkeit erlaubt. Eine Vergleichbarkeit bestünde eher mit Einspannungen für Versuche an großen Bauteilen, jedoch wird an solchen in der Regel kein werkstoffmechanisches Verhalten aufgenommen. Die konkrete Gestaltung der Einspannungen für Versuche an kleinvolumigen Proben muss immer in Verbindung mit der Probekörpergestaltung gesehen werden. Unabhängig von dieser existieren jedoch bestimmte Gesichtspunkte, die zu
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
289
Hydraulikstempel
Schnitt
Keilbacke
a)
Probe
b)
Abb. 7.7 Reibschlüssige Einspannung mit a) Keilbacken, b) hydraulischen Keilbacken (adaptiert aus [437])
bestimmten generellen Lösungsaspekten für die Einspannung kleinvolumiger Proben führen: • Belastungsarme Einspannung: In der klassischen Werkstoffprüfung sind Proben in der Regel so gestaltet sind, dass sie sich manuell einfach handhaben lassen und dadurch sehr einfach ohne eine bedeutsame Probenvorverformung in eine Prüfmaschine einspannen lassen. Das Problem der Vorverformung bzw. Schädigung ist bei der Einspannung kleinvolumige Proben aufgrund der geringen Verformungskräfte jedoch ein sehr bedeutsames. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass Vorverformungen oder Schäden an der Probe aufgrund der kleinen Abmaße oft nicht detektierbar sind, sodass hierdurch sehr leicht falsche Messergebnisse entstehen können. Aus diesem Grund ist es bei der Gestaltung einer Einspannung wichtig, zum einen eine leichte Handhabbarkeit der Probe beim Einspannvorgang zu gewährleisten und zum anderen ein solches Einspannprinzip zu wählen, welches eine belastungsarme Fixierung der Probe in der Versuchsapparatur ermöglicht. • Ausrichtung der Probe: Aufgrund ihrer geringen Größe lässt sich im Gegensatz zur klassischen Werkstoffprüfung die richtige Ausrichtung der Probe gegenüber der angestrebten Belastung in der Regel nicht durch gezieltes manuelles Einspannen erreichen. Daher ist es bei der Gestaltung einer Einspannvorrichtung
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
wichtig, dass diese entweder Einrichtungen zur Lagejustage der Probe gegenüber der Belastungsrichtung besitzt oder dass das Eintragen unerwünschter Belastungen durch das Konstruktionsprinzip verhindert wird. • Überprüfen der Einspannung: Die ordnungsgemäße Einspannung kleinvolumiger Proben lässt sich nur in Ausnahmefällen visuell überprüfen. Hiermit ist immer das Risiko von Fehlmessungen durch falsche Einspannung gegeben. Bei der Gestaltung der Einspannung müssen deshalb potenzielle Einspannfehler berücksichtigt und durch konstruktive Maßnahmen weitestgehend ausgeschlossen werden. • Belastungsarme Probenentnahme: Für die Auswertung von Versuchen an kleinvolumigen Proben ist es sehr wichtig, diese nach dem Versuch, z. B. durch metallografische Analysen, weiter bewerten zu können. Hierdurch kann festgestellt werden, ob eine Probe beim Versuch beschädigt wurde, oder es kann eine absichtlich eingetragene Schädigung bewertet werden. Zur aussagekräftigen Durchführung solcher Analysen ist es notwendig, die Probe so entnehmen zu können, dass keine zusätzlichen, nicht vom eigentlichen Experiment stammenden Schäden in sie eingetragen werden. Aus diesem Grund sollte bei der Gestaltung der Einspannung auf die Möglichkeit einer belastungsarmen Probenentnahme geachtet werden. • Zeitdauer des Ein- und Ausspannvorgangs: Für das Ein- und Ausspannen kleinvolumiger Proben gibt es eine Reihe von Möglichkeiten. Anders als bei der klassischen Werkstoffprüfung erfolgt diese nicht notwendigerweise durch eine instantane mechanische Probenfixierung, sondern auch durch langwierige Verfahren, wie das Einkleben. Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile sollte beachtet werden, dass die Zeitdauer des Einspannvorgangs in einem ausgewogenen Verhältnis zur Versuchsdauer steht (z. B. sollte der Einspannvorgang für Schlagversuche im Minutenbereich liegen, während für Kriech- oder Ermüdungsversuche auch Einspanndauern im Bereich mehrere Tage akzeptabel sind). Die Gestaltung der Einspannung muss deshalb auch effektive kombinierte Verfahren einbeziehen (z. B. das Einkleben auf Zwischenträger), um Einspannzeiten gering zu halten. Um den verschiedenen Forderungen an die Einspannung von miniaturisierten Proben gerecht zu werden, haben sich für verschiedene Arten von Versuchen verschiedene Lösungen durchgesetzt. Die einfachste unter ihnen besteht in der einseitigen Einspannung. Dazu wird die Probe direkt oder über einen Träger auf einem Einspanntisch gehalten, mit dem sie gegenüber einem Verformungswerkzeug ausgerichtet werden kann (Abb. 7.8). Zur Realisierung der zweiten Einspannung wird ein entsprechendes Verformungswerkzeug gegen die Probe gefahren. Typische Verformungswerkzeuge sind Haken (z. B. für den Ziehtest an Drahtbondbrücken), Schermeißel und Greifer. Der Vorzug einseitiger Einspannungen liegt in der kurzen Einspanndauer. Bezüglich der Genauigkeit der Krafteinleitung weisen sie allerdings den prinzipiellen Nachteil auf, dass die Lage von Verformungswerkzeug
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
291
Abb. 7.8 Einspann- und Positioniertisch am Schertester Dage 4000
zur Probe nur in bestimmten Grenzen genau einstellbar ist. Kritisch ist weiterhin der Kompromiss zwischen Steifigkeit und Stellfeinheit des Einspanntisches. Hohe Steifigkeiten über den gesamten Lastbereich lassen sich durch die Verwendung von Schwalbenschwanzführungen in Kombination mit Arretierungsschrauben erreichen. Kugel- und Wälzlagerführungen besitzen zwar eine wesentlich höhere Stellfeinheit, weisen jedoch eine Verkippungsproblematik am Lastumkehrpunkt auf, was sich besonders bei geringen Versuchskräften sehr negativ auf eine definierte Krafteinleitung auswirken kann. Bei der Realisierung zweiseitiger Einspannungen, welche neben einer besser definierten Krafteinleitung vor allem auch Versuche mit Lastumkehr erlauben, besteht das Problem, die Probe zum einen beanspruchungsfrei einzuspannen zu können und zum anderen gegenüber der Lastrichtung der Prüfmaschine ausrichten zu können. Als zweckmäßige Variante hat sich hier das Einkleben der Probe mit einem Epoxidharzkleber herausgestellt [440, 441]. Hierbei wird die Tatsache ausgenutzt, dass ein Zweikomponenten-Epoxidharzklebstoff während seiner Vernetzungsreaktion zunächst seine Viskosität absenkt und dann nach und nach aushärtet. Durch das Absenken der Viskosität fließt der Epoxidharzkleber sehr gut an die Einspannflächen der Probe und ist auch in der Lage, einen sehr engen Spalt vollständig auszufüllen, sodass großflächige Verklebungen entstehen können. Bei der Einspannung mit Epoxidharzklebstoffen muss beachtet werden, dass diese bei Erhöhung der Versuchstemperatur wieder in einen Gel-Zustand gelangen können, sodass nach solchen Temperaturerhöhungen zunächst das Nachhärten des Epoxidharzklebstoffes abzuwarten ist. Die Aushärtezeit von Epoxidharzklebstoffen ist sehr stark abhängig von der Genauigkeit, mit der die entsprechenden Masseverhältnisse von Härter- und Binderkomponente zusammengemischt wurden. Durch die geringen Mengen an Klebstoff, die für die Einspannung von miniaturisierten Proben verwendet werden, ist es schwierig, das richtige Verhältnis immer zu treffen. Aus diesem Grund sollte für die Kontrolle der Aushärtung immer Vergleichsmasse des angerührten Klebers abgezweigt und aufgehoben werden. Da in Abhängigkeit von Versuchstemperatur und verwendetem Kleber Aushärtezeiten von mehreren
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Tagen auftreten können, ist die Klebstoffeinspannung nur für Maschinen geeignet, welche die Einspannköpfe über diesen Zeitraum in absoluter Ruhe halten können. Die Ausrichtung der Probe gegenüber der Belastungsrichtung erfolgt über entsprechende Positioniertische, für deren Steifigkeits-Feinstell-Kompromiss das Gleiche gilt wie für einseitige Einspannungen. Zur Ausrichtung wird die Probe zunächst (falls notwendig mit einer entsprechenden Vorrichtung) auf einer Seite eingespannt und dann vor dem Verkleben auf der zweiten Seite gegenüber dieser ausgerichtet. Alternativ existieren mechanische oder magnetische Fixierungen als zweiseitige Einspannkonzepte. Beide bieten den Vorteil einer schnellen Einspannung, lassen sich aber nur auf bestimmte Probenformen anwenden. Bei mechanischen Einspannungen sind in der Regel Stützstrukturen notwendig, welche vor dem Test entfernt werden.
7.3.2.3 Antrieb Zur Übertragung der zur Verformung erforderlichen Energie muss eine Relativbewegung zwischen den Krafteinleitungsstrukturen erzeugt werden. Die hierfür eingesetzten Antriebe müssen bestimmte Bedingungen bezüglich der Feinheit dieser Relativbewegung und den dabei zu übertragenden Kräften erfüllen. Für Universalprüfmaschinen, d. h. Maschinen, die je nach Einspannung Druck-, Biege- und Zugversuche durchführen können, werden üblicherweise hydraulische oder mechanische Antriebe eingesetzt. Hydraulische Antriebe bestehen aus einem mit einer Kolbenstange verbundenen Zylinder. Der Kolben wird durch elektrische Servoventile gesteuert, welche das von einem Hydraulikaggregat auf hohen Druck gebrachte Hydrauliköl präzise auf die beiden Druckkammern des Zylinders verteilen (Abb. 7.9). Mechanische Antriebe bestehen aus einer Kugelumlaufspindel, durch welche die durch eine von einem Motor über ein Getriebe bewegte Mutter gehoben und gesenkt werden kann [446]. Der entscheidende Unterschied in der Auswahl von Antriebssystemen zwischen klassischer Prüftechnik und Prüfmaschinen für kleinvolumige Proben ergibt sich aus einer Verschiebung von Lastanforderungen zu Genauigkeitsanforderungen. Antriebe für klassische Prüfmaschinen müssen in der Lage sein, unter hoher Last definierte Bewegung erzeugen zu können. Aus diesem Grund werden Antriebssysteme bevorzugt, die sich auch bei starken Laständerungen sehr gut steuern lassen, sodass beispielsweise die Vorschubgeschwindigkeit einer Traverse konstant bleibt. Durch die verringerten Abmessungen sind die durch miniaturisierte Proben hervorgerufenen Kraftreaktionen in der Regel gegenüber den von Antriebssystemen erzeugten Stellkräften nicht in gleichem Maße kritisch. Vielmehr rückt die Notwendigkeit, sehr kleine Weginkremente stellen zu können, um in den verringerten Abmessungen der Proben die gewünschten Beanspruchungen zu erzeugen, in den Vordergrund. Es ist deshalb sehr naheliegend, sich bei der Konzeption von Antriebssystemen für Prüfmaschinen zur Untersuchung kleinvolumiger Proben an
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
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Kolbenstange Gewindemutter
Gewindespindel
Regelventil
Umsteuerventil
Motor
Kolben
Regelgetriebe
a)
b)
Abb. 7.9 Schematische Darstellung eines a) mechanischen und b) hydraulischen Antriebs einer Zugprüfmaschine
Lösungen zu orientieren, die bereits für den Bereich der Feinpositionierung erarbeitet wurden. Von den verschiedenen Lösungen, die zur translatorischen Feinpositionierung eingesetzt werden können, eignen sich vor allem mikromotorische Verschiebetische und piezoelektrische Aktoren zur Verwirklichung geeigneter Antriebe. Während sich beide Lösungen in Bezug auf die Feinpositionierung vor allem durch Stellauflösung und Verfahrweg unterscheiden, treten in Bezug auf ihre Verwendung als Antriebseinheiten weitere Unterschiede in den Vordergrund. Aufgrund ihres Funktionsprinzipes als Festkörperantrieb arbeiten Piezoaktoren reibungsfrei. Das ermöglicht ihnen eine nahezu unbegrenzte Stellauflösung. Wegen des mit dem Übergang von Haft- zu Gleitreibung veränderten Reibwiderstandes existiert für mikromotorische Antriebe immer eine definierte kleinste Stellbewegung, in der sie mit Sicherheit eine Bewegung vollführt haben. Wird eine Vor- und Rückbewegung betrachtet, so werden die Unterschiede noch größer. Während ein Piezoaktor diese präzise (wenn auch hystereseartig) ausführt, ist es aufgrund der möglichen Führungsfehler der Lineareinheiten mikromotorischer Verschiebetische bei Auslenkungsamplituden unterhalb von 1 μm nicht klar definiert, welche Bewegung ausgeführt wird, da der Tisch innerhalb dieser Bewegungsamplitude sowohl gieren, neigen oder rollen kann, sodass die Rotationsbewegung des Motors nicht vollständig in eine entsprechende Linearbewegung des Tisches umgesetzt werden muss. Eine andere wichtige Eigenschaft, die aus dem Funktionsprinzip des Piezoaktors folgt, ist die hohe Krafterzeugung und das schnelle Ansprechverhalten. Mikromotorische Systeme sind aufgrund ihres Aufbaus eher träge und erzeugen je nach Motorgröße nur kleine bis mittlere Kräfte. Allerdings können sie diese in beide Richtungen gleichermaßen erzeugen. Piezoaktoren können dagegen nur in Druckrichtung hohe Kräfte erzeugen, in Zugrichtung ist die Krafterzeugung begrenzt, da die spröde Piezokeramik unter Wirkung von Zugkräften sehr leicht reißen kann. Noch empfindlicher als auf Zugkräfte sind Piezoaktoren auf Querkräfte. Dies ist
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
einer der wesentlichen Vorzüge von mikromotorischen Antrieben, die sich sehr robust gegenüber komplexen Belastungssituationen als auch verschiedenen Umweltbedingungen, wie der Temperatur, verhalten. Piezoaktoren besitzen hingegen sowohl eine temperaturabhängige Auslenkfunktion als auch eine nach oben begrenzte Betriebstemperatur, welche z. B. für Niedervoltpiezotranslatoren nur T c = 80°C beträgt. Aus diesem Grund bestimmt die Wahl des Antriebselements auch den weiteren Aufbau der Prüfmaschine. Zum einen besteht hierbei die Möglichkeit, unter Verwendung eines Piezoaktors eine sehr steife Prüfmaschine zu erzielen, die in der Lage ist, sehr kleine Deformationen mit sehr hoher Genauigkeit auszuführen, jedoch auf der anderen Seite durch die eingeschränkte Robustheit des Piezoaktors bestimmte Anforderungen an die Gestaltung der Probe setzt. Als Gegenkonzeption zu diesem Aufbaukonzept existiert die Möglichkeit des Aufbaus einer vergleichsweise nachgiebigen Prüfapparatur unter Verwendung eines mikromotorischen Antriebs. Durch die Nachgiebigkeit der Apparatur, die z. B. durch eine geeignete Gestaltung des Kraftsensors erreicht werden kann, werden die Unzulänglichkeiten des mikromotorischen Antriebs bei der Erzeugung sehr kleiner Verschiebungen heruntergesetzt und somit wird eine geeignete Belastung der Probe erreicht. Durch die Robustheit des Antriebes entstehen kaum Einschränkungen für die Gestaltung der Apparatur und der Proben, sodass sich sehr vielfältige Möglichkeiten der Prüfung mit einem solchen Aufbau ergeben. Um nach der Entscheidung für ein bestimmtes Antriebskonzept die Eignung eines konkreten Antriebes zur Durchführung bestimmter Versuche einschätzen zu können, ist eine genaue Betrachtung der technischen Spezifika der verschiedenen Antriebsprinzipien notwendig. Piezoelektrische Aktoren unterscheiden sich grundsätzlich in Niedervolt- und Hochvolt-Piezoaktoren mit maximalen Betriebsspannungen von ca. 100 V bzw. 1000 V. Die geringeren Spannungen der Niedervoltaktoren vereinfachen grundsätzlich die zur Versorgung der Piezoaktoren notwendige Steuer- und Treiberelektronik. Durch die hohe Steifigkeit der Piezoaktoren sind sie sehr anfällig gegen alle Störsignale auf der Betriebsspannung, die Frequenzanteile von weniger als 10 KHz aufweisen. Aus diesem Grund ist für die Auflösung und Stabilität der durch einen Piezoaktor erzeugten Feinstellung die Qualität der Betriebsspannung von außerordentlicher Bedeutung. Niederfrequente Rauschanteile bzw. periodische Störsignale führen zur Vibrationen des Piezoaktors, die sich bei Versuchen mit Submikrometerstellwegen als störend erweisen können. Ein grundsätzliches Problem entsteht aus stochastisch auftretenden Störspitzen, welche durch kurzzeitige Netzausfälle bzw. Spannungsspitzen auf den Netzleitungen hervorgerufen werden können. Durch die enorme Krafterzeugung der Piezoaktoren kann es infolge solcher Störungen zu erheblichen Probenschädigungen bis hin zur Probenbeschädigung kommen. Aus diesem Grund ist bei Einsatz von piezoelektrischen Antrieben für Dauerversuche die Bereitstellung einer störungsfreien Netzversorgung notwendig sowie eine Detektion ungewünschter Störauslenkungen des Piezoaktors vorzusehen.
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
295
Abhängig von der Ausführung erzeugen Piezoaktoren grundsätzlich ausreichend hohe Kräfte (50 ... 30000 N) für die Verwendung in Prüfmaschinen, ihre Auswahl kann jedoch bezüglich ihrer Zugbelastbarkeit, welche nur 5 ... 10 % der Druckbelastbarkeit beträgt, kritisch sein. Grundsätzlich können Hochvoltaktoren höhere Kräfte erzeugen als Niedervoltaktoren. Der große Vorzug von Hochvoltaktoren besteht aber vor allem in ihrer höheren zulässigen Betriebstemperatur von 150 °C gegenüber einer maximalen Betriebstemperatur von 80 °C von Niedervoltaktoren. Piezoaktoren weisen ein sehr hohes Positionskriechen auf, welches in etwa 1 % der aufgebrachten Dehnung pro Zeitdekade beträgt. Um eine dauerhaft exakte Stellung zu ermöglichen, ist es daher notwendig, die Dehnung des Piezoaktors permanent nachzuregeln. Deshalb werden Piezoaktoren vorzugsweise im positionsgeregelten Betrieb eingesetzt. Die Dehnung des Piezoaktors wird hierzu entweder durch einen Dehnmessstreifen, einen LVDT oder einen kapazitiven Wegsensor aufgenommen und über eine entsprechende Regelung ständig nachgestellt. Durch den geregelten Betrieb wird neben dem Kriechen auch die Last- und Temperaturabhängigkeit der Stellfunktion kompensiert und das Hystereseverhalten der Stellfunktion eliminiert. Dieses Hystereseverhalten wird bei Piezoaktoren durch Polarisationseffekte und molekulare Reibung hervorgerufen [442] und führt im ungeregelten Betrieb dazu, dass die Spannungs-Auslenkungs-Kurve eines Piezoaktors im aufsteigenden und abfallenden Ast auf unterschiedlichen Wegen durchlaufen wird. Kommerziell werden Piezoaktoren mit dazugehöriger Steuerelektronik z. B. von der Fa. Physik-Instrumente angeboten. Die bevorzugte Bauform besteht dabei aus einem in einem zylindrischen Stahlmantel eingefassten Piezostapel, der über ein geeignetes Kopfstück sehr leicht montiert werden kann. Die erreichbaren Stellwege betragen bis zu 180 μm. Für raumbegrenzte Anwendungen, z. B. in Rasterelektronenmikroskopen, existieren auch kompakte Bauformen mit Festkörpergelenken, welche allerdings einen begrenzten Kraftbereich aufweisen. Mikromotorische Verschiebetische bestehen in der Regel aus einem Gleichstrom- oder Schrittmotor, dessen Drehbewegung über eine durch ein Linearlager geführte Spindel in eine translatorische Bewegung umgesetzt wird. Durch die Art und Weise, wie die einzelnen Komponenten ausgeführt sind und miteinander kombiniert wurden, werden die relevanten Parameter eines solchen Stellantriebes bestimmt. Aus der Wahl des Motors ergibt sich, in welchem Geschwindigkeitsbereich der entsprechende Antrieb eingesetzt werden kann. Gleichstrommotoren können bei entsprechender Regelung im Prinzip sowohl sehr hohe als auch sehr niedrige Umdrehungszahlen erreichen, wodurch sich ein sehr großer über mehrere Größenordnungen ergebender Bereich von Verfahrgeschwindigkeiten ergäbe. Allerdings durchläuft der Wirkungsgrad bei einer motorabhängigen Nenndrehzahl ein Maximum und fällt sowohl bei immer größeren als auch immer kleineren Drehzahlen auf null zurück. Aus diesem Grund sind Gleichstrommotoren sehr oft mit Unterset-
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
zungsgetrieben versehen, um bei niedrigen Drehzahlen die notwendigen Antriebsleistungen zu erreichen. Untersetzungsgetriebe sind jedoch mit dem Nachteil höherer Umkehrspiele behaftet. Um gute Richtungsumkehreigenschaften des Antriebs zu erreichen, ist deshalb eine direkte Kopplung des Gleichstrommotors mit der Spindel zu bevorzugen. Die Erzielung der erforderlichen Antriebsleistungen im gesamten Geschwindigkeitsbereich kann durch eine entsprechende Überdimensionierung der Motorleistung erreicht werden. Die Erzeugung hoher Antriebsleistungen bei sehr niedrigen Umdrehungszahlen ist einer der großen Vorzüge von Schrittmotoren gegenüber Gleichstrommotoren. Durch ihr Aufbauprinzip erzeugen sie lastunabhängig einen genau definierten Vorschub, wodurch sich sehr gute Regelmöglichkeiten unabhängig vom zu prüfenden Deformationsverhalten ergeben. Allerdings führt das Aufbauprinzip auch zu einer sehr nachteiligen Vibrationserzeugung, welche sich vor allem bei leistungsstarken Motoren bemerkbar macht. Um die Vibrationen niedrig zu halten, eignen sich 5Phasen-Motoren zusammen mit sogenannten Mikroschrittsteuerungen. Durch Mikroschritte werden die für hohe Drehzahlen ungeeigneten Schrittmotoren jedoch noch langsamer, sodass sich je nach Grad der Unterteilung von Einzelschritten schnellere Steuerungen erforderlich werden, wodurch der Vorteil der einfacheren Ansteuerung von Schrittmotoren wieder verloren geht [442-445]. Die Genauigkeit der translatorischen Bewegung des Antriebs, welche in starkem Maße die Genauigkeit der Krafteinleitung auf die Probe bestimmt, ergibt sich im Wesentlichen aus der Bahngenauigkeit einer Stellplattform, die durch zwei Linearlager bestimmt wird, durch die diese Plattform geführt wird. Zur Realisierung der Linearlager werden in der Regel entweder Kugelführungen, Kreuzrollenführungen oder Umlaufführungen eingesetzt. Aufgrund ihrer größeren Kontaktflächen sind Kreuzrollenführungen wesentlich steifer als Kugelführungen und kommen somit mit einer geringeren Vorspannung aus, was wiederum die Reibung reduziert und einen gleichmäßigeren Lauf ermöglicht. Grundsätzlich zeichnen sich Kreuzrollenlager durch höhere Führungsgenauigkeiten und Belastbarkeiten aus, sind jedoch empfindlicher gegen Verschmutzungen. Umlaufführungen (Kugeloder Rollenführungen) zeichnen sich durch die höchste Führungsgenauigkeit und Belastbarkeit aus. Allerdings sind sie aufgrund der Tatsache, dass Kugel oder Rollen den Bereich der Vorspannung verlassen, um über einen Kanal in der Mutter wieder zurückgeführt zu werden, nicht so leichtgängig wie Kreuzrollenführungen [442-444]. Die Güte der Umsetzung der durch den Motor erzeugten Rotations- in eine Translationsbewegung hängt wesentlich von der eingesetzten Spindel ab. Dabei können in Abhängigkeit vom Anwendungsfall sowohl einfache Gewindespindeln als auch Kugelumlaufspindeln eingesetzt werden. Letztere besitzen den Vorteil einer wesentlich geringeren Reibung, was vor allem zur Erzeugung hoher Translationsgeschwindigkeiten bzw. bei der Übertragung höherer Kräfte von Bedeutung ist. Bei der Fertigung von Kugelumlaufspindeln kann durch ein geeignetes Abstimmen von Kugeldurchmesser und Kontur der Gewindegänge eine Vorspannung der Mutter erreicht werden, um das Umkehrspiel zu eliminieren [442-444].
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
297
Der Aufbau kommerziell gefertigter motorisierter Lineartische wird sehr stark durch wirtschaftlich-technische Kompromisse bestimmt, welche zu bestimmten Aufbauvarianten führen, die im untersten Preissegment mit einer Kombination aus kurzen Stellwegen, Motoren kleiner Leistung, Gewindespindeln geringer Steigung und Kugelführungen beginnen und im obersten Preissegment mit Kombination aus langen Stellwegen, Motoren großer Leistung, Kugelumlaufspindeln, Gewindespindeln höherer Steigung, hochpräzisen Umlaufführungen enden. Aus diesem Grund bieten kommerziell gefertigte Lineartische nicht unbedingt eine optimale Antriebslösung für eine Prüfmaschine. Bei der Verwendung preisgünstiger kleiner Tische schränken mangelnde Führungspräzision, hohes Umkehrspiel und geringe Stetigkeit die Versuchsgenauigkeit ein, während bei Verwendung großer kostenintensiver Tische das Verhältnis zwischen den geometrischen Abmaßen des Antriebes zur Prüfmaschine nicht gegeben ist (vgl. 7.3.2.5). Ein Eigenaufbau motorischer Linearantriebseinheiten bietet den Vorteil, durch eine effektive Kombination aus Kreuzrollenführungen und einer kurzen Kugelumlaufspindel mit geringer Steigung die Voraussetzung für einen sehr kompakten Antrieb mit leichtem Lauf, hoher Stellgenauigkeit und geringem Umkehrspiel zu erhalten, dessen kurzer Verfahrweg für die Prüfung kleinvolumiger Proben völlig ausreichend ist. Die Wahl des Motors ergibt sich aus den Versuchen, die bevorzugt durchgeführt werden sollen. Gleichstrommotoren sind wegen ihres ruhigen Laufes und des großen Geschwindigkeitsbereiches sehr gut zur Realisierung konstanter Dehnraten (klassischer Zugversuch) geeignet, während Schrittmotoren sich sehr gut zur Einregelung konstanter Versuchskräfte (Kriechversuch) eignen, da sie lastunabhängig schnelle und definierte Vor- und Rückbewegungen erlauben. Die Eigenschaften des Antriebes werden weiter verbessert, indem eine Überdimensionierung des Motors vorgenommen wird. Dadurch lässt sich bei Gleichstrommotoren der Geschwindigkeitsbereich erweitern und bei Schrittmotoren über eine Mikroschrittsteuerung die Stellauflösung erhöhen und die Vibrationsneigung senken [444]. Die Eignung eines Feinstellantriebs wird vor allem durch die Parameter Auflösung, kleinste inkrementale Stellweite, Stabilität, Linearität, Umkehrspiel, Bahngenauigkeit, Belastbarkeit und Stellgeschwindigkeit bestimmt. Genauigkeit und Reproduzierbarkeit haben eine eher untergeordnete Bedeutung, da die Prüfmaschine über ein gesondertes Wegmesssystem verfügt.
7.3.2.4 Messaufnehmer Zur Charakterisierung des Verformungsverhaltens einer Probe müssen Spannung und Dehnung während des Versuchsablaufes an ihr messtechnisch erfasst werden. Das Grundprinzip der mechanischen Dehnungsmessung beruht darauf, die an der Probe eintretende Form- oder Längenänderung messtechnisch zu erfassen. Bei einem Zugversuch wird dazu beispielsweise die Längenänderung Δl der Probe gemessen und zur Ausgangslänge l 0 ins Verhältnis gesetzt:
298
Δl ε = ----l0
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
(7.1)
Zur Bestimmung der mechanischen Spannung σ wird die Kraft F , die erzeugt werden muss, um die Probe zu verformen, messtechnisch erfasst. Um die Spannung zu ermitteln, wird diese dann z. B. beim Zugversuch zur Querschnittfläche A 0 ins Verhältnis gesetzt: F σ = -----A0
(7.2)
In klassischen Universalprüfmaschinen werden für die Kraftmessung in der Regel Kraftmessdosen eingesetzt, welche in ihrem Inneren Biegemembranen besitzen, auf denen Dehnmessstreifen aufgeklebt sind. Bei hydraulischen Antrieben kann die Kraftmessung auch über eine Druckmessdose, welche mit dem Arbeitszylinder verbunden ist, realisiert werden. Zur Realisierung der Längenmessung werden verschiedene Varianten eingesetzt. Am einfachsten und am genausten ist das Aufkleben von Dehnmessstreifen auf die Probe, was jedoch eine bestimmte Probengeometrie sowie einen begrenzten Messtemperaturbereich voraussetzt. In der Regel werden aber Messschneiden auf die Probe aufgesetzt, welche mit einem mechanisch-elektrischen Messsignalwandler verbunden sind. Typische Signalwandler sind Biegefedern mit aufgeklebten Dehnmesssteifen und induktive Wegaufnehmer [437]. Für die messtechnische Erfassung von Längen- bzw. Formänderungen und Reaktionskräften für klassische Prüfmaschinen und für Experimentalaufbauten ergeben sich zwei wesentliche Unterschiede. Zum einen lassen sich die Formänderungen kleinvolumiger Proben nicht mehr direkt an der Probe aufnehmen, z. B. durch das Aufsetzen von Messschneiden oder das Aufkleben von Dehnmessstreifen. Zum anderen sind die Anforderungen an die Genauigkeit bei den sehr viel kleineren Proben wesentlich höher als bei üblichen Probenabmessungen der klassischen Werkstoffprüfung. Deshalb werden neben etablierten Messwandlern zur Dehnungsmessung auch optische Messverfahren eingesetzt, die zwar wesentlich aufwendiger sind, dafür aber die Möglichkeit der kraftfreien Probenabtastung erlauben. Für die Verformungs- und Kraftmessung werden sehr oft dieselben Wandlerbausteine eingesetzt. Zu ihnen zählen Dehnmessstreifen (ohmisch), Differenzialtransformatoren (induktiv) und kapazitive Wegaufnehmer. Ob Verformungen, Kräfte oder Momente gemessen werden, hängt davon ab, wie die Wandlerbausteine in eine Messstruktur eingearbeitet sind. Im Falle des Kraftsensors wird z. B. die Kraft zunächst über einen Biegebalken in eine Verschiebung transformiert, welche dann durch das Wandlerelement in ein elektrisches Signal umgewandelt wird. Die Bewertung der Eignung bestimmter Messaufnehmer sollte daher getrennt nach dem entsprechenden Wandlerbaustein mit der dazugehörigen Auswerteelek-
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
299
tronik und der Messstruktur erfolgen, wenngleich beide Elemente des Messaufnehmers nicht immer vollständig getrennt betrachtet werden können. Dehnmessstreifen (DMS) sind heute die am meisten verwendeten Wandlerbausteine. Ihr Aufbau und ihre Auswertung mit einer Sensorelektronik ist vergleichsweise einfach, wodurch sie das Feld der Kraft- und Dehnungsmessung bis heute dominieren. Der Effekt der Widerstandsänderung eines gedehnten Drahtes wurde 1856 durch William Thomson, dem späteren Lord Kelvin, entdeckt. Da dieser Effekt beliebig wiederholbar ist, bildet er eine gute Grundlage für eine elektrisch auswertbare Dehnungsmessung. Moderne Dehnmessstreifen bestehen anstelle eines massiven Drahtes aus einer auf einem isolierenden Träger abgeschiedenen metallischen Schicht. Die geometrische Gestaltung der Dehnmessstreifen ist vielfältig, sodass sie für eine große Anzahl von Anwendungen eingesetzt werden können. Neben der geometrischen Gestaltung entscheidet auch die Materialauswahl über die Eigenschaften des Dehnmessstreifens. Dabei existieren verschiedene Trägermaterialien und Schichtmetalle, um den Dehnmessstreifen an verschiedene Temperaturbereiche und Applikationswerkstoffe anzupassen. Neben metallischen Dehnmessstreifen, die ihren Dehnmesseffekt aus einer Längen- und Querschnittsänderung beziehen, existieren auch sogenannte HalbleiterDehnmessstreifen, welche im Gegensatz zu den metallischen Dehnmessstreifen jedoch einen piezoresistiven Effekt im Halbleitermaterial ausnutzen. Piezoresistive Wandlerelemente haben eine um zwei Größenordnungen höhere Empfindlichkeit als metallische Dehnmessstreifen. Diesem Vorteil stehen allerdings eine große Anzahl von Nachteilen, besonders bezüglich der Temperaturstabilität, Eigenstörsignale, Hystereseerscheinungen, Reproduzierbarkeit und Langzeitdrift, entgegen. Brückenschaltungen zählen zu den elementarsten und effektivsten Möglichkeiten die durch Wandlerbausteine veränderten elektrischen Größen, z. B. den elektrischen Widerstand, effektiv in ein gut auswertbares und weiterverarbeitbares Signal umzuwandeln. Sie stellen dabei das elektrische Analogon zur mechanischen Wägung dar. Eine elementare Anordnung einer Widerstandsbrücke ist in Abb. 7.10 dargestellt. Diese unter dem Name Wheatstone-Brücke bekannte Anordnung wurde jedoch vermutlich von S. H. Christie bereits 1833 aufgebaut [457-459]. Werden die komplementären Wandlerpaarungen in einem oder beiden Zweigen der Brücke eingesetzt, so ergibt sich ein zur Widerstandsänderung lineares Ausgangssignal. Für eine genaue Auswertung der Wandlerbausteine ist es notwendig, die Linearität, Empfindlichkeit und Stabilität der Brückenschaltung zu optimieren. Die in einer Brückenschaltung zusammengefassten Wandlerbausteine liefern in der Regel ein zu niedriges Ausgangssignal. Deshalb ist eine Verstärkung dieses Signals notwendig, durch die allerdings auch Fehler- und Störanteile des Brückensignals mitverstärkt werden. Aus diesem Grund sind neben der Verstärkung auch schaltungstechnische Maßnahmen zur Minimierung der Fehler- und Störanteile erforderlich.
300
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
In Abb. 7.10 ist eine übliche Realisierung einer Brückenauswerteschaltung gezeigt. Durch OV2 wird der linke Brückenmittelpunkt auf Masse gezogen, wodurch eine hohe Gleichtaktunterdrückung erreicht wird. Hierdurch wird eine sehr einfache Verstärkung des rechten Brückensignals über einen nichtinvertierenden Verstärker (OV1) ermöglicht, dessen Verstärkungsfaktor sehr genau über das Widerstandsverhältnis ( R 1 ⁄ R 2 ) eingestellt werden kann. Hieraus resultieren eine hohe Verstärkungsfaktorgenauigkeit und eine niedrige Verstärkungsfaktor-Drift. Durch die hohe Gleichtaktunterdrückung werden viele Störanteile im Brückensignal stark unterdrückt. Obwohl eine solche Realisierung viele Fälle abdeckt, kann unter extremen Messbedingungen ein hohe Messgenauigkeit nur durch weitere spezifische schaltungstechnische Realisierungen erreicht werden. Zu solchen nicht 6 gewöhnlichen Messbedingungen gehören Langzeit- ( t > 10 s ) und Ultrakurzzeit–3 messungen ( t < 10 s ) . Für Langzeitmessungen sind vor allem Drifterscheinungen der Verstärker kritisch. Diese betreffen sowohl intrinsische Drifterscheinungen der Bauelementematerialien als auch Temperaturdriften, da in gewöhnlichen Laborumgebungen immer Tages-Nacht-Schwankungen der Raumtemperatur vorhanden sind. Für die Unterdrückung solcher Drifterscheinungen ist eine günstige Wahl an Schaltungsrealisierungen und Bauelementen notwendig. Dazu gehören zum Beispiel chopperstabilisierte Verstärker. Ihre funktionsbedingte Bandbreitenbegrenzung von ca. 1 Hz sind für Langzeitversuche ohne Belang. Durch die Verwendung von Widerständen mit sehr niedrigen Temperaturkoeffizienten und durch die Vermeidung von driftanfälligen elektromechanischen Kontakten, wie sie z. B. in Potenziometern vorhanden sind, lassen sich Drifterscheinungen weiter minimieren. Für Kurzzeitmessungen ist vor allem eine hohe Bandbreite des Verstärkers notwendig.
Versorgungsspannung
RA
RC
+ OV2
+
-
OV1 RB
RA
verstärktes Ausgangssignal
RD
RC
R1
Bückenausgangsspannung
Versorgungsspannung
RB
a)
RD
R2
b)
Abb. 7.10 a) Prinzip der elementaren Wheatstone-Brücke, b) praktische Realisierung mit Operationsverstärkern zur Gleichtaktunterdrückung und Verstärkungsfaktorabstimmung
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
301
Linear Variable Differenzial Transformer (LVDT) gehören zu den ältesten praktisch eingesetzten Wandlerbausteinen. Ihr Wandlungsprinzip basiert auf magnetischer Induktion. Dabei verteilt ein beweglicher ferromagnetischer Kern die von einer Primärwicklung eingebrachte magnetische Energie auf zwei koaxial hintereinander angebrachte Sekundärwicklungen. Bei gegenüber den Spulenabmessungen kleinen Verschiebungen des Kerns ändert sich das Verhältnis der in die Sekundärwicklungen induzierten Spannungen nahezu linear mit der Verschiebung. Prinzipbedingt bieten LVDT eine gute Temperatur und eine ausgezeichnete Langzeitstabilität, wodurch sie in der Anfangszeit gegenüber DMS bevorzugt eingesetzt wurden, da sie zur Aufrecherhaltung der Nullpunktstabilität keiner leistungsstarken Auswerteschaltungen bedurften. Ein weiterer Vorteil von LVDT besteht in der direkten Messung der Verschiebung des Ankers. Im Prinzip könnten mit LVDT beliebig kleine Verschiebungen gemessen werden, jedoch ergibt sich durch die Gleichrichtung des Wechselspannungssignals der Sekundärwicklungen eine Restwelligkeit, welche die Auflösung begrenzt. LVDT-Sensoren besitzen prinzipbedingte Vorteile, welche ihren Einsatz zur der Dehnungsmessung an Proben sehr attraktiv macht. Aufgrund ihres elektromagnetischen Wandlerprinzips sowie ihrer differenziellen Arbeitsweise sind sie vergleichsweise unempfindlich gegenüber den bei der Materialprüfung schwer beherrschbaren Umwelteinflüssen, wie Temperatur und Feuchte. Durch sein Aufbauprinzip ist der LVDT verhältnismäßig unempfindlich gegenüber Temperaturdehnungen der Gehäuse und Koppelmaterialien, da der durch sie verursachte Fehleranteil in der Größe der thermischen Ausdehnungskoeffizienten, also im ppm-Bereich, liegt. Die dominante Fehlerquelle liegt dadurch nicht im Sensor, sondern in der Qualität der Treiber- und Auswerteschaltung sowie der richtigen induktiven Anpassung der Zuleitungskabel, wodurch keine besonderen Erfordernisse aus der Aufnahme von LVDT-Sensoren in ein Prüfmaschinenkonzept resultieren. Kapazitive Sensoren bieten die höchste Auflösung. Ihr Wandlungsprinzip beruht auf der Veränderung der Kapazität bei Veränderung des Plattenabstandes. Der Sensor ist dabei Teil einer kapazitiven Brücke, die im Gegensatz zur resistiven Brücke in Abb. 7.10 mit einer hochfrequenten Wechselspannung gespeist wird und durch eine geeignete Brückenschaltung ausgewertet werden muss. Trotz der höheren Auflösung haben kapazitive Sensoren in Bezug auf ihre Anwendung zur Dehnungsmessung an Proben eine Reihe von Nachteilen gegenüber DMS und LVDT, die ihren Einsatz sehr oft unattraktiv machen. Diese hängen damit zusammen, dass die Gesamtkapazität des Sensors direkt von der Dielektrizitätskonstante des Umgebungsmediums abhängig ist, sodass Schwankungen in der Umgebungstemperatur und -feuchte sehr starke Messfehler verursachen können. Gleichzeitig kann eine thermische Fehlpassung der mechanischen Kopplungselemente im Unterbau der Kondensatorplatten bei Veränderung der Versuchstemperatur zur Durchbiegung der Kondensatorflächen führen, wodurch sich ein anderer Proportionalitätsfaktor des Sensors ergibt. Diese Probleme lassen sich zwar durch Maßnahmen, wie die Verwendung spezieller Umgebungsmedien (z. B. N2) und Kalibrationen vor
302
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Messbeginn, umgehen, jedoch wird dadurch die Anwendung kapazitiver Sensoren sehr aufwendig und deshalb nur dort gerechtfertigt, wo LVDT-Sensoren aufgrund ihres Gewichts oder ihrer mangelnden Auflösung nicht in Frage kommen. Optische Verfahren bieten die attraktivste Lösung zur Messung von Verschiebungen, da sie als Feldmessverfahren in der Lage sind, Auskunft über lokale Verschiebungen in x- und y-Richtung zu geben. Traditionelle optische Verfahren, wie Moiré-Interferometrie [460, 461], Holografie [462] und Speckle-Interferometrie [463], sind etablierte Methoden für Verschiebungsmessungen im Makrobereich. Allerdings haben interferometrische Verfahren sehr stringente Anforderungen bezüglich der Stabilität des gesamten Messaufbaus. Darüber hinaus ist das Auszählen von Interferenzstreifen zeitaufwendig. Diese technischen Schwierigkeiten von traditionellen optischen Feldmessverfahren beförderten die Entwicklung computergestützter Bildverarbeitungsverfahren zur Verschiebungsmessung. Dabei hat sich vor allem eine unter dem englischen Terminus „Digital Image Correlation“ (DIC) bekannte Methode entwickelt, bei welcher zwei oder mehr nacheinander gemachte Digitalaufnahmen einer Probe untereinander verglichen werden, um die Unterschiede zwischen diesen Aufnahmen (z. B. die Verschiebungen in unterschiedlichen Belastungszuständen) zu analysieren. Die schnelle Verbreitung und hohe Akzeptanz der DIC-Methode in der experimentellen Werkstoffforschung lässt sich auf die deutlichen Leistungsverbesserungen im Bereich der Computer, CCDKameras und Frame-Grabber-Karten zurückführen [464]. Das DIC-Verfahren geht auf Peters und Ranson [465] sowie auf Sutton [466, 467] zurück, welcher das DICVerfahren zunächst für Speckle-Bilder einsetzte. Anfangs wurde eine Grob-FeinSuche verwendet, um Pixelverschiebungen zu finden, welche sehr zeitaufwendig war. Ein deutlicher Geschwindigkeitsgewinn konnte durch die Verwendung der Newton-Raphson-Methode erzielt werden [468]. Später wurde durch Vendroux und Knaus [469] eine Korrelation über die Methode der kleinsten Quadrate anstelle der bisher verwendeten Kreuzkorrelation eingesetzt, um die Berechnungen weiter zu vereinfachen und eine bessere Robustheit in der Konvergenz des Algorithmus zu erzielen. Für den Bereich der experimentellen Forschung sind eine Reihe von Anwendungen der DIC-Methodik in verschiedenen Arten von Werkstoffuntersuchungen publiziert [470-473]. Auf dem Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik wurde von Vogel und Michel [474-477] das sogenannte microDAC-Verfahren (micro Deformation Analysis by means of Correlation Algorithms) vorgestellt. Die Qualität dieser Arbeiten unterschied sich von vergleichbaren Anwendungen optischer Feldmessverfahren im Bereich elektronischer Aufbauten darin, dass es gelang, die Verformungen innerhalb kleinstvolumiger Flip-Chip-Kontakte während eines Temperaturwechseltests (-40°C/+125°C) aufzunehmen. Dazu wurde mit einer Grauwertkorrelation das Verschiebungsfeld im Flip-Chip-Kontakt experimentell bestimmt. Das Verfahren nutzt dabei Werkstofftexturen aus, z. B. die stark unterschiedlichen Kontraste, die sich entweder bei licht- oder bei elektronenoptischer Abbildung durch die bleireiche und zinnreiche Phase des SnPb-Lotes bilden. Bei
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
303
Werkstoffen mit kontrastärmeren Texturen (z. B. Polymerwerkstoffe) werden brauchbare Texturen durch geeignete Oberflächenbehandlungen erzeugt. Der Vorzug des Verfahrens gegenüber den von anderen Gruppen [478, 479] zur Verformungsmessung auch eingesetzten Moiré- und Speckle-Prinzipien besteht zum einen darin, dass weder besondere Testchips verwendet werden müssen noch Einschränkungen bei der Versuchsmethodik bestehen (das Verfahren ist prinzipbedingt sehr robust, z. B. gegen Temperaturänderungen, Vibrationen etc.), wodurch eine höchstmögliche Realitätsnähe gewährleistet wird. Da die Deckungsgleichheit zwischen dem im Experiment bestimmten und dem durch die FEM-Simulation errechneten Verschiebungsfeld bei inexakten Werkstoffparametern unwahrscheinlich ist, lässt sich das Verfahren sehr gut einsetzen, um die Qualität von Simulationsrechnungen zu überprüfen (d. h. zu validieren). Neben dieser Möglichkeit existieren noch viele andere Anwendungen für das microDAC-Verfahren im Anwendungsfeld elektronischer Aufbauten, wie z. B. Verschiebungsbestimmungen an Rissspitzen oder die Bestimmung von thermischen Ausdehnungskoeffizienten [480]. Im Verlauf der Konzeptionen zum Aufbau der ersten Prüfmaschinen für Scherversuche an kleinvolumigen Lotkontakten (vgl. 7.5.3) wurde das Verfahren vom Autor auch auf seine Eignung zur Messung der Verformung an Flip-Chip-Kontakten bei der Durchführung von Kriechmessungen geprüft [12, 481]. Hierbei erwies sich das Verfahren allerdings aus spezifischen Gründen des Versuchsaufbaus gegenüber den zuvor dargestellten Verschiebungsmessverfahren nicht als vorteilhaft. Ein wesentlicher Grund bestand darin, dass die Abbildung nicht speziell durch Querschliffe präparierter Flip-Chip-Kontakte aufgrund der geringen Tiefenschärfe über ein Lichtmikroskop nicht möglich war. Die einzige Möglichkeit, von diesen sehr kleinen dreidimensionalen Strukturen scharfe Abbildungen zu erzeugen, bestand in rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen. Die Erzeugung rauscharmer rasterelektronenmikroskopischer Bilder lag zum damaligen Zeitpunkt jedoch im Minutenbereich, wodurch das Aufnehmen vieler Verschiebungsfeldbilder in kleinen Zeitintervallen, d. h. das Durchführen einer quasikontinuierlichen Verschiebungsfeldmessung, nicht möglich war. Hierbei ist zu beachten, dass Kriechverformung einen transienten Anfangsbereich aufweist (vgl. 5.4.). Um den Verlauf dieses transienten Bereiches aufzuzeichnen, die Zeitdauer seines Auftretens abschätzen zu können und mit großer Sicherheit den eingeschwungenen Zustand eines Mechanismus zu detektieren, ist es unabdingbar, isotherme Versuche so durchzuführen, dass das Material über einen ausreichenden Verformungsweg mit gut definierten Deformationsbedingungen, z. B. konstanter Dehnungsgeschwindigkeit, beansprucht wird. Dies verlangt eine permanente Rückführung von Dehnungssignalen zur Prüfmaschinensteuerung, die so durch optisches Feldmessverfahren nur schwer zu realisieren gewesen wäre. Für die zukünftigen Anforderungen werkstoffmechanischer Charakterisierungen im Gebiet elektronischer Aufbauten erscheint eine Weiterentwicklung des Verfahrens unter der Bezeichnung nanoDAC allerdings die traditionellen Verschiebungsmessverfahren aufgrund ihrer nach unten begrenzten Auflösungen doch
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
möglicherweise abzulösen [482, 483]. Die grundlegende Idee des nanoDAC-Verfahrens besteht darin, anstelle der bisherigen Mikrostrukturabbildungsverfahren, wie Licht- oder Elektronenmikroskopie, Verfahren, welche auf atomarem Niveau arbeiten, z. B. Rasterkraftmikroskopie (engl. SFM) oder Rastertunnelmikroskopie (engl. STM), mit den bisher genutzten Bildverarbeitungsalgorithmen zu koppeln. Eine auf Rastertunnelmikroskopie basierende Verformungsmessung wurde von Vendroux und Knaus vorgestellt [469]. Hierbei wurde das Rastertunnelmikroskop mechanisch an die sich verformende Probe gekoppelt und mit einem DIC-Algorithmus ausgewertet. Die Untersuchung der Genauigkeit dieser Messung ergab einen Fehler für die Verschiebungsmessung von 0,08 Pixeln, was ca. 2,4 nm entspricht, sodass für dieses Verfahren eine Auflösung von 4,8 nm auf einem Messfeld von 10 μm x 10 μm ermittelt wurde [484]. (Zum Vergleich: die Auflösung des für die in 7.5.3.2 beschriebenen Flip-Chip-Schertester eingesetzten Zweistrahllaserinterferometers beträgt für eine Punktmessung 8 nm).
7.3.2.5 Rahmen Zur Verbindung der einzelnen Elemente dient ein Maschinenrahmen. Durch diesen wird zum einen der Kraftfluss als auch die topologische Anordnung der Messwertaufnehmer realisiert. Die Rahmen für Universalprüfmaschinen bestehen üblicherweise aus stehenden Säulen, an deren zwei Traversen (Querbalken) befestigt sind. Im Rahmeninneren wird eine dritte Traverse vom Antrieb vertikal bewegt. Bei Verwendung von hydraulischen Antrieben kann die obere Traverse zur Anpassung an die Probenlänge auch verstellbar sein, da der verfügbare Kolbenhub im Gegensatz zum mechanischen Spindelantrieb oft nicht ausreicht, um sich auf alle gewünschten Probenlängen einzustellen [437]. Neben der Verstellbarkeit der einzelnen Elemente, durch welche eine gute Anpassung der Prüfmaschine an verschiedene Probekörper erreicht werden kann, ist eine hohe Steifigkeit eine der wichtigsten Eigenschaften eines Maschinenrahmens. In vielen Versuchskonzepten wird irrtümlicherweise davon ausgegangen, dass die Maschinensteifheit wesentlich höher ist als die der Probe. Jedoch liegt die Probensteifigkeit gerade im Bereich der elastischen Verformung oft in der Größenordnung der des Maschinenrahmens, wodurch es zu erheblichen Verformungen des Rahmens kommen kann. Bei direkter Abtastung an der Probe führt dies zwar nicht zu Fehlern in der Dehnungsmessung, es hat allerdings einen erheblichen Einfluss auf die Einhaltung einer angestrebten Belastungsfunktion. Die Einregelung einer gewünschten Belastung wird besonders dann schwierig, wenn sich die Steifigkeit der Probe beim Einsetzen plastischen Fließens sehr stark zu ändern beginnt. Noch größer werden die Probleme, wenn bei Lastumkehr eine schnelle Rückverformung des Rahmens einsetzt. In Zusammenhang mit der Nachgiebigkeit anderer Komponenten hat dies erheblichen Einfluss auf die Systemfunktion der PrüfmaschinenProben-Kombination [485].
7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben
305
Die Erzielung einer hohen Steifigkeit und einer hohen Flexibilität durch Verstellbarkeit sind oft entgegengesetzte Ziele, sodass durch geeignete konstruktive Maßnahmen ein guter Kompromiss gefunden werden muss. Bei diesen konstruktiven Überlegungen müssen darüber hinaus Aspekte, wie unerwünschte Längenänderung bei Temperaturschwankungen, Schwingungsanfälligkeit, Gewicht oder Montierbarkeit mit anderen Geräten (z. B. speziellen optischen Systemen zur Dehnungsmessung), einbezogen werden.
7.3.2.6 Datenerfassung und -verarbeitung/Steuerung Die Entwicklung computergestützter Datenerfassungs- und Steuersysteme war eine der entscheidenden Entwicklungen in der experimentellen Prüftechnik, durch welche zum einen eine sehr genaue Erfassung von Werkstoffdaten und zum anderen ein hoher Freiheitsgrad bei der Gestaltung und Auswertung komplexer Belastungsfolgen erreicht werden konnte. Besonders im Bereich sehr schneller und sehr langsamer Verformungen haben sich durch die Einführung computergestützter Datenerfassungs- und Steuersysteme sehr starke qualitative Verbesserungen für die Erzielung genauer Versuchsabläufe und die exakte Erfassung von Messdaten ergeben. Zur Erzielung eines angestrebten Versuchverlaufs muss aufgrund der unbekannten Verformungsreaktion der Probe eine permanente Steuerung der Krafteinleitung erfolgen. Dazu werden die von den Messwertaufnehmern bereitgestellten Signale aufbereitet und verarbeitet. In Abhängigkeit von einem zuvor festgelegten Algorithmus wird dann ein entsprechendes Steuersignal für den Antrieb erzeugt. Gleichzeitig kann eine geeignete Archivierung und Visualisierung der aufgenommenen Daten erfolgen. Für die Durchführung komplexer Versuchsverläufe kommt der Art und Weise der Umsetzung einer computergestützten Versuchsapparatursteuerung und der damit in Zusammenhang stehenden automatisierten Datenerfassung besondere Bedeutung zu. Hierbei ergibt sich die Problematik, auf der einen Seite für schnelle Versuchsabläufe Daten in hoher zeitlicher Dichte aufzunehmen, mit einem korrekten Zeitstempel zu versehen und abspeichern zu müssen, während auf der anderen Seite für langsame Versuche die große Menge an anfallenden Daten durch eine geeignete Vorverarbeitung so reduziert werden muss, dass aussagekräftige und handhabbare Datensätze entstehen. Zusätzlich ist es für die Durchführung langsamer zeitaufwendiger Versuche nützlich, eine Anzeige des aktuellen Versuchsablaufes - verbunden mit einer kontrollierten Abbruchmöglichkeit des ursprünglich geplanten Versuchsablaufes - vorzusehen, sodass eine vorzeitige Beendigung eines laufenden Versuches bei unerwünschtem Versuchsverlauf erfolgen kann. Ein typischer Versuchstyp, bei dem sich ein vorzeitiger Abbruch erforderlich macht, sind Kriechversuche, bei denen sich aufgrund einer zu niedrig gewählten Versuchslast keine messtechnisch erfassbaren Verformungsraten ergeben. Die Bandbreite von durchführbaren Verformungsgeschwindigkeiten und Lastwechselraten wird
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
wesentlich von der Leistungsfähigkeit der Datenerfassungs- und Steuereinheit bestimmt, welche sich wiederum aus der Effektivität des Zusammenwirkens zwischen der programmiertechnischen Softwareumsetzung mit den entsprechenden Hardwarebausteinen bestimmt. Hierbei gibt es keine universelle Lösung, sondern es müssen - ausgehend von einem beabsichtigten Versuchsablauf und dem dafür vorgesehenen Prüfmaschinenkonzept - entsprechend angepasste Hardwarebausteine ausgewählt und über ein dafür geeignetes Softwarekonzept gesteuert werden. Besonders bei der Planung von unkonventionellen Versuchsarten hat sich die Programmierung einer geeigneten Versuchssteuerung als ein die Qualität und Zeiteffizienz der Versuchsausführung wesentlich bestimmender Aspekt herausgestellt.
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche 7.4.1 Ziele der Probengestaltung Wie in Abschnitt 7.2.1 bereits angeführt, kam es im Laufe der historischen Entwicklung von Prüfmethoden und Prüfmaschinen zu einem Übergang von der reinen Bauteilprüfung zu einer werkstofforientierten Prüfung auf der Basis speziell gestalteter Probekörper. Dieser Übergang war eine wesentliche Konsequenz aus der Erfahrung, dass die Überprüfung der Festigkeit eines bestimmten Bauteils durch das Aufbringen einer rein statischen Belastung für praktische Belange unzureichend war, da sich die mechanische Integrität eines Werkstoffes gegenüber den sehr vielfältigen Beanspruchungen im Feld nicht über einen einfachen Werkstoffkennwert absichern ließ. Die Prüfung speziell gestalteter Werkstoffproben ermöglichte gegenüber der Bauteilprüfung ein gezieltes Aufbringen gewünschter Beanspruchungsformen und damit eine differenzierte Bewertung des Werkstoffversagens. Besonders die Entwicklung schädigungsphysikalisch motivierter Konzepte, wie z. B. die der Bruchmechanik, wäre ohne die Prüfung spezifisch gestalteter Probekörper undenkbar gewesen [334, 375, 412, 432]. Grundvoraussetzung für diese mittelbare Form der Bewertung der Eignung von Werkstoffen für bestimmte Anwendungsfälle ist jedoch die Widerspiegelung eines dimensionsunabhängigen Werkstoffverhaltens in dem in der Regel begrenzten Volumen eines Probekörpers. Deshalb folgt die Probengestaltung in der klassischen Werkstoffprüfung in der Regel dem Prinzip des repräsentativen Volumens, d. h., die Abmessungen eines Probekörpers übersteigen die eines werkstoffspezifischen Volumenelementes, welches so groß ist, dass die Einzelverformungsreaktionen bestimmter Gefügeelemente, wie z. B. einzelner Körner, nicht mehr nach außen sichtbar werden, sondern sich ein Gesamtverhalten aus der Mittelung einer bestimmten Mindestanzahl kritischer Gefügeelemente (in der Regel Körner oder Phasen) ergibt. Neben dieser grundsätzlichen Berücksichtigung eines repräsentativen Werkstoffvolumens richtet sich die Gestaltung von Probekörpern nach einer Reihe von Anforderungen, welche durch die Prüfmaschine bzw. durch die Prüfmethodik vor-
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche
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gegeben werden. Zu den wichtigsten prüfsystemrelevanten, d. h. den sich aus dem Zusammenwirken von Probekörpergestaltung und Prüfmaschinenaufbau ergebenden, Anforderungen gehören: • Einspannbarkeit: Das Problem der Einspannung wurde im Abschnitt 7.3.2.2 bezüglich der prüfmaschinenrelevanten Aspekte behandelt. Tatsächlich ist die Probeneinspannung jedoch eine bilaterale Problematik, welche einen ganzheitlichen Gestaltungsansatz sowohl auf der Seite der Prüfmaschine als auch auf der der Probe verlangt. Da die Einspannung in der Regel mit Kraftwirkungen im Einspannbereich der Probe verbunden ist, verlangt der üblicherweise angestrebte gezielte Eintrag einer bestimmten Beanspruchung in der Probe neben einer geeigneten Gestaltung der Verformungszone gleichzeitig eine Gesamtprobengestaltung, welche zum einen weitgehende Entkopplung der Beanspruchungszustände im Einspann- und Verformungsbereich ermöglicht und zum anderen mögliche Deformationen in der Einspannzone so gering hält, dass es zu keiner signifikanten Abweichung von der angestrebten Krafteinleitungsrichtung kommt. • Messbarkeit: Für die Erfassung der Verformungsreaktion muss die Gestaltänderung der Probe während der Prüfung üblicherweise entweder mechanisch oder optisch abgetastet werden. Um eine hohe Messgenauigkeit zu erreichen, sollte die Probengestaltung an dem entsprechenden Messverfahren sowohl bezüglich ihrer Form als auch ihrer Dimension ausgerichtet werden. Eine optimale Probendimensionierung ist in der Regel nur über umfangreiche Tests herauszufinden, da eine Dimensionserhöhung (z. B. eine Probenverlängerung) zwar höhere theoretische Auflösungen ermöglicht, gleichzeitig jedoch die Wahrscheinlichkeit von Verformungsinhomogenitäten steigt, wodurch bei ungeeigneter Dimensionierung eine sehr hohe Diskrepanz zwischen Auflösung und Genauigkeit auftritt. Einfacher gestaltet sich sehr oft die Erfassung der Kraftreaktion, da sie vor allem Anforderungen an die Dimensionierung des Probenquerschnittes stellt. • Beobachtbarkeit: Die Möglichkeit einer gezielte Beobachtung des Deformationsvorganges während der Prüfung ist zwar keine zwingende Voraussetzung zur Erzielung genauer Messungen. Allerdings erleichtert sie das Erkennen grober Unzulänglichkeiten bei der Prüfung, was vor allem bei Einschränkungen der Wiederholbarkeit von Messungen (z. B. aufgrund hoher Messzeiten oder geringer Probenmengen) von Bedeutung ist. • Handhabbarkeit: In Abhängigkeit von der Probengröße sowie dem Probenwerkstoff sollte die Art und Weise der Einspannung und Probenentnahme bei der Gestaltung der Probe berücksichtigt werden, um Vordeformationen bzw. Beschädigungen beim Einspann- bzw. Ausspannvorgang zu vermeiden. Besonders dann, wenn Proben sehr klein- bzw. sehr großvolumig sind, spielt das Problem der Handhabbarkeit eine vordergründige Rolle. Demgegenüber lassen sich
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Proben mittlerer Größe (d. h. üblicher Größe) oft sehr unkompliziert manuell einspannen. Zu den wichtigsten aus der Prüfmethodik gestellten Anforderungen gehören: • Herstellbarkeit eines adäquaten Probenwerkstoffes: Aus der Repräsentation typischer werkstoffphysikalischer Merkmale eines Bauteils ergibt sich eine besondere Problematik für die Probenherstellung, sofern diese nicht durch Entnahme aus dem Bauteil erfolgt. Besonders dann, wenn Bauteil und Probe in sehr unterschiedlichen Dimensionen vorliegen, ist es schwierig, vergleichbare strukturelle Merkmale aus dem schmelzflüssigen Zustand zu erzeugen. Bei der Gesamtprobengestaltung müssen deshalb die Möglichkeiten einer sehr weit gefassten Beeinflussbarkeit bei der Ausbildung gefügespezifischer Merkmale bezüglich der Herstellungsprozedur bedacht werden. Hierbei ist in besonderer Weise zu berücksichtigen, dass es in kleinen Schmelzvolumina, wie sie für typische Probenformen genutzt werden, zu inhomogenen Verteilungen bestimmter Gefügemerkmale kommen kann, welche bestimmten konzeptionellen Gesichtspunkten einer Probengestaltung entgegenwirken. So ist z. B. die Schaffung rotationssymmetrischer Formen mit der Absicht, dadurch einen homogenen Beanspruchungszustand über einem großen, messtechnisch leicht erfassbaren Verformungsvolumen zu erzeugen, nur dann tragbar, wenn es gelingt, innerhalb dieses Volumens ein homogenes Gefüge einzustellen. Ein anderer, damit eng in Zusammenhang stehender Aspekt ist der der Volumenkontraktion beim FlüssigFest-Übergang metallischer Schmelzen. Hierdurch kann es besonders bei hohen Abkühlgeschwindigkeiten sehr leicht zur Ausbildung von kleinen Hohlräumen (Lunkern bzw. Poren) im Probenvolumen kommen, welche letztlich zu Fehlbewertungen der Verformungsreaktionen führen. • Analysefähigkeit: Um einen Nachweis bestimmter werkstoffphysikalischer Vorgänge während der Verformung zu ermöglichen, muss bei der Probengestaltung die Möglichkeit einer postexperimentalen Analyse der verformten Probe berücksichtigt werden. Dazu muss die Probe in der Regel so aus der Versuchsapparatur entnehmbar sein, dass sie entweder während der Entnahme keine weitere Verformung erfährt bzw. dass sie vor Entnahme so getrennt wurde, dass die während des Experiments entstandenen Bruchflächen unbeschädigt bleiben. Weitere Erfordernisse sind von den jeweiligen Analyseverfahren abhängig, welche zum Einsatz kommen sollen. So ist es z. B. für spätere metallografische Analysen von Vorteil, wenn der Probenaufbau aus Strukturen ähnlicher Härte besteht. Die Gestaltung eines Probekörpers unter Berücksichtigung dieser vielfältigen Aspekte ist ein oftmals in seiner Komplexität unterschätzter Prozess, welcher jedoch die wesentliche Grundlage für die Aussagekraft der durchgeführten Verformungsexperimente bildet. Durch die Schaffung verschiedener Standards für Probenformen ist die besondere Problematik der Probekörpergestaltung möglicherweise aus dem zentralen Blickfeld geraten. Hierbei muss jedoch beachtet werden,
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche
309
dass es bedeutende Unterschiede im Anliegen und den Zielen zwischen einer üblichen Werkstoffprüfung (z. B. zur Wareneingangskontrolle) und einem werkstoffphysikalischen Grundlagenexperiment gibt. Für Letzteres hängt der tatsächlich erzielbare Erkenntnisgewinn wesentlich davon ab, in welchem Maße eine speziell gestaltete Probe an die zu untersuchende wissenschaftliche Problemstellung angepasst werden konnte. Aus diesem Grund ist die Probekörpergestaltung die erste fundamentale Aufgabenstellung bei der Durchführung wissenschaftlich ausgerichteter Verformungsexperimente. Besonders bei der Frage nach der Größenabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen kommt der Probekörpergestaltung eine besondere Rolle zu, da diese direkt die Ergebnisse der Untersuchung und damit die gewonnenen Aussagen beeinflusst.
7.4.2 Idealisierte Bulkproben Bei der Gestaltung von Probekörpern in der klassischen Werkstoffprüfung spielten vor allem Überlegungen eine Rolle, die darauf abzielten, gewünschte Beanspruchungszustände gezielt zu erreichen, eine hohe Auflösung bei der Verformungsmessung erhalten zu können und eine Vergleichbarkeit von ermittelten Kennwerten zwischen verschiedenen Prüflabors zu ermöglichen. Da bei der Festlegung der Dimensionen und Formen der Probeköper keine bzw. nur wenige Einschränkungen bestanden, bildeten sich verschiedene idealisierte Probekörperformen heraus, unter denen die Doppelschulterprobe (Abb. 7.11) für die Zugprüfung die bekannteste und am häufigsten verwendete Probenform ist. Doppelschulterproben sind grundlegend so gestaltet, dass ein gegenüber zwei Kopfstücken verjüngtes Mittelstück mit konstantem Querschnitt als Messabschnitt genutzt wird, in welchem die Verformungsreaktion des Werkstoffs integral bestimmt wird. An den beiden Kopfstücken, welche sich an den Enden der länglichen Probe befinden, wird die Einspannung vorgenommen mit dem Ziel, die Kräfte von der Prüfmaschine auf die Probe so zu übertragen, dass im Mittelstück ein einachsiger Beanspruchungszustand erzeugt wird. Ausgehend von diesem grundsätzlichen Gestaltungsprinzip existieren für Doppelschulterproben eine Reihe verschiedener konkreter Geometrien, welche in Abhängigkeit vom zu untersuchenden Werkstoff vor allem die Art der Verjüngung, die Länge des Mittelstücks sowie die Form des Querschnitts betreffen. In Abb. 7.11 sind Beispiele für verschiedene Probekörpergeometrien von Doppelschulterproben gezeigt. Ein anderes Beispiel für einen idealisierten Probeköper ist der in Abb. 7.12 dargestellte CT-Probeköper (CT = Compact-Tension) zur Ermittlung bruchmechanischer Kennwerte. Anders als bei der Doppelschulterprobe, bei der ein einfach auswertbarer einachsiger Spannungszustand erzeugt wurde, verfolgt das Gestaltungsprinzip des CT-Probekörpers das Ziel, an einer bewusst eingebrachten Kerbe eine Spannungsüberhöhung, d. h. einen komplexen, aber dennoch gut auswertbaren zweiachsigen Spannungszustand, zu erzielen. Um die Gültigkeit des KBruchkonzeptes nicht zu verletzen, wird die Probe so dimensioniert, dass die plas-
12,5 + 0,1
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
R 20
310
3 20
6
50 50
75
d = 13
d = 16
200
20
10
5
8
R2
0
36
R
25
R
6,0
14
,1
63
25
,2
25 33 80 200
Abb. 7.11 Doppelschulterprobengeometrien für metallische Werkstoffe mit a) recheckigem Querschnitt und glattem Kopf, b) rundem Querschnitt und Gewindkopf, c) für keramische Werkstoffe mit glattem Kopf und d) für polymere Werkstoffe mit recheckigem Querschnitt und glattem Kopf [432, 433, 437, 446]
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche
311
tische Zone um den Kerbgrund im Verhältnis zur Probenlänge (w) hinreichend klein bleibt. Die Relativmaße der CT-Probe folgen aus der Dicke B. Die Bedeutung der Probendicke ist darauf zurückzuführen, dass die plastische Zone um den Kerbgrund an den Seitenflächen aufgrund des vorherrschenden ebenen Spannungszustandes (ESZ) deutlich größer ist als in der Probenmitte, in welcher eher von einem ebenen Verzerrungszustand (EVZ) auszugehen ist. Dadurch wäre der mit dieser Probe ermittelte K IC -Wert bei kleinen Dicken von B abhängig, woraus eine materialabhängige Mindestbreite der Probe mit K IC 2 B ≥ 2,5 ⋅ § ---------· © σF ¹
(7.3)
erforderlich wird. Hierbei entspricht σ F der Fließspannung des untersuchten Werkstoffes. Neben den beiden aufgeführten Beispielen gibt es noch eine große Anzahl weiterer idealisierter Probekörperformen zur Ermittlung spezifischer Werkstoffkennwerte, welche im Rahmen dieses Unterabschnittes jedoch nicht dargestellt werden sollen, da die wesentlichen Aspekte der Gestaltung idealisierter Bulkprobekörper aus den beiden genannten Beispielen ausreichend deutlich werden. In der Regel ist die Probekörpergestaltung dadurch geprägt, dass angestrebt wird, in einem bestimmten Probekörperabschnitt einen spezifischen Beanspruchungszustand einzustellen. Dieser Beanspruchungszustand - das zeigt das Beispiel der CT-Probe -
F
F
BN
a0 W
Abb. 7.12 CT-Probeköper [334]
B
312
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
muss dabei nicht notwendigerweise ein einfach auszuwertender homogener sein. Jedoch ergibt sich dieser aus bestimmten vorausgehenden Überlegungen, welche wiederum eine Idealisierung des Experiments im Sinne der Eindeutigkeit bzw. guten Nutzbarkeit des erhaltbaren Ergebnisses verfolgen. Diese Fokussierung wird dadurch möglich, dass es aufgrund der nicht vorgegebenen Dimensions- und Formenwahl nahezu keine Einschränkungen durch z. B. prüfmaschinenrelevante Aspekte bei der Probekörpergestaltung gibt.
7.4.3 Idealisierte Mikroproben Um der Frage der Veränderung mechanischer Eigenschaften bei kleineren Strukturabmessungen nachzugehen, existieren verschiedene Ansätze zur Gestaltung geeigneter Probekörper. Diese gehen in der Regel auf verschiedene Intentionen und Überlegungen bezüglich der Untersuchungsziele sowie der Experimentalmethodik zurück. Um Unterschiede in den Ergebnissen verschiedener Studien am selben Material verstehen und richtig interpretieren zu können, ist es daher notwendig, sich mit den verschiedenen Grundüberlegungen bei der Herstellung miniaturisierter Probekörper auseinanderzusetzen und dabei die verschiedenen einschränkenden Randbedingungen, welche wiederum zu Einschränkungen in der Aussagekraft von Messergebnissen führen, bezüglich ihrer Bedeutung für die übergeordnete wissenschaftliche Problematik des Größeneffektes richtig einzuordnen. Da es eine große Vielfalt an verschiedenen Typen miniaturisierter Probekörper gibt, sollen die für die Problematik des Größeneffektes relevanten Sachverhalte exemplarisch an wichtigen Gestaltungsvarianten dargestellt werden, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Bezüglich der der Untersuchung von Verformungseigenschaften in kleinen Strukturdimensionen zugrunde liegenden Intentionen lassen sich die Gestaltungsvarianten für miniaturisierte Probekörper grob in zwei Klassen unterteilen: solche, deren Gestaltung ähnlich der der BulkProbekörper durch die Erzielung bestimmter Beanspruchungszustände bestimmt wird, und solche, welche sich vornehmlich nach den in der Anwendung auftretenden Bauteilgeometrien ausrichten. Im weiteren terminologischen Gebrauch sollen die Probekörperformen der ersten Klasse als idealisierte Mikroproben und die der letzten Klasse als reale Mikroproben bezeichnet werden. Bei der Frage, wie miniaturisierte Probekörper gestaltet werden sollten, bestand die naheliegendste Überlegung darin, sich an den aus der traditionellen Werkstoffprüfung bekannten Probekörperformen zu orientieren und diese auf einen mikroskopischen Maßstab herunter zu skalieren. Hierzu wurden von zahlreichen Forschergruppen [486-489] die mit der Entwicklung der Mikrosystemtechnik entstandenen Strukturierungstechniken genutzt, um die aus dem Bulk-Bereich bekannten Probekörperformen in mikroskopischen Abmessungen erzeugen zu können. Zu den bevorzugten Techniken der Probekörperfertigung gehören klassische Strukturierungstechniken der Mikroelektronik, LIGA-Abformtechniken, elektroerosives Bearbeiten, Laserschneiden und Ionenstrahl-Schneiden (FIB).
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche
313
Die klassischen mikroelektronischen Strukturierungstechniken zur Probekörpererzeugung verwenden in der Regel fotolithografische Maskierungstechniken, sodass in den durch diesen Maskierungsschritt ausgewählten Bereichen Material hinzugefügt (Abscheidungsprozesse) oder weggenommen (Ätzprozesse) werden kann. Als typische Abscheideverfahren kommt hierbei die Abscheidung aus der Dampfphase (PVD oder CVD), Kathodenzerstäubung (Sputtering), elektrolytische Abscheidung (Electroplating) und elektrochemische Abscheidung (Electroless Plating = EL) zur Anwendung. Abscheideprozesse können von Konditionierungsschritten, wie z. B. thermischer Auslagerung, gefolgt sein, welche der Verringerung der Defektdichte in der abgeschiedenen Schicht dienen. In Abhängigkeit von den gewählten Verfahrensparametern dieser Prozesse stellt sich eine bestimmte Mikrostruktur der abgeschiedenen Struktur ein, welche aufgrund epitaktischen Aufwachsens auch vom Trägerwerkstoff bestimmt sein kann. Um den Probekörper vom Träger herauszulösen, wird in der Regel eine Ätzung des Trägerwerkstoffs bzw. speziell aufgebrachter Opferschichten durchgeführt. Ätzprozesse erfolgen im Standardfall nasschemisch, z. B. mit KOH für Si, oder für spezielle Anforderungen aus der Gasphase (mit und ohne Plasmaunterstützung). Mit diesen klassischen Strukturierungstechniken lassen sich Metallfilme mit Dicken von weniger als 1 μm bis zu etwa 100 μm erzeugen. Die Herstellung sehr dünner Proben ist jedoch kritisch, da sich dabei Verformungskräfte ergeben, die mit klassischer Messtechnik nicht mehr erfassbar sind. Einen Ausweg aus dieser Problematik liefert die integrierte Fertigung von Probe und Messapparatur durch Anwendung mikroelektronischer Fertigungsprozesse, welche allerdings sehr aufwendig ist, da für jede einzelne Messung eine neue Prüfapparatur hergestellt und kalibriert werden muss. Die LIGA-Technik verwendet UV- oder Röntgenquellen zur Strukturierung einer ersten Polymer-Mutterform. Durch die hohe Eindringtiefe des kurzwelligen Lichts - vor allem wenn Synchrotronstrahlung verwendet wird - kann eine lithografische Strukturierung der Polymerform mit sehr hohen Aspektverhältnissen erzielt werden. Durch elektrolytische Abscheidung in dieser Polymer-Mutterform werden zunächst inverse Metall-Tochterformen erzeugt, welche dann dazu genutzt werden, durch Abformung eine hohe Anzahl von Polymer-Tochterformen zu generieren. Über die LIGA-Technik lassen sich Probekörper aller metallischen Legierungen abformen, welche sich elektrolytisch abscheiden lassen. Sie besitzen - gegenüber den mit klassischen Strukturierungstechniken erzeugten - höhere Dicken. Selbst bei über 200 μm Dicke der abgeformten Proben ergeben sich immer noch nahezu perfekte rechteckige Querschnitte mit glatten Oberflächen. Die sich im Probekörper einstellende Mikrostruktur hängt wesentlich von den gewählten Prozessparametern bei elektrolytischer Abscheidung und gegebenenfalls von nachfolgenden Konditionierungsschritten ab [490]. Beim elektroerosiven Bearbeiten wird der erosive Effekt zwischen einer Elektrode und einem zu bearbeitenden metallischen Werkstück genutzt, um Material gezielt abzutragen. Elektrode und Werkstück werden dabei in einer dielektrischen Flüssigkeit umspült, welche das herausgelöste Material abtransportiert und als
314
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Kühlmittel wirkt. Durch die Nutzung speziell angefertigter miniaturisierter Elektroden können über dieses Verfahren auch Proben in Mikrodimensionen ausgeschnitten werden. Dabei entsteht in der Regel eine zweigeteilte Mikrostruktur, welche in Kernbereichen der des Ausgangsmaterials entspricht, während diese in Randbereichen durch den elektroerosiven Bearbeitungsprozess beeinflusst ist. Durch ein nachgelagertes elektrolytisches Polieren können die durch den beim elektroerosiven Bearbeiten entstehenden Wärmeeintrag veränderten Randbereiche jedoch entfernt werden, wodurch einerseits eine Probe mit der reinen Mikrostruktur des Ausgangsmaterials entsteht und gleichzeitig glatte Außenkanten erzielt werden. Alternativ zum elektroerosiven Bearbeiten können kleine Proben auch durch Laserschneiden aus einem großflächigen Material, z. B. einer Metallfolie, herausgeschnitten werden. Auch hierbei entsteht durch die Bearbeitung eine Randzonenproblematik, welche durch nachgelagertes elektrolytisches Polieren beseitigt werden muss. Ionenstrahl-Schneiden (FIB = Focused Ion Beam) ist ein sehr aufwendiges Verfahren, welches ursprünglich entwickelt wurde, um Querschnitte von aktiven Bereichen in Halbleiterbauelementen anzufertigen. FIB funktioniert ähnlich wie Rasterelektronenmikroskopie mit dem Unterschied, dass anstelle des Elektronenstrahls ein fokussierter Ionenstrahl, gewöhnlich Ga+, verwendet wird, welcher auf atomarer Ebene Material abträgt. Dadurch können z. B. sehr dünne Lamellen aus prozessierten Si-Wafern für transmissionselektronenmikroskopische Untersuchungen präpariert werden. In gleicher Weise können zum Beispiel auch massivere Mikrodrähte von mehreren hundert Mikrometern Durchmesser sauber quer geschnitten werden. Aufgrund des Abtrags auf atomarer Ebene wird die ursprüngliche Mikrostruktur durch das Verfahren kaum verändert. Die bisher dargestellten Strukturierungstechniken, welche mit der Entwicklung der Mikrosystemtechnik entstanden, eignen sich vor allem zur Probekörperherstellung für reine Metalle, Keramiken oder bestimmte hochschmelzende Legierungen. Aufgrund bestimmter prozesstechnischer Spezifika, z. B. der elektrolytischen Abscheidung oder der Wärmeentwicklung beim Abtrag, sind sie jedoch für die Probenherstellung im Bereich der in der Aufbau- und Verbindungstechnik üblichen Verbindungswerkstoffe weniger gut geeignet. Dies hängt z. B. mit den Schwierigkeiten zusammen, welche sich bei der elektrolytischen Abscheidung Snbasierter Weichlote ergeben bzw. mit ihrer Empfindlichkeit gegen Wärmeeintrag. Für andere Verbindungsmaterialien, wie z. B. Klebstoffe, ist die Situation noch schwieriger, da diese sich mit den beschriebenen Verfahren nicht abscheiden oder abformen lassen und da lokaler Wärmeeintrag über das Freisetzen eingefrorener Spannungen zum Verzug des Probekörpers führen kann. Aufgrund ihrer spezifischen Funktionalität als verbindungsherstellendes Element erfolgt die Probenherstellung im Bereich der Verbindungswerkstoffe am einfachsten durch Nutzung des Flüssig-Fest-Übergangs, d. h. entweder durch Kristallisation aus einer Metallschmelze oder durch Polymerisation aus einer Polymerschmelze. Um bei der Herstellung einer Festkörperprobe aus einer Schmelze eine definierte Form zu erhalten, müssen sowohl die freien als auch die
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche
315
Oberflächen des Schmelzvolumens, welche mit den korrespondierenden Verbindungsflächen des Probenhalters in Kontakt stehen, gezielt beeinflusst werden. Als günstig für diese Aufgabe haben sich Probekörperformen erwiesen, welche dadurch gekennzeichnet sind, dass zwischen zwei Kontaktflächen ein dünner Spalt im Bereich von 10 μm ... 500 μm geschaffen wird, in welchem sich der zu untersuchende Verbundwerkstoff befindet. Die lateralen Abmessungen dieser Verbindungszone sind gegenüber den Spaltabmessungen groß und befinden sich in der Regel im Millimeterbereich. Die Verformung des Probekörpers erfolgt durch eine technische Scherung des im Spalt befindlichen Werkstoffes. Die einfachste Möglichkeit, einen solchen Probekörper zu realisieren, besteht im sogenannten Shearlap-Probekörper (Abb. 7.13), bei welchem die Spaltzone einfach durch die Überlappung zweier Balken gebildet wird. Am einfachsten auszuführen ist diese Probekörperform in der Variante des Double-shear-lap-Probekörpers (Abb. 7.13 b), bei welchem drei Metallstreifen durch den Verbindungswerkstoff zu einem Sandwich zusammengesetzt werden und durch entsprechende Kerben zwei Verformungsbereiche des zu untersuchenden Verbindungswerkstoffes erzeugt werden. Allerdings ergeben sich bei dieser Probekörperform zum einen nachteilige Spannungsüberhöhungen an den Enden der Verformungsbereiche und zum andern kommt es aufgrund der ganzflächigen Verbindung zu nicht unerheblichen Verformungen der Metallstreifen, sodass für die präzise Bestimmung des Verformungsverhaltens korrigierende Nachberechnungen der messtechnisch aufgenommenen Kraft- und Dehnungsreaktionen notwendig sind. Ohne diese Korrekturen kommt es zu erheblichen Verfälschungen der Messergebnisse, welche sehr leicht zu Fehlinterpretationen der erhaltenen Ergebnisse führen können [491].
Klemmbacke
Klemmbacke
Scherprobe
Scherprobe
Abstandhalter
Abstandhalter
Klemmbacke
Klemmbacke
a)
b)
Abb. 7.13 a)Singel-shear-lap-Probekörper, b) Double-shear-lap-Probekörper
316
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Aus diesem Grund erschien die Anwendung des vor allem im Bereich der Laminate eingesetzten Isoipescu-Scher-Versuches als sehr lohnend für den Aufbau miniaturisierter Probekörper für Verbindungswerkstoffe. Die grundlegende Idee dieser 1967 vorgestellten Messmethode [492] besteht in der Verwendung eines zweiseitig eingekerbten Probekörpers, welcher über einer speziellen Prüfvorrichtung belastet wird (Abb. 7.14). Durch diese Probenform soll in dem Gebiet zwischen den beiden Kerben eine reine Scherbeanspruchung erzielt werden, wenn die beiden Einspannstellen der Probe parallel zueinander verschoben werden, da die angreifenden Scherkräfte aufgrund des niedrigen Biegemoments eine sehr gleichmäßige Scherbeanspruchung erzeugen. Dies gilt allerdings nur so lange, wie es durch die über die durch die Kerben erzeugten Spannungskonzentrationen nicht zu einer Materialschädigung kommt [493]. Aus diesem Grund ist die Fertigung einer sehr präzisen Probengeometrie eine wichtige Vorrausetzung für die Anwendung dieser Experimentalmethodik. Bei der Übertragung der Methodik auf die Untersuchung dünner Spalten von Verbindungswerkstoffen ergab sich daher das Problem, einen Weg zu finden, mit dem es möglich ist, nach einem Fügevorgang einen geometrisch genau bestimmten Probeköper zu erhalten. Zur Lösung dieser Aufgabe schlug Reinikainen [495, 496] ein Konzept vor, bei welchem zunächst zwei V-Kerben in einen Cu-Balken eingelassen werden, wobei der Abschnitt zwischen den Kerben die spätere Verbindungsfläche zum Aufbringen des Verbindungswerkstoffs bildet. Zum Einstellen einer definierten Spalthöhe werden zwei dieser Balken unter Zuhilfenahme zweier Abstandhalter diametral miteinander verbunden. Dieser Probekörper wurde in späteren Arbeiten von Deplanque [497, 498] weiterentwickelt, indem die beiden Seitenkanten der auf den Balken erzeugten Verbindungsflächen ebenfalls abgewinkelt wurden, wodurch eine bessere Analysefähigkeit des Lotspaltes über Ultraschallmikroskopie ermöglicht wird. Für beide Probekörpergeometrien konnte auf der Basis von linear elastischen und nichtlinear elastisch-plastischen FE-Analysen eine gute Homogenität der Scherbeanspruchung im Lotspalt nachgewiesen werden [497]. Trotz der hervorragenden theoretischen
F
F
a)
b)
F
F
Verbindungswerkstoff
Abb. 7.14 Isoipescu-Versuchsmethodik zur Erzielung reiner Scherbelastungen: a) Typische Isiopescu-Probeform mit dazugehörigen Einspannbedingungen, b) Abwandlung der Isiopescu-Probe zur Erzeugung homogener Scherspannungen in einem im Spalt befindlichen Materials
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche
317
Messing
Aluminiumform
Lot
abdrehen
Heizplatte
Messing
Messing
Lot
Messing
Eigenschaften dieser Probekörpergeometrie zeigte sich, dass die Herstellung eines idealen Lotspaltes sehr schwierig ist, da es bei der Herstellung durch Flussmittelreaktionen zu gasförmigen Abprodukten und damit zur Entstehung kleiner Hohlräume (sogenannte Poren) im Lotspalt kommt [498]. Die Bildung von Poren in Lotprobekörpern sind ein typisches Problem [499], welches der angestrebten einfachen Auswertbarkeit der experimentell aufgenommenen Kraft-VerschiebungsKurven entgegenwirkt, wodurch die ursprüngliche Intention der beschriebenen Probenkörpergeometrie praktisch nicht erreicht werden kann. Der Ausweg aus dieser Problematik besteht in der Fertigung der Lotprobekörper im Vakuumofen [497, 500]. Durch die veränderten Partialdrücke wird eine Herabsetzung des Benetzungswinkels von schmelzflüssigem Lot auf den Cu-Flächen erreicht und es können kleine Gasbläschen aus der Spaltzone gesaugt werden. Gleichzeitig ergibt sich jedoch durch die schlechtere Wärmeleitfähigkeit im Vakuum eine Abkühlgeschwindigkeit, die deutlich unter der natürlichen bei Normaldruck liegt, wodurch die Einstellung adäquater Gefügemerkmale bei der Loterstarrung schwierig wird. Neben der Variante, Lot in einem dünnen Spalt umzuschmelzen, um somit einen Scherprobekörper zu erhalten, existieren auch Bemühungen zur Fertigung von miniaturisierten Zugprobekörpern aus Weichlot. Ähnlich den Spaltprobekörpern wird dabei angestrebt, das Lot in einem Zwischenraum zweier axial zueinander angeordneter Cu-Zylinder zu erstarren (Bild Abb. 7.15), da dadurch ein Probekörper mit zwei einfach klemmbaren Einspannsektionen entsteht. Aufgrund der Zwangskräfte, die durch die unterschiedlichen Verformungsreaktionen der beteiligten Werkstoffe an der Cu-Lot-Grenzfläche entstehen, reicht es jedoch nicht aus, den dünnen Spalt des Scherprobekörpers in Zugrichtung zu drehen [501]. Stattdessen muss zur Erzielung einer durch die Grenzflächenkraftreaktionen unverfälschten Verformung des Lotes eine langgezogene Verformungszone zwischen den beiden Kupferzylindern existieren. Aufgrund der auf das schmelzflüssige Lot wirkenden Oberflächenspannungen kann ein solcher langgezogener Mittelabschnitt der Probe nicht mehr allein durch die Benetzungsreaktionen an den Stirnflächen der Cu-Zylinder geformt werden, sondern es bedarf einer geeigneten
Abb. 7.15 Miniaturisierte Lotzugprobe aus [501]
Einspritzwerkzeug
flüssiges Lot
Stempel
318
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Schmelzform, um das Lot bei der Erstarrung in die gewünschte Form zu zwingen. Durch die Reaktionen mit der Schmelzformwand wird der Erstarrungsvorgang des Lotes jedoch verändert, sodass die Einstellung adäquater Gefügemerkmale gegenüber den bei der Erstarrung von Luft umgebenen Lotkontakten fraglich ist. Weiterhin ist es aufgrund der Benetzungsreaktionen mit der Schmelzformwand nicht möglich, sehr dünne Proben von weniger als 0,1 mm Durchmesser herzustellen. Dies gelingt nur, indem das Lot während des Erstarrens durch einen dünnen Kanal gepresst wird [501], was wiederum eine starke Veränderung gegenüber der üblichen Erstarrung von Lotkontakten ist. Werden die Möglichkeiten der Fertigung idealisierter Mikroproben zusammenfassend betrachtet, so ist festzustellen, dass es auf der einen Seite zwar eine Vielzahl von Verfahren gibt, auf der anderen Seite diese jedoch in ihrer Anwendungsbreite auf bestimmte konkrete Werkstoffe begrenzt sind. Aus diesem Grund erscheint es unzweckmäßig, eine vollständig systematisierte Darstellung dieses Themas anzustreben. Vielmehr sollte die Erörterung dieser Problematik werkstoffals auch fertigungsbezogen geführt werden. Bezogen auf wesentliche Werkstoffe der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik zeigt sich, dass vor allem im Bereich der Verbindungswerkstoffe erhebliche methodische Probleme existieren, idealisierte Mikroproben für aussagekräftige Deformationsexperimente herzustellen.
7.4.4 Reale Mikroproben
7.4.4.1 Hintergrund Eine systematische Gegenüberstellung idealer und realer Mikroproben ist deshalb schwierig, weil die Entwicklung letzterer nicht tatsächlich durch systematisch-theoretische Überlegungen geprägt war, sondern aus rein pragmatischen Gründen vorgenommen wurde. Als mit der Einführung der Oberflächenmontagetechnik (vgl. 7.2.3) die Bewertung der Zuverlässigkeit von Lotverbindungen immer weiter in den Vordergrund rückte und mit der Berechnung von Beanspruchungszuständen in diesen Kontakten begonnen wurde, wurde in einer Reihe von Publikationen [27-30, 53-55, 452, 502, 503] auf eine mögliche Unzulässigkeit der Übertragung der an homogenen makroskopischen Probekörpern gewonnenen mechanischen Werkstoffdaten auf das Verhalten von kleinstvolumigen Lotkontakten hingewiesen. Hintergrund dieser Zweifel waren verschiedenste werkstoffphysikalische Überlegungen, aus denen jedoch keine Übertragungsregeln abgeleitet werden konnten. Für die meisten der durchgeführten Rechnungen zu Beanspruchungszuständen wurde der Lotwerkstoff als Kontinuum aufgefasst. Voraussetzung für diese Annahme war allerdings, dass mikrostrukturelle Elemente, wie z. B. Körner, in einer solchen Anzahl im Werkstoff vorhanden sind, dass ihre individuellen Eigenschaften keinen signifikanten Einfluss auf das Gesamtverhalten des
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche
319
Werkstoffs haben. Für das geringe Volumen (V = 1 10-12 m3) von Lotkontakten, wie sie in der Flip-Chip-Technik verwendet wurden, gingen einige Publikationen, z. B. [55], von einer sehr geringen Anzahl von Körnern aus. Diese Annahme ist Ausgangspunkt für eine in [54] veröffentlichte Studie, welche sich mit dem Konzept eines Vergleichsvolumens für den Werkstoff SnPb37 befasst. Die grundlegende Idee des Vergleichsvolumenkonzeptes besteht in der Bestimmung einer minimalen Anzahl von Körnern, bei denen noch keine signifikanten Auswirkungen von Individualeigenschaften der Körner auf das Verhalten des Volumenmaterials gegeben sind. Die in [54] an Bulk-Proben ermittelte absolute Vergleichslänge von 6 mm und die relative Vergleichslänge von 8 Körnern erhärteten die These von einem im Standard-Bulkprobekörper nicht adäquat nachzubildenden Gefüge im Vergleich zum realen Lotkontakt. Da die Herstellung idealisierter Mikroproben zu diesem Zeitpunkt aufgrund der unzureichenden mikrotechnologischen Expertise schwierig schien, war es naheliegend, Lotkontakte, welche sehr leicht hergestellt werden konnten, direkt als Proben zu verwenden. So wurde in einem der ersten Mikroverformungsexperimente von Shine, Fox und Sophia [28] einfach ein auf einer Leiterplatte aufgelöteter PLCC als Probekörper verwendet. Durch eine sehr umfangreiche Studie von Darveaux [36] zu verschiedenen Lotmaterialien wurde die Methodik der Verwendung realer Mikroproben für den Bereich der Verbindungswerkstoffe in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik weitestgehend etabliert.
7.4.4.2 Auswertung des Verformungsverhaltens Die Gestaltung realer Mikroproben unterliegt denselben in 7.4.1 formulierten Gesichtspunkten wie die idealer Bulkproben. Im Unterschied zu letzteren tritt hierbei aber der Gesichtspunkt der Einstellung eines bestimmten Beanspruchungszustandes gegenüber denen der Fertigbarkeit, Einspannbarkeit und Messbarkeit zurück. Aus diesem Grund treten in realen Mikroproben in der Regel komplexe Beanspruchungszustände auf, welche nicht einfach auswertbar sind. Dieses Problem konnte jedoch durch die Verwendung der Methode der Finiten-Elemente zur Simulation des Experiments, welche durch die gestiegene Leistungsfähigkeit der Rechentechnik Mitte der neunziger Jahre möglich wurde, gelöst werden. Bei der nummerischen FEM-Simulation können Untersuchungen an realen mikrotechnisch hergestellten Strukturen ausgewertet werden. Komplizierte Geometrien erhöhen zwar den Rechenaufwand, jedoch ergibt sich - anders als bei einer analytischen Simulation - immer eine in ihrer Genauigkeit befriedigende Lösung. Hierdurch verändert sich die Methodik eines Werkstoffexperimentes. Während bei der Verwendung analytischer Simulationen bei der Gestaltung des Probekörpers immer Rücksicht auf die nachfolgende Simulation genommen werden muss, erfolgt die Probekörperauswahl bei der Verwendung der FEM nur unter dem Gesichtspunkt, den realen Betriebsfall im Experiment gut nachzubilden. Der Ablauf der indirekten Bestimmung der Werkstoffparameter aus den Experimental-
320
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
rohdaten ist in Abb. 7.16 dargestellt. Da es sich bei der FEM um ein nummerisches Verfahren handelt, müssen zunächst Startwerte für ein erstes Werkstoffmodell vorgegeben werden, welche auf der Grundlage der experimentellen Ergebnisse über eine einfache analytische Beziehung abgeschätzt werden (A). Danach wird mit diesem Startmodell eine Finite-Elemente-Analyse des Versuches durchgeführt, die eine zu diesen Werkstoffparametern passende Kraft-Weg-Kurve errechnet, welche mit der aus dem Experiment bestimmten verglichen wird. Entsprechend den Abweichungen zwischen diesen beiden Kurven werden dann die Eingangsparameter in einer ersten Iteration korrigiert (B) und die FEA des Versuches erneut durchgeführt. Wenn nach n weiteren Iterationen eine Übereinstimmung zwischen dem Kraft-Weg-Diagramm des Versuches und der FEA festgestellt werden kann, so gelten die Parameter des Werkstoffmodells über die Simulation nach der FEM als bestimmt [12, 504, 505]. Obwohl es über iterative FEM-Simulationen des Experiments möglich ist, Werkstoffmodelle aus Experimenten mit komplexen Probekörpergeometrien exakt zu extrahieren, zeigte sich bei der praktischen Durchführung, dass die Anzahl der benötigten Iterationen in Abhängigkeit vom tatsächlichen Werkstoffverhalten sehr groß werden kann. Aus diesem Grund wurde die Methodik von Röllig [506] durch Einführung eines Formparameters verbessert. Die Idee des Formparameters besteht darin, dass die Geometrie des Probekörpers - im konkreten Fall Lotkontakte von flächenkontaktierten Bauelementeformen - durch eine bzw. mehrere Variablen charakterisiert werden kann, aus denen ein Korrekturfaktor für die Ableitung der Startwerte des Modells aus den Experimentalrohdaten bestimmt werden kann. Es zeigte sich, dass es bei Verwendung der Korrekturformel für die Bestimmung des Startmodells oft eine Iteration für die Werkstoffmodellbestimmung ausreicht, da diese Abschätzung in der Regel bereits sehr nah am finalen Modell liegt.
7.4.4.3
Probekörpergestaltung
Wie in 7.4.4.1 bereits dargestellt, gibt es keine allgemeingültigen bzw. systematisch aufführbaren Gestaltungsmerkmale von realen Mikroproben, da diese zum einen immer an eine konkrete wissenschaftlich-technische Problematik gebunden sind und auch nur dann verwendet werden, wenn triftige Gründe existieren, die die Abkehr von den klassischen idealen Probekörperformen rechtfertigt. Aus diesem Grund kann die Thematik der Probekörpergestaltung bei realen Mikroproben nur exemplarisch an einem konkreten Gegenstand aufgezeigt werden. Wegen ihrer bezüglich der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik besonderen technischen Relevanz und der daraus folgenden hohen Zahl von veröffentlichten Forschungsbeiträgen ist die Thematik der Bestimmung von Verformungseigenschaften an Lotkontakten von flächenkontaktierbaren Bauelementeformen besonders geeignet für die angestrebte Darstellung. Derartige Lotkontakte kommen in elektronischen Baugruppen an verschiedenen Stellen vor, z. B. an direkt montierten Halbleiterbauelementen, innerhalb und außerhalb gehäuster Halbleiterbauelemente
7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche
321
Deformationsverhalten Experiment
Fs h
Modellierung
Fs
m2
a
Abschätzung
m3
m1
s
s ε = -------------h⋅ 3
(A)
Fs ⋅ 3 σ = ---------------2 a (B)
Eingangsparameter m1,m2,m3
FEA
F
s
= =
F
s
Werkstoffparameter m1 = E, m3 = h 0
E: E-Modul Abb. 7.16 Nutzung von FEM-Simulationen zur Ermittlung von Werkstoffmodellen bei Verwendung von Probekörpern mit komplexen Geometrien und nicht einfach auswertbaren Beanspruchungszuständen aus [12]
(CSP, BGA), an Wafer-Level-Packages, in Multichipmodulen etc. Die Kontakte haben gewöhnlich eine axialsymmetrische Tonnenform mit Durchmessern im Bereich von 0.1 mm bis 1 mm und sind sehr oft in einer Matrix oder in mehreren Reihen angeordnet. Der grundsätzliche Aufbau eines entsprechenden Probekörpers besteht aus zwei Substraten, welche vis-à-via über eine bestimmte Anzahl von
322
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Kontakten zusammengefügt werden. Bezüglich der Frage, mit wie vielen Kontakten die beiden Substrate miteinander verbunden werden sollen, finden sich in den verschiedenen publizierten Untersuchungen sehr unterschiedliche Ansätze, beginnend bei 9 Kontakten in [27] über 16 bzw. 390 Kontakte in [9] und 68 Kontakte in [505] bis zu 1089 Kontakte in [11]. Grundsätzlich führt eine hohe Anzahl von Kontakten zu einer höheren Verformungskraft am gesamten Probekörperverbund und damit zur Vereinfachung der Kraftmessung, vor allem wenn Standardprüfmaschinen zum Einsatz kommen. Dies funktioniert aber nur theoretisch. Da es bei der Herstellung von mehreren Kontakten aus technologischen Gründen unmöglich ist, zwei identische Kontakte zu erzeugen [12, 507], wird sich die Gesamtkraft unterschiedlich auf die einzelnen Kontakte aufteilen, was zu einem verschiedenen Verformungszustand der einzelnen Kontakte führt, wobei das Mittel dieser Zustände nicht die Charakteristik eines einzelnen Kontaktes widerspiegelt. Daher besteht der ideale Probekörper aus nur einem Kontakt – eine praktisch jedoch nicht realisierbare Variante, da wenigstens 3 Kontakte benötigt werden, um 2 Substrate in definiert paralleler Anordnung miteinander zu verbinden. In [29] wird daher grundsätzlich ein Probekörperaufbau mit der minimalen Anzahl von 4 Kontakten vorgeschlagen. Diese minimale Kontaktanzahl verlangt zwar in der Regel eine besondere Präparation des Probekörpers, hat allerdings neben den aufgeführten Vorteilen den Vorzug, dass die durch die Kontakte in der Summe auf das Substrat aufgebrachte Reaktionskraft niedrig bleibt, wodurch die messtechnisch sehr schwer von den Kontaktdeformationen zu trennenden Deformationen des Substrates gering gehalten werden. Dies führt zu der Frage, aus welchem Material die Substrate bestehen sollen, um eine genaue Messung zu ermöglichen. Für den Bereich der Mikroverbindungstechnik stehen dabei folgende Standardsubstratwerkstoffe (vgl. 2.3.3.2) zu Verfügung, für die vielfältige Erfahrungen in der Strukturierung bestehen: organische Leiterplattenmaterialien, d. h. ein mit einem Harz umgossenes Glasfaservlies, Al2O3-Keramik und Silizium. Während die beiden letzten im angestrebten Versuchstemperaturbereich ein verhältnismäßig konstantes mechanisches Verhalten ausweisen, besteht für Leiterplattenmaterialien eine starke Temperaturabhängigkeit, bei der sie von einem steifen Verhalten bei niedrigen Versuchstemperaturen zu einem weit weniger steifen und darüber hinaus zeitabhängigen Verformungsverhalten bei hohen Versuchstemperaturen übergehen. Aus diesem Aspekt heraus musste von der Verwendung von Leiterplattenmaterialien als Probekörpersubstrat abgesehen werden. Diesem Argument steht jedoch gegenüber, dass der Hauptteil der in elektronischen Aufbauten vorkommenden Lotkontakte zumindest auf einer Seite mit einem organischen Leiterplattenmaterial verbunden sind. Gleichzeitig lassen die Standardtechnologien für die Prozessierung von Al2O3Keramik und Silizium nicht die Erzeugung vergleichbarer Verbindungsflächen zu. Ein Ausweg aus dieser Problematik wird in [508] dadurch erreicht, indem die Bearbeitungstechnologien für die Leiterplatte auf das Al2O3-Keramiksubstrat übertragen werden (vgl. 8.4.4.3). Der dritte wesentliche Aspekt der Probekörpergestaltung ist die Wahl der Kontaktform, die durch zwei gegensätzliche Argumente bestimmt ist. Auf der einen
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
tonnenförmig
zylindrisch
323
hyperbolisch
MX
MX
MN
MN
MX
MN
Dehnungen: niedrig
hoch
Abb. 7.17 Dehnungsverteilung in verschiedenen Kontaktgeometrien von Flip-Chip-Lotkontakten aus [505]
Seite entsprechen Kontakte mit tonnenförmiger Form dem Flip-Chip-Kontakt, der natürlichen Kontaktform, wie sie in elektronischen Aufbauten vorkommt. Auf der anderen Seite bieten hyperbolische Kontaktformen den Vorteil, dass sich die Deformationen im Kontakt auf die Kontaktmitte konzentrieren (Abb. 7.17). Hierdurch entsteht der Vorteil, dass der Einfluss der spröden intermetallischen Phasen zwischen Lot und Metallisierung auf das Gesamtverformungsverhalten minimiert werden kann, sodass die Messergebnisse tatsächlich das Verhalten des reinen Lotmaterials widerspiegeln und kein Verbundverhalten, welches durch die aus der härteren Grenzfläche auf das weichere Lot wirkenden Zwangkräfte verändert wird [505].
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 7.5.1 Prüfmaschinenkonzepte Analog zur Gestaltung von Probekörpern existieren auch beim Entwurf geeigneter Prüfmaschinen für den Mikrobereich sehr vielfältige Lösungen. Im Gegensatz zu den Probekörpern werden die Konzepte für viele Prüfmaschinen jedoch weniger aus der konkreten physikalisch-technischen Problematik bestimmt, sondern ergeben sich in der Regel aus allgemeinen Aspekten in der Forschung. Hierbei muss in Betracht gezogen werden, dass es sich bei Prüfmaschinen nicht wie bei Proben um einen auf einen speziell auf ein Experiment zugeschnittenen Gegenstand handelt, welcher bei der Durchführung eines Deformationsexperimentes zer-
324
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
stört wird und aus diesem Grund nach Beendigung des Experimentes in der Regel für eine weitere Verwendung unbrauchbar ist. Prüfmaschinen müssen mit einem vergleichsweise sehr hohen Aufwand errichtet werden, welcher durch die aus einem einzelnen Experiment erreichbaren Aussagen in der Regel nicht zu rechtfertigen ist. Aus diesem Grund wird die Konzeption von Prüfmaschinen sehr oft von der Forderung nach einer breiten Einsetzbarkeit bestimmt. Aus diesem ökonomischen Aspekt der Materialforschung hat sich eine Spezialisierung in Prüfmaschinenkonstrukteure bzw. -hersteller und Materialforscher, d. h. Prüfmaschinenanwender, ergeben, welche zusätzliche - von konkreten physikalisch-technischen Problemstellungen losgelöste Aspekte - in den Entwurfsprozess einbringt. Hersteller sind grundsätzlich bemüht, eine Prüfmaschine so auszulegen, dass bereits entwickelte Lösungen für Einzelkomponenten dafür eingesetzt werden und dass sie von einem breiten Anwenderspektrum verwendet werden kann. Auf der gegenüberliegenden Seite wollen Anwender eine kostengünstige Lösung erwerben, die gut auf ihre Forschungsaufgaben angepasst ist. Selbst wenn dieser Interessenkonflikt ausgeräumt ist - so räumen Erismann [437] und Kammrath [509] ein - entsteht beim Entwurf einer neuen Prüfmaschine auf der Grundlage von Pflichtenheften nicht notwendigerweise eine hervorragend an den Versuchzweck angepasste Lösung, da es durch die geistige Trennung von Konstruktion und Anwendung oft nicht gelingt, dass alle relevanten Details im Konstruktionsprozess berücksichtigt wurden. Gerade beim Entwurf von Prüfmaschinen für den Mikrobereich von traditionellen Herstellern stellten sich die aus der beschriebenen Problematik entstandenen Konzeptionsansätze oft als unglücklich heraus, da sich aus dem klassischen Vorgehen über die Aufstellung von Anforderungskatalogen eine unzureichende Ausrichtung auf die spezifischen Besonderheiten konkreter kleinvolumiger Untersuchungsgegenstände ergab [510-515]. In vielen Fällen wurde den aufgrund verschiedener Probenformen und -dimensionen bei Experimenten im Mikrobereich spezifischen Problemen, wie hohe Auflösung der Messapparaturen, Besonderheiten der Probenhandhabung, unzureichende Beobachtbarkeit des Experiments, gezielte Einstellung gewünschter Beanspruchungen etc., gegenüber den klassischen Anforderungen, wie Kraft- oder Temperaturbereich, zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Der Mangel an brauchbaren marktüblichen Lösungen führte wiederum zur Entwicklung spezieller Laboraufbauten, welche von den direkt beteiligten Forschergruppen errichtet wurden. Aufgrund der Vielzahl der zu erwartenden Schwierigkeiten wurde von vielen für die Konzeption der Prüfeinrichtung eine Strategie gewählt, welche nicht versucht, alle Probleme gleichzeitig zu berücksichtigen. Stattdessen wurden sehr oft wichtige Partikulärprobleme herausgegriffen und sehr tiefgründig überdacht, wodurch eine Reihe neuartiger Konzeptionen entstanden, welche später auch auf andere Probleme übertragbar waren. Für das Verständnis der Vor- und Nachteile bestimmter erarbeiteter Lösungen ist es wichtig, die entsprechenden Konzeptionsansätze zu berücksichtigen.
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
325
7.5.2 Kleinlastprüfmaschinen
7.5.2.1 Spezifische Eigenschaften Die Entwicklung von Kleinlastprüfmaschinen setzte schon lange vor dem Aufkommen von Fragestellungen zum veränderten Materialverhalten bei kleinstvolumigen Proben ein. Häufigster Ausgangspunkt für die Anfertigung solcher Apparaturen war die Notwendigkeit, Deformationsexperimente auf engstem Raum durchführen zu müssen, wie dies zum Beispiel erforderlich wurde, wenn die Deformation eines Festkörpers mit sehr hoher Auflösung über ein Elektronenmikroskop beobachtet werden sollte. In den verhältnismäßig engen Probenkammern früherer Elektronenmikroskope bestand lange Zeit die einzige Möglichkeit für einen Einbau im Austausch einer Spezialversuchseinrichtung gegen den Standardtisch. Die unter diesen Randbedingungen entwickelten Versuchseinrichtungen orientierten sich in ihrem Aufbaukonzept an dem von typischen Zugprüfmaschinen, wobei alle Elemente der Apparatur auf einen erheblich kleineren Maßstab herunterskaliert wurden, was wiederum zu einem begrenzten Lastbereich dieser Maschinen führte [437, 509, 516-518]. Bei der Erarbeitung von Prüfmaschinenkonzepten für den Mikrobereich griffen viele traditionelle Hersteller offensichtlich auf die Erfahrungen, welche zuvor mit den aus anderen Gesichtspunkten entwickelten Kleinlastprüfmaschinen gewonnen wurden, zurück, sodass im Großteil der marktüblichen Mikroprüfmaschinen die sehr traditionellen Kleinlastprüfmaschinenkonzepte umgesetzt wurden. Es gibt aber auch eine Reihe von speziellen Laboraufbauten, die im Prinzip dem Kleinlastprüfmaschinenkonzept folgen. Im Unterschied zu Universalprüfmaschinen im Normallastbereich sind Kleinlastprüfmaschinen sehr oft nicht vertikal, sondern horizontal ausgelegt. Dies ist möglich, da durch die kleinere Dimensionierung schwerkraftbedingte Querkräfte, welche wiederum zu Biegemomenten an Kraftsensoren und Probenhalterungen führen, sehr gering ausfallen und sich sehr einfach durch Lager abfangen lassen. Die horizontale Anordnung ermöglicht eine bessere Zugänglichkeit zur Probeneinspannzone, welche von Bedeutung ist, wenn z. B. sehr leicht deformierbare Proben eingespannt werden sollen. Gleichzeitig ergeben sich bessere Möglichkeiten der Abtastung durch optische Dehnungsmessverfahren. Die horizontale Anordnung ist allerdings nicht nur eine optionale Möglichkeit zur Verbesserung bestimmter versuchsmethodischer Belange. Sie macht sich sehr oft auch erforderlich, um bei kleineren Probenquerschnitten bzw. einem sehr nachgiebigen Deformationsverhalten verhältnismäßig kleine Reaktionskräfte genau zu erfassen. Hierzu muss beachtet werden, dass sich im Gegensatz zur Probe die Einspannköpfe nicht beliebig verkleinern lassen, da diese manuell bedienbar sein müssen. Dadurch könnte in einer vertikalen Anordnung die schwerkraftbedingte Grundbelastung des Kraftsensors höher sein als die zu ermittelnde maximale Verformungskraft der Probe. Bei einer horizontalen Anordnung wird durch das Gewicht der Einspannungen jedoch nur
326
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
eine Reibkraft in den Lagern verursacht, welche insgesamt in der Regel eine kleinere Messunsicherheit bezüglich der Kraftmessung verursacht.
7.5.2.2 MTS Tytron-250 Eine der ersten markterhältlichen Prüfsysteme für kleinvolumige Proben war der unter dem Handelsnamen Tytron erhältliche Mikro-Tester der Fa. MTS (Abb. 7.18). Er verfügt über eine horizontale Belastungsachse und ist für einen Lastbereich von bis zu 250 N ausgelegt. Der Antrieb besteht aus einem direkt gekoppelten Gleichstrom-Linearmotor, welcher einen Arbeitszylinder bewegt. Durch die Führung dieses Zylinders über ein Luftschichtlager wird eine nahezu reibungslose Bewegung erreicht, durch die es möglich ist, einen sehr großen Geschwindigkeitsbereich von 1 μm/h bis zu 0,5 m/s zu erreichen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Rahmens ist der Kraftsensor angebracht. Die Probeneinspannungen werden ungelagert an den Arbeitszylinder und den Kraftsensor angebracht. Aufgrund der horizontalen Ausrichtung muss letzterer alle durch das Eigengewicht von Probeneinspannung und Probe hervorgerufenen Biegemomente aufnehmen, was zur Einschränkung der Messgenauigkeit des Kraftsensors führen kann. Bei schwereren Probeneinspannungen kann daher nicht mehr von der vom Hersteller angegebene Auflösung von 1 mN für den 250 N Messbereich [519] ausgegangen werden. Vor allem wenn, wie in [520] vorgestellt, in Zusammenhang mit der Verwendung einer Temperaturkammer wassergekühlte Zwischenstücke verwendet werden, welche zum einen ein erhebliches Gewicht haben und zum anderen durch die Steifigkeit der Kühlmittelschläuche zu einer unbekannten Verfäl-
Computerschnittstelle
Antriebseinheit
Arbeitszylinder (luftgelagert)
Dehnungsmesser (Bändchen-DMS)
Kraftmessdose Einspannwinkel (ungelagert) (verstellbar)
LVDT Rahmen Probekörper
Verschiebungsmessbereich LVDT
Abb. 7.18 Prüfmaschine MTS Tytron (schematisch) [519, 520]
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
327
schung der Kraftmessung führen, die werkstoffabhängig besonders bei erhöhten Versuchstemperaturen ins Gewicht fällt. Da bei hohen homologen Materialtemperaturen in der Regel nur noch geringe Verformungskräfte auftreten, ist davon auszugehen, dass sich für die Kraftmessung ein ungünstiges Verhältnis von Stör- und Nutzsignal einstellt. Aber auch ohne Verwendung einer Temperaturkammer ist die schwerkraftbedingte Querkraftproblematik durch das lagerlose Anbringen von Probeneinspannungen am Kraftsensor als kritisch zu bewerten, da es dazu zwingt, auch bei geringen Messkräften Kraftmessdosen mit einem großen Nennwert zu verwenden, um den Querkrafteinfluss gering zu halten. Wie aus den in [521] veröffentlichten Messergebnissen hervorgeht, liegt die Rauschamplitude der 250 NDose bei ca. 1% des Messbereichs, was dem üblichen Rauschsignal solcher Instrumente entspricht. Bezogen auf einen 25 N Messbereich, wie er für Miniaturlotproben zu erwarten ist, ergibt sich dann jedoch allein durch das Rauschen des Kraftsignals ein Fehlerbetrag von 10%, was als sehr kritisch bezüglich einer genauen Materialdatenbestimmung zu bewerten ist. Die Genauigkeit der Dehnungsmessung hängt sehr stark von der gewählten Probengestaltung ab. In [521] wird hierzu ein externes Laserextensiometer zur Abtastung der Streckung von Miniaturzugproben verwendet, wobei die Montage der Gesamtanordnung, d. h. der MTS Tytron Prüfmaschine und des Laserextensiometers, auf einer optischen Bank erfolgt. Eine andere Art der Dehnungsmessung wird in [520] vorgestellt. Zur Scherwinkelmessung an einem Iosipescu-ähnlichen VKerben-Probekörper (vgl. 7.4.3) wird ein Miniaturextensiometer auf Dehnmessstreifenbasis verwendet. Durch die horizontale sehr offene Bauweise der MTS Tytron sind sehr vielfältige Methoden zur Dehnungserfassung einsetzbar. Die Schwierigkeit in der Bewertung des Prüfmaschinenkonzeptes der MTS Tytron ergibt sich aus der Tatsache, dass nur wenige Experimentatoren eine kritische Auseinandersetzung mit den Grenzen und Fehlern von werkstoffmechanischen Untersuchungen mit der MTS Tytron gesucht haben [520, 521]. Werden die Analysen aus diesen Berichten betrachtet, erscheint das umgesetzte Prüfmaschinenkonzept nicht notwendigerweise den hohen Anforderungen bei Messungen im Mikrobereich vollständig zu genügen. Betrachtet man die Ergebnisse zur E-ModulBestimmung an Miniaturzugproben (d = 1 mm, l = 7,5 mm) verschiedener naheutektischer SnAgCu-Legierungen, so ergeben sich sehr beachtliche Streuungen bei der E-Modul-Bestimmung, welche, wie aus den dargestellten Einzelversuchskurven hervorgeht, sehr klar auf die unzureichende Qualität der beiden Sensorsignale für Weg- und Kraftmessung zurückgeführt werden können [521]. Die Bandbreite sehr unterschiedlicher Ergebnisse, welche mit der MTS Tytron erzielt wurden, ist trotz vergleichbarer Untersuchungsobjekte nicht unerheblich [501, 520, 521]. Dies stützt die prüfmaschinenmethodische These (vgl. 7.5.1), dass das Konzept einer marktüblichen universell einsetzbaren Kleinlastmaschine für den Mikrobereich bestimmte Grenzen hat. Viele der Untersuchungen mit der MTS Tytron haben gezeigt, dass sich kleinvolumige Proben grundsätzlich charakterisieren lassen. Bei bestimmten Detailuntersuchungen, wie z. B. der E-Modul-Bestimmung, treten jedoch offensichtlich Ungenauigkeiten in einem Maß auf, die keine
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7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
exakte Bestimmung von Werkstoffparametern zulassen. Dies wirft die bereits in 7.5.1 angeschnittene Frage auf, ob die Zweiteilung zwischen Prüfmaschinenanwender und -hersteller dazu führt, dass es schwierig ist, bestimmte Schwachpunkte im Prüfmaschinenkonzept genau zu benennen und gezielt auszubessern. Dazu müsste ein bilaterales Verständnis für die versuchsmethodischen Bedürfnisse auf der einen und die Prinzipien des Prüfmaschinenkonzeptes auf der anderen Seite vorhanden sein. Gerade in diesem Punkt scheint die Stärke laboreigener Aufbauten zu liegen, ohne dass diese notwendigerweise über besser bzw. grundsätzlich andere Aufbaukonzepte verfügen.
7.5.2.3 Kleinlastzugmaschine im Laboraufbau Ausgangspunkt für die Konzeption der nachfolgend beschriebenen Kleinlastprüfmaschine waren Fragestellungen, die sich mit Untersuchungen an kleinstvolumigen Probekörpern nicht ausreichend beantworten ließen. Zu solchen Fragestellungen zählten z. B. die nach dem Verlauf der transienten Kriechverformung oder nach dem Relaxationsverhalten von Lotwerkstoffen. Deshalb sollte eine Versuchseinrichtung aufgebaut werden, welche es ermöglichte, sehr genaue Messungen an kleinen Lotzugproben durchführen zu können. Auf der Grundlage verschiedener Überlegungen zur Fertigung und Handhabbarkeit solcher Probekörper wurde eine Probeköperform mit einem rechteckigen Querschnitt von 3 mm x 4 mm und einer Länge der Verformungszone von 50 mm ... 120 mm angestrebt. Ausgehend von diesen Annahmen wurde der Lastbereich auf 500 N ausgelegt, wodurch für die angestrebte Probengeometrie nur eine maximale Prüfspannung von ca. 40 MPa erreicht werden kann. Von einer Erhöhung der Maximallast in den kN-Bereich wurde jedoch abgesehen, da zum einen diese Messungen sich auch sehr gut von kleineren Standardzugmaschinen durchführen lassen und zum anderen für Lasten deutlich oberhalb 500 N keine Antriebskonzepte zu Verfügung stehen, die die notwendigen feinen Verschiebungen zulassen. Abbildungen der Lotproben und der Kleinlastprüfmaschine befinden sich in Abb. 7.19. In der Frage des Antriebselementes wurde anstelle der sonst bei Kleinlastprüfmaschinen üblichen Gleichstrommotoren ein Schrittmotor gewählt. Ausschlaggebend war hierfür, dass es mit einem Gleichstrommotor sehr schwierig ist, beliebig langsame Bewegungen mit kleinen Verschiebungsinkrementen zu vollführen, wie sie z. B. für langsame Kriechversuche bzw. Relaxationsversuche notwendig sind. Alternativ bestünde auch die Möglichkeit der Verwendung eines Tauchspulenantriebes, wie er z. B. bei der Shimadzu MMT-100N [329] zum Einsatz kommt. Allerdings erhält man dadurch eine kraftgeregelte Maschine, die sich für bestimmte Versuchsarten (z. B. Zugversuch mit konstanter Geschwindigkeit) gegenüber dem weggesteuerten motorisierten Antrieb nachteilig verhält. Zur Realisierung des Antriebs wird ein handelsüblicher Verschiebetisch der Fa. OWIS mit einem 2-Phasen Schrittmotor von Oriental Motors mit einem Schrittwinkel von 1,8° verwendet, welcher direkt mit einer M12X2,5 Kugelumlaufspindel
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
a)
329
b)
Abb. 7.19 a) Doppelschulter-Lotproben, b) Kleinlastmaschine im Laboraufbau (Detailvergrößerung von Einspannung und Probenkammer)
gekoppelt ist. Aus dieser Transformation der Dreh- in eine Linearbewegung ergibt sich ein Verschiebeinkrement von 12,5 μm im Vollschritt. Feinere Verschiebeinkremente ließen sich zwar durch Verwendung eines anderen Motors bzw. eines feineren Gewindes erzielen, allerdings nimmt dann auch die maximale Geschwindigkeit der Traverse ab, da Schrittmotoren gegenüber Gleichstrommotoren sehr viel niedrigere Maximaldrehzahlen aufweisen. Zur Erzielung feinerer Verschiebungsinkremente wurde deshalb eine Mikroschrittsteuerung verwendet, welche den Vollschritt in Abhängigkeit von der Slip-Stick-Problematik durch den Haftreibungs-Gleitreibungs-Übergang auf ein Verschiebungsinkrement von 50 nm (= 256 Mikroschritte) herunterteilen kann. Die Belastungsachse wurde horizontal gewählt, um damit einen einfachen Probenzugang sowie eine einfache Adaption optischer Messverfahren zur Dehnungsmessung zu ermöglichen. Die Kraftmessdose ist auf der gegenüberliegenden Seite des Verschiebetisches am Rahmen angebracht. Hierdurch konnte auf die bauformbedingte Verwendung eines Winkels verzichtet werden, wodurch eine größere Steifigkeit der Reaktionsstruktur, d. h. des Rahmens, erreicht werden konnte. Vom Verschiebetisch und vom Kraftsensor führen zwei Stangen aus V2A-Stahl (d =12 mm, l = 300 mm) zu den Probeneinspannungen. Beide Wellen sind in Belastungsrichtung kugelgelagert geführt, wodurch sie das hohe Gewicht der Einspannblöcke aufnehmen können. Durch die schlechte Wärmeleitfähigkeit des V2A-Stahls sowie die relativ große Länge der Wellen soll eine Isolation zwischen den beheizbaren Probeneinspannungen und der Kraftmessdose erreicht werden, um unabhängig von der Versuchstemperatur eine genaue Kraftmessung durchführen zu können. Die Thermokammer besteht aus einer zweiwandigen Konstruktion, welche zur mechanischen Befestigung eine Außenwandung aus Aluminium und zur thermischen Isolation eine Innenwandung aus Teflon besitzt. Die Wellen führen über eine Bohrung durch die Doppelwandung zur Einspannvorrichtung. Für diese kommen
330
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
verschiedene Realisierungen in Frage. Zum einfachen Klemmen von Zugproben wurden Keilbacken entwickelt, welche Innenkeile aus Cu besitzen, die durch thermopaarrückgekoppelte Dünnschichtheizer auf eine konstante Temperatur gebracht werden können. Bei gut wärmeleitenden Proben, wie z. B. Lotproben, kann dadurch eine Temperaurstabilität von +/- 0,1 K erreicht werden. Zur Dehnungsmessung wird ein LVDT eingesetzt, da dieser messprinzipbedingt ausreichend hohe Auflösungen erreicht (70 nm) und relativ temperaturunempfindlich ist. Um den LVDT-Sensor auf Lotproben zu applizieren, wurde ein kugelgelagerter Schlitten entwickelt, welcher ein geringes Gewicht aufweist, um die Lotproben auch bei hohen Temperaturen nicht zu verformen (siehe Abb. 7.19 a). Der Laboraufbau wurde bisher an zwei Arten von Probekörpern getestet und verbessert. Zum einen an verschiedenen SnAg- und SnAgCu -Legierungen mit der eingangs beschriebenen Probengeometrie und zum anderen an Cu-Folien mit 0,15 mm ... 0,3 mm Dicke und 10 mm Breite. Durch diese Versuche zeigte sich, dass es mit der beschriebenen Vorrichtung möglich ist, in einem Geschwindigkeitsbereich zwischen beliebig langsamen Traversebewegungen bis zu 10 mm/s zu arbeiten. Die Messkräfte für Zugversuche können mit einer Genauigkeit von 0,1 N bei Kraftanstiegsgeschwindigkeiten von 10 N/s eingestellt werden. Bei Erreichen der Versuchskraft ergibt sich aufgrund der begrenzten Steifheit des Rahmens ein leichtes Überschwingen, dessen Amplitude allerdings 5% der Versuchskraftwertes nicht übersteigt. Bei Relaxationsversuchen kann durch Nachregeln der Rahmenverformungen bei abfallender Belastung eine Fixed-Grips-Bedingung mit einer Genauigkeit von 5 μm erreicht werden, was bei der beschriebenen Probengeometrie einer Dehnung von 0,01 % entspricht. Die eingangs erwähnten versuchsmethodischen Ziele des Prüfmaschinenaufbaus konnten mit dem beschriebenen Konzept nach mehreren iterativen Verbesserungen befriedigend erreicht werden. Es zeigte sich, dass es mit den Experimentalrohdaten aus typischen Kriechmessungen an den beschriebenen SnAg-/SnAgCu· Lotproben möglich ist, ein ε - ε -Diagramm des Versuches ab einer Dehnung von ε = 0,0015 zu erzeugen, welches in seiner Qualität besser ist als vergleichbare publizierte Diagramme [327, 620], welche durch Messungen an Standardprüfmaschinen gewonnen wurden, sodass aus wissenschaftlicher Sicht wichtige apparative Voraussetzungen zur exakten Bestimmung des transienten Kriechverhaltens von Lotlegierungen vorhanden sind. Auch bei Relaxationsversuchen an den beschriebenen Proben ergaben sich plausible Kurvenformen im σ - t -Diagramm bis zu einer Spannungsabfallgeschwindigkeit von ∂σ ⁄ ∂t ≈ 0,1 MPa ⁄ s , welche aufgrund des Kraftsensorrauschens die untere Grenze der Messung darstellt. Bei Langzeitmessungen stellte sich allerdings die horizontale Auslegung der Belastungsachse als problematisch gegenüber Tagestemperaturschwankungen heraus, sodass eine Klimatisierung des Versuchsraums erforderlich ist. Dafür konnte eine sehr gute Temperaturhomogenität innerhalb der Temperaturkammer erreicht werden, was sich darin zeigt, dass die Lotproben auch bei Hochtemperaturversuchen mittig reißen, was bei asymmetrischen Temperaturverteilungen entlang der Probenlänge nicht der Fall wäre.
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
331
7.5.2.4 Kleinlastrahmen im Laboraufbau Obwohl sich mit der unter 7.5.2.3 beschriebenen Kleinlastprüfmaschine prinzipiell alle Versuche durchführen lassen, ist für die Durchführung langsamer Kriechexperimente die Nutzung eines passiven Lastrahmens von Vorteil. Da eine solche Vorrichtung über keine aktive Regelung verfügt, kann es auch bei Langzeitexperimenten von mehreren Monaten nicht zu kurzzeitigen Änderungen der Belastungsbedingungen, z. B. durch kurzzeitige Schwankungen in der Spannungsversorgung oder durch andere äußere Störungen, kommen. Ein weiterer Vorteil besteht in dem sehr konstanten Aufbringen sehr kleiner Lasten, da diese bei einer aktiven Maschine kleinen Schwankungen durch permanentes Nachregeln unterworfen sind. Ausgangspunkt für die Konzeption der nachfolgend beschriebenen Lastrahmen waren die gleichen Lotzugproben wie für die Kleinlastzugmaschine mit einem rechteckigen Querschnitt von 3 mm x 4 mm und einer Länge der Verformungszone von 50 mm ... 120 mm. Die Geometrie der Lotprobe bestimmt sehr wesentlich die Auslegung des Lastkorbs. Dies ist insofern kritisch, als dass es zum Erzielen höherer Versuchsspannungen notwendig ist, sehr hohe Gewichte anzuhängen. Daraus ergeben sich zum einen sicherheitsrelevante Aspekte, z. B. bezüglich des manuellen Einlegens der Gewichte, und zum anderen prüfmaschinenkonzeptionelle Aspekte, z. B in der Unterbindung der Schwingungsneigung durch die beim Auflegen der Gewichte auftretenden Querkräfte. Für die angestrebte Probengeometrie wurde ein Lastkorb konzipiert, welcher über 4 Linearlager entlang von Gleitschienen geführt wird. Die Lager ermöglichen eine verkippungsfreie translatorische Bewegung des Lastkorbes. Wie die Wegsignale der oberhalb des Lastkorbes angebrachten LVDT-Wegaufnehmer zeigten, ergeben sich dadurch beim manuellen Einlegen der Gewichte keine signifikanten Tangentialkomponenten gegenüber der einachsigen Bewegung des Lastkorbes. Hierdurch wird weiterhin eine gleichmäßige Bewegung des Lastschlittens gewährleistet und einen Kriechversuch störende Einflüsse, wie z. B. ein Stick-Slip-Verhalten des Lastkorbes, werden weitestgehend ausgeschlossen. Die Thermokammer besteht aus einer einwandigen Teflonisolation, welche an der Außenseite durch Aluminiumstreben gestützt wird. Zwei Wellen - eine vom Lastkorb und eine vom oberen Querhaupt kommend - führen über eine Bohrung durch die Wandung zur Einspannvorrichtung. Für diese existieren verschiedene Ausführungen. Zugproben werden durch Aluminiumschraubklemmen eingespannt, auf welchen sich thermopaarrückgekoppelte Dünnschichtheizer befinden. Dadurch lässt sich an gut wärmeleitenden Proben, wie z. B. Lotproben, eine Temperaturstabilität von +/- 0,1 K erreichen. Durch die vertikale Anordnung der Probe in der Kammer entstehen allerdings Temperaturunterschiede zwischen Ober- und Unterseite, welche durch eine asymmetrische Temperierung ausgeglichen werden müssen. Eine Verwendung eines Umluftlüfters kam wegen der damit verbundenen Vibrationen, welche das hochauflösende Wegsignal verfälschen würden, nicht in Frage.
332
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Abb. 7.20 Kleinlastrahmen
Die Streckung der Probe wird durch einen außerhalb der Temperaturkammer angebrachten LVDT-Wegsensor aufgenommen, welcher zwischen der Oberseite des Lastkorbes und dem Maschinenrahmen befestigt ist. Prinzipiell lässt sich die Probendehnung auch innerhalb der Temperaturkammer mit dem unter 7.5.2.3 beschriebenen, auf der Probe montierbaren Führungsschlitten-LVDT-Wegsensor bestimmen. Zur Dehnungsmessung wurden zwei verschiedene LVDT-Sensoren –6 mit Messbereichen und Auflösungen von 1 mm/140 nm ( = 2,8 ⋅ 10 Dehnungs–6 auflösung an 50 mm langer Probe) sowie 5 mm/1,14μm ( = 9,7 ⋅ 10 Dehnungsauflösung an 117 mm langer Probe) verwendet. Aufgrund des außerhalb der Probe angebrachten LVDT-Wegsensors wurde ein Lastkorb mit hoher Verformungsstabilität bis zu einem Zuladungsgewicht von 17 kg konzipiert, um Fehlmessungen durch Lastkorbverformungen auszuschließen. Hierdurch ergab sich ein Grundgewicht von 5,5 kg (erste Version mit 2 Linearlagern) bzw. 7 kg (zweite Version mit 4 Linearlagern), wobei in letzterer Version ein Versuchsspannungsbereich für die beschriebene Probengeometrie von 5,7 MPa ... 19,6 MPa erreicht wurde. Aufgrund dieser Einschränkungen im Versuchsspannungsbereich lassen sich keine Messungen mit beliebig niedrigen Versuchsspannungen durchführen. Dieser versuchsmethodische Nachteil der Apparatur entsteht durch das einfache horizontale Aufbaukonzept. Bei einer horizontalen Ausrichtung der Probenbelastungsachse unter Verwendung von Umlenkrollen zur Kopplung mit den weiterhin in Richtung der Gravitationsachse ausgerichteten Lastgewichten ließe sich diese Problematik weitestgehend umgehen. Eine derartige Anordnung der Belastungsachse, wie sie auch beim Aufbau der in 7.5.2.3 beschriebenen Kleinlastzugma-
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
333
schine verwendet wird, würde darüber hinaus auch die Probleme mit der ungleichen Temperaturverteilung in der vertikal angeordneten Temperaturkammer lösen. Insgesamt zeigt sich, dass durch die werkstoffphysikalischen Besonderheiten von Weichloten gegenüber anderen Legierungen eine horizontale Ausrichtung der Belastungsachse wesentliche versuchsmethodische Vorteile gegenüber der in der Regel verwendeten vertikalen Ausrichtung bezüglich der Wahl der Versuchsbedingungen und der Genauigkeit der Messung aufweist.
7.5.3 Prüfmaschinen für Scherversuche an kleinvolumigen Kontakten
7.5.3.1 Versuchsmethodischer Hintergrund Lotkontakte haben in elektronischen Aufbauten neben ihrer elektrischen Funktion in der Regel auch mechanische Funktionen zu erfüllen. Aufgrund des technologiebedingten niedrigen Schmelzpunktes der für Lotwerkstoffe der Elektronik üblicherweise verwendeten Sn-Legierungen stellen Lötverbindungen aus dem mechanisch-strukturellen Blickpunkt einen erheblichen Schwachpunkt in elektronischen Aufbauten dar (vgl. 2.4.3). Aus diesem Grund existieren - vergleichbar zu Hochleistungsstählen im Maschinenbau - zahlreiche Bemühungen, die Lebensdauer thermisch-mechanisch beanspruchter Lotverbindungen exakt vorauszusagen, wobei der Zweifel an der Übertragbarkeit der an homogenen makroskopischen Probekörpern gewonnenen Werkstoffparameter auf den Mikrobereich zu zahlreichen Bemühungen geführt hat, geeignete Messmethoden zu finden, mit denen es gelingt, die mechanischen Eigenschaften dieser kleinen mikroskopischen Strukturen genau zu bestimmen. Da in einem Anwendungstemperaturbereich von -40 °C ... +125 °C homologe Temperaturen größer 0,4 Ts (Ts = Schmelzpunkt) immer überschritten werden, ist die Erfassung des geschwindigkeitsabhängigen plastischen Verformungsverhaltens (Kriechen) ein weiterer wichtiger Aspekt der Untersuchung. Bezogen auf ihre schädigungsmechanischen Eigenschaften ist in Lotkontakten in der Regel ein stetiges zyklisches Risswachstum zu beobachten. Aufgrund ihrer relativ hohen Beanspruchungen pro Zyklus ermüden Lotkontakte üblicherweise im niederzyklischen Bereich. Aufgrund der aufgeführten Spezifika besteht die Grundproblematik beim Entwurf eines Versuches zur experimentellen Ermittlung des Konstitutiv- und Schädigungsverhaltens von Weichlotkontakten darin, dass zum einen die im Anwendungsfall vorzufindenden material-, bauteil- und betriebsfalltypischen Randbedingungen (Gefüge, Geometrie, Art und Höhe der Belastung etc.) im Experiment nachgebildet werden sollen, aber zum anderen zur Erzielung genauer und aussagekräftiger Messwerte bestimmte Idealisierungen gegenüber den realen Bedingungen vorgenommen werden müssen. Die ersten Versuche zur Erfassung des werkstoff- und bruchmechanischen Verhaltens von Mikrolotkontakten wurden
334
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
von Mei et al. [44], Subrahmanyan [10] und Nir et al. [9] Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre durchgeführt. Alle drei bevorzugten einen Scherversuch, da dieser zum einen die Belastungsverhältnisse am Lotkontakt am besten nachbildete und zum anderen dadurch die Möglichkeit für zyklische Versuche gegeben war. Während die Untersuchungen von Mei et al. [44] an einer im Vergleich zum Untersuchungsobjekt relativ großen Versuchseinrichtung durchgeführt wurden, machte Subrahmanyan [10] erste Anstrengungen, die Größe der Versuchseinrichtung deutlich zu verkleinern. Kleine Versuchseinrichtungen sind unanfälliger gegen Vibrationen und tragen durch die kleineren Ausdehnungen bei Temperaturschwankungen geringere Fehler in die Messungen ein. Der Versuchsaufbau von Nir et. al. [9] wies als erster ein Aktuatorsystem (antiparalleler Spulenantrieb) ohne Umkehrspiel auf. Die Probe wurde dabei über ein Epoxidharz in den Versuchsaufbau eingeklebt, um eine geringe Belastung während des Einspannens zu gewährleisten.
7.5.3.2 Deformationseinrichtung für kleinstvolumige Flip-Chip-Kontakte Ausgehend von diesen vorhandenen Ideen [9, 10, 44] zur Realisierung von mechanischen Versuchen an Mikrolotkontakten, wurden ein neuer Probekörperaufbau und eine Versuchseinrichtung (Abb. 7.21) entworfen [12, 29, 441], welche die noch vorhandenen Schwächen der bestehenden Aufbauten beseitigen sollten. Ziel war dabei die Messung des E-Moduls an Mikrolotkontakten, da er ein Schlüsselparameter für den Nachweis der Vergleichbarkeit zu Messungen am Bulkwerkstoff ist. Da der E-Modul nur vom Atomgitter und von den Atombindungskräften abhängig ist, existieren für die weit über atomaren Größenverhältnissen liegenden Mikrolotkontakte keine Größeneffekte, d. h., für Bulkwerkstoff und Mikrolotkontakt muss sich derselbe E-Modul ergeben, sonst liefert die Versuchseinrichtung keine vergleichbaren Ergebnisse. Im Bereich mikroskopisch kleiner Probekörper ergeben sich aus diesem Anspruch hohe Anforderungen an die Verschiebungsmessung sowie an die Reproduzierbarkeit der Geometrie der Probekörper. Die letztere Forderung ergibt sich aus der Problematik der Einspannung der Probekörper. Diese erfolgt aus Gründen der Fertigbarkeit am besten über einen Zwischenträger, welcher für die Elektronik typische Strukturen besitzt. Für die geplanten Untersuchungen wurden zwei identische Siliziumchips (3,3mm X 3,3mm ... 4 mm X 4 mm) gewählt, welche durch 4 Flip-Chip-Kontakte miteinander verbunden wurden (Abb. 8.2). Die Flip-ChipKontakte besitzen eine Grundfläche von 100μm X 100μm bzw. 200μm X 200μm und eine Höhe von ca. 125μm bzw. 175μm. Die Form der Kontakte wurde hyperbolisch gewählt, damit sich der Hauptteil der Verformung im Zentrum des Kontaktes und nicht an der Grenzfläche zum Silizium konzentriert [12], wodurch es möglich ist, das Verformungsverhalten des Lotmaterials anstelle des der Grenzfläche aufzunehmen. Das Ziel bei der Konzeption des Versuchsaufbaus (Abb. 7.21) bestand darin, eine präzise steuerbare Scherung des beschriebenen Flip-Chip-Probekörpers zu
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
335
erreichen, indem die beiden Siliziumchips so gegeneinander bewegt werden, dass keine außerhalb dieser Scherrichtung wirkenden Querkräfte auftreten. Um dies zu erreichen, fand eine symmetrische Anordnung zweier Probekörper gegenüber der Belastungsachse Anwendung, wie sie in [9] vorgeschlagen wurde. Im Laufe der Experimente zeigte sich, dass durch die Verwendung einer zentralen Probenhalterung keine Nachteile gegenüber der symmetrischen Doppelanordnung auftraten, da die durch den Probekörper hervorgerufenen Kraftwirkungen gegenüber der für die
Laserkopf 2
90°-Prisma Justiereinheit FC-Probe 1
Laserkopf 1
FC-Probe 2 Laserstrahl Kraftsensor
Justiereinheit Rahmen
Einspannrahmen
Lichtleitkabel
a)
Justiereinheit Verschiebetisch
Fuß Piezotranslator
b)
Abb. 7.21 Versuchsaufbau: a) schematisch, b) Frontansicht [12]
Lichtleitkabel
336
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Probekörper 1
Probekörper 2
F
Probekörper
Querstab
F
Abb. 7.22 Probekörperhalterungen für symmetrische und zentrale Einspannung der Flip-ChipProben in die Deformationsprüfvorrichtung [12]
manuelle Handhabung vorgenommenen Dimensionierung der Versuchsanordnung verhältnismäßig klein waren. In der Zentralvariante der Probekörperanordnung reduziert sich die Anzahl der untersuchten Kontakte von 8 auf 4 (Abb. 7.22). Als Stellantrieb wurde ein piezoelektrischer Stapeltranslator der Fa. Physik Instrumente verwandt. Mit ihm ist es möglich, Verschiebungen im Subnanometerbereich mit Verschiebungsgeschwindigkeiten bis zu (v > 0,1 mm/s) durchzuführen. Die Nachteile piezoelektrischer Antriebe, Hysterese und Kriechen, werden durch einen geregelten Betrieb des Piezotranslators ausgeglichen. Dabei ist ein an der Außenseite des Piezoaktors angebrachter Dehnungssensor mit einer Regelelektronik verbunden, welche die Dehnung des Piezoaktors linearisiert und Kriechkontraktionen ausgleicht. Die Dehnungsrichtung des Piezotranslators liegt auf der Gravitationsachse. Dadurch sind keine Führungen notwendig, um das Eigengewicht des Piezokörpers auszugleichen. Die Stellbewegung erfolgt reibungsfrei aus einem Festkörper heraus und ermöglicht so hohe Auflösungen der Kraftmessung. Für die hochauflösende Kraftmessung wurde ein empfindlicher Siliziumbalkenkraftsensor, der sich zwischen Piezo und Probe befindet, ausgewählt. Der kleinste Kraftsensor hat einen Messbereich von 500 mN und einen Nennmessweg von 1mm/N, welcher die Steifigkeit der Apparatur ungünstig beeinflusst. Um Querkräfte zu minimieren, wurde der Aufbau kompakt gehalten. Diese kompakte Aufbauweise minimiert auch das Problem von temperaturbedingten Dehnungen in den belastungsrelevanten Komponenten der Vorrichtung.
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
337
Das größte Problem für den konzipierten Versuchsaufbau stellte jedoch die Realisierung einer hochauflösenden Verschiebungsmessung dar. Um den Anforderungen an die Auflösung zu genügen, wurde eine optische Lösung über ein Laserinterferometer favorisiert. Ob die grundlegend sehr hohen Auflösungen, welche mit einem Laserinterferometer erreicht werden können, tatsächlich in einem praktischen Versuchsaufbau umgesetzt werden können, hängt im Wesentlichen davon ab, inwiefern es gelingt, Fehler der Wegmessung, welche durch Wärmedehnungen im Strahlengang des Interferometers entstehen, effektiv zu unterdrücken. Dazu wurde im Versuchsaufbau eine symmetrische Anordnung eines Zweistrahlinterfermeters genutzt, welche alle thermischen Ausdehnungen kompensieren soll (Abb. 7.23, Abb. 7.24). Der Hintergrund dieses Konzeptionsansatzes resultiert aus
Lichtleitkabel
90°
Laserkopf 1
me
ter
a
Si-Chip
ero
Si-Chip
Probekörper
erf
Laserkopf 2 Referenzstrahl
Messstrahl Int
Lichtleitkabel
Prisma
a
r
ete
rom
fe ter
In
Abb. 7.23 Symmetrische Anordnung des Laserinterferometers zur Kompensation von thermischen Fehldehnungen des Rahmens [12]
dem unzureichenden Regelverhalten von Temperiereinrichtungen und der Verwendung bestimmter Konstruktionsmaterialien. Thermostate sind zwar im eingeschwungenen Zustand in der Lage, eine Temperierung mit einem Regelintervall von einigen mK zu gewährleisten. Dies gilt allerdings nur für günstige Umgebungsbedingungen. Bei härteren Anforderungen, d. h. hohen Unterschieden zwischen einer konstant zu haltenden Innen- und einer stark schwankenden Umgebungstemperatur, oszillieren Thermostate mit Amplituden von ca. 0,1 K. Derartige Temperaturschwankungen würden sich gravierend auf die Genauigkeit der Messapparatur auswirken, d. h., ein Konzeptionsansatz, der eine hohe Temperaturkonstanz zur Bedingung hat, ist nicht brauchbar. Auch die Idee der Verwendung von Konstruktionswerkstoffen mit geringen thermischen Ausdehnungskoeffizienten [9], wie z.B. Invar oder Quarzglas, liefert keinen Ausweg aus der Temperaturausdehnungsproblematik, da unverzichtbare feinmechanische Konstruktionskomponenten wie Verschiebetische in der Regel aus Aluminium (αAl = 23ppm/K), in Sonderfällen aus Stahl (αStahl = 11ppm/K) gefertigt sind. Bedenkt man, dass die Ausdehnung einer um 16 mm herausgedrehten Aluminiumspindel eines Verschiebetisches bei einer Temperaturerhöhung von 24 mK bereits das für die Messung des E-Moduls notwendige Genauigkeitsintervall der Wegmessung von 8 nm [12]
338
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
überschreitet, wird klar, dass das Konzept der Thermostatierung unzureichend für den geplanten Versuchsaufbau ist. Daher wurde zur Lösung dieser Problematik ein Konzept gewählt, welches auf der Konstanz eines Temperaturfeldes basiert. Diese scheint wesentlich einfacher realisierbar zu sein, da für den Fall günstiger Umgebungsbedingungen (d.h. geringe Unterschiede zwischen Kammer- und Umgebungstemperatur) das durch die thermostatierte Flüssigkeit aufgebaute Temperaturfeld einen geringen Gradienten aufweist (z.B. Tmin = 29,995°C, Tmax = 30,005°C) und dadurch auch eine starke Oszillation des Feldes zu nur geringen Temperaturdehnungen führt. Im Fall ungünstiger Umgebungsbedingungen (d. h. große Unterschiede zwischen Kammer- und Umgebungstemperatur) hat der höhere Temperaturgradient des sich aufbauenden Feldes (z.B. Tmin = 99,95 K, Tmax = 100,05°C) insofern geringe Auswirkungen auf den Verlauf der Abkühlung, da auch der Unterschied zwischen Innen- und Umgebungstemperatur hoch ist und es damit nur zu einer geringen Oszillation des Feldes kommt. Im praktischen Versuchsaufbau kam ein Laserinterferometer der Fa. Polytec mit der Typenbezeichnung OVF 502 zum Einsatz. In ihm wird ein HeNe-Gaslaser mit einer Wellenlänge von 633 nm verwandt. Die beiden miteinander interferierenden Strahlen werden über ein Glasfaserkabel aus dem Lasermodul zu einem Strahlteiler geleitet und dort auf zwei Glasfaserkabel aufgeteilt, an deren Enden sich Linsen befinden, um den Strahl auf das Objekt zu fokussieren. In dem in einer symmetrischen Form erfolgten Aufbau (Abb. 7.23, Abb. 7.24) sind die beiden Enden, an denen die Laserstrahlen aus den Glasfaserkabeln austreten, in gleichem Abstand von einem Prisma auf Positionierungsmanipulatoren montiert, welche über jeweils 2 Freiheitsgrade der Translation und Rotation verfügen. Das Prisma dient dazu, die beiden Laserstrahlen in einem Abstand von ca. 500mm parallel auszurichten, sodass sie die Seitenkantenflächen der beiden Siliziumchips des Probekörpers mittig abtasten. Das Prisma ist in einer Rotations- und einer Transversionsachse manipulierbar. Hierdurch können Fehlwinkel der Seitenkanten der Siliziumchips, welche beim Sägen entstehen, ausgeglichen und der Abstand der beiden Strahlen zueinander eingestellt werden. Die Probe ist in einer Transversionsachse verschiebbar, sodass der Abstand zwischen Probe und Prisma so klein wie möglich gehalten werden kann, da durch die Fokussierung der Laserstrahlen die Lichtfleckgröße an den Prismenkatheten mit größerem Abstand wächst, wodurch nicht mehr der gesamte Strahl reflektiert werden würde. Durch die Abtastung der Seitenkanten der Siliziumchips des Probekörpers wird zwar die Frage nach der Steifigkeit der Einspannung für die Genauigkeit der Wegmessung unerheblich, auf der anderen Seite gibt jedoch diese Realisierungsvariante der Wegmessung eine wichtige Randbedingung für die Einspannung vor. Diese darf die oberen Seitenkanten der Siliziumchips des Probekörpers nicht verdecken. Zur Temperierung ist der gesamte Versuchsaufbau in eine doppelwandige Kammer, welche von einer thermostatierten Flüssigkeit durchströmt wird, eingelassen, wodurch ein konstantes Temperaturfeld um die Apparatur aufgebaut werden kann. Diese mittelbare Temperierung der Apparatur über eine bewegte Flüssigkeit soll Temperaturfeldverschiebungen innerhalb der Kammer gering halten. Bei direkten
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
339
Temperierungen, wie z. B. dem Beheizen des Kammermantels oder einer Konvektionsheizung innerhalb der Kammer, würden sich alle Regelvorgänge unmittelbar auswirken und damit stärkere Oszillationen des Temperaturfeldes provozieren. Durch die großflächige Temperierung aller Mess- und Steuerinstrumente innerhalb der Temperaturkammer des Versuchsaufbaus ergibt sich jedoch eine Einschränkung der Versuchstemperaturen auf einen Bereich von T = 5°C ... 50°C [12].
a)
b)
Abb. 7.24 Versuchsaufbau in der Ansicht von a) oben und b) von der Seite
340
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Aufgrund der Empfindlichkeit des Probekörpers besteht die Forderung nach einer belastungsarmen Einspannung. Beide Forderungen wurden durch die Verwendung einer stoffschlüssigen Einspannung mit Epoxidharz erfüllt. Hierbei wird die Eigenschaft des Harzes ausgenutzt, während des Klebeprozesses zuerst einen sehr niederviskosen Zustand einzunehmen und dann zu einer sehr spröden Verbindung auszuhärten. Durch die Kapillarwirkung füllt das Epoxidharz in seiner niederviskosen Phase den gesamten Spalt zwischen einer Chiprückseite des Probekörpers und einer Kontaktfläche eines Einspannbolzens, ohne dabei signifikante Kräfte auf den Probekörper auszuüben. Das Fehlen einer Kapillarwirkung an den Seitenkanten des Siliziumchips verhindert, dass diese vom Harz benetzt werden. Legt man für das Epoxidharz im ausgehärteten Zustand einen E-Modul von EEpoxy = 10-2 ESnAg3.5 zugrunde, so wird klar, dass durch diese Art der Einspannung eine hohe Steifigkeit gewährleistet wird, was für die Genauigkeit der Wegstellung von erheblicher Bedeutung ist.
7.5.3.3 Deformationseinrichtung für kleinvolumige Lotkontakte Mit der in 7.5.3.2 beschriebenen Vorrichtung ist es gelungen, mit einer zu Verformungsversuchen an Bulk-Probekörpern in Standardprüfmaschinen vergleichbaren Genauigkeit Deformationsexperimente an kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten durchzuführen, um somit exakte Konstitutivmodelle für das Lotmaterial in – 12 3 diesen Volumina ( V ≈ 1 ⋅ 10 m ) bestimmen zu können. Der hohen Genauigkeit dieser Versuchseinrichtung steht jedoch prinzipbedingt der Nachteil eines begrenzten Temperaturbereiches (5 °C ... 50 °C) gegenüber, welcher zu gewissen Einschränkungen bei der wissenschaftlichen Interpretation von Versuchsergebnissen führte. Deshalb bestand ein Ziel der Weiterentwicklung des in 7.5.3.2 vorgestellten Prüfmaschinenkonzeptes in der Erweiterung des Temperaturbereichs der vorhandenen Versuchseinrichtung. Zunächst wurden zwei Versuche unternommen, eine Temperaturkammer in den vorhandenen Versuchsaufbau einzupassen. Dabei zeigte sich, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, auf sehr begrenztem Raum eine entsprechende thermische Isolierung mit einer mechanisch sehr steifen Kopplung zu realisieren. Aus diesen beiden Versuchen wurde jedoch auch deutlich, dass es einen konzeptionellen Fehler für diesen Aufbau gibt. Die hohe Steifigkeit der bisherigen Apparatur führt bei Inhomogenitäten der Temperaturverteilung, die beim Aufheizvorgang in der Apparatur entstehen, zu Dehnungen, die eine Zerstörung der Proben vor Versuchsbeginn bewirken. Aus diesem Grund wurde eine grundlegende Neukonzeption des Aufbaus vorgesehen, welche einen sehr weichen Kraftsensor verwendet, um das Problem der temporären Dehnungen während der Aufheizphase zu umgehen. Der Sensorbereich des Kraftsensors besteht aus vier Festkörpergelenken, deren Biegesteifigkeit durch ihre geometrische Auslegung bestimmt wird. Eine gezielte Einstellung einer bestimmten Sensorsteifigkeit fand durch eine Dimensionierung der Sensorgeometrie über FEM-Rechnungen statt, bei
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
341
der gleichzeitig eine gewünschte Quersteifigkeit Eingang in die Berechnungen fand. Hierzu wurde ein Steifigkeitsverhältnis kQuer : kZug von 10:1 festgelegt. Insgesamt wurden vier verschiedene Kraftsensoren im Kraftbereich von 10 N ... 100 N mit Steifigkeiten von 35 N/m ... 613 N/m konzipiert [508]. Die starke Herabsetzung der Maschinensteifigkeit zog auch Änderungen im Stellkonzept und im Gesamtaufbau nach sich. Zusätzliche Auswirkungen auf die Prüfmaschinenkonzeption hatte die sich verändernde Forschungssituation Mitte der 2000er Jahre. Zum einen bewegte sich das Interesse von dem bisher verwendeten SnPb-Lot hin zu bleifreien Legierungen - vor allem SnAg- und SnAgCuSysteme - zum anderen gewannen neue flächenkontaktierbare Bauelementetypen, wie BGA, FBGA, CSP (vgl. 2.3.3.3), immer mehr an Bedeutung, sodass sich zuverlässigkeitsrelevante Fragestellungen zunehmend auf Lotkugeln mit Durchmessern zwischen 300 μm und 500 μm bezogen. Im Konzept der neuen Prüfeinrichtung (Abb. 7.25) wurde ein vertikal angeordneter Schrittmotorverschiebetisch als Antriebseinheit verwendet. Der Schrittmotor weist einen Schrittwinkel von 0,9° und ein Haltemoment von 106 Ncm auf. Die Umsetzung der Dreh- in eine Linearbewegung erfolgte über eine spielfreie M6x0,5 Kugelumlaufspindel, sodass im Vollschritt ein Verschiebungsinkrement von 1,25 μm entsteht, welches durch Verwendung einer 1/8 Schrittsteuerung auf 156 nm herabgesetzt werden kann. Ein speziell gestalteter Kraftsensor mit Lastbereichen von 20 N, 50 N und 100 N ist direkt an die Schrittmotoreinheit gekoppelt. Er verfügt über eine hohe Steifheit in x, y-Richtung sowie eine an die Messaufgabe angepasste Nachgiebigkeit in z-Richtung. In ersten Testversuchen stellte sich heraus, dass mit der Steifheit des Sensors in x, y-Richtung noch keine ausreichende Führungsgenauigkeit für eine gezielte z-Bewegung der oberen Probeneinspannung am anderen Ende des Kraftsensors erreicht werden konnte. Aus diesem Grund wird die obere Probeneinspannung zusätzlich durch eine Lineareinheit in z-Richtung geführt. Im Fuß der Prüfmaschine befindet sich ein x-y-Verschiebetisch mit Arretierungsschrauben, auf welchem die untere Probeneinspannung befestigt ist. Der xy-Tisch dient dazu, die Einspannungen in Abhängigkeit von der Geometrie der Probe gegeneinander auszurichten. Nachdem der Einspannvorgang erfolgt ist, wird die untere Einspanneinheit mit den Arretierungsschrauben festgezogen, sodass die Nachgiebigkeit der Einspannung minimiert wird. In Abb. 7.25 ist das Konzept der Versuchseinrichtung schematisch dargestellt. Die Probe wird zwischen zwei in den Einspannungen klemmenden Al2O3-Dickschichtkeramikplättchen festgeklebt. Auf diesen Keramikplättchen befinden sich Dickschichtheizer mit einer PT 1000 Rückkoppelstruktur, um eine definierte Versuchstemperatur an der Probe einzustellen. Laserbohrungen in den Keramikplättchen dienen zur Temperaturisolation zwischen der Probenzone und der Einspannzone (Abb. 7.26). Wie Thermografieaufnahmen der beheizbaren Keramikplättcheneinspannung zeigten, ergibt sich eine homogene Temperaturverteilung über dem Überlappungsbereich der beiden Keramikplättchen, in welchen die Probe eingeklebt ist. Zur Temperaturregelung ist ein PT 1000-Temperatursensor direkt auf den Dickschichtheizer aufgebracht. Aufgrund der geringen thermi-
342
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
A: Dickschichtkeramik-Probenhalter mit Heizelementen B: x-y-Probenpositioniertisch C: LVDT-Verschiebungsmessung D: Kraftmesssensor E: Verschiebetisch mit Feingewindespindel F: Schrittmotorantrieb H: Rahmen
Abb. 7.25 Deformationsprüfvorrichtung für kleinvolumige Lotproben [508]
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
a)
343
b)
Abb. 7.26 Al2O3-Keramikplättchen zur Probeneinspannung - durch auf den Keramiken befindliche Dickschichtheizer kann die Versuchstemperatur an der Probe eingestellt werden: a) Keramikplättchenverbund mit eingespannter Probe und Einzelkeramikplättchen, b) durch Thermografie ermittelte Temperaturverteilung entlang des Dickschichtheizers für T = 30 °C, 75 °C [508]
schen Masse der Keramikplättchen ist eine gute Kopplung des Temperatursensors an den Dickschichtheizer sowie eine schnelle Analogregelung erforderlich. Im praktischen Aufbau zeigte sich, dass das Oszillieren des Heizers auf eine Amplitude von ± 0,2 K für T ≤ 125°C beschränkt bleibt, wodurch sich durch die Keramikplättcheneinspannung eine sehr brauchbare Miniaturtemperaturkammer für die angestrebten Versuche realisieren lässt. Zur Verschiebungsmessung kommen LVDT-Sensoren mit einem Messbereich von 1 mm zum Einsatz, welche über eine Auswertelektronik auf der Basis eines AD596-Schaltkreises und einer Analog/Digital-Wandlerkarte (12 bit) bei einem Abtastintervall von 1 ms eine Auflösung von 70 nm sowie eine Genauigkeit von 340 nm erreichen. Gegenüber der in 7.5.3.2 vorgestellten Vorrichtung ergeben sich durch die Begrenzungen des Wegmesssystems auch unter Berücksichtigung der etwas größeren Probenvolumina signifikant schlechtere Möglichkeiten, hochgenaue Messungen durchzuführen [508].
7.5.3.4 Deformationseinrichtung für Elektronenmikroskop Einer der Nachteile der bisher beschriebenen Deformationseinrichtungen ist die fehlende Beobachtbarkeit der Probe während des Experiments. Deshalb wurde ein Konzept für eine Versuchseinrichtung entwickelt, welche sehr kompakt aufgebaut ist, sodass die in einer räumlich begrenzten Vakuumkammer eines Rasterelektronenmikroskops Platz findet. Die Konzeption ist schematisch in Abb. 7.27 dargestellt.
344
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
Einspannvorrichtung
Kraftsensor
Festkörpergelenk
Probekörper
Gehäuse
Piezo
Tisch
LVDT
Einspannvorrichtung
Tisch
a)
b)
c)
d)
Abb. 7.27 a, b) Konzept für kompakte Deformationseinrichtung zur Benutzung in der Vakuumkammer eines Rasterelektronenmikroskopes, c) Prüfeinrichtung auf dem Positioniertisch eines Tesla BS 301, d) Prüfeinrichtung in vergrößerter Darstellung
Als Stellantrieb findet ein P-780 System der Fa. Physik Instrumente Verwendung. Hierbei handelt es sich um einen wegübersetzten Piezotranslator, der in ein Führungssystem aus Festkörpergelenken integriert ist. Diese drahterodierten Gelenke ermöglichen eine hohe Führungsgenauigkeit, ohne dass Reibungskräfte auftreten. Die Notwendigkeit zur Führung ergibt sich aus dem kompakten Aufbau der Apparatur, bei dem nicht mehr alle Apparaturkomponenten in einer Verschiebungsachse angeordnet werden können. Die Verschiebungsmessung erfolgt durch mechanische Ankopplung eines LVDT-Sensors an das Einspannwerkzeug. Die Kraftmessung erfolgt über einen piezoresistiven Siliziumbiegebalkensensor, der jedoch vakuumtauglich ist. In der Apparatur findet auch eine symmetrische Anordnung zweier Probekörper Anwendung, um Querkräfte zu minimieren. Die Veränderungen beim Verschiebungsmesssystem und die Anordnung der einzelnen Apparaturkomponenten in verschiedenen Achsen der Verschiebungsrichtung verschlechtern die Auflösung der Verschiebungs- und Kraftmessung um den Faktor 10. Hinzu kommt die fehlende Thermostatierung der Apparatur. Insgesamt kann für die Absicht der begleitenden Beobachtung jedoch von einer ausreichen-
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
345
den Genauigkeit der Apparatur gesprochen werden. In Abb. 7.27 ist das Prinzip der Versuchseinrichtung grob skizziert [12].
7.5.3.5 Ermüdungseinrichtung für kleinstvolumige Lotkontakte Obwohl es mit den in 7.5.3.2 und 7.5.3.4 beschriebenen Versuchseinrichtungen prinzipiell möglich ist, auch Ermüdungsexperimente durchzuführen, ergibt sich durch die lange Dauer der Experimente das Problem, dass die Prüfmaschinen für lange Zeit nicht für andere Messaufgaben zu Verfügung ständen. Demgegenüber stehen geringere Anforderungen an die Genauigkeit von Weg- und Kraftmessung beim Ermüdungsversuch. Ausgehend von diesen Grundüberlegungen wurde nach einer Konzeption gesucht, die einen vergleichsweise unaufwendigen Aufbau besitzt und gleichzeitig gut an die Erfordernisse von Ermüdungsexperimenten angepasst ist. In der Frage des Antriebselementes wurde ein Piezotranslator anstelle eines motorischen Antriebs gewählt, da der Piezotranslator in der Lage, beliebig kleine Verschiebungen zu erzeugen. Dadurch kann ein harter Kraftsensor verwendet werden, was insgesamt zu einer sehr steifen Charakteristik der Prüfmaschine führt, wodurch es möglich ist, sehr genaue Verläufe bei Lastwechseln zu erzeugen. Schrittmotorantriebe erzeugen im Betrieb verhältnismäßig starke Vibrationen, wodurch sich die Notwendigkeit ergibt, diese mit einem weichen Kraftsensor zu kombinieren, um die Vibrationswirkung auf die Probe zu minimieren. Durch den weichen Kraftsensor ist es jedoch nicht möglich, sehr exakte bzw. sehr schnelle Lastwechsel an der Probe durchzuführen. Gleichstrommotoren laufen zwar vibrationsfrei, jedoch verhindert die Trägheit des Rotors und gegebenenfalls das Spiel des Untersetzungsgetriebes das Durchführen schneller Lastwechsel. Anders als beim in 7.5.3.2 beschriebenen Aufbau wurde anstelle des Niederspannungspiezotranslators (LVPZT) ein Hochspannungspiezotranslator (HVPZT) eingesetzt. Zwar besitzt ein LVPZT eine geringere Temperaturabhängigkeit des Piezoeffektes und einen kleineren thermischen Ausdehnungskoeffizienten als ein HVPZT. Jedoch lässt sich Letzterer in einem Temperaturbereich bis 150 °C einsetzen, während der LVPZT nur bis 80 °C arbeitet, wodurch es möglich ist, auch bei höheren Temperaturen Untersuchungen durchführen zu können [12]. Zur Verschiebungsmessung wurde anstelle des Laserinterferometers ein kapazitives Verfahren eingesetzt, welches die in 7.3.2.4 beschriebenen Nachteile besitzt, sich aber ebenfalls in einem Temperaturbereich bis 150°C einsetzen lässt. Das Gewicht des Wegmesskondensators wurde durch Montage in Gravitationsrichtung lagerfrei vom Kraftsenor aufgenommen. Es war infolgedessen notwendig, einen Kraftsensor mit einem höheren Messbereich (50 N) zu wählen, wodurch es zur Verminderung der Auflösung der Kraftmessung kommt. Durch die Verwendung des beschriebenen Antriebs- und Wegmesskonzeptes kommt es zu einer Verminderung der Auflösung gegenüber der in 7.5.3.2 beschriebenen Deformationseinrichtung um etwa Faktor 5. Zwar ist der kapazitive Sensor grundsätzlich in der Lage, mit den gleichen Auflösungen wie das Laserinterferometer Verschiebungen
346
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden Justiereinheit
kapazitiver Sensor
FC-Probe 2
FC-Probe 1
Kraftsensor
Rahmen Fuß Einspannrahmen
Piezotranslator
a)
b)
Abb. 7.28 a) Konzept für Ermüdungseinrichtung, b) Prüfeinrichtung mit geöffneter Thermokammer [12]
zu messen, jedoch muss der kapazitive Wegmesssensor vor jeder Messung neu kalibriert werden. Dazu wird vor dem Experiment eine Referenzmessung mit dem im Piezotranslator enthaltenen Dehnmessstreifen durchgeführt. Hierdurch sinkt die minimale Auflösung auf Δs = 40nm. Die in der Praxis erreichten Auflösungen liegen bei Δs = 100nm und ΔF = 24 mN. Für die Charakterisierung des Ermüdungsverhaltens sind diese Auflösungen allerdings ausreichend [12]. Das Gesamtkonzept der Ermüdungseinrichtung ist in Abb. 7.28 skizziert.
7.5.4 Ring-Pin-Prüfmaschinen für Lot in Durchkontaktierungen
7.5.4.1 Versuchsmethodischer Hintergrund Aufgrund des viskosen Fließens organischer Leiterplattenmaterialien eignen sich diese nicht als Probekörpersubstrate für die in 7.4.4.3 beschriebenen Probekörper, wenn sie für die in 7.5.3 aufgeführten Versuchseinrichtungen verwendet werden sollen. Bei Verwendung harter Substrate, wie Si oder Al2O3, ist es jedoch fraglich, ob die Wirkung der Metallisierungen, wie sie auf Leiterplatten vorkommt, tatsächlich berücksichtigt wird. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen,
7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben
347
besteht darin, die Verformungsreaktion eines dünnen Lotspalts, der sich zwischen einem Metallpin und der Metallisierung einer Durchkontaktierung in der Leiterplatte bildet, zu untersuchen. Im Gegensatz zu den auf der Oberfläche befindlichen Kontaktflächen sind die Durchkontaktierungshülsen sehr stark mit dem Glasfaservlies im Kern der Leiterplatte verankert. Hierdurch kann es nicht zu starken viskoelastischen Verformungen des Harzes kommen, die unterhalb der auf der Leiterplattenoberseite befindlichen Kontaktflächen sehr leicht zustande kommen [508]. Aufgrund ihres einfachen Prinzips werden Ring-Pin-Probekörper in Durchkontaktierungen von Leiterplatten sehr häufig zur Bestimmung der Kriechfestigkeit über die Larson-Miller-Zeitkonstante, d. h. die Zeit bis zum letalen Kriechbruch, eingesetzt [522]. Gegenüber diesen Versuchen ist für die Bestimmung des zeitabhängigen Verformungsverhaltens des Lotes im Spalt zwischen Anschlusspin und Durchkontaktierungshülse jedoch die Realisierung einer genauen Verschiebungsmessung erforderlich.
7.5.4.2 Lastrahmen für Leiterplatten-Durchkontaktierungs-Probekörper Ausgangspunkt für die Konzeption der nachfolgend beschriebenen Lastrahmen war eine Probekörperform, bei der ein Kupferdraht in eine Durchkontaktierung einer Leiterplatte eingelötet wurde (Abb. 7.29). Zum Einlöten wurde der Kupferdraht mithilfe einer Mikropositioniereinrichtung innerhalb der Durchkontaktierung positioniert. Danach wurde Lotpaste auf der Oberseite dieser Verbindungsstelle appliziert und die Lötung in einem Durchlaufofen durchgeführt. Dadurch entsteht ein Probeköper, der ein ca. 35 mm langes Cu-Drahtende auf der Unterseite und einen 2 mm kurzen Cu-Drahtstumpf auf der Oberseite besitzt. Zur Bestimmung des Verformungsverhaltens des Lotes im Spalt sollte eine Versuchseinrichtung konzipiert werden, welche es ermöglicht, das zeitabhängige Verformungsverhalten genau zu bestimmen. Dazu sollen am unteren Ende des CuDrahtes statische Gewichte angehangen werden und die Bewegung des Drahtes durch die Leiterplatte messtechnisch erfasst werden. Bei der Messung der Relativbewegung des mit einem Gewicht belasteten Kupferdrahtes gegenüber der Leiterplatte muss sichergestellt werden, dass diese Messung nicht durch unerwünschte Beiträge, wie z. B. die Verformung des Kupferdrahtes oder die Verbiegung der Leiterplatte, verfälscht wird. Aus diesem Grund wurde die Leiterplatte zwischen zwei 10 mm dicke Aluminiumplatten geklemmt, in denen sich eine konische Bohrung zur Durchführung des Kupferdrahtes befindet. Durch diese Klemmung der Leiterplatte zwischen die starren Aluminiumplatten wird deren Formstabilität auch bei höheren Temperaturen gewährleistet. Die Messung der Relativbewegung von Leiterplatte zu Kupferdraht wird am unbelasteten oberen Ende des Kupferdrahtes über einen inkrementellen optischen Wegaufnehmer (IKF 10, Fa. Feinmeß Suhl, Auflösung 100 nm) vorgenommen. Dadurch wird sichergestellt, dass eine mögliche Verformung des Kupferdrahtes, wie sie am unteren, den Gewichten zugeneigten Ende erfolgen könnte, nicht das Messergebnis verfälscht.
7 Experimentelle Untersuchungsmethoden
1,0 mm
1,5 mm
0,8 mm
2 mm
348
FR4-Träger
35 mm
Kupfer Nickel Gold Lot Kupferdraht
a)
c)
b)
d)
Abb. 7.29 a), b) Schema des Probekörpers und Querschliff des Probekörpers für LeiterplattenKontakt, c) Versuchseinrichtung in Draufsicht mit Abtastung des oberen Drahtendes über einen inkrementellen optischen Wegaufnehmer, d) Seitenansicht der Versuchsanordnung
8.1 Bewertung des Datenmaterials
349
8 Experimentelle Ergebnisse 8.1 Bewertung des Datenmaterials Eine der Schwierigkeiten bei der Interpretation von Ergebnissen aus Verformungs- und Schädigungsversuchen besteht in der allgemeinen Neigung, experimentell gewonnenen Erkenntnissen einen hohen Grad an Objektivität zuzuschreiben. Hierbei wird sehr oft übersehen, dass diese Objektivität - bezogen auf ein einzelnes Experiment - vollkommen gerechtfertigt wäre, dass es jedoch für die Erfassung einer komplexen physikalischen Erscheinungsform, wie dem Verformungsverhalten von Werkstoffen, notwendig ist, ein aus vielen Einzelversuchen bestehendes System von Experimenten durchzuführen. Hierbei besteht aufgrund der großen Vielfalt möglicher Untersuchungsansätze das Bestreben, die Anzahl der Versuche auf wesentliche Experimente zu beschränken. Die Auswahl der durchzuführenden Experimente - dabei kann es sich z. B. um die Festlegung von Versuchstemperaturen oder bestimmten Lastkräften handeln - wird von einer bestimmten Erwartungshaltung beeinflusst, welche sich im günstigen Fall auf bestimmte theoretische Annahmen stützt, sich aber in vielen Fällen einfach aus willkürlichen Entscheidungen ergibt oder aber durch Grenzen der Prüftechnik bestimmt wird. Aus diesem Grund ist es wichtig, Experimentaldaten nie losgelöst vom System der Einzelversuchsdurchführungen, von den Besonderheiten der Prüfkörper und Versuchseinrichtungen sowie von den den Versuchen zugrunde liegenden Intentionen der Materialcharakterisierung zu betrachten. Die Tatsache, dass die Bestimmung und die mit ihr verbundene Modellierung des Deformations- und Schädigungsverhaltens von Werkstoffen der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik eine stark interdisziplinäre Problematik und damit eine mehrere Bereiche der Ingenieur- und Naturwissenschaften berührende Aufgabenstellung ist, führt zwangsweise zu sehr unterschiedlichen Ansätzen bei der Planung von Versuchen. So kann die Untersuchung ein und desselben Werkstoffes in einer Untersuchung dadurch geleitet sein, einen bestimmten metallphysikalischen Effekt [24-26, 523] herauszuarbeiten, während eine andere Untersuchung darauf abzielt, anwendungsrelevante Aspekte des Werkstoffes herauszuarbeiten [22, 23, 27, 28, 524]. Einfache Vergleiche des reinen Datenmaterials geben für die Betrachtung des Werkstoffverhaltens - bezogen auf einen konkreten Anwendungsfall - kaum Aufschluss über die Spezifika der mit dieser Anwendung möglicherweise verbundenen Besonderheiten - auch wenn das von einigen Autoren behauptet wird [524-526]. Ein wichtiges Anliegen des nachfolgenden Vergleiches eigener Experimentaldaten mit den in der Literatur beschriebenen ist es deshalb herauszufinden, weshalb Unterschiede zu anderen Untersuchungen bestehen und welche Schlussfolgerungen für die Beantwortung der gestellten Frage nach dem Größeneffekt daraus gezogen werden können.
350
8 Experimentelle Ergebnisse
8.2 Einstoffsystem - Zinn 8.2.1 Auswahl des Datenmaterials Reines Zinn lässt sich technologisch sehr schwer verarbeiten, wodurch es nicht möglich ist, Probekörper mit kleinstvolumigen Lotkontakten herzustellen. Selbst wenn es gelingen würde, solche Probekörper zu fertigen, würde durch die Reaktion mit den entsprechenden Substratmetallisierungen kein Rein-Zinn-Lotkontakt, sondern immer ein Lotkontakt mit einer zinnbasierten Legierung entstehen. Aus diesem Grund erfolgt die Darstellung der werkstoffmechanischen Eigenschaften von Zinn anhand von verschiedenen, in der Literatur beschriebenen Grundlagenuntersuchungen, bei denen in der Regel makroskopische, idealisierte Probekörper verwendet wurden. Ein Großteil dieser Untersuchungen ist älteren Datums, da Zinn wegen der Besonderheiten seiner Gitterstruktur in jüngerer Zeit kaum untersucht wurde. Es gibt jedoch eine Reihe neuerer Artikel, die das ältere Datenmaterial in Zusammenhang mit jüngeren Untersuchungen neu verarbeitet haben [527-529]. Zinn existiert in zwei allotropischen Modifikationen - α -Zinn bzw. graues Zinn, welches ein kubisches Diamantgitter ausbildet, β -Zinn bzw. weißes Zinn, welches ein raumzentriertes tetragonales Gitter aufweist. Einige Publikationen [530] gehen von einer dritten allotropischen Modifikation, einem γ -Zinn mit einem rhombischen Gitter, aus. Letzteres hat wegen des in der Nähe des Schmelzpunktes bei 202,8 °C stattfindenden β - γ -Übergangs für technische Anwendungen keine Relevanz. Für die Temperatur des β - α -Übergangs existieren in der Literatur Angaben zwischen 13,2 °C ... 18 °C [530-533]. Aufgrund der erheblichen Dichteunterschiede zwischen den beiden Modifikationen führt diese als Zinnpest bezeichnete Umwandlung in der Regel zum Auseinanderfallen des Materials. Allerdings tritt diese Umwandlung in einer für technische Anwendungen relevanten Geschwindigkeit nur bei sehr tiefen Temperaturen (-40°C [532]) und auch bloß in hochreinem Zinn auf. Bereits kleine metallische Verunreinigungen, z. B. von Bi, Cu, Pb oder Sb, unterdrücken die Transformation weitestgehend, sodass β Zinn die in den meisten technischen Anwendungen von Lotwerkstoffen vorherrschende Modifikation ist. Deshalb beziehen sich alle in den folgenden Abschnitten dargestellten Daten für reines Zinn immer auf seine Erscheinungsform als β -Zinn. Die Darstellung des werkstoffmechanischen Verhaltens von Zinn macht sich trotz der fehlenden Anwendung erforderlich, da die in den Abschnitten 8.4 und 8.5 beschriebenen Legierungen aus einer β -Zinn-Matrix mit darin verteilten harten intermetallischen Phasenteilchen bestehen, sodass ihre grundlegenden Eigenschaften der des β -Zinns entsprechen. Die in ihrer grundsätzlichen Form bereits in Abb. 3.7 dargestellte und ausführlich in Abb. 8.1 illustrierte raumzentrierte tetragonale Elementarzelle des β -Zinns [555] besitzt zusätzlich zu seinen 8 Eckatomen vier weitere auf den Quaderflächen befindliche Atome in den Positionen [0, 1/2, 3/4] und [1/2, 0, 1/4]. Durch ihre sehr unterschiedlichen Kantenlängen a = 0, 582 nm und c = 0, 318 nm , d. h.
8.2 Einstoffsystem - Zinn
351
[001] [101]
(101)
(121)
[111]
(010) [010]
[100] Abb. 8.1 Elementarzelle von β -Zinn aus [555] mit üblichen Gleitsystemen
( c ⁄ a = 0, 546 ) , besitzt sie eine ausgesprochene Anisotropie ihrer grundlegenden Eigenschaften, wie Elastizität oder thermische Ausdehnung. So ist der thermische –6 –1 Ausdehnungskoeffizient in a-Richtung ( α = 15,4 ⋅ 10 ⋅ K ) nur etwa halb so –6 –1 groß wie der in c-Richtung ( α = 30,5 ⋅ 10 ⋅ K ) , während der E-Modul in aRichtung ( E 20°C = 85 GPa ) bedeutend höher ist als in c-Richtung ( E 20°C = 54 GPa ) [529, 540]. Aus diesem Grund müssen die Eigenschaften von Zinn immer auch in Relation zur kristallografischen Orientierung gesehen werden.
8.2.2 Elastische Eigenschaften Für polykristallines Zinn befinden sich in der Literatur verschiedene Angaben zum E-Modul. In Tabelle 8.1 befindet sich eine Auflistung verschiedener publizierter Werte. Nicht immer geht aus den Quellen hervor, wie die Werte experimentell bestimmt wurden. Es ist zu erkennen, dass die Werte für Raumtemperatur etwa Tabelle 8.1 Elastizitätsmoduli von polykristallinem β -Sn Material
T [K]
dε/dt [s-1]
E [GPa]
dE/dT
Quelle
[MPa/K] Sn
273
-
43,71
-113,02
[534]
Sn
0
-
76,09
-109
[38]
bei 40 GPa liegen. In Tabelle 8.2 sind neben dem Elastizitätsmodul ( E ) weitere elastische Parameter, wie Schermodul ( G ) und Querkontraktionszahl ( ν ) , für polykristallines Sn aufgeführt.
352
8 Experimentelle Ergebnisse
Tabelle 8.2 Elastische Parameter von reinem β -Sn bei Raumtemperatur Material
E [GPa]
∂E ⁄ ∂T
G [GPa]
∂E ⁄ ∂T
Sn
71,3
-
26,1
-
Sn
51,8
-32,4
19
-12,6
Sn
-
-
17,3
-
Sn
54
-
20,2
-
T [ GPa ] ⋅ ----Ts
ν
Bemerkung
Quelle
0,37
Ultraschall
TUDa
Ultraschall
[537]
0,36
-
[535]
0,33
-
[536]
T [ GPa ] ⋅ ----Ts
a. Ultraschallmessungen wurden an der TU Dresden von M. Röllig und N. Gust an zylindrischen Lotplättchen mit 3 mm Durchmesser und einer Dicke von 0,25 mm vorgenommen.
Wird reines Sn jedoch nicht als polykristalliner Körper, sondern als Einkristall betrachtet, so ergeben sich entlang der verschiedenen kristallografischen Richtungen (vgl. Abb. 8.1) die in Tabelle 8.3 aufgeführten Werte für den thermischen Ausdehnungskoeffizienten α und den Elastizitätsmodul E . Tabelle 8.3 Thermischer Ausdehnungskoeffizient und Elastizitätsmodul für verschiedene kristallografische Orientierungen eines β -Sn-Einkristalls aus [529] Richtung α [ 10
–6
–1
⋅K ]
E [ GPa ]
(100)
(101)
(103)
(001)
(113)
(112)
(111)
(110)
15,4
18,9
26,4
30,5
24,2
21,1
20,5
15,4
54,1
48,1
55,8
84,7
42,3
34,8
25,5
26,3
Eine für kontinuumsmechanische Berechnungen nützliche Beschreibung des anisotropen elastischen Verformungsverhaltens der β -Zinn-Elementarzelle ist über elastische Konstanten zweiter Ordnung möglich. Da für die tetragonale Elementarzelle des β-Sn (vgl. 4.3.5) bestimmte Symmetrien existieren, keine Kopplung zwischen Normaldehnungen und den Scherspannungen vorhanden ist und Scherdehnungen in einer Ebene keine Scherspannungen in einer anderen hervorrufen, verringert sich die Zahl der unabhängigen elastischen Konstanten von 21 auf 6 Werte (vgl. 4.3.5), sodass anstelle der vollständigen Beschreibung eines generalisierten Hooke’schen Gesetzes für anisotrope Werkstoffe in den Gleichungen (4.31) bis (4.36) zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Spannungs- und Dehnungstensor für das tetragonale β-Sn folgende reduzierte Formulierung tritt [528]:
8.2 Einstoffsystem - Zinn
353
σ xx = C 11 ε xx + C 12 ε yy + C 13 ε zz
(8.1)
σ yy = C 12 ε xx + C 11 ε yy + C 13 ε zz
(8.2)
σ zz = C 13 ε xx + C 13 ε yy + C 33 ε zz
(8.3)
τ yz = C 44 γ yz
(8.4)
τ xz = C 44 γ xz
(8.5)
τ xy = C 66 γ xy
(8.6)
Für die entsprechenden elastischen Konstanten sind nur wenige ältere experimentelle Untersuchungen [538] vorhanden, welche in Tabelle 8.4 einer neueren theoretischen Berechnung dieser Werte gegenübergestellt sind. Tabelle 8.4 Elastische Konstanten zweiter Ordnung für β -Sn in [GPa] aus theoretischen Berechnungen [539] und experimentellen Untersuchungen [538]
c 11
c 12
c 13
c 33
c 44
c 66
Quelle
73,5
44,2
40,7
103,0
38,3
42,8
[539]
73,5
23,4
28,0
87,0
22,0
22,65
[538]
8.2.3 Instantanplastische Verformung Für die Beschreibung der Gleitung in β -Zinn existieren vor allem die in durch Barett in den 50er Jahren in [540] aus verschiedenen noch älteren Veröffentlichungen zusammengetragenen Werte für die notwendige resultierende Schubspannung (engl. critical resolved shear stress, τ CRSS ) in einzelnen Gleitebenen, welche von verschiedenen neueren Untersuchungen benutzt werden und in Tabelle 8.5 zusammengefasst sind. Die Schwierigkeit einer für den Gesamtzusammenhang der werkstoffmechanischen Reaktionen nützlichen Beschreibung der Niedertemperaturplastizität von reinem Zinn besteht darin, dass dieses für den für die Niedertemperaturplastizität relevanten Temperaturbereich ( T hom < 0,5 ⋅ T s ) als α -Zinn vorliegt, für die meisten technischen Anwendungen jedoch seine Zustandsform als β -Zinn von Interesse ist. Um die mit der Niedertemperaturplastizität verbundenen Mechanismen der Gleitung (vgl. 5.2, 5.3) isoliert untersuchen zu können, wurden daher von verschiedenen Autoren [550-552] Untersuchungen an einkristallinem β -Zinn vorgenom-
354
8 Experimentelle Ergebnisse
Tabelle 8.5 Notwendige resultierende Schubspannung, τ CRSS für verschiedene Gleitebenen und Gleitrichtungen in β -Sn aus [540] Gleitebene
Gleitrichtung
τ CRSS
Temperatur
[ MPa ]
[K] 293
( 100 )
[ 001 ]
1,863
( 110 )
[ 001 ]
1,275
( 101 )
[ 101 ]
1,569
( 121 )
[ 101 ]
1,667
Quelle
[540]
men. Für β -Zinn wurde von verschiedenen Autoren eine nicht unbeträchtliche Zahl verschiedener Gleitsysteme ausgemacht [541-550]. Trotz dieser hohen Anzahl von möglichen Gleitsystemen lässt sich die plastische Verformung des tetragonal raumzentrierten β -Zinns nicht mit der kubischflächenzentrierter Metalle, z. B. Cu, Ag, und Pb, vergleichen, da die verschiedenen aktiven Gleitsysteme kristallografisch nicht äquivalent sind. Hierdurch variiert die plastische Verformungsreaktion in Abhängigkeit vom aktiven Gleitsystem und ist gleichzeitig sehr stark von der Materialtemperatur, der initialen Versetzungsdichte als auch dem Vorhandensein von Subkörnern abhängig [550, 551]. Verläuft die Belastungsachse in [ 110 ] -Richtung, findet Gleitung in beiden ( 100 ) [ 010 ] -Systemen statt. Verläuft die Belastungsachse hingegen in [ 100 ] -Richtung, findet Gleitung auf den beiden ( 110 ) -Ebenen entlang der vier [ 111 ] -Richtungen statt. Gleiche Beträge der Abgleitung in zwei [ 111 ] -Richtungen auf einer Ebene erzeugen eine scheinbare Abgleitung in [ 110 ] -Richtung [552]. In den in [550] durchgeführten Untersuchungen wurde das Spannungs-Dehnungs-Verhalten von β -Zinn-Einkristallen entlang 3 verschiedener Belastungsrichtungen zwischen 77 K und 435 K aufgenommen. Damit konnte die starke Temperaturabhängigkeit der notwendigen Abgleitspannung des ( 110 ) 1--2- [ 111 ] -Systems (ca. 11 MPa bei 160 K und ca. 50 kPa bei 435 K) gegenüber dem ( 110 ) [ 010 ] System gezeigt werden, welches im Temperaturbereich zwischen 320 K ... 380 K eine konstante Abgleitspannung von ca. 210 kPa aufweist. In späteren Untersuchungen [551] wurde das Abgleitverhalten des ( 110 ) 1--2- [ 111 ] -Systems bei Dehnra–5 –1 –3 –1 ten zwischen 4 ⋅ 10 s ... 4 ⋅ 10 s und Temperaturen zwischen 200 K ... 500 K untersucht. Dabei wurden zwei Fließpunkte gefunden, wobei durch Korrelation mit metallografischen Untersuchungen (Ätzgrübchen in der ( 001 ) -Ebene) der erste Fließpunkt einer plötzlich einsetzenden Multiplikation von Versetzungen zugeschrieben werden konnte (d. h. sein Auftreten ist von der initialen Versetzungsdichte abhängig), während der zweite offensichtlich aus der Ausbildung einer Versetzungszellstruktur resultiert, welche allerdings im Verlauf weiterer Verformung wieder zerfällt. Unterhalb von 300 K liegt der erste Fließpunkt höher als der zweite - oberhalb 300 K tritt eine Umkehrung dieses Verhaltens auf. Um einen
8.2 Einstoffsystem - Zinn
355
· Zusammenhang zwischen den Fließpunkten τ , der Dehnrate γ und der Temperatur T darzustellen, wurde in [551] der obere und untere Wert des zweiten Fließpunktes über Gleichung (8.7) mit den in Tabelle 8.6 aufgeführten Werten charakterisiert. A τ n · Q γ = --- ⋅ § ----· ⋅ exp § – -------· © RT¹ T © G¹
(8.7)
Tabelle 8.6 Werte für n und Q für den ersten und zweiten Fließpunkt aus [551] Temperatur [K]
oberer Fließpunkt
unterer Fließpunkt
n
kJ Q § ---------· © mol¹
n
kJ Q § ---------· © mol¹
200 - 250
4,2
48
-
-
250 - 480
3,8
48
3,9
48
480 - 500
3,8
128
3,9
128
Wird der durch Nagasaka [551] an β -Zinn-Einkristallen charakterisierte Zusammenhang zwischen den Fließpunkten τ der Spannungs-Dehnungs-Kurven · und der Dehnrate γ bzw. der Temperatur T zu den in 5.2.2.3 dargestellten Gleichungen (5.23) und (5.28) zur Beschreibung der Versetzungskinetik bei hohen homologen Temperaturen in Beziehung gesetzt, so zeigt sich, dass die ermittelte Verformungsreaktion der einer Kriechverformung entspricht, was sich unter Berücksichtigung der hohen homologen Materialtemperaturen ( T > 0,4 ⋅ T s ) zunächst gut in den in 5.2.2 dargestellten theoretischen Rahmens einordnen ließe. Allerdings darf hierbei nicht übersehen werden, dass die in [550, 551] beobachteten Entwicklungen der Versetzungsstrukturen und der Verlauf der Spannungs-Dehnungs-Kurven sehr komplex sind und die in 5.4.1 dargestellte Unabhängigkeit von der Versuchsart für die Ermittlung der Verformungsreaktion so nicht gegeben zu sein scheint, obwohl es sich um ein reines Metall mit einer ausreichenden Anzahl von Gleitsystemen handelt.
8.2.4 Kriechverhalten Für die Beschreibung des Kriechverhaltens von reinem β -Zinn liegen Ergebnisse aus verschiedenen Versuchen vor, welche ein weites Spektrum von Probekörperbeschaffenheiten und Versuchsmethodiken beinhalten. Hierbei wurden sowohl polykristalline als auch einkristalline Proben aus reinem β -Zinn untersucht. Die Korngrößen für die Untersuchungen an polykristallinem Zinn lagen in einem wei-
356
8 Experimentelle Ergebnisse
ten Spektrum, beginnend bei ca. 25 μm [559] bis hin zu 2 mm [562]. Für die Untersuchungen an einkristallinem Zinn wurden die Proben in verschiedenen kristallografischen Ebenen ([001], [100], [110]) gegenüber der Belastungsachse ausgerichtet. Sowohl polykristalline als auch einkristalline Proben wurden über verschiedene Versuchsmethoden - Zugversuch, Druckversuch und Eindruckversuch - untersucht. Im Ergebnis all dieser verschiedenen Variationen bei der Versuchsdurchführung ergibt sich für das Kriechverhalten von reinem β -Zinn kein konsistentes Bild bezüglich wichtiger, die Verformungsreaktion charakterisierender Parameter, wie z. B. des Spannungsexponenten n oder der Aktivierungsenergie Q . Die aus verschiedenen Publikationen entnommenen Ergebnisse zum Kriechverhalten von reinem β -Zinn sind in Tabelle 8.7 und Tabelle 8.8 aufgelistet. Dazu wurden die charakteristischen Modellparameter der Gleichung (8.7), wie der Spannungsexponent n und die Aktivierungsenergie Q , zusammen mit wichtigen Versuchsbedingungen aufgeführt. Um die Werte untereinander vergleichbar zu machen, wurden die Versuchsergebnisse gemäß der verwendeten Versuchstemperatur in eine der beiden Tabellen eingegliedert. Diese Unterteilung bezieht sich auf die in [563] gewonnenen Erkenntnisse, dass bei einer Temperatur von T ≈ 423 K ein Wechsel im dominierenden Elementarmechanismus der Kriechverformung stattfindet, welcher sich in verschiedenen Aktivierungsenergien oberhalb und unterhalb dieser Temperatur widerspiegelt.
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei 8.3.1 Auswahl des Datenmaterials Für die eutektische Sn-Pb-Legierung existiert eine Vielzahl veröffentlichter Untersuchungen, da sie unter den metallischen Legierungen eine Sonderstellung einnimmt. Schon im Altertum wurden die Vorzüge des Sn-Pb-Eutektikums gegenüber anderen metallischen Legierungen erkannt. Als Verbindungswerkstoff, z. B. beim Bau von Aquädukten, hatte die Blei-Zinn-Legierung keine unwesentliche Bedeutung für die technische Entwicklung in der Antike [564-566]. Auf dem Hintergrund dieser weit in die Technikgeschichte zurückreichenden technologischen Erfahrungen etablierte sich später die verbindungstechnische Materialkombination Kupfer/Zinn-Blei auch als bevorzugte Variante für den Zusammenbau elektronischer Geräte. Die Mehrzahl der älteren Untersuchungen zum Sn-Pb-System betrifft jedoch nicht seine Verwendung als Verbindungswerkstoff. Bis Anfang der 80er Jahre befasst sich der Hauptteil der Untersuchungen zum Sn-Pb-System mit dem Gesichtspunkt der superplastischen Verformung von Metallen. Hierfür war das eutektische Sn-Pb-System besonders prädestiniert, da beide Phasen in etwa glei-
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
357
Tabelle 8.7 In der Literatur angegebene Werte der Spannungsexponenten n und Aktivierungsenergien Q (für den Bereich mittlerer Spannungen) zwischen Experimenten an erstarrten Lotprobekörpern für β -Zinn bei T < 423 σ
T
[kJ/mol] [s-1]
[MPa]
[K]
3,8-4,2
48
10-5...10-2
0,1...50
3,6-5,1
46
10-8...10-4
12
46
4,1-4,4
Bemerkung
Quelle
200...500
[100], Zugversuch
[551]
0,6...6
304...492
[110], Zugversuch
[552]
-
0,7...13
293...373
polykristall., Zugversuch
[554]
37
-
7,5...48
313...481
[001], Eindruckversuch
[555]
3,9-4,5
42
-
7,5...48
313...481
[100], Eindruckversuch
4,7-5,0
39
-
7,5...48
313...481
[110], Eindruckversuch
6
36
10-8...10-1
2...78
296...448
hohe Spannung,
n
Q
dε/dt
[557]
polykristall., Zugversuch 8,6
73
10-8...10-1
2...78
296...448
niedrige Spannung, polykristall., Zugversuch
7,6
60,3
10-8...10-3
2...15
296...423
polykristall., Zugversuch
[558]
5,1
42
10-9...10-6
1,3...10
323...423
polykristallin, Eindruckund Druckversuch
[559]
6
35
10-4...10-2
3...19
293...463
polykristallin
[561]
6,6
-
10-9...10-4
0,03...2
402...495
hohe Spannung,
[562]
polykristall., Zugversuch
chen Anteilen vorkamen, sodass Mechanismen der Kornvergröberung weitestgehend unterdrückt wurden. Spätere Arbeiten wurden dann unter dem Aspekt der Bereitstellung von Werkstoffdaten für Simulationen bzw. Vorhersagen zum Ausfallverhalten von SnPb37Lotkontakten in elektronischen Aufbauten angefertigt. Bei der Betrachtung der Veröffentlichungen, die sich direkt mit Vorhersagen zum Ausfall von Lotkontakten aufgrund thermomechanischer Beanspruchung befassen, ist festzustellen, dass einige Autoren Werkstoffdaten aus den weiter zurückliegenden Arbeiten zum superplastischen Verhalten bezogen, während andere Daten aus jüngeren Untersuchungen bevorzugten [12]. Die unterschiedlichen Intentionen bei der Untersuchung des Kriechverhaltens zwischen den älteren Untersuchungen zu superplastischen Eigenschaften und den jüngeren Untersuchungen zum Werkstoffverhalten
358
8 Experimentelle Ergebnisse
Tabelle 8.8 In der Literatur angegebene Werte der Spannungsexponenten n und Aktivierungsenergien Q (für den Bereich mittlerer Spannungen) zwischen Experimenten an erstarrten Lotprobekörpern für β -Zinn bei T > 423 σ
T
[kJ/mol] [s ]
[MPa]
[K]
3,8-4,2
48
10-5...10-2
0,1...50
3,6-5,1
92
10-8...10-4
4,5
108
4,1-4,4
Bemerkung
Quelle
200...500
[100], Zugversuch
[551]
0,6...6
304...492
[110], Zugversuch
[552]
-
0,7...13
423...497
polykristall., Zugversuch
[554]
37
-
7,5...48
313...481
[001], Eindruckversuch
[555]
3,9-4,5
42
-
7,5...48
313...481
[100], Eindruckversuch
4,7-5,0
39
-
7,5...48
313...481
[110], Eindruckversuch
6
36
10-8...10-1
2...78
296...448
hohe Spannung,
n
Q
dε/dt -1
[557]
polykristall., Zugversuch 8,6
73
10-8...10-1
2...78
296...448
niedrige Spannung, polykristall., Zugversuch
6,6
91
10-9...10-4
0,03...2
402...495
hohe Spannung,
[562]
polykristall., Zugversuch 1
-
10-9...10-4
0,03...2
495
niedrige Spannung, polykristall., Zugversuch
im Lotkontakt führen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen bei der Beschreibung des Deformationsverhaltens [47-49]. Aufgrund der großen Menge der an Standardproben gewonnenen Literaturdaten zum SnPb-System konzentrierten sich die eigenen Untersuchungen ausschließlich auf Versuche an kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten, deren Ziel es ist, einen Vergleich zu den bis dahin publizierten, an kleinvolumigen Lotkontakten aus eutektischem SnPb-Lot gewonnenen Werkstoffdaten zu erhalten, da viele der in früheren Experimenten gewonnenen Daten über eine nicht immer geeignet scheinende Prüftechnik ermittelt wurden. Für die Darstellung des Deformationsverhaltens der eutektischen Sn-Pb-Legierung wurden aus der Vielzahl von Veröffentlichungen wichtige ausgewählt, welche das ermittelte Verhalten in bestimmten Konstellationen von Prüfbedingungen und Probenherstellung repräsentieren. Diese ausgewählte Darstellung erfolgt jeweils mit Bezug zu den Randbedingungen der Untersuchung.
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
359
8.3.2 Elastische Eigenschaften Anders als bei einem Einstoffsystem ist für ein Zweistoffsystem nicht von einer Anisotropie der elastischen Konstanten auszugehen, da es unwahrscheinlich ist, dass kein polykristalliner Festkörper nach der Erstarrung entsteht. Wenn, wie beim System Sn-Pb, in diesem Körper zwei Phasen mit stark unterschiedlichen EModuli auftreten (ESn = 49,9 GPa1 [567], EPb =14 GPa2 [568]), besteht vielmehr die Frage, welcher gemischte E-Modul sich durch die Anordnung der beiden Phasen ergibt. Hierbei gibt es zwei Extremfälle. Auf der einen Seite kann sich der Misch-E-Modul aus einer Parallelschaltung der elastischen Federn der beiden Phasen ergeben, wobei cSn und cPb die Volumenanteile der reinen Metalle im Lot sind: E SnPb = c Sn ⋅ E Sn + c Pb ⋅ E Pb ,
(8.8)
Demgegenüber ergibt sich der Misch-E-Modul bei einer Reihenschaltung der elastischen Federn der beiden Phasen aus: c Sn c Pb 1 -------------- = ------- + --------- , E SnPb E Sn E Pb
(8.9)
wodurch sich für die eutektische Zusammensetzung der Wert des experimentell bestimmten E-Modules zwischen einem Wert von 40,2 GPa und 29,4 GPa einstellen sollte [12, 47]. In Tabelle 8.9 befindet sich eine Auflistung verschiedener publizierter Werte experimentell bestimmter E-Moduli für eutektisches SnPb-Lot unter Angabe der wesentlichen Versuchsbedingungen. Es ist zu erkennen, dass für Raumtemperatur nicht alle experimentell ermittelten Werte in dem Intervall liegen, welches aus den theoretischen Modellen zur Einstellung eines Misch-E-Moduls errechnet wurde. Hinzu kommt, dass sehr unterschiedliche Ergebnisse bezüglich der Temperaturabhängigkeit des E-Moduls existieren. Während in [569] keine Temperaturabhängigkeit des elastischen Verhaltens festgestellt werden konnte, wird in [571] der Temperaturkoeffizient des E-Moduls mit -110,6 MPa/K angegeben, wodurch sich für den in [569] untersuchten Temperaturbereich von ΔT = 160 K eine Änderung des E-Moduls von ΔE = 17,7 GPa ergeben müsste. Diese sehr drastischen Unterschiede in den experimentellen Ergebnissen hängen mit den in 4.3.1 beschriebenen Schwierigkeiten bei der E-Modul-Bestimmung im Zugversuch zusammen. Bei den später in 8.3.3.2 genauer beschriebenen Scherversuchen an Flip-ChipProben wurde für den E-Modul von eutektischem SnPb-Lot ein Wert von E = 29,5 1. Anstelle des Sn-reichen Mischkristalls wurde der Wert von reinem Sn bei T = 293 K verwendet. 2. Anstelle des Pb-reichen Mischkristalls wurde der Wert von reinem Pb bei T = 293 K verwendet.
360
8 Experimentelle Ergebnisse
Tabelle 8.9 Elastizitätsmoduli von eutektischem SnPb-Lot Legierung
T [K]
dε/dt [s-1]
E [GPa]
dE/dT
Bemerkunga
Quelle
Bulkzugprobe (83 x 6,6 x 16 x mm3) mit aufgeklebten
[38]
[MPa/K] 60Sn-40Pb
298
dσ/dt =
38,6 ± 4
-
80 MPa/s
Dehnmessstreifen, 63Sn-37Pb
218 297 378
60Sn-40Pb
303
2.10-4
24,43
2.10-3
24,87
2.10-4
22,69
2.10-3
24,97
2.10-4
24,94
2.10-3
23,99
10-3
10
0
Bulkzugprobe
[569]
-
Bulkzugprobe
[570]
(20 mm x 19,6 mm3) 63Sn-37Pb
300
2,78.10-1
31
-110,6
Bulkzugprobe (30 mm x 28,2 mm2)
[571]
63Sn-37Pb
300
0,017
16,7..20,6
-
Bulkzugprobe
[572]
0,00017
9,9...12,2
(25,4 x 9,1 x 8,6 mm3)
a. Angaben erfolgen für Proben mit rechteckigem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Breite x Tiefe und für Proben mit rundem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Querschnittsfläche.
GPa ermittelt, welcher konform zu den an Bulkproben ermittelten Werten ist, allerdings genau auf der unteren Grenze der theoretisch ermittelten Werte für einen Misch-E-Modul liegt. Letzteres kann allerdings auch mit der inhomogenen Verteilung der Phasen im Flip-Chip-Kontakt zu tun haben [12]. Alternativ zur E-Modul-Bestimmung über Verformungsversuche wurde dieser auch durch Ultraschallmikroskopie untersucht. Als Probekörper dienten dabei zylindrische Lotplättchen mit einer Dicke von 300 μm und einem Durchmesser von 3 mm. Aus der Bestimmung der Signallaufzeit der Longitudinal- und Transversalwellen konnten die elastischen Parameter Elastizitätsmodul ( E ) , Schermodul ( G ) und Querkontraktionszahl ( ν ) bestimmt werden, welche in Tabelle 8.10 den Ergebnissen aus den Verformungsversuchen in [38] gegenübergestellt sind. Es zeigt sich, dass der Wert für die rein elastische Verformung bei Ultraschallanregung, d. h. der physikalische E-Modul, wesentlich höher ist als der technische EModul aus den Verformungsmessungen (vgl. 4.3.1), welche offensichtlich durch ein geringes Maß an Versetzungsbewegungen begleitet werden. Die Werte für die Querkontraktion bleiben davon überraschenderweise unbeeinflusst.
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
361
Tabelle 8.10 Elastische Parameter von eutektischem SnPb-Lot bei Raumtemperatur Legierung
E [GPa]
G [GPa]
ν
Bemerkung
Quelle
63Sn-37Pb
52,4
19,5
0,35
Ultraschallmessung
TUDa
60Sn-40Pb
38,6
14,4
0,36
Bulkprobe
[38]
Sn
-
17,3
0,36
-
[535]
Sn
54
20,2
0,33
-
[536]
Pb
-
6,2
0,45
-
[535]
Pb
19,6
7,8
0,44
-
[536]
a. Ultraschallmessungen wurden an der TU Dresden von M. Röllig und N. Gust an zylindrischen Lotplättchen mit 3 mm Durchmesser und einer Dicke von 0,25 mm vorgenommen.
8.3.3 Instantanplastische Verformung
8.3.3.1 Untersuchungen an Bulkproben Zur exakten Bestimmung der Fließspannung, d. h. zur klaren Trennung von Mechanismen der Nieder- und Hochtemperaturplastizität (vgl. 5.2.2), wären Experimente unterhalb einer homologen Temperatur von 0,4 Ts (-90 °C) erforderlich. Allerdings bezieht sich der überwiegende Teil der publizierten Versuche zum instantanplastischen Verhalten von SnPb37-Lot auf Experimente bei Raumtemperatur bzw. höheren Temperaturen, weil diese gleichzeitig die relevanten Betriebstemperaturen für Lotverbindungen sind. Die Charakterisierung des instantanplastischen Verhaltens bei Raumtemperatur ist insofern kritisch zu betrachten, als dass das ermittelte Verhalten sehr stark von den gewählten Versuchsbedingungen abhängig ist. Vor allem die Verformungsgeschwindigkeit hat bei höheren homologen Temperaturen großen Einfluss auf das Einsetzen des Materialfließens sowie auf den Grad der Verfestigung (Erholungsprozesse, vgl. 3.5.2.1, 5.3.1.1 und 5.4.1). In der praktischen Durchführung von Experimenten ist die Verformungsgeschwindigkeit an der Probe jedoch nicht notwendigerweise konstant, da es bei der abrupten Verringerung des Werkstoffwiderstandes, wie er beim plastischen Fließen eintritt, für Prüfmaschinen regelungstechnisch sehr schwierig ist, eine konstante Verformungsgeschwindigkeit aufrecht zu erhalten. In manchen Prüfeinrichtungen wird auch nur die Geschwindigkeit der Traverse konstant gehalten, sodass es zu einer deutlichen Steigerung der Verformungsgeschwindigkeit beim Einsetzen plastischen Fließens in der Probe kommt. Weiterhin muss beachtet werden, dass es in langen Zugprobekörpern zu einem lokal sehr unterschiedlichen Fließverhalten kommt, was zu Missinterpretationen der aus dem Experiment erhaltenen Kraft-
362
8 Experimentelle Ergebnisse
Verschiebungs-Kurven führen kann. Aufgrund dieser besonderen Problematik beschränkt sich die Auflistung der an makroskopischen Probekörpern bestimmten Werte auf die Parameter Fließspannung (σF) und Verfestigung (h), welche zusammen mit der beim Versuch verwandten Dehnungsgeschwindigkeit (dε/dt) in Tabelle 8.11 übersichtsartig aufgelistet sind. Wie die starke Streuung der in verTabelle 8.11 Fließspannung (σF) und Verfestigung (h) für SnPb37 bei erhöhten homologen Temperaturen σF [MPa]
h [MPa]
T[K]
dε/dt [s-1]
Bemerkunga
39
0
298
0,007
Zugversuch, Bulkprobe (34 mm x 10 x 5
45
-
300
0,0055
Quelle [42]
mm2)
Zugversuch, Miniaturprobe
[46]
2
(18 mm x 3 x 0,39 mm ) 37,2
4,14
208
31,7
2,07
273
27,6
1,38
298
20,7
0,62
348
15,2
0,34
373
8,3
0,09
398
33,0
25,2
300
33,3
14,5
13,6
1,6
0,17
17,6
0
0,017
30...32
-
298
37...44
0,002
Zugversuch, Bulkprobe
[569]
4,17
Zugversuch, Bulkprobe
[572]
1,67
(25,4 mm x 9,14 x 8,64 mm2)
(5...30).10-3 0,2...0,5
46,0
51,1
37,5...38,7
3,0
2
27,9...29,6
0...5,0
0,2
20,1
1,7
0,02
300
20
Torsionsversuch an Lotring mit Durchmesser 23,4 mm, Breite 1,27 mm, Spaltdicken von 0,25 mm und 0,7 mm
[39]
Druckversuch an Lotstangen mit Längen von 12,7 mm, 25,4 mm, 38,1 mm und einem Durchmesser von 25,4 mm
[572]
a. Angaben erfolgen für Proben mit rechteckigem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Breite x Tiefe und für Proben mit rundem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Querschnittsfläche
schiedenen Untersuchungen ermittelten Werte für die Fließspannung zeigt, ist es bei einem zweiphasigen Material, wie dem eutektischen SnPb-Lot, nicht einfach, die Fließspannung aus der aufgezeichneten Spannungs-Dehnungs-Relation des
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
363
Zugversuchs zu entnehmen. Bemerkenswert ist jedoch, dass auch die für die Bestimmung der Fließspannung grundsätzlich geeigneteren alternativen Untersuchungsformen, wie Torsions- und Druckversuch, nicht zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangen. Eine der großen Schwierigkeiten bei der Auswertung aller Versuchstypen besteht im allmählichen Abknicken zwischen dem elastischen und plastischen Bereich der Spannungs-Dehnungs-Kurve. Unter diesem Gesichtspunkt sind besonders die Ergebnisse aus [572] zu berücksichtigen. In dieser Untersuchung wurden die plastischen Eigenschaften eines eutektischen Lots (63,33%-Sn/ 36,34%-Pb) mit denen eines naheutektischen (67,03%-Sn/32,66%-Pb) bei einer –1 Dehnungsgeschwindigkeit von dε ⁄ dt = 0,02 s verglichen. Dabei wurde festgestellt, dass das Fließen des naheutektischen Lotes bei einer niedrigeren Spannung (σF = 34 MPa) als beim eutektischen Lot (σF = 41 MPa) einsetzt. Darüber hinaus zeigten sich auch Unterschiede im Verlauf der Spannungs-Dehnungs-Kurven beider Lote. Während die Spannungs-Dehnungs-Kurve des eutektischen Lotes sehr scharf am Fließpunkt abknickte, wies die Spannungs-Dehnungs-Kurve des naheutektischen einen allmählichen Übergang zum plastischen Bereich auf, wobei das zinnreichere Lot eine höhere Verfestigung als das eutektische aufweist. Diese Ergebnisse geben zu der Vermutung Anlass, dass - bedingt durch die sehr unterschiedlichen Fließspannungen der beiden Phasen, d. h. die des zinnreichen α Mischkristalls (Zusammensetzung bei Raumtemperatur etwa 99,7%Sn-0,3%Pb) mit σ F ≈ 20 MPa 1 und die des bleireichen β -Mischkristalls (Zusammensetzung bei Raumtemperatur etwa 98,1%Pb-1,9%Sn) mit σ F ≈ 10 MPa 2 - es zu einem inhomogenen Materialfließen kommt, wodurch die Morphologie des untersuchten Probenbereiches sehr großen Einfluss auf den Verlauf der Verformungsreaktion hat, denn wie aus [572] weiter hervorgeht, ergab sich bei den geringfügig unterschiedlich zusammengesetzten SnPb-Legierungen kein Unterschied in der Zugfestigkeit.
8.3.3.2 Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten Für die Untersuchung des Deformationsverhaltens von SnPb-Lot an kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten wurde die in 7.4.4.3 besprochene Probekörperkonzeption verwendet, bei welchem 2 Si-Chips über 4 Eckkontakte miteinander verbunden sind (Abb. 8.2). Durch diese Probeköpergestaltung ergibt sich einerseits eine gleiche Belastung aller Kontakte und andererseits wird die Verschmierung der Kraft-Weg-Charakteristik eines Einzelkontaktes aufgrund der sich einstellenden Formunterschiede zwischen den Kontakten so gering wie möglich gehalten. Eine Probekörpergestaltung mit nur einem Kontakt ist wegen der daraus folgenden man1. Für den zinnreichen α -Mischkristall wurde der Wert der Fließspannung für polykristallines Sn aus [558] bei einer Temperatur von 296 K angenommen. 2. Für den bleireichen β -Mischkristall wurde der Wert der Fließspannung für polykristallines Pb2wt% Sn aus [166] bei einer Temperatur von 298 K angenommen.
364
8 Experimentelle Ergebnisse
Siliziumchip Größe = 3,3 mm X 3,3 mm
Flip-Chip-Bump Grundfläche 100 mm X 100 mm
a)
Siliziumchip 1
b)
Siliziumchip 2
c)
Flip-Chip-Kontakt
Abb. 8.2 Flip-Chip-Probekörper: a) Chiplayout mit 4 Eckbumps, b) Gefügter Probekörper, bestehend aus zwei identischen Siliziumchips (Seitenansicht), c) Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Eckkontaktes mit (erzwungner) hyperboloider Form
gelnden Stabilität des Probekörpers nicht möglich und eine Lösung mit 3 Kontakten verletzt die Symmetriebedingungen quadratischer Grundflächen, wie sie in der Mikroelektronik üblich sind. In der konkreten Realisierung wurden Siliziumchips mit dem TU Dresden-Testchiplayout TC1 [576] verwendet, welche eine Kantenlänge von 3,3 mm x 3,3 mm hatten (Abb. 8.2). Voraussetzung für den Flip-Chip-Fügeprozess ist das Vorhandensein von Lotbumps (Lothügeln), die miteinander zu einem Kontakt verschmolzen werden. Diese Bumps werden über vakuumtechnische, galvanische und/oder drucktechnische Prozesse auf einen Siliziumwafer aufgebracht. Der in Abb. 8.3 dargestellte prinzipielle Aufbau solcher Bumps besteht aus einer Unterbumpmetallisierung und dem eigentlichen Lothügel. Die Unterbumpmetallisierung (UBM) setzt sich in der Regel aus einer Barriereschicht (z. B. WTi) und einem Metallisierungsmaterial hierfür kommen alternativ Cu oder Ni zum Einsatz - zusammen. Die Herstellung der UBM erfolgt durch vakuumtechnische Abscheidung des Barriere- und Metallisierungsmaterials, welcher eine chemisch stromlose bzw. galvanische Verstärkung der Metallisierung folgt. Die anschließende Abscheidung des Lotmaterials kann entweder galvanisch oder drucktechnisch erfolgen. Für die verwendeten Probekörper erfolgte die Herstellung der SnPb-Bumps durch galvanische Abscheidung aus einem vorgefertigten Elektrolyten eutektischer Zusammensetzung auf die in Abb. 8.3 skizzierte Unterbumpmetallisierung (TU Dresden, Standardprozess). Zur Herstellung lötfähiger SnPb-Bumps wurde das elektrolytisch abgeschiedene Lot in einem Glyzerinbad bei 220°C umgeschmolzen
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
365
Lothügel 65...125µm Padlänge 100...200µm
a)
Kontaktdurchmesser
c)
Metallisierung Cu, 7µm Barriere, WTi, 100nm Passivierung Leitbahn, AlSi1 Oxid
b)
Kontakthöhe
d)
Abb. 8.3 Beispiel für den Aufbau von Lotkontakten: a) Schematische Darstellung der Schichtfolgen im Lotbump nach (galvanischem) Standard-Bumping-Prozess der TU Dresden, b) Rasterelektronenmikroskopaufnahme (Rückstreukontrast; hell = Pb, dunkel = Sn) von umgeschmolzenen SnPb-Lotbumps auf einem Siliziumchip, c) schematische Darstellung der Schichtfolgen im Lotkontakt eines Flip-Chip-Probekörpers, d) Rasterelektronenmikroskopaufnahme (Rückstreukontrast) eines SnPb-Lotkontaktes im Flip-Chip-Probekörper mit hyperboloider Form
[507]. Die Montage des aus zwei identischen Siliziumchips bestehenden Probekörpers erfolgte am Flip-Chip-Bonder SET 950, wobei durch eine spezielle z-Bewegung des oberen Siliziumchips eine hyperboloide Kontaktform eingestellt wurde (vgl. 7.4.4.3). Zur Untersuchung der instantanplastischen Eigenschaften an den beschriebenen Flip-Chip-Probekörpern wurde die unter 7.5.3.2 beschriebene Versuchseinrichtung eingesetzt. Ziel der Versuche war die Charakterisierung des elastisch-plastischen Verhaltens bei höheren Temperaturen (T = 5 °C ... 50 °C, d. h. T hom > 0,6 ) und –2 0 –1 · mittleren Verformungsgeschwindigkeiten ( ε = 10 …10 s ) , bei denen nur eine geringe Abhängigkeit der Fließspannung von der Verformungsgeschwindigkeit besteht. Da die Natur der zu erwartenden Beanspruchungen von Lotkontakten dadurch gekennzeichnet ist, dass diese zyklisch mit einer bestimmten Dehnungsamplitude verformt werden, wurde im ersten Schritt der Untersuchung das zyklische Verfestigungsverhalten der SnPb37-Legierung charakterisiert. Dabei wird untersucht, ob eine zyklisch wiederkehrende Beanspruchung des Werkstoffs zu Veränderungen der Werkstoffeigenschaften aufgrund von Ver- und Entfestigungsprozessen führt (vgl. 5.5.2). Zu diesem Zweck wurde ein Versuch mit sich zyklisch wiederholender symmetrischer Dreiecksdehnung einer konstanten Amplitude und einer konstanten Periodendauer durchgeführt. Das Belastungsprofil und das Ergebnis dieses Versuches sind in Abb. 8.4 dargestellt. Im Kraft-Verschiebungs-Diagramm sind die Ver-
366
8 Experimentelle Ergebnisse
s sA
0,4
T = 300 K Zyklus 2...100
0,3 0,2
t
Kraft [N]
0,1 0,0 -0,1 -0,2 -0,3
-sA
tp
-0,4 -1
0
1
Verschiebung [µm]
a)
b)
Abb. 8.4 Versuch zur Ermittlung des zyklischen Ver- und Entfestigungsverhaltens an Flip-ChipKontakten aus SnPb37-Lot aus [12]: a) Belastungsprofil zur Aufnahme des zyklischen Verformungsverhaltens, b) Daten für Verformungshysteresen der ersten 100 aufeinanderfolgenden Zyklen, welche deutlich zeigen, dass der Werkstoff kein zyklisches Ver- oder Entfestigungsverhalten aufweist.
formungshysteresen vom zweiten bis zum hundertsten Zyklus aufgezeichnet. Es zeigt sich, dass alle Hysteresen deckungsgleich aufeinanderliegen. Daher ist davon auszugehen, dass das SnPb37-Lot kein Ver- oder Entfestigungsverhalten bei zyklischer Beanspruchung aufweist [12]. Aufgrund dieser Eigenschaft konnte ein Versuchsablaufplan erarbeitet werden, in dem nacheinander verschiedene Einzelversuche an einer Probe durchgeführt werden. Darüber hinaus kann ein Wechsel der Versuchstemperatur nach Beendigung einer bestimmten Anzahl von Versuchen erfolgen. Zur Charakterisierung der quasistatischen Verformungseigenschaften wurden in der in [12] beschriebenen Untersuchung verschiedene Arten von Versuchen durchgeführt. Das linke Diagramm in Abb. 8.5 zeigt die Ergebnisse aus einem Versuch mit Variation der Verformungsamplituden. Dabei sind vier Kraft-VerschiebungsHysteresen übereinander dargestellt. Die dazugehörigen Einzelversuche fanden nacheinander an einer Probe statt und die Amplitude der Dreiecksverschiebung wurde von Versuch zu Versuch etwa verdoppelt. Die Verschiebegeschwindigkeit war für alle Hysteresen gleich und wurde mit einem Wert von ds ⁄ dt = 8 μm ⁄ s relativ hoch gewählt, um den Anteil einer möglichen Kriechverformung gering zu halten. Die kleinste Hysterese, die aus dem Versuch mit der Amplitude von s A = 0,25 μm entstand, weist keinen plastischen Bereich auf. Die aus dem Versuch mit einer Amplitude von s A = 0,5 μm entstandene nächst größere Hysterese weist einen plastischen Anteil der Verschiebung von s pl = 0,2 μm auf beiden Seiten der Hysterese auf. Dies bedeutet, dass die Fließgrenze bei einer Verschie-
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
0,4
A1 = 0,25 µm A2 = 0,5 µm A3 = 1,0 µm A4 = 2,25 µm
0,4
0,0
0,0
-0,2
-0,2
-0,4
-0,4
-2,5
-2,0
-1,5
-1,0
-0,5
0,0
0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
-2,0
Verschiebung [µm]
a)
T = 278 K T = 323 K Periodendauer T3
0,2
Kraft [mN]
Kraft [mN]
0,2
367
-1,5
-1,0
-0,5
0,0
0,5
1,0
1,5
2,0
Verschiebung [µm]
b)
Abb. 8.5 Versuche zur Ermittlung des quasistatischen Verformungsverhaltens an Flip-ChipKontakten aus SnPb37-Lot aus [12]: - a) Kraft-Verschiebungs-Hysteresen für verschiedene Amplituden aus Versuch mit Dreiecksdehnung (Amplituden s1...s4 = 0,25 mm, 0,5 mm, 1 mm, 2,25 mm; T = 278 K); b) Kraft-Verschiebungs-Hysteresen gleicher Amplitude und Periodendauer bei unterschiedlichen Temperaturen (T1 = 278 K, T2 =323 K) aus Versuchen mit symmetrischer Dreiecksdehnung (s = 1,5 mm, tp = 1 s)
bung von s F = 0,3 μm liegt. Wird die größte Hysterese ( s A = 2,25 μm ) auf die Hälfte ihrer Größe herunterprojiziert und diese Projektion so verschoben, dass der negative Wendepunkt im Ursprung des Diagramms liegt (graue Hysterese in Abb. 8.5 a), so ist zu beobachten, dass der oberste Ast dieser Hysteresenprojektion (im ersten Quadranten) durch die Umkehrpunkte aller vier Hysteresen läuft. Dies bedeutet, dass die Hysteresenform unabhängig von der Amplitude der Dreiecksverschiebung ist. Es ist daher möglich, das Hystereseverhalten des SnPb37-Lotes über eine zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve darzustellen, aus der sich eine Hysterese beliebiger Amplitude erzeugen lässt [12]. Das Diagramm in Abb. 8.5 b zeigt zwei Kraft-Verschiebungs-Hysteresen, die aus einem Versuch bei zwei unterschiedlichen Temperaturen (T1 = 278 K, T2 = 323K) bestimmt wurden. Beide Versuche wurden nacheinander an der gleichen Probe mit derselben Amplitude und einer Periodendauer ( s A = 1,5 μm, t p = 1 s ) der Dreiecksverschiebung durchgeführt. Aufgrund der apparativen Begrenzungen bei der Wahl des Versuchstemperaturbereiches (vgl. 7.5.3.2) war bei der Charakterisierung des quasistatischen Verformungsverhaltens nur eine Abdeckung des Bereiches der homologen Materialtemperatur von 0,6 Ts auf 0,7 Ts möglich [12]. Aufgrund der sich während der durchgeführten Versuche permanent ändernden Spannungsverteilung im Lotkontakt war es zur Ermittlung des Spannungs-Dehnungs-Verhaltens des Lotmaterials notwendig, eine FE-Analyse der Versuche vorzunehmen, wie sie in 7.4.4.3 beschrieben ist. Dazu wurde in der FEM-Simulationssoftware ANSYS™ das instantanplastische Verhalten des Lotwerkstoffes unter Nutzung eines multilinearen Modells mit kinematischer Verfestigung implemen-
368
8 Experimentelle Ergebnisse
0,4
σ3 σ2
Messdaten bilinear trilinear quadlinear
0,2
Kraft [N]
σ1
0,0
-0,2
-0,4
ε1
-2
ε3=100%
ε2
-1
0
1
2
Verschiebung [µm]
a)
b)
c) T
ε1
ε2
σ1 [MPa]
σ2 [MPa]
σ3 [MPa]
278 K
0,0007
0,003
21
41
600
323 K
0,0007
0,003
19
31
200
278 K
0,0007
0,003
18
35
510
ausgelagert
323 K
0,0007
0,003
16
26
340
125 °C/ 500h
erstarrt
Abb. 8.6 a) Linear-elastisches und starr-plastisches Modell mit kinematischer Verfestigung in trilinearer Formulierung, b) Vergleich eines bilinearen, trilinearen und quadlinearen Modells zur Beschreibung des elastischen und plastischen Verformungsverhaltens mit Werkstoffdaten des Experiments aus [12], c) Parameter eines trilinearen Modells für SnPb37-Lot
tiert. Hierbei zeigte sich, dass für die Nachbildung des elastisch-instantanplastischen Verhaltens von SnPb37 ein trilineares Modell gegenüber einem bilinearen besser geeignet war [12, 29].Wie aus dem Vergleich der Messdaten mit den aus der Simulation errechneten Kraft-Verschiebungs-Werten in Abb. 8.6 b hervorgeht, gelingt es, durch den Einschub eines Zwischenbereiches (Abschnitt II) im multilinearen Modell sich besser an das experimentell bestimmte Verformungsverhalten anzunähern. Die physikalisch-werkstoffwissenschaftliche Interpretation dieses zweiten eingeschobenen Abschnitts zwischen dem elastischen (Abschnitt I) und dem plastischem Materialverhalten (Abschnitt III) ist vage. Obwohl die Vermutungen, dass bei steigender Spannung eine zunehmende Anzahl von Gleitsystemen aktiviert wird, bevor ein eingeschwungener Zustand der plastischen Verformung
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
369
erreicht wird, oder dass sich durch die unterschiedlichen E-Module und Fließgrenzen der beiden Phasen des Materials ein transienter Bereich ergeben muss, naheliegend sind, gibt es keine zwingende Begründung für diese Hypothesen [29]. Letztendlich eignete sich das trilineare linear-instantanplastische Modell mit kinematischer Verfestigung besser als das entsprechende bilineare Modell, um das elastisch-plastische Materialverhalten des SnPb37-Lotes zufriedenstellend wiederzugeben. Obwohl die Verwendung eines quadlinearen Modells eine noch bessere Annäherung an die Messdaten ermöglichte (Abb. 8.6 b), ergab sich aufgrund der zugrunde liegenden Genauigkeit der Messdaten keine höhere Genauigkeit dieses Modells gegenüber dem trilinearen [12]. Aus dem Vergleich der unausgelagerten mit den thermisch ausgelagerten Proben (500h bei 125 °C) ist ersichtlich, dass es infolge der durch die thermische Auslagerung einsetzenden Kornvergröberung zu einem Absinken der Fließspannung kommt, wie dies aus der Hall-Petch-Beziehung zu erwarten ist.
8.3.4 Kriechverhalten
8.3.4.1 Untersuchungen an Bulkproben Der Hauptteil der bis in die 80er Jahre unternommenen Anstrengungen der experimentellen Charakterisierung des Zinn-Blei-Eutektikums geht auf eine Entdeckung Pearsons [276] zur superplastischen Verformbarkeit dieser Legierung zurück. An extrudierten Stäben hatte er nachgewiesen, dass sich die eutektische SnPb-Legierung bis auf das 20-fache ihrer Ausgangslänge dehnen lässt. Später konnte gezeigt werden, dass die eutektische Zusammensetzung des Zinn-BleiLotes keine notwendige Voraussetzung für superplastische Verformung ist [35]. Durch die eutektische Zusammensetzung kann allerdings die bei der Extrusion entstandene feine Kornstruktur am besten aufrechterhalten werden. Zur Untersuchung des Phänomens der superplastischen Verformung von Metallen wurden eine Reihe von Untersuchungen an der eutektischen SnPb-Legierung durchgeführt, wobei festgestellt wurde, dass sich das zeitabhängige Verformungsverhalten in zwei bis drei Bereiche einteilen lässt. Während für den untersten Spannungsbereich (Bereich I) verschiedene experimentelle Befunde sowie metallphysikalische Interpretationen bestehen, existieren übereinstimmende Erkenntnisse für den mittleren (Bereich II; superplastische Verformung) und den oberen Spannungsbereich (Bereich III, Kriechverformung durch Versetzungsklettern), sodass die Verformungskinetik für die letzten beiden Bereiche über folgende Gleichung modelliert werden kann n
II Q II· Q III· n III σ · + A III ⋅ σ ⋅ exp § – -------ε = A II ⋅ -------p- ⋅ exp §© – ------¹ © RT ¹ , RT d
(8.10)
370
8 Experimentelle Ergebnisse
wobei d der Korngröße entspricht, p den Korngrößenexponenten wiedergibt und A II , A III Vorfaktoren sind. Der erste Term in Gleichung (8.10) beschreibt die Verformungskinetik im Bereich II und der zweite Term die des Bereiches III. Die für beide Bereiche aus verschiedenen Publikationen entnommenen, experimentell ermittelten charakteristischen Modellparameter Spannungsexponent n II, n III und Aktivierungsenergie Q II, Q III sind in Tabelle 8.12 zusammen mit wichtigen VerTabelle 8.12 Vergleich der Spannungsexponenten n und Aktivierungsenergien Q (für den Bereich mittlerer Spannungen) zwischen Experimenten an extrudierten Lotprobekörpern sowie Darstellung der entsprechenden Versuchsbedingungena nII
nIII
QII
QIII
dε/dt
[kJ/mol] [kJ/mol] [s-1]
T
d
V
[K]
[μm]
[m3]
Quelle
2,0
7,1
48,2
81,3
10-5...10-2
273...433
5,5...9,9
5·10-7
[24]
1,67
11,1
44,7b 81,1c
100
10-7...10-2
273...443
9,7...32
5·10-7
[25]
2,0
3...5
48,1
-
10-7...10-2
300
2,0
2,5·10-7
[35]
-7
[43]
-7
2,4
5,7
44,0
87,2
10 ...10
2,0
5,0
-
-
2,5
-
44,8
-
-2
298...373
2,2...6,1
1,5·10
10-5...10-2
300
2,2...8,5
7,5·10-7
[577]
-
-
-
-
[578]
a. Tabellenwerte teilweise aus in den Publikationen enthaltenen Grafiken entnommen. b. Aktivierungsenergie für T < 408 K c. Aktivierungsenergie für T > 408 K
suchsbedingungen aufgeführt. Hierbei zeigt sich, dass die superplastische Verformung des SnPb-Eutektikums durch einen Spannungsexponenten von n = 1,67 ... 2,5 und eine Aktivierungsenergie von etwa Q = 46 kJ/mol gekennzeichnet ist. Anfang der 90er Jahre begannen verstärkt Untersuchungen, welche die experimentelle Charakterisierung des Kriechverhaltens des eutektischen SnPb-Lots mit dem Ziel, geeignete Werkstoffmodelle für Lebensdauerabschätzungen von Lotkontakten in elektronischen Aufbauten bereitzustellen, zum Inhalt hatten. Vorausgegangen waren diesen Bemühungen verschiedene theoretische Modelle zur Lebendauerbewertung [449-452], in deren Fazit die akkurate Nachbildung des Kriechverhaltens des SnPb-Lotes als eine wichtige Voraussetzung für zutreffende Zuverlässigkeitsbewertungen gesehen wurde. Neben verschiedenen Versuchen, die Kriecheigenschaften direkt an Lotkontakten zu bestimmen [10, 27, 28], wurde eine nicht geringe Anzahl von Untersuchungen an Bulkzugproben bzw. bestimmten Scherproben durchgeführt. In den zum Teil sehr voluminösen Probekörpern wurde versucht, durch eine starke Unterkühlung der Schmelze eine SMT-Lotkontakt-ähn-
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
371
liche Mikrostruktur zu erzeugen. In Tabelle 8.13 sind ausgewählte Untersuchungen zu Kriecheigenschaften von erstarrten SnPb-Lot zusammen mit den gewählten Probenvolumina und Versuchsbedingungen aufgeführt. Eine generelle Aussage zu den an erstarrten Bulkproben gewonnenen Kriechdaten ist durch die Heterogenität der Ergebnisse schwierig. Jedoch zeichnen sich zwei grundlegend unterschiedliche Arten der Versuchsergebnisse ab. Einerseits existiert eine Gruppe von Untersuchungen [38, 47, 573, 580], welche zu dem Ergebnis gelangt, dass das Kriechverhalten des eutektischen SnPb-Lotes durch eine einfache Exponentialfunktion zu beschreiben ist: n · Q· ε = A ⋅ σ ⋅ exp § – -----© RT¹
(8.11)
Eine andere Gruppe von Untersuchungen [41, 579, 581] gelangt zu dem Schluss, dass das quasistatische Kriechverhalten - ähnlich dem der Ergebnisse an extrudierten Proben (vgl. Tabelle 8.12) - durch eine bilineare Funktion (ähnlich Gleichung (8.11)) im doppeltlogarithmischen Spannungs-Dehnungsrate-Diagramm, d. h. mit einem Exponenten für den unteren und einem Exponenten für den Tabelle 8.13 Vergleich der Spannungsexponenten n und Aktivierungsenergien Q (für den Bereich mittlerer Spannungen) zwischen Experimenten an erstarrten Lotprobekörpern sowie Darstellung der entsprechenden Versuchsbedingungena Q
dε/dt
σ
T
d
V
[kJ/mol]
[s-1]
[MPa]
[K]
[μm]
[m3]
7,1
-
10-9...10-2
3...30
298
5,0
5·10-8
[38]
4...6,5
113
10-8...10-1
2...40
300
3...4b
2,4·10-9
[41]
8,5
132
10-7...10-1
10...40
295...373
-
1,8·10-6
[47]
10
73
10-6...10-2
30...50
298...443
<10c
1,7·10-6
[573]
6,1
72
10-6...10-3
10...25
218...398
-
1,6·10-6
[579]
5,5
48
10-7...10-1
10...47
298...373
<10d
2·10-8
[580]
3...5
48...83
10-9...101
0,7...70
233...423
0,5...5e
1,8·10-8
[581]
n
Quelle
a. Tabellenwerte z. T. aus in den Publikationen enthaltenen Grafiken entnommen und gerundet. b. Phasenabstand c. Phasenabstand d. Phasenabstand e. Phasenabstand
372
8 Experimentelle Ergebnisse
oberen Spannungsbereich, darzustellen ist. Die für diese Untersuchungen angegebenen Werte für n und Q entsprechen denen des unteren Bereichs [12].
8.3.4.2 Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten Für die Untersuchung des Kriechverhaltens an kleinstvolumigen Flip-ChipKontakten ergeben sich mehrere versuchsmethodische Erfordernisse. Diese umfassen die in 7.5.3 ausführlich beschriebenen spezifischen konzeptionellen Ansätze zum Aufbau einer geeigneten Prüfapparatur sowie die in 7.4.4.2 und 7.4.4.3 aufgeführten detaillierten Überlegungen zur Probekörpergestaltung. Bezüglich beider Aspekte wurden in den konkreten Untersuchungen zum Kriechverhalten des eutektischen Sn-Pb-Lots die bei der Bestimmung der instantanplastischen Verformung verwendeten Konfigurationen genutzt (vgl. 8.3.3.2, Abb. 8.2). Ein weiterer, unmittelbar mit den Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten zusammenhängender versuchsmethodischer Aspekt betrifft die Art und Weise, wie unter gegebener Probekörpergeometrie und Prüfmaschineneinspannung ein Belastungsregime zu wählen ist, um das Kriechverhalten adäquat zu charakterisieren. In einigen Untersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten [11, 27] wird der Zusammenhang zwischen der spezifischen Problematik der für diese Untersuchungen speziell entworfenen Probekörper und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine geeignete Versuchsgestaltung oft übersehen und stattdessen auf ein Belastungsregime zurückgegriffen, welches für einachsig beanspruchte Zugproben in einer Zeit entwickelt wurde, in der die steuerungstechnischen Möglichkeiten für komplexe Versuchsverläufe begrenzt waren (vgl. 7.2). Um die speziellen, für Kriechuntersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten erarbeiteten Belastungsregime in Bezug auf Untersuchungen an Bulkprobekörpern geeignet darzustellen, soll zunächst auf die Ziele und Möglichkeiten der Bestimmung wesentlicher, das Kriechverhalten charakterisierender Kennwerte eingegangen werden, bevor auf die besonderen Erfordernisse bei Experimenten an kleinstvolumigen Lotkontakten eingegangen wird. Durch die Komplexität der Erscheinungsform der zeit- und temperaturabhängigen Verformung von Metallen haben sich bei der experimentellen Untersuchung des Kriechverhaltens bestimmte ingenieurtechnisch-pragmatische Vorgehensweisen entwickelt, um eine fassbare Beschreibung des Verformungsverhaltens zu erhalten. Zu den üblichen, für die meisten Anwendungen ausreichenden Charakterisierungen des Kriechverhaltens gehört die experimentelle Bestimmung der das quasistatische Kriechen beschreibenden Werkstoffparameter Spannungsexponent n und Aktivierungsenergie Q (vgl. 5.4.3.3). Hierfür folgt aus Gleichung (5.41), dass die Bestimmung des Spannungsexponenten n über folgende Ableitung möglich ist. · ∂ log ( ε ss ) n = ----------------------∂ log ( σ )
(8.12) · ε, σ, T = const.
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
s
373
Lastbedingung F F = const. s = const. t Materialantwort
F
t
s F = const.
s = const. t
t
Abb. 8.7 Prinzipien von Versuchsverläufen zur Bestimmung des quasistatischen Kriechverhaltens
Die Erfüllung der in der Gleichung (8.12) geforderten Randbedingungen · ε, σ, T = const. lässt sich am einfachsten erzielen, indem bei einem isothermen Versuch entweder die Verformungsgeschwindigkeit s· = const. oder die Versuchskraft F = const. während des Versuches konstant eingeregelt werden, vorausgesetzt, die Probe befindet sich auf einer ausreichend hohen homologen Temperatur (0,4 Tm für metallische Legierungen), um die dem Kriechen zugrunde liegenden Mechanismen zu aktivieren. Die Funktionsweise beider Versuche ist in Abb. 8.7 dargestellt. Nachdem ein transienter Bereich des Verformungsverhaltens (links der gestrichelten Linie) durchlaufen wurde, gelangt das Material in den Zustand, in dem in beiden Fällen die geforderten Randbedingungen für das quasistatische Kriechen · ε, σ, T = const. erfüllt sind. Aus diesem rechts der gestrichelten Linie befindlichen Bereich lässt sich nun das Wertetripel s·, F, T entnehmen, welches das Ergebnis dieses Einzelversuches darstellt. Zur Beschreibung eines funktionalen Zusammenhangs für das quasistatische Kriechen, wie in Gleichung (5.41), sind mehrere solcher Einzelversuche bei verschiedenen Dehnungsgeschwindigkeiten s·1, s·2, s·3 ... s·n bzw. verschiedenen Versuchskräften F 1, F 2, F 3 ... F n notwendig. Für die Durchführung von Experimenten zur Ermittlung des quasistatischen Kriechverhaltens sind die in Abb. 8.7 dargestellten Versuchsverläufe jedoch ungeeignet. Im Gegensatz zu Experimenten an makroskopischen Probekörpern ist die Ermittlung der s·, F, T -Tripel durch Versuche an mehreren Probekörpern ungünstig. Die Geometrie eines Flip-Chip-Kontakts lässt sich nicht genau einstellen, sondern hängt stark vom Ausgangsvolumen der Lotbumps sowie der Oberflächenspannung des Lotes ab. Beide Parameter sind im Flip-Chip-Prozess gewissen Schwankungen unterworfen, sodass zwischen benachbarten Kontakten von Flip-
374
8 Experimentelle Ergebnisse
Chip-Aufbauten immer wieder starke Geometrieunterschiede beobachtet wurden [582]. Einen Ausweg aus der Problematik der Verwendung verschiedener Proben bei Kriechtests versuchten Lee und Hart [583] durch den Einsatz von Relaxationstests zu finden. In einem solchen Test kann eine komplette Spannungs-DehnungsrateFunktion an einem Probekörper bei einer Temperatur aufgenommen werden. Jedoch, das räumen Lee und Hart im zitierten Artikel ein, können die aus einem solchem Test erhaltenen Spannungs-Dehnungsrate-Funktionen stark interpretationsbedürftig sein, da die Versuchsergebnisse des Relaxationstests keine Separation von quasistatischen Kriechanteilen, transienten Kriechanteilen und anelastischen Relaxationsanteilen zulassen. Daher ist der Relaxationstest zwar sehr gut geeignet, bekanntes Kriechverhalten zu überprüfen, jedoch wenig geeignet, unbekanntes Kriechverhalten zu untersuchen. Die von vielen Annahmen gekennzeichnete Prozedur zur Auswertung der im Relaxationstest ermittelten zeitabhängigen Verformungseigenschaften von Weichloten wird aus den Untersuchungen in [584] sehr deutlich. Den besten Ausweg aus der aufgezeigten Problematik der Geometrieschwankungen zwischen einzelnen Lotkontakten bieten Versuche mit einer wechselnden Scherbelastung. Im Gegensatz zu Versuchen mit monotoner Belastung, bei denen die Probe grundsätzlich zerstört wird, bewirkt die Ausführung eines einzelnen Wechselbelastungszyklus (bei entsprechend kleiner Dehnungsamplitude) nur eine geringe Degradation des Probenwerkstoffes. Hierdurch eröffnet sich für die praktische Versuchsplanung die Möglichkeit, verschiedenartige Untersuchungen nacheinander an der gleichen Probe durchführen zu können. Dabei muss allerdings gewährleistet bleiben, dass nach der Degradation des Werkstoffs durch die vorausgegangenen Untersuchungen die Werkstoffeigenschaften nicht erheblich verändert wurden. Um dies zu überprüfen, kann z. B. die Reihenfolge der Einzeluntersuchungen bei verschiedenen Proben verändert werden. Auch die Bestimmung des E-Moduls nach jedem Einzelversuch kann Aufschluss über den Fortschritt der Materialdegradation geben, da diese meist mit Rissprozessen und dadurch mit einer Verringerung des Querschnitts einhergeht. Veränderungen der Werkstoffeigenschaften durch bei zyklischer Verformung mögliche Verund Entfestigungsprozesse treten bei Sn-Pb-Lot, das haben die in 8.3.3.2 (Abb. 8.4) beschriebenen Versuche gezeigt, nicht auf. Für die Bestimmung der Kriecheigenschaften an kleinstvolumigen Flip-ChipLotkontakten wurden - ausgehend von der etablierten Vorgehensweise zur Charakterisierung des zeitabhängigen Verhaltens - die beiden nachfolgend aufgeführten Versuche mit zyklischer Wechselbelastung entwickelt. Der in Abb. 8.7 (links) dargestellte Versuch mit konstanter Verschiebungsrate zur Untersuchung der Kriecheigenschaften wird für wechselnde Belastungen durch einen zyklischen Versuch mit symmetrischer Dreiecksauslenkung (ZVSD) und veränderlicher Periodendauer (Abb. 8.8) repräsentiert. Das Belastungsprofil dieses Versuches besteht aus jeweils 2 Dreiecksauslenkungen pro Periodendauer (t1 ... t6).
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
375
s sA
t1 t2 t3 t4 t5 t6
0,4
t
Kraft [mN]
0,2
0,0
-0,2
-sA
tRELAX 2.t1
a)
-0,4
tRELAX 2.t2
-1,5
2.t3
-1,0
-0,5
0,0
0,5
1,0
1,5
Verschiebung [µm]
b)
Abb. 8.8 a) Belastungsprofil und b) Versuchsergebnis für einen zyklischen Versuch mit symmetrischer Dreiecksauslenkung und veränderlicher Periodendauer aus [12]
Diese haben für den gesamten Versuch eine konstante Amplitude (sA). Zwischen den Doppeldreiecken befindet sich eine Ruhephase zur Materialrelaxation (tRelax). Der in Abbildung Abb. 8.7 (rechts) angedeutete Versuch mit konstanter Kraft als Belastungsbedingung zur Untersuchung der Kriecheigenschaften wird für wechselnde Belastungen durch einen zyklischen Kriech- und Relaxationsversuch (Abb. 8.9) repräsentiert. Die Grundidee dieses Versuchs besteht darin, dass das Aufbringen einer konstanten Belastungskraft nur so lange erfolgt, bis der Probekörper sich bis zum vorgegebenen maximalen Scherwinkel +γ u verformt hat. An diesem Punkt wird nach Durchlaufen einer Relaxationsphase eine entgegengesetzte Kraft aufgebracht, sodass sich der Probekörper bis zum vorgegebenen negativen Scherwinkel – γ u zurückverformt. In der konkreten Versuchsdurchführung werden die Kräfte treppenartig mit unterschiedlicher Stufung bis zum Kraftwert F7/F8 gesteigert. Danach beginnt eine stufenartige Senkung der Versuchskräfte. Dabei wird von Kraftwert F7/F8 in gleicher Weise zu Kraftwert F13/F14 herabgeklettert, wie von Kraftwert F1/F2 zu Kraftwert F7/F8 hinaufgestiegen wurde. Insgesamt ergeben sich dadurch 7 Zyklen mit einer jeweiligen Amplitude von (su) für den gesamten zyklischen Kriech- und Relaxationsversuch [12]. Die mit dem zyklischen Kriech- und Relaxationsversuch an SnPb37-Flip-ChipKontakten für das quasistatische Kriechverhalten ermittelten Daten sind im KraftVerschiebungsrate-Diagramm in Abb. 8.10 dargestellt. Insgesamt wurden Versuche an 10 verschiedenen Proben bei zwei Temperaturen (T1 = 278 K, T2 = 323 K) ausgewertet. Alle ungeraden Probennummern (V1, V3, V5 ...) entsprechen unausgelagerten Proben (feines Gefüge, vgl. Abb. 8.10 b) und alle geraden Probennummern (V2, V4, V6 ...) entsprechen thermisch ausgelagerten Proben (T = 150° C/ 168 h, grobes Gefüge, vgl. Abb. 8.10 c). Aus den Ergebnissen der Kriechversuche ist daher kein Einfluss der Gefügeentwicklung auf die Kriecheigenschaften abzulesen [12]. Auf Grundlage der Ergebnisse aus dem zyklischen Versuch mit symmetrischer Dreiecksauslenkung (Abb. 8.8) und dem zyklischen Kriechversuch (Abb. 8.10)
376
8 Experimentelle Ergebnisse 0,4 0,3
F
0,2
F3
F26 F27
Kraft [mN]
0,1
F1
0,0 -0,1
2 X F = 0,672 N
-0,2
t
-0,3
-F2
-0,4
Kriechperiode 1
s
Relaxationsperiode 1
Kriechperiode 2
0
b)
Relaxationsperiode 2
2
4
6
8
10
12
14
16
Zeit [s] 3
t -su
Verschiebung [µm]
su
2
F21 F23 F25 F27 F29
1
0
a)
c)
0
10
20
30
40
50
60
Zeit [s]
Beispiel für Lastfolge während des Versuches: su
F1 [N]
F3 [N]
F5 [N]
F7 [N]
F9 [N]
F11 [N]
F13 [N]
1,5mm
0,072
0,096
0,120
0,144
0,192
0,240
0,288
-su
F2 [N]
F4 [N]
F6 [N]
F8 [N]
F10 [N]
F12 [N]
F14 [N]
-1,5mm
-0,072
-0,0496
-0,120
-0,144
-0,192
-0,240
-0,288
Abb. 8.9 Belastungsprofil und Versuchsparameter für zyklischen Kriech- und Relaxationsversuch: a) prinzipieller Verlauf von Last und Verschiebung während eines Zyklus im Kriech- und Relaxationsversuch, b) Lastverlauf eines Verschiebungskurvenpaares, welches den gleichen Betrag der Verschiebungsgeschwindigkeit aufweist, c) Verschiebungskurven bei Aufwärts- und Abwärtsbewegung des Betrages der Lastfolge [12]
wurde mit dem in 7.4.4.2 beschriebenen Verfahren ein Kriechmodell für das SnPb37-Lot erarbeitet. Zur Nachbildung des experimentell bestimmten Kriechverhaltens wurden zwei verschiedene Modellgleichungen angesetzt. Die erste orientiert sich an dem bei der theoretischen Beschreibung der Versetzungskinetik (vgl. 5.2.2.3) hergeleiteten Ausdruck in Gleichung (5.25) und wurde in vergleichbarer
quasistatische Kriechrate [µm/s]
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
1
T = 278K T =323 K V1 V1 V2 V2 V3 V3 V4 V4 V5 V5 V6 V6 V7 V7 V8 V8 V9 V9 V10 V10
0,1
0,01
1E-3
377
b)
1E-4
1E-5 1
10
100
Kraft [mN]
a) c) Abb. 8.10 a) Ergebnisse der Untersuchungen zum quasistatischen Kriechen von SnPb37-FlipChip-Lotkontakten in einem Verschiebungsrate-Kraft-Diagramm (10 Proben bei 2 Temperaturen T1 =278 K und T2 =323 K), b) Rasterelektronenaufnahme eines unausgelagerten SnPb37-FlipChip-Kontakts, c) Rasterelektronenaufnahme eines thermisch ausgelagerten (500h bei 125 °C) SnPb37-Flip-Chip-Kontakts [12]
Weise bereits in [27, 579] zur Beschreibung des quasistatischen Kriechverhaltens von SnPb37-Lot verwendet: C σ C2 · ε = C 1 ⋅ sinh §© ------·¹ ⋅ exp §© – -----4-·¹ . C3 T
(8.13)
Dieses oft als Sinushyperbolikusansatz bezeichnete Modell beschreibt im Bereich kleiner Spannungen den Zusammenhang zwischen Dehnungsgeschwindigkeit und Spannung über eine einfache Potenzfunktion (mit rationalem Exponenten). Im Bereich großer Spannungen verwendet das Modell nach Gleichung (8.13) eine Potenzfunktion mit variablem Exponenten, der kontinuierlich mit der Spannung wächst. Über diese funktionale Beschreibung erreicht das Modell nach Gleichung (8.13) eine andere Beschreibung für den Bereich hoher Materialaktivierung, in welchem ein einfaches Potenzgesetz für das stationäre Kriechen seine Gültigkeit verliert und eine plastische Deformationsbeschreibung noch keine ausreichende Rechtfertigung findet. Dadurch kommt es zu einer allmählichen Zunahme des Anstieges im Spannungs-Dehnungsrate-Diagramm für das stationäre Kriechen. Allerdings kann durch diesen einfachen mathematischen, nur mit 4 Parametern
378
8 Experimentelle Ergebnisse
auskommenden Ansatz nicht der Übergang zur instantanplastischen Verformung beschrieben werden, sodass das Kriechmodell in Gleichung (8.13) nur bis zum Erreichen der Fließspannung seine Gültigkeit behält. In Tabelle 8.14 sind die aus den experimentellen Untersuchungen (vgl. Abb. 8.8, Abb. 8.10) ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.13) aufgeführt [12]. Tabelle 8.14 Parameter der Modellgleichung (8.13) für SnPb37 in Flip-Chip-Kontakten aus [12] C1 [s-1]
C2
C3 [MPa]
C4 [kJ/mol]
10
2
5
44,8
Die zweite Modellgleichung orientiert sich an der mit den unter 8.3.4.1 beschriebenen Untersuchungen zur Superplastizität [24, 25, 43, 577] ermittelten Beschreibung, welche zwei Exponententerme verwendet, um jeweils eine Beschreibung des quasistatischen Kriechverhaltens für den Bereich mittlerer und eine Beschreibung für den Bereich hoher Spannungen vorzunehmen: C C σ C2 σ C5 · ε = C 1 ⋅ § ------· ⋅ exp § – ------3-· + C 4 ⋅ § ------· ⋅ exp § – ------6-· . © σN ¹ © σN ¹ © RT¹ © RT¹
(8.14)
Dieses Modell enthält 6 Parameter, wobei die Parameter C 1, C 4 keine echten Werkstoffparameter, sondern lediglich Kalibrierungskoeffizienten des Modells sind. Die Parameter C 2, C 5 stellen die Spannungsexponenten für zwei verschiedene Einzelmechanismen dar, C 3, C 6 ihre zugehörigen Aktivierungsenergien. In Tabelle 8.15 sind die aus den experimentellen Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.14) aufgeführt [12]. Tabelle 8.15 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnPb37 in Flip-Chip-Kontakten aus [12]a C1 [s-1]
C2
C3 [kJ/mol]
C4 [s-1]
C5
C6 [kJ/mol]
0,4
2
44,8
21
7
78,9
a. σ N = 1 MPa
Verglichen mit der Modellierung nach Gleichung (8.13) hebt die Modellgleichung (8.14) besser den Wechsel in der Vorherrschaft zwischen Korngrenzen- und Matrixdiffusion für die Kriechdeformation hervor, welches den metallphysikalischen Vorstellungen über intragranulares Versetzungskriechen (vgl. 5.4.3.4) und über Korngrenzengleiten (vgl. 5.4.3.5) entspricht. Dementsprechend kennzeichnen C 2, C 5 den Typ der vorherrschenden Diffusionsart und C 3, C 6 entsprechen den für die verschiedenen Arten der Diffusion notwendigen Aktivierungsenergien. Aus den experimentellen Untersuchungen geht wegen des begrenzten Versuchstempe-
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
379
raturbereiches (278 K ... 323 K) jedoch nicht eindeutig hervor, ob ein solcher Mechanismenwechsel tatsächlich stattfindet. In den in [581] veröffentlichten, an normal erstarrten Bulkproben durchgeführten Untersuchungen über einen größeren Temperaturbereich (233 K ... 423 K) wurden jedoch unterschiedliche Aktivierungsenergien für unterschiedliche Versuchsbedingungen ermittelt. Allerdings ist in dieser Untersuchung die Korrelation zwischen Aktivierungsenergie und Temperatur größer als die zur Versuchsspannung, sodass sich kein konsistentes Bild mit den Untersuchungen zur Superplastizität [24, 25, 43, 577] ergibt.
8.3.5 Rissausbreitungsverhalten
8.3.5.1 Untersuchungen an Bulkproben Das Problem bei der Analyse der in der Literatur veröffentlichten Untersuchungen zur Rissausbreitung besteht darin, dass in vielen Veröffentlichungen [503, 585-591], welche sich mit Fragen der Rissausbreitung, entsprechender Rissausbreitungsmodelle bzw. bruchmechanischer Schädigungsformulierungen befassen, Ansätze und Methoden genutzt werden, die einen Vergleich zu den an kleinen Lotkontakten durchgeführten Experimenten erschweren. So wird beispielsweise in den sehr häufig zitierten Untersuchungen von Salomon [590], in welchen das Ermüdungsverhalten des SnPb40-Lotes an dünnen, zwischen Messing- bzw. Kupferquadern befindlichen Lotplättchen mit einer Dicke von 0,152 mm ... 0,229 mm und einer Grundfläche 2,54 mm X 12,7 mm bestimmt wurde, das Schädigungsverhalten des Lotes über das in 6.3.3.3 beschriebene Strain-Range-Partioning-Konzept beschrieben. Wie jedoch durch Satoh, Arakawa und Harada [592] später gezeigt wird, lassen sich aus einem materialabhägigen Dehnungsamplitude-LebensdauerAnsatz keine praktischen Abschätzungen für Lotkontakte in elektronischen Aufbauten machen. Wie der Vergleich von Ermüdungsdaten an Lotkontakten von FlipChip-Aufbauten, Small-Outline-Package-Bauelementen und Quad-PlasticPackage-Bauelementen zeigt, existieren bei Verwendung von Coffin-Manson-ähnlichen Beschreibungen starke Abhängigkeiten von der Kontaktgeometrie. Um dieses Problem zu umgehen, wird später von Guo und Conrad [502, 593] vorgeschlagen, eine Rissausbreitungsgleichung auf der Basis eines Schädigungsparameters zu verwenden, bei der die plastische Verformungsenergiedichte (ΔWpl) gegenüber den klassischen bruchmechanischen Parametern ΔK und ΔJ als die beste Variante der Schädigungsmodellierung ermittelt wird. In der Untersuchung von Guo [502] wird ein scheibenförmiger (Lot zwischen zwei Cu-Scheiben) und angekerbter Lotprobekörper mit einem Durchmesser von 4 mm verwendet. Dabei wird das Rissausbreitungsverhalten in einem Bereich der Rissausbreitungsgeschwindigkeiten von 10-7...10-4 m/Zyklus bestimmt und mit einer dem Paris-Erdogan-Gesetz (vgl. 6.3.2.5) verwandten Fitgleichung (Gleichung (8.15)) gegenüber der plastischen Verformungsenergiedichte (ΔWpl) dargestellt:
380
8 Experimentelle Ergebnisse
β da ------- = α ⋅ ( ΔW pl ) dN
(8.15)
Im Ergebnis dieser Untersuchung ergeben sich die in Tabelle 8.16 aufgeführten Werte für die Fitgleichungsparameter α und β .
Tabelle 8.16 Parameter für ein Rissausbreitungsmodell (Gleichung (8.15)) für SnPb63-Lot α
β
T [K]
Probe
Quelle
3,1.10-7
1,59
300
gekerbt
[502]
2,8.10-7
1,50
300
glatt
[502]
8.3.5.2 Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten Mit den in 7.5.3.4 und 7.5.3.5 beschriebenen Versuchseinrichtungen wurde eine große Anzahl von Kriech-Ermüdungs-Versuchen an Flip-Chip-Kontakten durchgeführt. Als Proben wurden die in 8.3.3.2 beschriebenen Flip-Chip-Probekörper mit jeweils 4 Eckkontakten genutzt. Das Versuchsprogramm bestand dabei aus isothermen Ermüdungsversuchen mit einer symmetrischen, zyklischen Wechselbelastung, wobei die Amplitude als auch die Periodendauer eines Wechselbelastungszyklus verändert wurden. Innerhalb eines Versuches wurde von Beginn bis zur vollkommenen Erüdung der Lotkontakte immer mit einer konstanten Amplitude und Periodendauer gearbeitet. Als Wechselbeslastungsprofil wurde eine gleichseitige Dreiecksdehnung verwendet. Andere Profile, wie z. B. Sinus-, Trapez- oder Rechteckfunktionen, kamen nicht zum Einsatz. Alle Versuche wurden bei Raumtemperatur durchgeführt [594]. Zur Ermittlung der phänomenologischen Erscheinung der Ermüdungsrissbildung in Lotkontakten wurden zunächst Versuche mit der in 7.5.3.4 beschriebenen Versuchseinrichtung im Rasterelektronenmikroskop durchgeführt. Dabei wurden die Lotkontakte mit den oben beschriebenen Wechselbelastungszyklen bei einer Periodendauer von T = 10 s und einer Dehnungsamplitude von Δε = 0,8 μm .... 5 μm ermüdet. In Abhängigkeit von der Dehnungsamplitude wurden in einem festen Abstand (5 ... 25 Zyklen) rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen (mehrere Aufnahmen an verschiedenen Stellen der Verformungshysterese) vom Lotkontakt gemacht, um ein kontinuierliches Bild der Schädigung zu erhalten (vgl. Abb. 8.11, Abb. 8.12). Die Zeitdauer eines Bildaufnahmezyklus betrug ca. 30 min. Aus diesen Ermüdungsuntersuchungen an SnPb-Flip-Chip-Lotkontakten im Rasterelektronenmikroskop geht hervor, dass sich der Riss immer im oberen bzw.
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei Dehnungsamplitude Δε = 0,8 μm
Dehnungsamplitude Δε = 2,5 μm
a) Ausgangszustand
e) Ausgangszustand
b) 20000. Zyklus
f) 1000. Zyklus
c) 25000. Zyklus
f) 2000. Zyklus
c) 30000. Zyklus
f) 3000. Zyklus
381
Abb. 8.11 Ergebnisse der Rissausbreitungsexperimente im Rasterelektronenmikroskop mit der in 7.5.3.4 beschriebenen Deformationseinrichtung, Ergebnisse aus Rissausbreitungsversuch in einem SnPb37-Flip-Chip-Kontakt (1. Versuch: Dehnungsamplitude Δε = 0,8 μm, Kontakt im a) Ausgangszustand und nach b) 20000, c) 25000, d) 30000 Wechselbelastungszyklen. 2. Versuch: Dehnungsamplitude Δε = 2,5 μm, Kontakt im a) Ausgangszustand und nach b) 1000, c) 2000, d) 3000 Wechselbelastungszyklen).
382
8 Experimentelle Ergebnisse
Dehnungsamplitude Δε = 5 μm
a) Ausgangszustand
b) 75. Zyklus
b) 150. Zyklus
d) 300. Zyklus
Abb. 8.12 Ergebnisse der Rissausbreitungsexperimente im Rasterelektronenmikroskop mit der in 7.5.3.4 beschriebenen Deformationseinrichtung, Ergebnisse aus Rissausbreitungsversuch in einem SnPb37-Flip-Chip-Kontakt (2. Versuch: Dehnungsamplitude Δε = 5 μm, Kontakt im a) Ausgangszustand und nach b) 1000, c) 2000, d) 3000 Wechselbelastungszyklen).
unteren Drittel (bezüglich der Höhe des Kontaktes) ausbreitete, sogar dann, wenn an anderen Stellen des Kontaktes (z. B. im Zentrum) deutlich Inhomogenitäten in Form von Oberflächenporen zu beobachten waren. Wurde der Lotkontakt mit kleinen Dehnungsamplituden belastet (Δε = 0,8 μm, siehe Abb. 8.11), konnte über eine verhältnismäßig lange Phase eine gleichmäßige Schädigung des Lotkontaktes über einen breiten Bereich beobachtet werden, welcher eine relativ kurze Phase einer äußerlich wahrnehmbaren Rissausbreitung folgte. Wenn davon ausgegangen wird, dass sich in der ersten Phase viele kleine Einzelrisse bilden, welche dann zu einem Hauptriss zusammenwachsen, erfolgt die Berechnung der mittleren Rissausbreitungsgeschwindigkeit da/dN über da ------- = dN
dΔF 1 2 n ⋅ dr ⋅ – ----------- ⋅ ---------- , dN ΔF 0
(8.16)
wobei dr der Kontaktdurchmesser an der Rissstelle, ΔF0 die Kraftamplitude beim 1. Zyklus und d(ΔF)/dN der Abfall der Kraftamplitude über der Zyklenzahl N
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
1500. Zyklus
Kraft [N]
Kraft [N]
1.Zyklus
383
Verschiebung [μm]
Verschiebung [μm]
Abb. 8.13 Parameter aus den aufgezeichneten Hysteresen des 1. Zyklus und des 1500. Zyklus des Rissausbreitungsexperiments, ΔWpl = durch plastische Dehnung verrichtete Arbeit, ΔWoc = durch das Aufeinanderdrücken von Rissoberflächen scheinbar verrichtete Arbeit aus [12]
ist. Der Kontaktdurchmesser an der Rissstelle dr konnte über die In-situ-Experimente im Rasterelektronenmikroskop bestimmt werden. Die Anzahl n der wachsenden Risse lässt sich aus dem Experiment jedoch schlecht bestimmen, wodurch die Formel nicht wirklich geeignet ist, um zu Aussagen über die Risswachstumsgeschwindigkeit zu gelangen. Aus diesem Grund sind zur Ermittlung einer Rissausbreitungsgeschwindigkeit Ermüdungsexperimente mit großen Dehnungsamplituden (z. B. Δε = 5 μm, siehe Abb. 8.12) besser geeignet, bei denen über die gesamte Zeitdauer der Werkstoffermüdung die Ausbreitung eines Einzelrisses über die Kontaktbreite beobachtet wurde [12]. Zur Ermittlung der quantitativen Zusammenhänge der Ermüdungsrissbildung in Lotkontakten wurden in einem zweiten Schritt Versuche mit der in 7.5.3.5 beschriebenen Ermüdungseinrichtung durchgeführt. Dabei wurden die Lotkontakte mit den eingangs beschriebenen Wechselbelastungszyklen verschiedener Periodendauer und Dehnungsamplitude beansprucht. Die Periodendauer wurde bei einer konstanten Dehnungsamplitude von Δε ~ 1,3 % (Δs = 1,3 μm) im Bereich von T = 0,1 s ... 2500 s variiert. Die Dehnungsamplitude wurde bei einer konstanten Periodendauer von T = 1 s im Bereich von Δε ~ 0,3 % .... 4 % (Δs = 0.3μm ... 4μm) verändert. Die Ergebnisse aus den Versuchen der in 7.5.3.5 beschriebenen Versuchseinrichtung zur Bestimmung der Rissausbreitung in FlipChip-Kontakten sind in Abb. 8.13 und Abb. 8.14 dargestellt. In den beiden Diagrammen in Abb. 8.13 sind exemplarisch die während der Rissausbreitungsexperimente aufgezeichneten Kraft-Verschiebungs-Hysteresen dargestellt. Dabei werden die mit einer Verschiebungsamplitude von Δs = 1 μm während des 1. Zyklus und während des 1500. Zyklus aufgezeichneten Kraft-Verschiebungs-Hysteresen einander gegenübergestellt. Die Fläche innerhalb der Hysteresen entspricht der vom Flip-Chip-Kontakt während eines Zyklus dissipierten Energie. Diese Energie kann neben der Bildung neuer Oberflächen (= Rissausbreitung) auch in Gefügeänderun-
Anstieg nach Umkehrpunkt [N/µm]
8 Experimentelle Ergebnisse
Kraftamplitude der Hysterese x 2 [N]
384
1,0
Ds = 1,3 µm
0,9 0,8 0,7
Anstieg der Hysterese nach dem Umkehrpunkt
0,6 0,5 0,4 0,3
Kraftamplitude der Hysterese
0,2 0,1 0,0 0
2000
4000
6000
8000
10000
12000
14000
Zyklenanzahl
Abb. 8.14 Verringerung der Kraftamplitude und des Anstieges nach dem Umkehrpunkt über der Zyklenanzahl bei einer Dehnungsamplitude von Δs = 1,3 μm
gen oder in Wärme umgesetzt werden. Zur korrekten Auswertung der Rissausbreitungsexperimente ist es daher wichtig, den Anteil der Energie zu ermitteln, welcher ausschließlich zur Rissausbreitung führt. Dazu wurde der Anstieg der Kraft-Verschiebungs-Hysterese nach dem Umkehrpunkt bestimmt. Da dieser Anstieg mit dem E-Modul korrespondiert, lässt sich die intakte Restfläche an der Stelle des sich ausbreitenden Risses wie folgt abschätzen [12]: 2⋅E A intakt = ----------ΔF
(8.17)
Während des ersten Zyklus lassen sich die Kraftamplitude (ΔF), die durch plastische Dehnung verrichtete Arbeit (ΔWpl) und der Anstieg nach dem Umkehrpunkt (E) sehr einfach bestimmen. Bei einer etwas fortgeschritteneren Zykluszahl ändert sich jedoch die Form der Hysterese an den Umkehrpunkten und es bilden sich kleine Spitzen heraus. Die Ursache dieser Spitzen liegt in der Vergrößerung der effektiven Fläche an der Rissstelle. An den Umkehrpunkten werden die bereits geöffneten Rissflächen wieder aufeinander gedrückt werden. Deshalb muss der Anstieg am Umkehrpunkt aus der Differenz der Anstiege nach (m1) und vor (m2) dem Umkehrpunkt bestimmt werden. Aufgrund der Übereinstimmung im Abfall des Anstieges nach dem Umkehrpunkt und der Kraftamplitude bei fortschreitender Zyklenzahl (Abb. 8.14) wurde abgeleitet, dass bei großen Dehnungsamplituden ein konstanter Anteil der durch das Material dissipierten Energie in Rissausbreitung umgesetzt wird. Wird zur Berechnung der mittleren Rissausbreitungsgeschwindig-
8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei
385
1,0
Ds = 1,3 mm 0,9
T=1s
DF/DFo
0,8
T=100s
0,7
T=1000s 0,6
0,5 0
1000
2000
3000
4000
5000
6000
Zyklen
Abb. 8.15 Verringerung der Kraftamplitude über der Zyklenanzahl bei einer Dehnungsamplitude von Δs = 1,3 μm und Periodendauern von 1 s, 100 s, 1000 s
keit da/dN von einem kreisförmig wachsenden Riss ausgegangen, so lässt sich diese aus dem Kraftabfall in der experimentell ermittelten Kraft-VerschiebungsHysterese über da ------- = dN
1 -· 2 ( ΔF ) --------§ – d--------------⋅ ⋅d © dN ΔF 0¹ r
(8.18)
bestimmen [595]. Wie die durchgeführten Experimente zeigten, hängt die Risswachstumsrate dabei neben der Amplitude auch sehr stark von der Wechselfrequenz ab (vgl. Abb. 8.15). Bei geringen Wechselfrequenzen, bei denen wahrscheinlich Prozesse der Kriechrissbildung eine größere Rolle spielen, kommt es zu einer höheren Rissausbreitungsgeschwindigkeit als bei hohen Wechselfrequenzen, für die angenommen wird, dass eine instantanplastische Verformung an der Rissspitze dominiert. Um die experimentell ermittelte Rissausbreitungsgeschwindigkeit einem Beanspruchungsparameter gegenüberzustellen, wurde eine 3D-FEM-Simulation des Experiments durchgeführt. In Abb. 8.16 sind exemplarisch das von einer rasterelektronenmikroskopischen Aufnahme des Flip-Chip-Kontaktes abgeleitete FEMGeometriemodell sowie ein Beispiel für eine Berechnung einer Spannungs-Dehnungs-Hysterese für einen Wechselbelastungszyklus gezeigt. Für diese Berechnung wurde ein kritisches Element ausgewählt, welches sich im Kontaktvolumen befindet. Die errechnete Spannungs-Dehnungs-Hysterese wurde in den elastischen, instantanplastischen und kriechplastischen Verformungsanteil zerlegt. Aus den
386
8 Experimentelle Ergebnisse
Berechnungen konnte für einen nichtangerissenen Kontakt abgeleitet werden, dass bei größeren Verformungen die Kriechverformung dominiert. Aus den errechneten Hysteresen wurden die für das Aufstellen einer Risswachstumsgleichung notwendigen Beanspruchungsparameter plastische Verformungsenergiedichte ΔWpl und akkumulierte inelastische Dehnung εacc ermittelt. Auf der Grundlage dieser beiden Beanspruchungsparameter wurden in einer zu Gleichung (8.16) analogen Formulierung zwei verschiedene Rissausbreitungsgleichungen aufgestellt [595]: ΔW pl β [ Hz ] γ T δ da ------- = α ⋅ § -----------------· ⋅ § -----------· ⋅ § --------· © [ MPa ]¹ © f ¹ © [ K ]¹ dN
(8.19)
[ Hz ] γ T δ β da ------- = α ⋅ ( ε acc ) ⋅ § -----------· ⋅ § --------· , © ¹ © f [ K ]¹ dN
(8.20)
wobei f die Belastungsfrequenz ist und T der Temperatur entspricht. Die Werkstoffparameter α, β, γ, δ sind für SnPb37 Lot in Tabelle 8.17 zusammengefasst.
Tabelle 8.17 Parameter für Rissausbreitungsgleichungen (8.19) und (8.20) für SnPb37-FlipChip-Lotkontakte aus[595] α
β
γ
δ
ΔWpl
8.10-7
1
0,2
-
εacc
2 10-7
1
0,15
-
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber 8.4.1 Auswahl des Datenmaterials Der Umfang der am Zweistoffsystem Sn-Ag durchgeführten Experimente ist wesentlich geringer als der für die metallurgischen Systeme Sn-Pb und Sn-Ag-Cu. Dies hängt damit zusammen, dass bei verschiedenen Pilotexperimenten zur Verwendung von Sn-Ag als Verbindungswerkstoff festgestellt wurde, dass dieser in Verbindung mit bestimmten Anschlussmetallisierungen in sehr viel höherem Maße zu zuverlässigkeitseinschränkenden metallurgischen Reaktionen neigt als das von seinen Verarbeitungseigenschaften ähnliche Sn-Ag-Cu-Lot. Der dringende Bedarf an Werkstoffdaten zu Beginn der Umstellung auf eine bleifreie Verbindungstechnik führte daher zu einer starken Fokussierung auf Experimente am Sn-Ag-Cu-
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
40
FEM Results
30
Deformation elast. plast. creep total
a) 1
ANSYS 5.3 MAY 19 1999 20:58:26 PLOT NO. 1 ELEMENT SOLUTION STEP=50 SUB =16 TIME=3125 EPTOEQV (NOAVG) DMX =.650E-03 SMN =.926E-03 SMX =.012994 .926E-03 .002267 .003608 .004949 .00629 .00763 .008971 .010312 .011653 .012994
Y X
Z
MN
Stress [Mpa]
20 10
387
0 -10 -20 -30 -40
-1
Wplast.= 0,176 Mpa m
-0,015
-0,010
-0,005
-1
Wcreep= 1,522 MPa m
0,000
0,005
-1
Wtotal = 1,698 MPa m
0,010
0,015
Strain
c)
MX
b)
Jak110/108, Amplitude=0.65um, Temp=27C, Periode=2500s
Abb. 8.16 a) Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme des Flip-Chip-Lotkontaktes, b) abgeleitetes FEM-Geometriemodell, c) berechnete Spannungs-Dehnungs-Hysteresen im Belastungszyklus mit getrennt ausgewiesenem elastischen, instantanplastischen und kriechplastischen Anteil für ein kritisches im Festkörpervolumen befindliches Element im nichtangerissenen Kontakt.
System, da der weitaus größte Teil der für diese Untersuchungen zu Verfügung gestellten Forschungsmittel direkt von Industrieunternehmen gezahlt wurde und gleichzeitig die Materialzulieferer (z. B. Lotpastenhersteller) nur wenig Interesse zeigten, metallurgische Systeme weiterzuentwickeln, die ein geringes Marktpotenzial hatten. Besonders für die Durchführung von Experimenten an kleinvolumigen Probekörpern bestand eine vollkommene Abhängigkeit von den Materialzulieferern, da es nicht gelang, die Stoffsysteme Sn-Ag bzw. Sn-Ag-Cu in ausreichender Qualität galvanisch abzuscheiden. Aus diesem Grund konnte die Herstellung entsprechender Proben nur über Siebdruck von Lotpaste erfolgen, wobei sehr oft auf Entwicklungsversionen entsprechender Lotpasten zurückgegriffen werden musste, welche den Anforderungen an Pastendruck in sehr kleinen Rastern nicht immer genügten. Durch diese komplizierten Randbedingungen entstand ein Untersuchungsprogramm, was sich eher an pragmatischen Gesichtspunkten als an einer rein werkstoffphysikalisch geprägten Systematik orientierte, dessen Ergebnisse jedoch gegenüber den formulierten wissenschaftlichen Fragestellungen (vgl. 1.6) weitreichende Schlussfolgerungen zulässt. Die Untersuchungen am Sn-Ag-System setzten sich im Einzelnen aus Experimenten an großvolumigen Bulkproben, an Leiterplattendurchsteckkontakten, kleinvolumigen Mikrolotbällen und kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten zusammen. Innerhalb der Experimente an Bulkproben wurde in monotonen Zugversuchen das Kriechverhalten von Doppelschulterproben (Durchmesser 3 mm, Länge
388
8 Experimentelle Ergebnisse
117 mm) aus SnAg3,5-Lot bei Prüftemperaturen von T = 30 °C, 70 °C charakterisiert. In einer zweiten Versuchsserie wurde in monotonen Lastwechselversuchen an Doppelschulterproben (rechteckiger Querschnitt 3mm x 4 mm, Länge 50 mm) der Einfluss der Legierungselemente Ag-Anteils (2 % ... 4 %) auf das Kriechverhalten bei Versuchstemperaturen von T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, 150 °C untersucht. In monotonen Scherversuchen an Leiterplattendurchsteckkontakten wurde das Kriechverhalten des Lotes über einen in ein Durchkontaktierungsloch einer Leiterplatte gelöteten Cu-Stift (Lotspalt = 0,1 mm X 1,6 mm) bei Prüftemperaturen von T = 30 °C, 70 °C charakterisiert. In zyklischen Scherversuchen an kleinstvolumigen Mikrolotbällen (kugelförmig, Durchmesser = 200 μm bzw. 400 μm) wurde das Kriechverhalten verschiedener SnAgCu-Lotlegierungen bei Prüftemperaturen von T = 20 °C, 75 °C, 125 °C charakterisiert. Die Einstellung unterschiedlicher Gefüge wurde durch Variation der Lotlegierungen sowie der Unterbumpmetallisierungen (Sn/Cu vs. NiAu)) vorgenommen. In einem zyklischen Scherversuch an kleinstvolumigen Filp-Chip-Kontakten (Zylinder, Durchmesser = 200 μm, Höhe = 200 μm) wurde das Kriechverhalten von eutektischem SnAg3,5-Lot bei Prüftemperaturen von T = 5 °C, 50 °C bestimmt. Dabei wurde der Einfluss des Materiales der Unterbumpmetallisierungen (Cu und NiAu) sowie der Einfluss verschiedener Abkühlgeschwindigkeiten (-40 K/min und -120 K/min) untersucht.
8.4.2 Elastische Eigenschaften Zwar ist Sn-Ag ebenso wie Sn-Pb ein Zweistoffsystem, allerdings wird wegen des geringen Anteils der Ag3Sn-Phase (EAg3Sn = 79 GPa1 [596]) der E-Modul der Legierung vor allem durch die elastischen Eigenschaften der β-Sn-Phase (ESn = 49,9 GPa2 [567]) bestimmt. Wie in Zugtests an SnAg3-Proben und dazu korrespondierenden FE-Analysen ermittelt wurde, hat die Gefügemorphologie, d. h. die Größe und Verteilung der Ag3Sn-Phasen in der β-Sn-Matrix (vgl. 3.2.1, Abb. 3.5), einen unbedeutenden Einfluss auf den Wert des E-Moduls [597]. In Tabelle 8.18 befindet sich eine Auflistung verschiedener publizierter Werte experimentell bestimmter E-Moduli für eutektisches SnAg-Lot unter Angabe der wesentlichen Versuchsbedingungen. Es ist zu erkennen, dass die experimentell ermittelten Werte stark streuen, sich jedoch für Raumtemperatur ein Wert ähnlich dem Elastizitätsmodul von reinem β-Sn ergibt. Wie bei der SnPb-Legierung wurde der E-Modul auch durch Ultraschallmikroskopie bestimmt. Als Probekörper dienten dabei zylindrische Lotplättchen mit einer Dicke von 300 μm und einem Durchmesser von 3 mm. Aus der Bestimmung der Signallaufzeit der Longitudinal- und Transversalwellen konnten die elastischen Parameter Elastizitätsmodul ( E ) , Schermodul ( G ) und Querkontraktionszahl ( ν ) bestimmt werden, welche in Tabelle 8.19 den Ergebnissen aus den Verformungsversuchen in [598] gegenüber1. Wert bei Raumtemperatur 2. Wert bei T = 20 °C
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
389
Tabelle 8.18 Elastizitätsmoduli von eutektischem SnAg-Lota Legierung
T [K]
dε/dt [s-1]
E [GPa]
Bemerkung
Quelle
96,5Sn-3,5Ag
300
1.10-3
48
Bulkzugprobe; Be- und Entlastungstest bis 0,01 %
[597]
273
-
42
-
[598]
50
Bulkzugprobe
[599]
35
Identationsversuch
[600]
96,5Sn-3,5Ag
96,5Sn-3,5Ag
96,5Sn-3,5Ag
323
40
473
36
298
-
253
-
398
a. Tabellenwerte teilweise aus in den Publikationen enthaltenen Grafiken entnommen und sinnvoll gerundet.
gestellt sind. Wie bei der SnPb-Legierung zeigt sich auch bei der SnAg-Legierung, dass die Werte für die rein elastische Verformung bei Ultraschallanregung, d. h. der physikalische E-Modul (vgl. 4.3.1), wesentlich höher sind als die bei Verformungsmessungen, d. h. der technische E-Modul, welche offensichtlich durch ein geringes Maß an Versetzungsbewegungen begleitet werden. Erstaunlich ist, dass die Unterschiede zwischen dem im Zugversuch und dem in der Ultraschallmessung bestimmten E-Modul relativ hoch sind, obwohl gegenüber dem SnPb-Lot bei einem SnAg-Lot mit fein verteilten Ag3Sn-Phasen von einer starken Behinderung der Versetzungsbewegung ausgegangen werden müsste und dadurch bei RaumtemTabelle 8.19 Elastische Parameter von eutektischem SnAg-Lot und seiner Legierungsbestandteile bei Raumtemperatur Legierung
E [GPa]
G [GPa]
ν
Bemerkung
Quelle
96,5Sn-3,5Ag
70,5
27,2
0,29
Ultraschallmessung
TUDa
96,5Sn-3,5Ag
41
-
0,4
Bulkprobe
[598]
Sn
71,3
26,1
0,37
Ultraschallmessung
TUDa
Sn
54
20,2
0,33
-
[536]
Ag3Sn
79
-
-
Bulkprobe
[596]
Ag3Sn
81,4
-
0,347
Ultraschallmessung
[601]
a. Ultraschallmessungen wurden an der TU Dresden von M. Röllig und N. Gust an zylindrischen Lotplättchen mit 3 mm Durchmesser und einer Dicke von 0,3 mm vorgenommen
390
8 Experimentelle Ergebnisse
peraturversuchen geringere plastische Verformungsanteile im Bereich des „elastischen“ Kurvenabschnittes zu erwarten wären.
8.4.3 Instantanplastische Verformung
8.4.3.1 Untersuchungen an Bulkproben Trotz des höheren Schmelzpunktes der eutektischen SnAg-Legierung unterscheidet sich die Problematik der Fließspannungsbestimmung durch die höheren homologen Materialtemperaturen im relevanten Anwendungsbereich nicht von der des SnPb-Lotes (vgl. 8.3.3.1), weshalb sich die Auflistung der an makroskopischen Probekörpern bestimmten Werte in Tabelle 8.20 auf die Parameter Fließspannung Tabelle 8.20 Fließspannung (σF) und Verfestigung (h) für SnAg bei erhöhten homologen Temperaturen σF [MPa]
h [MPa]
T[K]
dε/dt [s-1]
Bemerkunga
39,4
-
298
1.10-2
Bulkzugprobe SnAg3,5
32,8
1.10-3
26,3
.
1 10
23,0 23,0
353
Quelle [603] 2
(12 mm x 12,5 x 6,5 mm )
-4
1.10-5
17,5
1.10-2
16,0
1.10-3
12,5
1.10-4 1.10-5
82
250
218
68
156
258
48
93
296
31
31
348
17
0
398
44
0
223
32
298
16
373
9
423
1.10-2
Bulkzugprobe, SnAg4
[604]
2
(15,3 mm x 31,6 mm )
2,38.10-3
Bulkzugprobe SnAg3,5
[609]
2
(34 mm x 78,5 mm )
a. Angaben erfolgen für Proben mit rechteckigem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Breite x Tiefe und für Proben mit rundem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Querschnittsfläche
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
391
(σF) und Verfestigung (h) beschränkt, welche zusammen mit der beim Versuch verwandten Dehnungsgeschwindigkeit (dε/dt) übersichtsartig wiedergeben werden. Aus diesen der Literatur entnommenen Werten ist ersichtlich, dass nicht unerhebliche Schwankungen für die Angabe der Fließspannung in den verschiedenen publizierten Untersuchungen bestehen. Für Raumtemperatur liegt die Schwankungsbreite zwischen σF = 32 MPa ... 48 MPa, wobei der höhere Wert bei der Legierung mit dem höheren Ag-Anteil aufgenommen wurde. Gegenüber der SnPbLegierung ergibt sich im Mittel ein etwas höherer Wert sowohl für die Fließspannung als auch für die Verfestigung, wenngleich die Unterschiede nicht drastisch sind.
8.4.3.2
Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten
Zur Untersuchung des Verformungsverhaltens von SnAg-Lot an kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten wurde ein Probekörper entwickelt, der zu dem für die Untersuchungen an SnPb-Lot eingesetzten Flip-Chip-Probekörper (vgl. 8.3.3.2) prinzipiell identisch ist. Aufgrund spezifischer technologischer und werkstoffphysikalischer Unterschiede zwischen SnAg-Lot und SnPb-Lot bezüglich der Verwendung zum Fügen von Bauteilen in elektronischen Baugruppen waren bestimmte Modifikationen erforderlich. Die erste wesentliche Abänderung betrifft den Lotauftrag bei der Herstellung der Lotbumps auf den einzelnen Siliziumchips. Für die Abscheidung von SnAgLot musste eine drucktechnische Variante genutzt werden, da die galvanische Abscheidung dieses Lotwerkstoffe zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht ausgereift war, da aufgrund der sehr unterschiedlichen elektrochemischen Potenziale von Sn und Ag die Abscheidung eines homogenen Depots schwierig ist. Für die Durchführung eines drucktechnischen Prozesses wurden das in Abb. 8.17 a, b dargestellte Maskenlayout (für Lithografie und Siebdruck) entwickelt. Die Grundzelle dieses Layouts besteht aus 9 Chips, welche die in Abb. 8.17 b aufgezeigte Struktur besitzen. Diese besteht aus Padflächen für das Bumping, welche jeweils auf die 4 Chipecken verteilt sind. Die Padflächen haben eine rechteckige Grundfläche mit den Kantenlängen b, c. Die Chips haben jeweils eine quadratische Grundfläche der Kantenlänge a= 4 mm (vgl. Abb. 8.17 c). In einer Reihe von Druckversuchen wurde ermittelt, dass für die reproduzierbare Herstellung von Chips mit homogenen Bumphöhenverteilungen nur die Chips mit Lotbumppads von b = c = 200 μm und b = c = 400 μm geeignet waren. Zur Herstellung aller in den Untersuchungen verwendeten Flip-Chip-Probekörper wurden Chips mit einer Bumpgrundfläche von 200 μm X 200 μm eingesetzt. Zur Herstellung der SnAgBumps wurden die Lotpasten Degussa Deme Print, Sn96,5-Ag3,5, Typ 4 und Umnicore Microbond SnAg3.5-D3-DA437-7, Typ 5 eingesetzt. Beide zeigten ein gutes Druckbild, wobei die Bumphöhenverteilung bei der erst zu einem späteren Zeitpunkt erhältlichen Typ 5-Paste signifikant besser ausfiel als bei der Typ 4Paste. Vor Montage der Flip-Chip-Probekörper wurden jeweils solche Chips aus-
392
8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
b
c
Lotkontakt Lot-Bump
a Si-Chip
c)
d)
Abb. 8.17 Maskenlayout für Herstellung von Testchips: a) Waferlayout mit sich wiederholenden Strukturen, b) Layout der entsprechenden Grundzelle dieser sich wiederholenden Strukturen, c) Gesamtaufbau des Probekörpers, d) rasterelektronmikroskopische Aufnahme eines Flip-ChipKontaktes
gewählt, die eine gute Homogenität der Bumphöhen aufwiesen. Das Umschmelzen der drucktechnisch abgeschiedenen Lotdepots erfolgte in einem Dampfphasenofen bei einer Temperatur von ca. 240 °C (Siedepunkt des Dampfphasenmediums). Die Umschmelzdauer betrug 20 Sekunden. Zur Fertigung der Probekörper wurden jeweils zwei identische Siliziumchips diametral miteinander verlötet, sodass ein Flip-Chip-Verbund mit 4 Eckkontakten entsteht (Abb. 8.17 c,d), wobei durch eine spezielle z-Bewegung des oberen Siliziumchips eine hyperboloide Kontaktform eingestellt wurde (vgl. 7.4.4.3). Während des Fügevorgangs wurden Abkühlraten von 120 K/min (schnell) sowie von 40 K/min (langsam) erreicht, welche allerdings nicht zur Einstellung signifikant unterschiedlicher Gefüge im Lotkontakt führten. Da bei den Versuchen an SnAg-Lot auch keine Unterschiede im mechanischen Verhalten gefunden wurden, wurde bei weiteren Experimenten auf eine weitere Variation der Abkühlraten verzichtet.
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
393
Eine weitere Variation betraf die Wahl der Unterbumpsmetallisierung (UBM), welche sowohl als Cu-UBM als auch als NiAu-UBM ausgelegt wurde. Die Schichtaufbauten dieser beiden Unterbumpmetallisierungen sind in Abb. 8.18 schematisch dargestellt.
Cu-UBM Chipgrundmaterial
Si
Passivierung
SiO2, 500 nm
Diffusionsbarriere
WTi, 50 nm
Metallisierung
Cu, 7μm
NiAu-UBM
Cu, 4μm Ni, 3μm Au, ca. 100 nm
Abb. 8.18 Schichtaufbau der Unterbumpmetallisierung (UBM) für Flip-Chip-Probekörper
Die Ermittlung des elastisch-plastischen Verformungsverhaltens von eutektischem SnAg-Lot an kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten fand analog zu den Untersuchungen zum SnPb-Lot statt (vgl. 8.3.3.2). Zunächst konnte aus einem Versuch mit sich zyklisch wiederholender symmetrischer Dreiecksdehnung (Abb. 8.4) abgeleitet werden, dass das SnAg-Lot kein zyklisches Ver- und Entfestigungsverhalten aufweist, sodass das elastisch-plastische Verformungsverhalten über einen Versuch mit symmetrischer Dreiecksdehnung und Variation der Verformungsamplituden bei Versuchstemperaturen von T1 = 278 K und T2 = 323 K charakterisiert wurde und über eine FE-Analyse der Versuche (vgl. 7.4.4.3) die in Tabelle 8.21 aufgeführten Modellparameter bestimmt wurden. Bei der ModellieTabelle 8.21 Linear-elastisches-starr-plastisches Modell mit kinematischer Verfestigung in einer trilinearen Formulierung für SnAg3,5-Lot in Flip-Chip-Kontakten auf einer Cu-UBM aus [605] T
ε1
ε2
σ1
σ2
σ3
278 K
0,001
0,003
41 MPa
64MPa
700 MPa
323 K
0,001
0,003
38 MPa
57,4MPa
400 MPa
erstarrt
rung erwies sich anlog zu SnPb die trilineare Formulierung des in Abb. 8.6 schematisch dargestellten Modells als die zweckmäßigste [605].
394
8 Experimentelle Ergebnisse
8.4.4 Kriechverhalten
8.4.4.1 Untersuchungen an Bulkproben Im Vergleich zur SnPb-Legierung lag für das SnAg-Eutektikum ein eher begrenztes Datenmaterial vor. Die wenigen publizierten Untersuchungen zum Verformungsverhalten gaben darüber hinaus kein konsistentes Bild bezüglich wichtiger, die Verformungsreaktion charakterisierender Parameter, wie z. B. des Spannungsexponenten oder der Aktivierungsenergie. Die Unterschiede zwischen verschiedenen veröffentlichten Versuchsergebnissen waren sogar so groß, dass sie sich durch übliche Abweichungen bei Verformungsversuchen zwischen unterschiedlichen Prüfständen verschiedener Laboratorien nicht erklären ließen. Wie spätere Untersuchungen an Bulkproben zeigten, existieren verschiedene mikrostrukturelle als auch untersuchungsmethodische Faktoren, welche die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen beeinflussen können, was einen Großteil der Unterschiede zwischen den verschiedenen publizierten Daten verstehen hilft. Zu den sehr wichtigen, in ihrer Bedeutung oft unterschätzten Faktoren gehört die Methodik der Probenherstellung. Werden die Ergebnisse aus den Untersuchungen zum Erstarrungsverhalten (vgl. 3.4.2) herangezogen, wird klar, dass es für die Gefügeausbildung nicht unerheblich ist, wie die Proben hergestellt werden, da sich in Abhängigkeit von den Erstarrungsbedingungen ein sehr unterschiedliches, zum Teil auch sehr inhomogenes Gefüge der eutektischen SnAg-Legierung ergeben kann. Für die Herstellung von Bulkprobekörpern existieren zwei bevorzugte Wege, welche für den Hauptteil der zum SnAg-System veröffentlichten Untersuchungen zum Einsatz kamen. Das erste Verfahren besteht darin, die Legierung zunächst in einem inerten Behälter, z. B. einem verschlossenen Glasröhrchen, in eine zylindrische Form umzuschmelzen, um das Ingot anschließend mit zerspanenden Verfahren zu einer typischen Probenform (vgl. 7.4.2, Abb. 7.11) weiterzuverarbeiten. Im zweiten Verfahren ist die spätere Probenform in einer Metallkokille bereits eingelassen, sodass die Probe nach dem Umschmelzen in dieser Kokille ohne weitere Bearbeitung in die Prüfmaschine eingespannt wird. In Abhängigkeit von der Art der Abkühlung können sich bei beiden Varianten über dem Querschnitt der Probe unterschiedlich starke Inhomogenitäten des Gefüges bezüglich der Phasengröße und -verteilung als auch der Kornorientierung ergeben. Zusätzlich kann in der ersten Variante während der zerspanenden Bearbeitung ein bestimmter charakteristischer Teil dieses inhomogenen Gefüges vollständig abgetragen werden, sodass im Probenquerschnitt ein für die Legierung nicht typisches Gefüge zurückbleibt. Die Auswirkungen auf das Verformungsverhalten durch zerspanendes Abtragen von Proben wurden in [602] beispielhaft analysiert. Dabei zeigte sich, dass in Abhängigkeit von der Bearbeitung der Spannungsexponent zwischen 7...14 schwanken kann. Die Dokumentation des Probengefüges erfolgte in vielen publizierten Untersuchungen meist nur über einen stark vergrößerten Einzelausschnitt,
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
395
welcher jedoch nicht repräsentativ sein muss. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine eingeschränkte Interpretationsfähigkeit publizierter Untersuchungsergebnisse. Ein zweiter Faktor, der neben der Verwendung verschiedener Methoden zur Probenherstellung zu verschiedenen Missinterpretationen führen kann, besteht in einer nicht werkstoffphysikalisch gestützten Modellierung von Experimentaldaten. In einer der ersten sehr umfangreichen Untersuchungen zum Kriechverhalten von Sn-basiserten Legierungen [27] wurden - im Sinne einer einheitlichen Darstellung der Versuchsergebnisse - die an verschiedenen Loten (Sn62Pb36Ag2; SnPb40; Pb97,5Sn2,5; Pb95Sn5; SnAg3,5) erzielten Resultate über denselben Modellansatz ausgewertet, ohne zu berücksichtigen, dass es sich bei diesen um verschiedene Arten von Legierungen handelt (vgl. 3.3.2, 3.3.3). Der aus [33] entnommene Sinushyperbolikusansatz (Gleichung (5.25)), welcher in seiner ursprünglichen Form nur für den Bereich von reinen Metallen erarbeitet wurde, lässt sich zwar ohne größere Einschränkungen auf ein eutektisches System mit Mischkristallhärtung, wie SnPb37, anwenden, seine Verwendung im Bereich teilchengehärteter Eutektika, wie SnAg3,5, entspricht jedoch nicht mehr dem Ursprungsgedanken der in 5.2.2.3 formulierten kinetischen Gleichungen für die Hochtemperaturplastizität. Im Gegensatz zu eutektischem SnPb-Lot, dessen Gefüge in der Regel aus einem Kristallgemisch zweier Mischkristalle mit einem sehr ähnlichen Verformungswiderstand besteht, bilden sich bei der Erstarrung des SnAg3,5-Lotes viele harte intermetallische Ag3Sn-Phasenteilchen, welche in eine sehr viel weichere β-SnMatrix eingebettet sind. Obwohl die in 5.2.2 dargestellte Verformung durch Versetzungsbewegung vor allem in der strukturell einfacher aufgebauten β-Sn-Matrix auftritt, wird die durchschnittliche Geschwindigkeit frei beweglicher Versetzungen dadurch bestimmt, inwiefern diese an den harten intermetallische Ag3Sn-Partikeln festgehalten bzw. durch sie in ihrer Bewegung behindert werden. Eine nach außen hin phänomenologisch erfassbare Kriechverformung der SnAg3,5-Legierung kann daher erst auftreten, wenn Versetzungen die sie in ihrer Bewegung behindernden Ag3Sn-Phasenteilchen über einen der folgenden Mechanismen überwinden: • Scheren von Partikeln • Orowan-Mechanismus • Kletterbewegungen um Partikel herum. Der Scher- und der Orowan-Mechanismus hängen nur geringfügig von der Temperatur ab, währenddessen Klettermechanismen immer eine diffusionsgesteuerte Leerstellenbewegung benötigen und daher grundlegend langsamer ablaufen, d. h., solange die Vorausetzungen für einen der ersten beiden Mechanismen gegeben sind, sind diese gegenüber dem dritten dominant [610]. Unterhalb einer kritischen Spannung - der sogenannten Orowan-Spannung - bleiben die Versetzungen an den Ag3Sn-Partikeln hängen, so lange wie durch thermische Aktivierung die Möglichkeit einer Kletterbewegung und somit das Umgehen der harten intermetallischen Phasenteilchen ermöglicht wird. Die Kombination dieser drei Mechanis-
396
8 Experimentelle Ergebnisse
men führt zu einem zweigeteilten Verlauf des Zusammenhangs zwischen quasistatischer Kriechgeschwindigkeit und Spannung, welcher sich am besten durch eine Modellgleichung mit zwei Exponentialtermen nachbilden lässt Q Q σ n1 σ n2 · ε = A 1 ⋅ § ------· ⋅ exp § – ------1-· + A 2 ⋅ § ------· ⋅ exp § – ------2-· , © σN ¹ © σN ¹ © RT¹ © RT¹
(8.21)
wobei A1, A2 Vorfaktoren sind. Der erste Term in Gleichung (8.21) beschreibt die Verformungskinetik für den Klettermechanismus und der zweite Term die für den Scher- oder Orowan-Mechanismus. Die für beide Bereiche aus verschiedenen Publikationen entnommenen, experimentell ermittelten charakteristischen Modellparameter Spannungsexponent n 1, n 2 und Aktivierungsenergie Q 1, Q 2 sind in Tabelle 8.22 zusammen mit wichtigen Versuchsbedingungen aufgeführt. Obwohl die Modellgleichung (8.21) in ihrer Grundstruktur der Modellgleichung (8.10) gleicht, muss beachtet werden, dass sich beide Gleichungen auf unterschiedliche Formen von Mechanismen beziehen. Anders als beim SnPb-Lot ist bei den verschiedenen publizierten Ergebnissen zum SnAg-Lot auch eine klare Zuordnung von charakteristischen Werten für die Parameter n 1, n 2 bzw. Q 1, Q 2 zu bestimmten Mechanismen nicht ohne weiteres möglich. Dies liegt zum einen daran, dass in der Mehrzahl der Untersuchungen ein einfaches Potenzverhalten ermittelt wurde, während ein zweigeteilter Verlauf mit unterschiedlichen Exponenten nur in wenigen Studien gefunden werden konnte. In diesem Fall ergab sich für den Bereich kleiner Spannungen ein theoretisch plausibler Wert für den Spannungsexponenten von n 1 = 3 , welcher auf einen Klettermechanismus hinweist. Für den Bereich großer Spannungen schwanken die Werte für den Spannungsexponenten im Bereich von n 2 = 5…18 . Zwar sind diese Werte plausibel, wenn von einem Orowan-Mechanismus1 ausgegangen wird, allerdings ergeben sich keine Korrelationen zu mikrostrukturellen Eigenschaften. So werden beispielsweise in [606] zwei Proben mit sehr unterschiedlichen Größen intermetallischer Ag3Sn-Phasenteilchen in ihrem Kriechverhalten miteinander verglichen. Dabei zeigt sich, dass die Proben mit den deutlich kleineren und feiner verteilten intermetallischen Ag3Sn-Partikeln zwar eine höhere Kriechfestigkeit aufweisen, an beiden Proben jedoch der gleiche Spannungsexponent von n 2 = 11 ermittelt wurde. Um zu einem genaueren Bild des SnAg-Bulkverhaltens zu gelangen und um festzustellen, ob das Kriechverhalten dieser Legierung grundsätzlich einem einfachen Potenzgesetz oder einem zweigeteilten Verlauf folgt, wurden eigene Versuche an SnAg-Bulkmaterial durchgeführt, bei welchen neben dem grundsätzlichen Kriechverhalten auch der Einfluss des Ag-Anteils auf die Kriecheigenschaften untersucht wurde. 1. Aufgrund der Größe der Ag3Sn-Partikel wird nicht von einem Scher-Mechanismus ausgegangen.
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
397
Tabelle 8.22 Vergleich der Spannungsexponenten n und Aktivierungsenergien Q (für den Bereich mittlerer Spannungen) zwischen Experimenten an erstarrten Lotprobekörpern sowie Darstellung der entsprechenden Versuchsbedingungena n1
Q1
n2
[kJ/mol]
dε/dt
T
V
Quelle/
[kJ/mol]
[s-1]
[K]
[m3]
Bemerkung
Q2
-
-
11,3
79,5
10-5...10-2
298...353
9,7.10-7
[603]: SnAg3,5/Zug gealtert 24 h/150°C
-
-
9,6
94,0
10-6...10-2
218...398
4,8.10-7
[604]: SnAg4/Zug zerspan. bearbeitet
3
44,2
9,2
65,7
10-7...10-3
323...423
4,9.10-6
[607]: SnAg3,5/Druck 31K/s erstarrt
-
-
11
-
10-9...10-4
378
5,9.10-7
[606]: SnAg3,5/Zug 8K/s bzw. 0,015K/s zerspan. bearbeitet
-
-
13,1
78
10-6...10-2
223...423
3,9.10-6
[609]: SnAg3,5/Zug 10K/s erstarrt zerspan. bearbeitet
-
-
12-18
35
10-9...10-4
298...393
1,2.10-5
[608]: SnAg3,5/Zug 24 K/s erstarrt komplexe Herstellung
-
-
11-14
35
10-9...10-4
298...393
1,2.10-5
[608]: SnAg3,5/Zug 0,5 K/s erstarrt komplexe Herstellung
-
-
8-10
40
10-9...10-5
298...393
1,2.10-5
[608]: SnAg3,5/Zug 0,08 K/s erstarrt komplexe Herstellung
-
-
11,3
46,6
10-4...10-2
298...393
1,2.10-6
[612]: SnAg3,5/Zug Ratenwechseltest
-
-
6,7 -
62,7
10-9...10-2
293...316
1,2.10-5
[611]: SnAg3,5/Zug zerspan. bearbeitet
70
10-5...10-1
298...398
2,4.10-7
[620]: SnAg3,5/Zug zerspan. bearbeitet
8,4 -
-
6,5 9,4
-
-
5,0
60,7
10-8...10-4
296...373
1,0.10-7
[534]: SnAg3,5/Zug zerspan. bearbeitet
-
-
5,5
56,8
10-11..10-5
293...453
2,7.10-7
[240, 616] : SnAg3,5 Zug, erstarrt
a. Tabellenwerte teilweise aus in den Publikationen enthaltenen Grafiken entnommen und sinnvoll gerundet.
398
8 Experimentelle Ergebnisse
Um für diese Versuche Proben herzustellen, wurde eine Aluminiumgussform gefertigt, in welcher die Proben-Achse einen Winkel von 30° mit der Waagerechten einschloss. Zur Heizung der Gussform wurden an ihrer Außenseite Heizwiderstände angebracht, welche sich in 10 Zonen einzeln ansteuern ließen. Hierdurch wurde es ermöglicht, die Probe schrittweise von unten nach oben zu erstarren, wodurch eine durch die starke Volumenkontraktion des Lotes sehr wahrscheinliche Lunkerbildung innerhalb der Probe vermieden werden konnte. Ausschlaggebend für die Probenherstellung über eine selbst gefertigte Aluminiumgussform war die Intention, die Abkühlbedingungen für die Proben mit einfachen labortechnischen Mitteln beeinflussen zu können. In der praktischen Erprobung zeigte sich jedoch, dass die Einflussnahme auf die Abkühlgeschwindigkeit durch gezieltes Regeln der abgegebenen Leistung der 2 x 5 entlang der Probe angebrachten 25 W Heizwiderstände begrenzt war, da die bei der Erstarrung des Lotes entstehende Kristallisationswärme die Geschwindigkeit des Flüssig-Fest-Überganges in erheblichem Maße selbst beeinflusst. Das typische Erstarrungsprofil für die Mehrzahl der gefertigten Proben ist in Abb. 8.19 dargestellt. Um niedrige Kriechraten messtechnisch erfassen zu können, wurde in einer ersten Serie von Versuchen zunächst eine sehr lange Doppelschulterprobe mit einem kreisförmigen Querschnitt gefertigt (Länge 117 mm, Durchmesser 3mm). Alle Proben wurden in einem Stufenversuch untersucht, d. h., es wurde eine Probe mit verschiedenen Lasten untersucht. Jeder Einzelversuch wurde dabei so lange durchgeführt, bis der quasistatische Kriechbereich erreicht wurde, sodass die Proben nicht zerstört wurden. Um sicherzustellen, dass es zu keinen Degradationen der Proben während des Tests kam, wurde dieser sowohl mit einer aufsteigenden als auch mit einer absteigenden Lastreihenfolge gefahren. Als Prüfapparatur wurde der unter 7.5.2.4 beschriebene Lastrahmen benutzt. Da zum Zeitpunkt der ersten Versuchsserie für die Erfassung der Messwerte noch kein computergestütztes System zur Verfügung stand, wurde die LVDT-Position von einem hochauflösenden Multimeter abgelesen, aufgeschrieben und von Hand in eine Tabelle übertragen, aus der die in Abb. 8.20 dargestellten Diagramme erzeugt wurden. Es ist davon auszugehen, dass bei hohen Messkräften und damit einer hohen zeitlichen Dichte von Messwerten Ablesefehler beim manuellen Erfassen der Messwerte entstanden. Die Auflösung des außerhalb der Probenklemmen angebrachten vorkonfektionierten LVDT (Typ: Solectron Dg 2.5) betrug 1,14 μm, was einem Dehnungsinkrement von 9,7 10-6 entspricht. Die Ergebnisse aus den Kriechuntersuchungen an SnAg3,5-Lot sind in den Diagrammen Abb. 8.20 zu sehen. In den Diagrammen Abb. 8.20 a-e sind zunächst die Kriechdiagramme der Einzelversuche dargestellt, aus welchen hervorgeht, bei welcher Dehnung die entsprechenden Dehnraten ermittelt wurden. Die in diesen Diagrammen eingezeichneten Dehnungen wurden auf der Basis der während der Messungen notierten Werte ermittelt. Für die Versuche bei T = 70 °C ist diesen Werten ein Dehnungsoffset (εos < 0,2 %) zuzurechnen, da die Proben aufgrund des sehr zeitaufwendigen Aufheizvorganges vor dem eigentlichen Versuch stets einem kurzen Kriechtest bei Raumtemperatur unterzogen wurden, um die ordnungsgemäße
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
a)
b)
c)
d)
e)
f)
399
Abb. 8.19 Herstellung von Bulkproben: a) Probenform mit Heizwiderständen zur Realisierung verschiedener Heizzonen, b) Innenprofil der Probenform, c) Gussprobe mit rundem Querschnitt, d) Gussprobe mit rechteckigem Querschnitt, e, f) Erstarrungsprofil für Bulkproben. Die Temperaturmessstellen T1, T2, T3 entsprechen den Sektoren 1, 3, 5 der fünfteiligen Heizung an der Gussform.
Einspannung zu überprüfen. Die Ergebnisse aller Einzelversuche sind im Diagramm in Abb. 8.20 f zusammengefasst, in welchem die Abhängigkeit der Dehnungsgeschwindigkeit von der Spannung dargestellt ist. Aus den Kriechversuchen an der eutektischen SnAg3,5-Legierung im Temperaturbereich von 293 K bis 343 K geht hervor, dass sich ein zweigeteiltes Kriechverhalten ergibt, wie dies auch von dem in Gleichung (8.21) vorgegebenen Modell beschrieben wird. Das Verhalten im Bereich kleiner Spannungen lässt sich gut über eine Potenzfunktion mit einem Spannungsexponenten von n 1 = 3 nachbilden. Aufgrund der geringen Anzahl von Daten in diesem Bereich und der schwer erfassbaren Dehnungsgeschwindigkeiten sollte allerdings ein Wert von n 1 = 2…4 als mit den Messergebnissen in Einklang befindlich aufgefasst wer-
400
8 Experimentelle Ergebnisse
den. Das Verhalten im Bereich höherer Spannungen lässt sich ebenfalls gut über eine Potenzfunktion mit einem Spannungsexponenten von n 2 = 11 nachbilden, wobei hier die Werte kaum streuen und ein verhältnismäßig eindeutiges Ergebnis vorliegt. Als Aktivierungsenergie für diesen Bereich ergab sich ein Wert von Q 2 = 93,1 kJ/mol , während sich für den Bereich kleiner Spannungen ein Wert von Q 1 = 46,8 kJ/mol ergab. In Tabelle 8.23 sind die aus den experimentellen Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.21) aufgeführt [204].
a)
b)
c)
d) 1E-3
Bulk-specimen-SnAg T=293K Sample#1 Sample#3 Sample#5 T=343K Sample#2 Smaple#4
1E-4
Creep Rate [1/s]
1E-5
1E-6
1E-7
1E-8
1E-9
1E-10 1
e)
f)
10
100
Stress [MPa]
Abb. 8.20 Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an SnAg-Bulkproben: a)-g): DehnrateDehnungs-Diagramme der verschiedenen Einzelversuche an der SnAg3,5-Legierung bei T = 30 °C, 70 °C, f) zusammenfassendes Dehnrate-Spannungs-Diagramm für SnAg3,5-Bulkmaterial
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
401
Tabelle 8.23 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,5 in Bulk-Proben aus [204]a A1 [s-1]
n2
Q1 [kJ/mol]
A2 [s-1]
n2
Q2 [kJ/mol]
7E-4
3
46,8
2E-4
11
93,1
a. σ N = 1 MPa
Eine weitere, für das Verständnis der Kriechverhaltens der Sn-Ag- und Sn-AgCu-Legierungen wichtige Frage, zu deren Beantwortung Untersuchungen an Bulkproben wichtige Hinweise geben sollten, war die nach dem Einfluss des Volumenanteils, der Größe und der Formen der intermetallischen Ag3Sn- und Cu6Sn5-Partikel. Zur Beantwortung dieser Frage wurde eine zweite Serie von Experimenten an Bulk-Proben geplant, für welche im Vorfeld verschiedene Modifikationen am Lastrahmen und der Probengeometrie vorgenommen wurden, um bestimmte Schwachpunkte, welche sich bei der Durchführung der ersten Serie von Experimenten herausgestellt hatten, zu verbessern. Zu den wesentlichen Veränderungen zählte dabei die Neugestaltung von beheizten Probenklemmen. Dies war notwendig, da die bisherigen Klemmen, welche mit TO-220-Leistungswiderständen beheizt wurden, eine Begrenzung des Temperaturbereichs bis zu einer Maximaltemperatur von 70 °C aufwiesen. Durch die Verwendung selbst gefertigter Dickschichtheizer konnte der Temperaturbereich auf eine Maximaltemperatur 200 °C erweitert werden. Allerdings hatte dies eine Neugestaltung der Probenklemmen zur Folge, aus der sich wiederum die Notwendigkeit der Verkürzung der Probenlänge auf L = 50 mm ergab. Bei der Neugestaltung der Gussform wurde auch der runde Querschnitt der Proben auf einen recheckigen (3 mm x 4 mm) geändert, da sich dadurch die Proben leichter aus der Form entnehmen ließen. Verbessert wurde außerdem die Wegmessung, indem der bisherige vorkonfektionierte LVDT-Baustein (Sensor mit integriertem Verstärker) durch eine Lösung mit einem selbst entworfenen Sensorverstärker ersetzt wurde, welcher mit einer automatischen computerbasierten Messdatenerfassung verbunden wurde. Durch diese Maßnahmen wurde die Auflösung der Verschiebungsmessung auf ein Inkrement von 0,074 μm verbessert, was - bezogen auf die neue Probengeometrie - einem Dehnungsinkrement von 1,5 10-6 entspricht. Da das wesentliche Ziel der zweiten Versuchsserie im Vergleich des Kriechverhaltens zwischen verschiedenen naheutektischen Sn-Ag- und Sn-Ag-Cu-Legierungen bestand und dadurch die Untersuchung eines großen Probenumfangs zu bewältigen war, wurde eine Abänderung des in der ersten Versuchsserie verwendeten Stufenversuches vorgenommen. Für die Durchführung der Kriechexperimente in der zweiten Versuchsreihe wurde stets mit der höchsten Last begonnen, bis der Zustand des quasistatischen Kriechens erreicht wurde und anschließend die Versuchslast sukzessive abgesenkt wird Hierbei wurden die Versuche für alle vier Versuchstemperaturen (T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, 150 °C) nacheinander an einer Probe durchgeführt (Abb. 8.21).
402
a)
8 Experimentelle Ergebnisse
b)
Abb. 8.21 Typisches Lastprofil des modifizierten Stufenversuches für Kriechversuche der zweiten Versuchsreihe. Exemplarisch wurde der aufgezeichnete Versuchsverlauf für die Probe SnAg3 ausgewählt: a) Weg-Zeit-Diagramm des Versuches bei einer Versuchstemperatur von · T = 100 °C, b) daraus resultierendes ε - ε -Diagramm [618].
Beim Vergleich der Ergebnisse zwischen der ersten und zweiten Versuchsserie zeigte sich, dass es Unterschiede bezüglich der ermittelten quasistatischen Kriechgeschwindigkeit gab. Die Ermittlung dieser weniger als eine Größenordnung betragenden Unterschiede ist sehr schwierig, da sie aufgrund der vielen Veränderungen, die gleichzeitig vorgenommen wurden, schwer einem bestimmten Faktor zuzuweisen sind. Auf die Werte für die Spannungsexponenten hatte das veränderte Vorgehen jedoch keine Auswirkungen. Aus den Ergebnissen der in der zweiten Versuchsreihe untersuchten naheutektischen Legierungen SnAg2, SnAg3 und SnAg4 geht hervor, dass mit steigendem Ag-Anteil die Kriechfestigkeit der Legierung deutlich zunimmt und es gleichzeitig zu einer leichten Erhöhung des Spannungsexponenten von n = 10 auf n = 13 kommt (Abb. 8.22). Bezogen auf den gesamten Versuchstemperaturbereich zeigt sich, dass der Ag-Anteil in der SnAg-Legierung einen sehr wesentlichen Einfluss auf die Kriechfestigkeit hat.
8.4.4.2 Untersuchungen an Durchkontaktierungen in Leiterplatten Da sich Lotkontakte untereinander nicht nur bezüglich ihres Volumens, sondern auch ihrer Form und Anordnung unterscheiden, wurde zur Nachbildung der besonderen Verhältnisse in einem auf einem organischen Verdrahtungsträger befindlichen Durchkontaktierungslotkontakt ein Probekörper entwickelt, bei dem ein Kupferdraht in eine Durchkontaktierung einer Leiterplatte eingelötet wurde (vgl. 7.5.4.2). In üblichen elektronischen Aufbauten kommen solche Durchkontaktierungen an Stellen vor, an denen größere Bauelementetypen, wie z. B. Steckverbinder, Quarze, Printtransformatoren oder Leistungswiderstände, welche neben der elektrischen Verbindung auch eine ausreichende mechanische Stabilisierung benötigen, montiert werden müssen. Wegen der hohen Ausdehnung von Leiterplatten in
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
a)
403
b)
Abb. 8.22 Ergebnisse der zweiten Versuchsreihe für SnAg2, SnAg3, SnAg4: a) Darstellung aller aufgenommenen Kriechdaten der drei Legierungen, b) Vergleich der Ergebnisse für die Versuchstemperatur von T = 30 °C, d. h., die entsprechenden Proben wurden im Anfangsbereich gedehnt [636].
z-Richtung sind diese Lötstellen sehr oft wegen eines lokalen Fehlanpassungsproblems, welches durch die stark unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten von Anschlussstift und Leiterplattenmaterial hervorgerufen wird, kritisch für die Zuverlässigkeit der Baugruppe. Aus diesem Grund sollten die Kriecheigenschaften einer solchen Lotverbindung gesondert untersucht werden. Um eine exakt zentrische Position des Drahtes in der zylinderförmigen Durchkontaktierung zu erreichen, wurde der Kupferdraht mithilfe einer Mikropositioniereinrichtung gegenüber der Leiterplatte ausgerichtet und anschließend in dieser Position eingelötet. Dies hatte zur Folge, dass die Löttemperaturen gegenüber den vom Lotpastenhersteller empfohlenen erheblich angehoben werden mussten, da die Mikropositioniereinrichtung eine erhebliche Wärmesenke darstellte. Auf die Übertragbarkeit der Ergebnisse hat dies kaum Einfluss, da auch große Bauelemente, wie z. B. Steckverbinder, eine erhebliche Wärmesenke darstellen. Die Bestimmung des Kriechverhaltens durch Messung der Relativbewegung des mit einem Gewicht belasteten Kupferdrahtes gegenüber der Leiterplatte erfolgte über die in 7.5.4.2 beschriebene Vorrichtung. Für die Erfassung der Messwerte des für die Verschiebungsmessung eingesetzten inkrementellen optischen Wegaufnehmers (IKF 10, Fa. Feinmeß Suhl, Auflösung 100 nm) stand zum Zeitpunkt der Versuchsdurchführung kein computergestütztes System zur Verfügung. Die Messwerte wurden daher abgelesen, aufgeschrieben und von Hand in eine Tabelle übertragen, aus der die Diagramme erzeugt wurden. Es ist davon auszugehen, dass bei hohen Messkräften und damit einer hohen zeitlichen Dichte von Messwerten Ablesefehler beim manuellen Erfassen der Messwerte entstanden. Weiterhin ist zu beachten, dass die Probenheizung über einen Zweipunktregler gesteuert wurde, wodurch es zu thermischen Oszillationen im Bereich von ΔT = ± 0,2 K kam, welche sich über thermische Dehnungen auf Oszillationen in
404
8 Experimentelle Ergebnisse
der Wegmessung auswirkten. Dies hatte zwar geringen Einfluss auf den gemittelten Gesamtratewert, wirkte sich jedoch stärker auf lokale Ratewerte aus. Die Auflösung der Wegmessung betrug 0,1 μm, was einem Dehnungsinkrement von 5,8 10-4 entspricht. Die Umrechnung von Kraft- und Wegdaten auf Spannungsund Dehnungswerte erfolgte über: 2⋅s ε = ----------------------------------( dB – dD ) ⋅ 3
(8.22)
F ... Kraftwert s ... Wegwert dB ... Durchmesser der Leiterplattenbohrung Leiterplatte dD ... Durchmesser der Drahtes h ... Leiterplattendicke Metallisierung
dB dD
h
2⋅F⋅ 3 -, σ = -------------------------------------π ⋅ h ⋅ ( dB + dD )
Lot
Draht
Die Ergebnisse aus den Kriechuntersuchungen sind in den Diagrammen Abb. 8.23 zu sehen. Alle Proben wurden in einem Stufenversuch untersucht, d. h., es wurden verschiedene Lasten an eine Probe angebracht. Jeder Einzelversuch wurde dabei so lange durchgeführt, bis der quasistatische Kriechbereich erreicht wurde, sodass die Proben nicht zerstört wurden. Um sicherzustellen, dass es zu keinen Degradationen der Proben während des Tests kam, wurde dieser sowohl mit einer aufsteigenden als auch mit einer absteigenden Lastreihenfolge gefahren. In den Diagrammen Abb. 8.23 a-d sind zunächst die Kriechdiagramme der Einzelversuche dargestellt, aus welchen hervorgeht, bei welcher Dehnung die entsprechenden Dehnraten ermittelt wurden. Die in diesen Diagrammen eingezeichneten Dehnungen wurden auf der Basis der während der Messungen notierten Werte ermittelt. Die Ergebnisse aller Einzelversuche sind im Diagramm in Abb. 8.23 f zusammengefasst, in welchem die Abhängigkeit der Dehnungsgeschwindigkeit von der Spannung dargestellt ist. Aus den Messwerten für das SnAg-Lot geht hervor, dass ein im Vergleich zu den Ergebnissen an Bulkproben niedrigerer Spannungsexponent ( n 2 = 7 gegenüber n 2 = 11 bei Bulkproben) ermittelt wurde und dass das charakterisierte Kriechverhalten einem einfachen Potenzgesetz folgt. Das Fehlen eines zweiteiligen Verlaufes, wie er bei den Bulk-Proben ermittelt wurde, kann jedoch auch mit den höheren Dehnraten zusammenhängen, bei denen das SnAg-Lot an den Leiterplattenproben bestimmt wurde. Als Aktivierungsenergie ergab sich ein Wert von Q 2 = 70,3 kJ/mol , der ebenfalls niedriger als der der Bulk-Proben ist [204]. In Tabelle 8.24 sind die aus den experimentellen Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.21) aufgeführt [619].
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
405
Tabelle 8.24 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,5 in Leiterplattenkontakt-Proben aus [619]a A1 [s-1]
n2
Q1 [kJ/mol]
A2 [s-1]
n2
Q2 [kJ/mol]
-
-
-
4E-5
7
70,3
a. σ N = 1 MPa
a)
b)
c)
d) 1E-3
PCB-spec.-SnAg T = 303 K Sample#1 Sample#2 T = 343 K Sample#1 Sample#3
1E-4
Creep Rate [1/s]
1E-5
1E-6
1E-7
1E-8
1E-9
1E-10 1
e)
10
100
Stress [MPa]
Abb. 8.23 Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an Durchkontaktierungen in Leiterplatten: a)-d): Dehnrate-Dehnungs-Diagramme der verschiedenen Einzelversuche an der SnAg3,5-Legierung bei T = 30 °C, 70 °C, e) zusammenfassendes Dehnrate-Spannungs-Diagramm für SnAg3,5-Leiterplattenkontakt
406
8 Experimentelle Ergebnisse
8.4.4.3 Untersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten Mit der Entwicklung von CSP- und FBGA-Gehäusebauformen (vgl. 2.3.3.3) entstanden Zuverlässigkeitsprobleme an deren kugelförmigen Anschlusslotkontakten, welche gegenüber den klassischen BGA-Bauformen mit Durchmessern im Bereich von 1 mm ... 0,8 mm auf Durchmesser zwischen 0,5 mm ... 0,3 mm verkleinert worden waren. Deshalb bestand ein großes Interesse darin, die Verformungseigenschaften von Loten in diesen Größendimensionen zu untersuchen. Dabei bestand einer der ersten Ansätze darin, Probekörper aus realen Bauelementen zu gewinnen, indem alle auf diesen Bauelementen befindlichen Lotkontakte bis auf die vier an den Ecken befindlichen Lotkontakte heruntergeschert wurden. Anschließend wurde das kontaktanzahlreduzierte Bauelement in einem Standardreflowprozess auf den dafür originär vorgesehenen organischen Verdrahtungsträger gelötet. Bei ersten Messungen zeigte sich jedoch, dass durch das viskoelastische Verhalten der organischen Träger sehr große Fehler bezüglich der Eigenschaftsbestimmung des Lotmaterials entstanden [613]. Aus diesem Grund wurden Probekörper auf der Basis von Al2O3-Dickschichtkeramiken gefertigt. Ausschlaggebend für die Wahl dieses Substrates gegenüber Si waren die geringen Herstellungsaufwände bei kleinen Stückzahlen sowie der größere versuchsmethodische Spielraum durch die Möglichkeit der Verwendung von Dickschichtpasten als Metallisierung. Um einen zu den originären organischen Substraten vergleichbaren Schichtaufbau realisieren zu können, musste jedoch die veränderte Oberflächenbeschaffenheit der Al2O3-Dickschichtkeramik an die entsprechenden Abscheidungsprozesse angepasst werden. Dazu wurde zunächst eine dünne Titanschicht (d = 100 nm) aus der Dampfphase (PVD) abgeschieden, welche als Haftvermittler zwischen der Al2O3-Dickschichtkeramik und der späteren Kupferschicht fungiert. Danach wurde zunächst eine dünne Kupferschicht (d = 1 μm) aufgesputtert, welche als Elektrode für nachfolgende galvanische Abscheidungsprozesse dient. Durch galvanische Abscheidung wurde die Kupferschichtdicke auf 12 μm - 20 μm verstärkt. Danach erfolgte eine nasschemische Strukturierung des Kupfers in entsprechende Anschlussflächen sowie das Aufbringen und Strukturieren eines Lotstopresistes (WPR 1050, 7 μm Dicke) zur genauen Definition der Kontaktflächen. Anschließend erfolgte eine Versiegelung dieser Kontaktflächen durch eine chemisch aufgebrachte Sn-Abschlussschicht (d = 1 μm) bzw. eine Ni/Au-Abschlussmetallisierung (d = 5 μm/0,07μm). Die Herstellung der Ni/Au-Abschlussmetallisierung erfolgte durch Reduktion von NiSO4 durch Na2H2PO2, wodurch in die Nickelschicht Phosphor mit einem Gewichtsanteil von 8 % - 10 % eingebaut ist. Die Au-Deckschicht wird durch einen Tauchgoldprozess aufgebracht [508]. In Abb. 8.24 sind die Oberflächen der strukturierten Al2O3-Dickschichtkeramiken sowie eine Ansicht des gesamten Probekörpers abgebildet. Um Lot auf den Keramikgrundkörper aufzubringen, wurden entweder handelsübliche Lotkugeln aufgesetzt oder für spezielle Legierungszusammensetzungen Lotformteile durch Ausstanzen aus Lotfolien hergestellt. Diese Folien wurden zuvor durch mehrfaches Walzen aus Lotstangenmaterial gefertigt. Durch den
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
a)
b)
c)
d)
407
Abb. 8.24 Keramikprobekörper: a) strukturierte Kupferflächen, b) strukturierter Lotstoplack auf Kupferflächen, c) Queransicht, d) Lotkontakt im Querschliff [508]
Walzprozess kann die Dicke der Lotfolie eingestellt werden. Durch die Wahl eines Stanzwerkzeuges wird der Durchmesser des zylindrischen Lotformteils festgelegt. Um Keramikgrundkörper mit kreisförmigen Anschlussflächen von d = 400 μm miteinander zu verlöten, wurden Lotformteile mit einer Höhe h = 140 μm und einem Durchmesser d = 300 μm verwendet. Diese Lotformteile wurden mit Flussmittel auf den entsprechenden Kontaktflächen fixiert. Anschließend wurden die beiden Keramikgrundkörper durch einen Umschmelzprozess in einem Dampfphasenofen simultan miteinander verlötet, sodass die in Abb. 8.24 dargestellte Probekörperform entstand. Die Umschmelztemperatur betrug T = 240 °C und die Umschmelzdauer wurde zwischen t = 45 s ... 180 s variiert. Kürzere Umschmelzdauern kamen nicht in Frage, da dann eine erhöhte Bildung von Hohlräumen (Voids) in den Lotkontakten beobachtet wurde. Aufgrund dieser verhältnismäßig langen Umschmelzzeiten kam es bei Verwendung von Cu/Sn-Metallisierungen zu einer erheblichen Ablegierung von Cu in das SnAg3,5-Lot, sodass dieses offensichtlich zu einem SnAgCu-Lot beim Umschmelzprozess transformiert wurde. Dieser Effekt konnte umgangen werden, indem SnAg3,5-Lotformteile entweder auf eine Ni/Au-Metallisierung oder eine Ag-Metallisierung (mit Dickschichtpaste hergestellt) gelötet wurden. Zur Ermittlung der Kriecheigenschaften an diesen kleinvolumigen SnAg-Lotkontakten wurde die in 7.5.3.3 beschriebene Apparatur verwendet. Die Charakteri-
408
8 Experimentelle Ergebnisse
Abb. 8.25 Kriechverhalten der SnAg3,5-Legierung auf Ag-Anschlussmetallisierung aus [508]
sierung erfolgte in einem zyklischen Kriechversuch, welcher mit dem unter 8.3.4.2 beschriebenen vergleichbar ist. Alle Experimente wurden nacheinander an einer Probe bei den Versuchstemperaturen1 T = 75°C, 20 °C, 125 °C durchgeführt. In Abb. 8.25 sind die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten, welche durch das Auflöten von SnAg3,5-Formteilen auf eine AgAnschlussmetallisierung erzeugt wurden, in einer zusammenfassenden Beschrei· bung des quasistatischen Kriechverhaltens in Form eines ε - σ -Diagramms dargestellt. Aus diesem Diagramm geht hervor, dass das charakterisierte Kriechverhalten einem zweigeteilten Verlauf folgt. Nur im Fall der niedrigsten Versuchstemperatur folgt der Verlauf einem einfachen Potenzgesetz. Das Fehlen eines zweiteiligen Verlaufes bei dieser Temperatur kann jedoch auch mit den höheren Dehnraten zusammenhängen, bei denen das Kriechverhalten bestimmt wurde. Bei der niedrigsten Temperatur (T = 293 K) weist das auf eine Ag-Metallisierung gelötete SnAg3,5-Lot für den Bereich hoher Spannungen einen Spannungsexponenten von n 2 = 14 auf, welcher sich bei den höheren Versuchstemperaturen (T = 348 K, 398 K) auf Werte von n 2 = 10 bzw. n 2 = 8 verringert. Für den Bereich niedriger Spannungen ergab sich bei den beiden höheren Temperaturen ein Spannungsexponent von n 1 = 4 . In einer weiteren Versuchsreihe wurden die Kriecheigenschaften der kleinvolumigen SnAg-Lotkontakte in Verbindung mit einer Ni/Au-Metallisierung bestimmt. Dazu wurde - wie bei den Experimenten unter Verwendung der Ag-Metallisierung 1. Die Reihenfolge der Temperaturen entspricht der Reihenfolge der Versuche, die an einer Probe durchgeführt wurden.
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
409
- die in 7.5.3.3 beschriebene Apparatur verwendet sowie der unter 8.3.4.2 beschriebene zyklische Kriechversuch durchgeführt. Anstelle der beschriebenen Keramikgrundkörper zur Probeköperfertigung kamen strukturierte Leiterplatten mit Aluminiuminnenlage zum Einsatz, welche gegenüber herkömmlichen organischen Substraten den Vorzug boten, auch bei hohen Versuchstemperaturen eine steife, die Verformungsmessung des Kontaktes nicht verfälschende Unterlage zu Verfügung zu stellen [508]. Wiederum wurden alle Experimente nacheinander an einer Probe bei den Versuchstemperaturen1 T = 75°C, 20 °C, 125 °C durchgeführt. In
Abb. 8.26 Kriechverhalten der SnAg3,5-Legierung auf Ni/Au-Anschlussmetallisierung aus [508]
Abb. 8.26 sind die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten, welche durch das Auflöten von SnAg3,5-Formteilen auf eine Ni/AuAnschlussmetallisierung erzeugt wurden, in einer zusammenfassenden Beschrei· bung des quasistatischen Kriechverhaltens in Form eines ε - σ -Diagramms dargestellt. Anders als bei der Ag-Metallisierung folgt das Kriechverhalten bei allen Versuchstemperaturen einem einfachen Potenzgesetz. Es ist unwahrscheinlich, dass das Fehlen eines zweiteiligen Verlaufes mit zu hohen Dehnraten bei der Messung zusammenhängt, da auch bei der höchsten Temperatur (T = 398 K) kein Ansatzpunkt für einen zweiteiligen Verlauf sichtbar wird. Für alle drei Versuchstemperaturen ergibt sich ein Spannungsexponent von n 2 = 16 . Die aus den Ver· ε - σ -Diagramm läufen im ermittelte Aktivierungsenergie betrug Q 2 = 105 kJ/mol [508]. 1. Die Reihenfolge der Temperaturen entspricht der Reihenfolge der Versuche, die an einer Probe durchgeführt wurden.
410
8 Experimentelle Ergebnisse
8.4.4.4 Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten Zur Ermittlung der Kriecheigenschaften von eutektischem SnAg-Lot an FlipChip-Kontakten wurden die in 8.4.3.2 beschriebenen Probekörper verwendet. Die Charakterisierung des Kriechverhaltens erfolgte unter Nutzung der in 7.5.3.2 beschriebenen Apparatur mit dem in 8.3.4.2 beschriebenen zyklischen Kriechversuch. Beim Durchführen von Kriechversuchen an Flip-Chip-Proben mit SnAg-Lotbumps auf einer NiAu-Unterbumpmetallisierung kam es zu erheblichen Problemen durch das Abreißen von Unterbumpmetallisierungen, wodurch eine vollständige Durchführung von Kriechversuchen an diesen Proben nicht möglich war. Die sehr hohen Kraftraten zu Beginn des zyklischen Kriechversuches waren vermutlich die Ursache für das Abreißen der Unterbumpmetallisierung. Deshalb wurden die Werte für den Kriechrate-Spannungs-Zusammenhang aus den aufgezeichneten Spannungs-Dehnungs-Diagrammen abgeleitet (siehe Abb. 8.33 und Abb. 8.34). Die Ergebnisse aus den zyklischen Kriechversuchen sind sowohl als Einzel· kriechversuche in Form von ε - ε -Diagrammen als auch in einer zusammenfassen· den Beschreibung des quasistatischen Kriechverhaltens in Form eines ε - σ -Dia· gramms dargestellt. Die Einzelkriechversuche in Form von ε - ε -Diagrammen in den Abb. 8.27 bis Abb. 8.32 sind dabei entweder auf der linken oder rechten Seite positioniert. Diese Anordnung repräsentiert die jeweilige Sequenz des Einzelversuches im gesamten zyklischen Kriechversuch (vgl. 8.3.4.2). Wurde ein symmetrischer Versuchspannungsverlauf (gleiche Dehnraten in Hin- und Rückrichtung) im zyklischen Kriechversuch aufgebracht, so sind die korrespondierenden DehnrateDehnungs-Diagramme einander gegenüber in Lastreihenfolge dargestellt. Bei einem asymmetrischen Versuchsspannungsverlauf sind die Diagramme ebenfalls in der Reihenfolge ihrer Durchführung aufgeführt und befinden sich entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu Hin- oder Rückrichtung auf der linken oder rechten Seite der Abbildung. Da die Umrechnung von Kraft- und Wegdaten auf Spannungs- und Dehnungswerte aufgrund der sich während des Einzelversuches ständig ändernden Spannungsverteilungen im Kontakt nicht über eine FE-Analyse des Versuches (vgl. 7.4.4.3) bestimmt werden kann, erfolgte eine einfache Abschätzung über folgende Beziehung: ⋅ 3- , -------------σ = F 2 π⋅d
s ε = ------------h⋅ 3
(8.23)
F... Kraftwert aller 4 Kontakte s ... Wegwert d ... Mittendurchmesser der Kontakte h ... Kontakthöhe
Aus den Ergebnissen für SnAg3,5-Lot (Abb. 8.35) geht hervor, dass das charakterisierte Kriechverhalten einem einfachen Potenzgesetz folgt. Das Fehlen eines
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
411
zweiteiligen Verlaufes, wie er bei den Bulk-Proben ermittelt wurde, kann jedoch auch mit den höheren Dehnraten zusammenhängen, bei denen das SnAg-Lot an den Flip-Chip-Probekörpern bestimmt wurde. Die mit unterschiedlichen Abkühlgeschwindigkeiten erzeugten Proben wiesen keine signifikanten Unterschiede im Kriechverhalten auf. Deutliche Unterschiede sind hingegen in Abhängigkeit von der gewählten UBM festzustellen. Das auf eine Cu-UBM aufgebrachte SnAg-Lot
a)
b)
c)
d)
e)
Abb. 8.27 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAg, Cu-UBM, schnell abgekühlt, T= 5°C: linke Seite (b, d) = Hindeformation, rechte Seite (a, c, e) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch.
412
8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
c)
d)
Abb. 8.28 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAg, Cu-UBM, schnell abgekühlt, T= 5°C: linke Seite (a, c) = Hindeformation, rechte Seite (b, d) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch.
weist einen geringeren Kriechwiderstand sowie einen geringeren Spannungsexponenten n 2 = 11 als das auf eine NiAu-UBM aufgebrachte Lot n 2 = 20 auf. Dieser Unterschied wird auf die Lösung des Au im Lot und auf die Anlagerung von harten intermetallischen Au4Sn-Phasen in Korngrenzentripeln zurückgeführt [617]. Als Aktivierungsenergie ergab sich ein Wert von Q 2 = 73,2 kJ/mol für die Cu-UBM und Q 2 = 74,9 kJ/mol für die Ni/Au-UBM. In Tabelle 8.25 sind die Tabelle 8.25 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,5 in Flip-Chip-Kontakten mit verschiedenen Unterbumpmetallisierungen (UBM) aus [204]a UBM
A1 [s-1]
n2
Q1 [kJ/mol]
A2 [s-1]
n2
Q2 [kJ/mol]
Cu
-
-
-
2E-6
11
73,2
NiAu
-
-
-
6E-25
20
74,9
a. σ N = 1 MPa
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
413
aus den experimentellen Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.21) aufgeführt [619].
a)
b)
c)
d)
e)
Abb. 8.29 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAg, Cu-UBM, schnell abgekühlt, T = 50°C: linke Seite (a, b, d) = Hindeformation, rechte Seite (c, e) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch.
414
8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
c)
d)
e)
Abb. 8.30 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAg, Cu-UBM, schnell abgekühlt, T = 50°C: linke Seite (a, c) = Hindeformation, rechte Seite (b, d, e) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch. Aufgrund eines mangelhaften Wegsignals des Laserinterferometers wurden die Wegwerte des Diagramms c) aus der Piezodehnung errechnet.
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
a)
b)
c)
d)
e)
f)
415
Abb. 8.31 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAg, Cu-UBM, langsam abgekühlt, T = 50°C: linke Seite (a, c, e) = Hindeformation, rechte Seite (b, d, f) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch. Aufgrund eines mangelhaften Wegsignals des Laserinterferometers wurden die Wegwerte aller Diagramme aus der Piezodehnung errechnet.
416
8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 8.32 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAg, Cu-UBM, schnell abgekühlt, T = 50°C: linke Seite (a, c, e) = Hindeformation, rechte Seite (b, d, f) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch. Aufgrund eines mangelhaften Wegsignals des Laserinterferometers wurden die Wegwerte aller Diagramme aus der Piezodehnung errechnet.
8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber
417
Abb. 8.33 Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Flip-Chip-Proben, SnAg, unausgelagert, NiAuUBM, T= 5°C: Wegdaten für Kurve 1,3E-7 s-1 wurden aus der Piezodehnung rekonstruiert, da nur ein mangelhaftes Wegsignal über das Laserinterferometer aufgezeichnet wurde. Stark driftendes und verrauschtes Wegsignal für Kurve 1,3 E-6 s-1.
Abb. 8.34 Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Flip-Chip-Proben, SnAg, unausgelagert, NiAuUBM, T= 50°C: Wegdaten für Kurve 3,9E-8 s-1 wurden aus der Piezodehnung rekonstruiert, da nur ein mangelhaftes Wegsignal über das Laserinterferometer aufgezeichnet wurde. Stark driftendes und verrauschtes Wegsignal für Kurven 5,2 E-6 s-1 u. 6,5 E-6 s-1.
418
8 Experimentelle Ergebnisse
Abb. 8.35 Ergebnisse der Kriechversuche an SnAg3,5 in Flip-Chip-Kontakten
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer 8.5.1 Auswahl des Datenmaterials Für das Dreistoffsystem Zinn-Silber-Kupfer existieren unterschiedliche Ansichten über die genaue Lage des Eutektikums. Diese Situation wird weiterhin dadurch erschwert, dass der Kupfer-Anteil bei der eutektischen Zusammensetzung relativ gering ist und sich das Ausgangsmaterial für Verformungsexperimente in der Regel nicht ganz genau bezüglich seiner exakten Zusammensetzung charakterisieren lässt. Aus diesem Grund standen neben den Experimenten, welche sich auf den Größeneffekt konzentrierten, auch solche Experimente im Vordergrund, welche sich mit der Frage der Zusammensetzung der Legierung auf das Verformungsverhalten befassten, da sich aufgrund der Unsicherheiten bei der Bereitstellung einer genauen Legierungszusammensetzung in kleinvolumigen Proben beide Fragen nicht unabhängig voneinander beantworten lassen. Die Untersuchungen am Sn-Ag-Cu-System setzten sich im Einzelnen aus Experimenten an großvolumigen Bulkproben, an Leiterplattendurchsteckkontakten, kleinvolumigen Mikrolotbällen und kleinstvolumigen Flip-Chip Kontakten zusammen. Innerhalb der Experimente an Bulkproben wurde in monotonen Zugversu-
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
419
chen das Kriechverhalten von Doppelschulterproben (Durchmesser 3 mm, Länge 117 mm) aus SnAg3,8Cu0,7-Lot bei Prüftemperaturen von T = 30°C, 70°C charakterisiert. In einer zweiten Versuchsserie wurde in monotonen Lastwechselversuchen an Doppelschulterproben (rechteckiger Querschnitt 3mm x 4 mm, Länge 50 mm) der Einfluss der Legierungselemente Ag und Cu auf das Kriechverhalten an verschiedenen naheutektischen SnAgCu-Legierungen (Sn97.5Ag2Cu0.5, Sn97.1Ag2Cu0.9, Sn98.8Ag2Cu1.2, Sn96.5Ag3Cu0.5, Sn96.1Ag3Cu0.9, Sn95.8Ag3Cu1.2, Sn96.9Ag3Au0.1) bei Versuchstemperaturen von T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, 150 °C untersucht. In monotonen Scherversuchen an Leiterplattendurchsteckkontakten wurde das Kriechverhalten des SnAg3,8Cu0,7-Lotes über einen in ein Durchkontaktierungsloch einer Leiterplatte gelöteten Cu-Stift (Lotspalt = 0,1 mm X 1,6 mm) bei Prüftemperaturen von T = 30°C, 70°C charakterisiert. In zyklischen Scherversuchen an kleinstvolumigen Mikrolotbällen (kugelförmig, Durchmesser = 200 μm bzw. 400 μm) wurde das Kriechverhalten verschiedener SnAgCu-Lotlegierungen bei Prüftemperaturen von T = 20 °C, 75 °C, 125 °C untersucht. Die Einstellung unterschiedlicher Gefüge wurde durch Variation der Lotlegierungen sowie der Unterbumpmetallisierungen (Sn/Cu vs. NiAu)) vorgenommen. In einem zyklischen Scherversuch an kleinstvolumigen Filp-Chip-Kontakten (Zylinder, Durchmesser = 200 μm, Höhe = 200 μm) wurde das Kriechverhalten von eutektischem SnAgCu-Lot auf einer Cu-Unterbumpmetallisierung bei Prüftemperaturen von T = 5 °C, 50 °C untersucht. Die Einstellung unterschiedlicher Gefüge wurde durch thermische Auslagerung (bei 125°C über 24h, 168h, 1176h) vorgenommen.
8.5.2 Elastische Eigenschaften Ähnlich wie beim Sn-Ag-Eutektikum spielen für die elastischen Eigenschaften des Dreistoffsystems Sn-Ag-Cu die Eigenschaften der Ag3Sn-Phase (EAg3Sn = 79 GPa1 [596]) und der Cu6Sn5-Phase (ECu6Sn5 = 85,6 GPa2 [622]) wegen ihres geringen Anteils im Eutektikum kaum eine Rolle, vielmehr wird der E-Modul der Legierung durch die Eigenschaften der β-Sn-Phase (ESn = 49,9 GPa3 [567]) bestimmt. Im Gegensatz zu den theoretischen FE-Analysen an SnAg-Lot [597] zum Einfluss der Gefügemorphologie auf den E-Modul weisen experimentelle Untersuchungen (Zugversuche) an SnAg3,9Cu0,6-Proben darauf hin, dass die Gefügemorphologie, d. h. die Größe und Verteilung der Ag3Sn- und Cu6Sn5-Phasen in der β-Sn-Matrix (vgl. 3.2.1, Abb. 3.5), einen Einfluss auf den Wert des EModuls haben [623]. Allerdings wurden die Messungen bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten (4,2.10-5 s-1) durchgeführt, sodass nicht auszuschließen ist, dass dieses Ergebnis aufgrund von Messfehlern durch verschiedene plastische Ver1. Wert bei Raumtemperatur 2. Wert bei Raumtemperatur 3. Wert bei T = 20 °C
420
8 Experimentelle Ergebnisse
Tabelle 8.26 Elastizitätsmoduli von eutektischem SnAgCu-Lot Legierung
T [K]
dε/dt
E [GPa]
dE/dT [MPa/K]
Bemerkunga
Quelle
37
-
Bulkdruckprobe
[623]
-1
[s ] 95,5Sn-3,9Ag-0,6Cu
248 298
48
zylindrisch
348
42
d = 10 mm
398
36
l = 19 mm
448
34
248 298
95,5Sn-3,8Ag-0,7Cu
4,2.10-5
8,3.10-4
50
348
44
398
43
448
35
218
-
48,5
483
95,5Sn-3,8Ag-0,7Cu
48
298
348
398
-
33,0
5,6.10-2
58,0
5,6.10-3
50,3
5,6.10-4 5,6.10-2
[624]
(60 mm x 7,1 mm2) -251,2
44,4
Zugprobe
[625]
(15 mm x 7,1 mm2)
[626]
42,4 36,0
5,6.10-3
30,7
.
-4
32,5
5,6.10-2
25,7
5,6.10-3
18,8
5,6 10
Zugprobe
5,6.10-4 95,5Sn-3,9Ag-0,6Cu
96,0Sn-3,0Ag-0,6Cu
248
4,2.10-5
53
bis
bei
448
273 K
295
1.10-2
37,6
-80
-
Bulkdruckprobe
[627]
zylindrisch
[628]
Zugprobe
[629]
(50 mm x 78,5 mm2) a. Angaben erfolgen für Proben mit rechteckigem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Breite x Tiefe und für Proben mit rundem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Querschnittsfläche
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
421
formungsanteile bei der E-Modul-Bestimmung zustande kommt. In Tabelle 8.26 befindet sich eine Auflistung verschiedener publizierter Werte experimentell bestimmter E-Moduli für eutektisches SnAgCu-Lot unter Angabe der wesentlichen Versuchsbedingungen. Wie bei der SnPb- und SnAg-Legierung wurde der E-Modul auch durch Ultraschallmikroskopie bestimmt. Als Probekörper dienten dabei zylindrische Lotplättchen mit einer Dicke von 300 μm und einem Durchmesser von 3 mm. Aus der Bestimmung der Signallaufzeit der Longitudinal- und Transversalwellen konnten die elastischen Parameter Elastizitätsmodul ( E ) , Schermodul ( G ) und Querkontraktionszahl ( ν ) bestimmt werden, welche in Tabelle 8.27 den Ergebnissen aus
Tabelle 8.27 Elastische Parameter von eutektischem SnAgCu-Lot bei Raumtemperatur Legierung
E [GPa]
G [GPa]
ν
Bemerkung
Quelle
95,5Sn-3,8Ag-0,7Cu
69,7
26,7
0,31
Ultraschallmessung
TUDa
96,5Sn-3,0Ag-0,5Cu
69,3
26,8
0,29
Ultraschallmessung
TUDa
95,5Sn-2,7Ag-0,4Cu
68,5
26,5
0,29
Ultraschallmessung
TUDa
95,5Sn-3,8Ag-0,7Cu
45
16,6
0,36
Bulkzugprobe
[624]
95,5Sn-3,9Ag-0,6Cu
53
19,8
0,34
Bulkdruckprobe
[628]
Sn
71,3
26,1
0,37
Ultraschallmessung
TUDa
Sn
54
20,2
0,33
-
[536]
Ag3Sn
79
-
-
-
[596]
Cu6Sn5
85,6
-
-
-
[622]
a. Ultraschallmessungen wurden an der TU Dresden von M. Röllig und N. Gust an zylindrischen Lotplättchen mit 3 mm Durchmesser und einer Dicke von 0,3 mm vorgenommen.
den Verformungsversuchen in [624, 628] gegenübergestellt sind. Wie bei der SnPb-Legierung zeigt sich auch bei der SnAg-Legierung, dass die Werte für die rein elastische Verformung bei Ultraschallanregung, d. h. der physikalische EModul (vgl. 4.3.1), wesentlich höher sind als die bei Verformungsmessungen, d. h. der technische E-Modul, welche offensichtlich durch ein geringes Maß an Versetzungsbewegungen begleitet werden. Erstaunlich ist, dass die Unterschiede zwischen dem im Zugversuch und dem in der Ultraschallmessung bestimmten EModul relativ hoch sind, obwohl gegenüber dem SnPb-Lot bei einem SnAgCu-Lot mit fein verteilten Ag3Sn-Phasen von einer starken Behinderung der Versetzungsbewegung ausgegangen werden müsste, wodurch mit geringen Abweichungen
422
8 Experimentelle Ergebnisse
durch plastische Verformungen im Bereich der elastischen Gerade zu rechnen sein müsste.
8.5.3 Instantanplastische Verformung
8.5.3.1 Untersuchungen an Bulkproben Die Problematik der Fließspannungsbestimmung bei den höheren homologen Materialtemperaturen im relevanten Anwendungsbereich unterscheidet sich nicht von der des SnPb-Lotes (vgl. 8.3.3.1). Aus diesem Grund beschränkt sich die Beschreibung dieses Verhaltens auf die in Tabelle 8.28 aufgeführte Auflistung der an makroskopischen Probekörpern bestimmten Werte für die Fließspannung (σF) und Verfestigung (h), welche zusammen mit der beim Versuch verwandten Dehnungsgeschwindigkeit (dε/dt) in Tabelle 8.28 übersichtsartig wiedergeben werden. Werden diese aus der Literatur entnommenen Werte untereinander verglichen, so zeigt sich, dass die ermittelte Fließspannung sehr stark von den Versuchsbedingungen sowie der genauen Zusammensetzung der Legierung als auch den Herstellungsbedingungen der Proben abhängt. Die letzten beiden Faktoren werden besonders deutlich, wenn die Ergebnisse aus den von Kim [630] an verschiedenen naheutektischen SnAgCu-Legierungen durchgeführten Untersuchungen miteinander verglichen werden. In diesen Untersuchungen wurden die drei naheutektischen Legierungen SnAg3,0Cu0,5, SnAg3,5Cu0,7 und SnAg3,9Cu0,6, welche bei drei verschiedenen Abkühlraten 0,012 K/s, 0,43 K/s und 8,3 K/s erstarrt wurden, bezüglich ihres Gefüges und ihrer mechanischen Eigenschaften verglichen. Im Resultat dieser Untersuchungen zeigt sich zum einen, dass die Fließspannung als auch das sich einstellende Gefüge eine signifikante Abhängigkeit von der gewählten Abkühlgeschwindigkeit haben, und zum anderen, dass die durch DSC-Untersuchungen (vgl. 3.4.2.1) als eutektisch identifizierte SnAg3,5Cu0,7-Legierung die deutlich höchsten Werte für die Fließspannung besitzt. Die Ergebnisse aus [630] sind insofern kritisch zu bewerten, als dass aus den in der Veröffentlichung abgebildeten Spannungs-Dehnungs-Diagrammen deutlich hervorgeht, dass die zur Aufnahme der mechanischen Eigenschaften eingesetzte Prüftechnik eine unzureichende Auflösung und Steifigkeit besaß, jedoch zeigen sich die bei der Auswertung der Fließspannung gewonnenen qualitativen Aussagen so auch bei den ermittelten Festigkeitswerten. Werden die Ergebnisse aus [630] zu denen aus den Untersuchungen in [623, 626, 629] in Beziehung gesetzt, so zeigt sich bei einem Vergleich der Werte für Dehnungsgeschwindigkeiten zwischen –4 –3 –1 · bei Raumtemperatur, dass die eutektische SnAg3,8Cu0,7ε = 10 …10 s Legierung höhere Werte der Fließspannung als die übereutektische SnAg3,9Cu0,6 und die untereutektische SnAg3,0Cu0,5-Legierung aufweist. Zwischen den verschiedenen Untersuchungen ist trotz unterschiedlicher Probengrößen und Untersuchungsmethoden eine beachtliche Vergleichbarkeit der Ergebnisse bei gleichen
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
423
Tabelle 8.28 Fließspannung (σF) und Verfestigung (h) für verschiedene naheutektische SnAgCuLegierungen bei erhöhten homologen Temperaturena σF [MPa]
h [MPa]
T[K]
dε/dt [s-1]
Bemerkungb
Quelle
48
-
248
8,3.10-4
[623]
31
298
Bulkdruckprobe, SnAg3,9Cu0,6
22
348
zylindrisch
16
398
d = 10 mm
13
448
40
248
27
298
19
348
13
398
11
448
l = 19 mm .
-5
4,2 10
5,6.10-2
Zugprobe, SnAg3,8Cu0,7
40,8
5,6.10-3
(15 mm x 7,1 mm2)
35,1
5,6.10-4
51,1
1,9
41,5
298
348
5,6.10-2
33,5
5,6.10-3
26,0
5,6.10-4
34,0
398
5,6.10-2
27,6
5,6.10-3
21,8
5,6.10-4
31
6.103
1.10-2
30
Zugprobe, SnAg3,0Cu0,5
5.103
1.10-3
(50 mm x 78,5 mm2)
25
1.103
1.10-4
36
-
295
298
[626]
1.10-2
Bulkzugpr., SnAg3,0Cu0,5
46
Bulkzugpr., SnAg3,5Cu0,7
38
Bulkzugpr., SnAg3,9Cu0,6
[629]
[630]
(24 mm x 4,5 x 2 mm2) mit 8,3 K/s erstarrt 23
-
298
1.10-2
Bulkzugpr., SnAg3,0Cu0,5
29
Bulkzugpr., SnAg3,5Cu0,7
28
Bulkzugpr., SnAg3,9Cu0,6 (24 mm x 4,5 x 2 mm2) mit 0,012 K/s erstarrt
a. Tabellenwerte z. T. aus in den Publikationen enthaltenen Grafiken entnommen und gerundet b. Angaben für Proben mit rechteckigem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Breite x Tiefe bzw. mit rundem Querschnitt in der Reihenfolge Länge x Querschnittsfläche
424
8 Experimentelle Ergebnisse
Versuchsbedingungen erkennbar, sodass für eutektische SnAgCu-Legierung für Raumtemperatur von einer Fließspannung von σ F ∼ 50 MPa ausgegangen werden kann, welche allerdings bereits bei geringen Veränderungen der Legierungsbestandteile von einen halben Gewichtsprozent offensichtlich bis auf 2/3 dieses Wertes abfallen kann. Insofern unterscheidet sich das an Bulkproben charakterisierte instantanplastische Verhalten der eutektischen SnAgCu-Legierung nur wenig von dem der eutektischen SnAg-Legierung.
8.5.3.2 Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten Für die Untersuchung des Verformungsverhaltens des SnAgCu-Lotes an kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten wurde der gleiche Flip-Chip-Probekörper wie der für die Untersuchungen an SnAg-Lot eingesetzt (vgl. 8.4.3.2). Für die Präparation der in den Untersuchungen verwendeten Flip-Chip-Probekörper wurden Chips mit eine Bumpgrundfläche von 200 μm X 200 μm eingesetzt. Zur Herstellung der SnAgCu-Bumps wurden die Lotpasten Hereaus F365, Sn95,5-Ag4-Cu0,5, Typ 4 und Fremat FTL 020FP 18N/4/2, Sn95.5Ag3.8Cu0.7, Typ 6 eingesetzt. Beide zeigten ein gutes Druckbild, wobei die Bumpshöhenverteilung bei der erst zu einem späteren Zeitpunkt erhältlichen Typ 6-Paste signifikant besser ausfiel als bei der Typ 4-Paste. Vor der Montage der Flip-Chip-Probekörper wurden deshalb jeweils solche Chips ausgewählt, die eine gute Homogenität der Bumphöhen aufwiesen. Das Umschmelzen der drucktechnisch abgeschiedenen Lotdepots erfolgte in einem Dampfphasenofen bei einer Temperatur von ca. 240 °C (Siedepunkt des Dampfphasenmediums). Die Umschmelzdauer betrug 20 Sekunden. Beim Fügen der Flip-Chip-Probekörper zeigte sich, dass am verwendeten Flip-Chip-Bonder (Typ: SET 950) nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Veränderung der Abkühlraten bestanden. Mit diesen war es nicht möglich, signifikant unterschiedliche Gefüge in den Flip-Chip-Kontakten zu erzeugen. Aus diesem Grund konnte nur die thermische Auslagerung (bei 150°C über 1500 h bzw. bei 125°C über 24h, 168h, 1176h für Kriechversuche) zur Gefügevariation verwendet werden. Überdies zeigte sich während der Durchführung von Versuchen, dass sich der vorgesehene Probekörper nicht zur Durchführung aller geplanten Versuche eignete. Obwohl die Gestaltung des Probekörpers sich zuvor in Versuchen an der im Vergleich sehr duktilen SnPb-Legierung bereits bewährte hatte, zeigte sich bei Scherexperimenten an den kriechfesteren SnAgCu-Loten, dass es vereinzelt zum Herausreißen der Unterbumpmetallisierung (UBM) kommt. Besonders, wenn der Probekörper eine NiAu-UBM besaß (vgl. 8.4.3.2), trat sehr häufig ein Herausreißen der UBM schon bei geringeren Belastungen auf, sodass auf diese Probekörpervariation verzichtet werden musste und alle Experimente an einer Cu-UBM durchgeführt wurden. Das elastisch-plastische Verformungsverhalten von eutektischem SnAgCu-Lot an kleinstvolumigen Flip-Chip-Kontakten wurde analog zu den Untersuchungen zum SnPb-Lot charakterisiert (vgl. 8.3.3.2). Im Versuchsprogramm wurde dazu
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
425
zuerst ein Versuch mit sich zyklisch wiederholender symmetrischer Dreiecksdehnung (Abb. 8.4) durchgeführt, aus dessen Ergebnissen entnommen werden konnte, dass das SnAgCu-Lot kein zyklisches Ver- und Entfestigungsverhalten aufweist. Dementsprechend wurde das elastisch-plastische Verformungsverhalten über einen Versuch mit symmetrischer Dreiecksdehnung und Variation der Verformungsamplituden bei Versuchstemperaturen von T1 = 278 K und T2 = 323 K charakterisiert. Die Auswertung der Experimentalrohdaten fand über eine FE-Analyse der Versuche (vgl. 7.4.4.3) statt, in deren Ergebnis die in Tabelle 8.29 aufgeführten Modellparameter bestimmt wurden. Bei der Modellierung erwies sich analog zu SnPb die trilineare Formulierung des in Abb. 8.6 schematisch dargestellten Modells als die zweckmäßigste [605].
Tabelle 8.29 Linear-elastisches-starr-plastisches Modell mit kinematischer Verfestigung in trilinearer Formulierung für SnAg4Cu0,5-Lot in Flip-Chip-Kontakten auf einer Cu-UBM aus [605] T
ε1
ε2
σ1
σ2
σ3
278 K
0,001
0,004
57,4 MPa
80 MPa
2500 MPa
323 K
0,001
0,004
53,2 MPa
72 MPa
1900 MPa
278 K
0,0006
0,0015
24,6 MPa
36 MPa
2100 MPa
323 K
0,0006
0,0015
22,8 MPa
32 MPa
1500 MPa
erstarrt
ausgelagert 150 °C/1500h
8.5.4 Kriechverhalten
8.5.4.1 Untersuchungen an Bulkproben Auch für das SnAgCu-Eutektikum lag im Vergleich mit der SnPb-Legierung ein begrenztes Datenmaterial vor, welches darüber hinaus kein konsistentes Bild bezüglich wichtiger, die Verformungsreaktion charakterisierender Parameter, wie z. B. des Spannungsexponenten oder der Aktivierungsenergie, gibt. Aus diesem Grund wurden ähnlich wie bei der SnAg-Legierung eigene Untersuchungen an Bulk-Proben geplant, um für die Bewertung des Größeneffektes ein Referenzverhalten definieren zu können. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, wie auch schon beim SnAg-Lot, dass es mikrostrukturelle und untersuchungsmethodische Faktoren gibt, welche die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen beeinflussen können. Dadurch dass es sich beim SnAgCu-System um eine Dreistofflegierung handelt, trifft die in 8.4.4.1 bereits ausführlich diskutierte Problematik der Gefügeinhomogenitäten und Versuchsabläufe in besonderem Maße zu. Die aus ausge-
426
8 Experimentelle Ergebnisse
wählten Publikationen entnommenen Ergebnisse von Kriechexperimenten am SnAgCu-Lot sind in Tabelle 8.30 aufgelistet. Dazu wurden wie beim SnAg-Lot die charakteristischen Modellparameter der Gleichung (8.21), wie die Spannungsexponenten n 1, n 2 und die Aktivierungsenergien Q 1, Q 2 , zusammen mit wichtigen Versuchsbedingungen aufgeführt. Tabelle 8.30 Vergleich der Spannungsexponenten n und Aktivierungsenergien Q (für den Bereich mittlerer Spannungen) zwischen Experimenten an erstarrten Lotprobekörpern aus SnAgCu-Lot sowie Darstellung der entsprechenden Versuchsbedingungena n1
Q1
n2
[kJ/mol] 8,7
8,2
-
Q2
dε/dt
T
V
Quelle/
[kJ/mol]
[s ]
[K]
[m ]
Bemerkung
45,1
10-9...10-3
233
3,2.10-8
[625], [631]
-1
3
8,4
298
SnAg3,8Cu0,7
5,2
348
Zugversuch
4,1
398
13
-
10-8...10-2
295
3,9.10-6
[629]: SnAg3,0Cu0,5 Zugversuch >104s-1 Relaxation <10-4s-1
5
-
92,6
-
10
11,1
92,6
-
10-8...10-2
10-5...10-1
298
1.10-8
[293]:
...
SnAg4Cu0,5
423
Scherversuch
298
1,2.10-6
[632]: SnAg3,8Cu0,7 Zugversuch
-
-
13
105,2
10-9...10-6
378
Bulk
403
11
[633]: SnAg3,5Cu0,5 Zugversuch [634]:
11,9
6,55
9,6
...
SnAg3,5Cu0,5
4,18
8,8
423
Zugversuch
1,8
38,2
12,1
79,6
353
7,76
70,6
10-8...10-5
10-9...10-3
296
4,8.10-7
4,2.10-7
[635]:
1,3
11,0
348
SnAg3,8Cu0,7
4,1
10,2
383
Zugversuch
1,7
8,3
423
a. Tabellenwerte teilweise aus in den Publikationen enthaltenen Grafiken entnommen und sinnvoll gerundet
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
427
Vergleichbar mit den in Tabelle 8.22 aufgeführten Ergebnissen zum SnAg-Lot ergibt sich aus den verschiedenen publizierten Ergebnissen zum SnAgCu-Lot keine klare Zuordnung von charakteristischen Werten für die Parameter n 1, n 2 bzw. Q 1, Q 2 . Obwohl einige Untersuchungen ein einfaches Potenzverhalten ermittelt haben, geht aus dem Großteil der Untersuchungen ein zweigeteilter Verlauf mit unterschiedlichen Exponenten hervor. Allerdings streuen die Werte für den Spannungsexponenten im Bereich kleiner Spannungen sehr n 1 = 1,3…8 , sodass sich kein theoretisch plausibler Wert für einen Klettermechanismus ergibt. Für den Bereich großer Spannungen schwanken die Werte für den Spannungsexponenten abgesehen von wenigen Ergebnissen bei hohen Versuchstemperaturen - im Bereich von n 2 = 8…13 . Diese Werte sind sehr plausibel, wenn von einem OrowanMechanismus1 ausgegangen wird. Aufgrund der Tatsache, dass zum einen die Anzahl publizierter Untersuchungen zum SnAgCu-System gering war und dass diese geringe Auswahl an Experimenten vor allem für den Bereich kleiner Spannungen zu sehr uneinheitlichen Ergebnissen führte, wurden Anstrengungen unternommen, eigene Untersuchungen an SnAgCuBulkmaterial durchzuführen, um zu einem genaueren Bild vom Bulk-Verhalten des SnAgCu-Lotes zu gelangen. Zu diesem Zweck wurden - analog zu den Untersuchungen am SnAg-Lot - für eine erste Reihe von Versuchen sehr lange Doppelschulterproben mit einem kreisförmigen Querschnitt (Länge 117 mm, Durchmesser 3mm) gefertigt (vgl. 8.4.4.1), deren Untersuchung mit dem in 7.5.2.4 beschriebenen Lastrahmen erfolgte. Als Rohmaterial zur Probekörperfertigung wurde ein mehrfach umgeschmolzenes eutektisches SnAgCu-Lot mit einem Ag-Anteil von 3,8 % und einem Cu-Anteil von 0,7 % verwendet. Die Versuche wurden mit dem unter 8.4.4.1 beschriebenen Stufenversuch durchgeführt. Die verwendeten Lastfolgen für die jeweiligen Einzelversuche lassen sich aus den Dehnungsrate-Dehnungs-Diagrammen in Abb. 8.36 entnehmen. Alle anderen Details der Messung entsprechen denen am SnAg-Lot. Die Kriechdiagramme der Einzelversuche, aus welchen hervorgeht, bei welcher Dehnung die entsprechenden Dehnraten ermittelt wurden, sind in den Diagrammen Abb. 8.36 a-f abgebildet. Die eingezeichneten Dehnungen wurden auf der Grundlage der während der Messungen notierten Dehnungswerte ermittelt. Da die Proben vor den Versuchen bei T = 70 °C stets einem kurzen Kriechtest bei Raumtemperatur unterzogen wurden, um die ordnungsgemäße Einspannung zu überprüfen, ist diesen Werten ein Dehnungsoffset (εos < 0,2 %) zuzurechnen. Die Ergebnisse aller Einzelversuche sind im Diagramm in Abb. 8.36 g zusammengefasst, in dem die Abhängigkeit der quasistatischen Kriechgeschwindigkeit von der Spannung dargestellt ist. Aus den Untersuchungen an der eutektischen SnAg3,8Cu0,7-Legierung geht hervor, dass sich im untersuchten Temperaturbereich von 293 K bis 343 K ein zweigeteiltes Kriechverhalten ergibt, wie dies auch von den in 8.4.4.1 beschriebenen Modellen vorhergesagt wird. Das Verhalten im 1. Aufgrund der Größe der Ag3Sn-Ausscheidungen wird nicht von einem Scher-Mechanismus ausgegangen.
428
8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
c)
d)
e)
f) 1E-3
Bulk-SnAgCu T=293 K Sample#1 Sample#3 Sample#5 T=343 K Sample#2 Sample#4 Sample#6
1E-4
Creep Rate [1/s]
1E-5
1E-6
1E-7
1E-8
1E-9
1E-10 1
g)
10
100
Stress [MPa]
Abb. 8.36 Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an SnAgCu-Bulkproben: a)-f): DehnrateDehnungs-Diagramme der verschiedenen Einzelversuche an der SnAg3,8Cu0,7-Legierung bei T = 30 °C, 70 °C, g) zusammenfassendes Dehnrate-Spannungs-Diagramm für SnAg3,8Cu0,7Bulkmaterial
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
429
Bereich kleiner Spannungen lässt sich gut über eine Potenzfunktion mit einem Spannungsexponenten von n 1 = 3 nachbilden, wobei zu beachten ist, dass für diesen Bereich nur wenige Werte vorliegen und diese aufgrund der geringen und damit messtechnisch schwer erfassbaren Dehnungsgeschwindigkeiten sehr stark streuen, sodass für diesen Bereich Werte von n 1 = 2…5 als mit den Messergebnissen in Einklang befindlich aufgefasst werden müssen. Das Verhalten im Bereich höherer Spannungen lässt sich ebenfalls gut über eine Potenzfunktion mit einem Spannungsexponenten von n 2 = 12 nachbilden, wobei hier die Werte kaum streuen und ein verhältnismäßig eindeutiges Ergebnis vorliegt. Als Aktivierungsenergie für diesen Bereich ergab sich ein Wert von Q 2 = 61,1 kJ/mol , während sich für den Bereich kleiner Spannungen ein Wert von Q 1 = 34,6 kJ/mol ergab. Der letzte Wert ist wegen der großen Streuung der Messwerte jedoch eher als Richtwert aufzufassen. In Tabelle 8.31 sind die aus den experimentellen Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.21) aufgeführt [619].
Tabelle 8.31 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,8Cu0,7 in Bulk-Proben aus [619]a A1 [s-1]
n2
Q1 [kJ/mol]
A2 [s-1]
n2
Q2 [kJ/mol]
1E-6
3
34,6
1E-12
12
61,1
a. σ N = 1 MPa
Vergleichbar zu den in 8.4.4.1 beschriebenen Bulkkriechversuchen an der SnAg-Legierung wurde auch für die SnAgCu-Legierung eine zweite Versuchsreihe mit dem Ziel durchgeführt, den Einfluss der verschiedenen Legierungselemente auf das Kriechverhalten grundsätzlich zu untersuchen. Hierzu wurde der in Abb. 8.21 dargestellte modifizierte Stufenversuch verwendet, bei welchem stets mit der höchsten Last begonnen wird, bis der Zustand des quasistatischen Kriechens erreicht wird und anschließend die Versuchslast sukzessive abgesenkt wird. Um den Versuchsumfang zu begrenzen, wurden dabei die Versuche für alle vier Versuchstemperaturen (T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, 150 °C) nacheinander an einer Probe durchgeführt, was die in 8.4.4.1 bereits diskutierten Auswirkungen auf die Vergleichbarkeit zu den Versuchsergebnissen aus der ersten Versuchsreihe hat. Bezüglich des Sn-Ag-Cu-Systems wurden in dieser zweiten Versuchsreihe die naheutektischen Legierungen Sn97.5Ag2Cu0.5, Sn97.1Ag2Cu0.9, Sn98.8Ag2Cu1.2, Sn96.5Ag3Cu0.5, Sn96.1Ag3Cu0.9, Sn95.8Ag3Cu1.2, Sn96.9Ag3Au0.1 untersucht [636, 637]. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchungen sind in den Abb. 8.37 bis Abb. 8.39 zusammengestellt. In Abb. 8.37 ist das Kriechverhalten der SnAgCu-Legierung bei einem AgAnteil von 2% dargestellt. Exemplarisch zeigen die Ergebnisse an den Versuchszusammensetzungen Sn97.1Ag2Cu0.5 und Sn97.1Ag2Cu0.9 (Abb. 8.37 a, b), dass
430
8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
c)
d)
Abb. 8.37 Ergebnisse der zweiten Versuchsreihe für SnAg2CuX%: a) Darstellung aller aufgenommenen Kriechdaten für SnAg2Cu0,5-Lot bei Versuchstemperaturen von T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, b) Darstellung aller aufgenommenen Kriechdaten für SnAg2Cu0,9-Lot bei Versuchstemperaturen von T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, 160 °C, c) Vergleich der Ergebnisse aller SnAg2CuX%Legierungen bei T = 30 °C, d) Vergleich der Ergebnisse aller SnAg2CuX%-Legierungen bei allen Versuchstemperaturen [636]
die Spannungsabhängigkeit der Verformungsgeschwindigkeit trotz niedrigeren Ag-Gehaltes den gleichen Exponenten (n = 12) wie die der eutektischen Zusammensetzung Sn95,5Cu3,8Cu0,7 (Abb. 8.36 g) hat und dass sich dieser Exponent nicht mit der Temperatur ändert. Werden alle Zusammensetzungen mit einem AgAnteil von 2% bei der Versuchstemperatur von T = 30 °C untereinander verglichen (Abb. 8.37 c), so zeigt sich, dass die SnAg-Basislegierungen (d. h. SnAg2) sowohl eine geringere absolute Kriechfestigkeit als auch einen niedrigeren Spannungsexponenten (n = 10) als die SnAgCu-Legierungen haben, wobei der Kupferanteil innerhalb des untersuchten Zumischungsanteils, d. h. zwischen 0,5% Cu bis 1,2% Cu, zu keiner weiteren Veränderung des Kriechverhaltens führt. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn die Ergebnisse über alle Versuchstemperaturen miteinander verglichen werden (Abb. 8.37 d). In Abb. 8.38 ist das Kriechverhalten der SnAgCu-Legierung bei einem AgAnteil von 3% dargestellt. Exemplarisch zeigen die Ergebnisse an der Versuchszu-
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
a)
b)
c)
d)
431
Abb. 8.38 Ergebnisse der zweiten Versuchsreihe für SnAg3CuX%: a) Darstellung aller aufgenommenen Kriechdaten für SnAg3Cu0,5-Lot bei Versuchstemperaturen von T = 30 °C, 60 °C, 100 °C, 150 °C, b) Vergleich der Ergebnisse der Legierungen SnAg3, SnAg3Cu0,5 und SnAg3Cu1 bei T = 30 °C, c) Vergleich der Ergebnisse aller SnAg3CuX%-Legierungen bei allen Versuchstemperaturen, d) Vergleich der Ergebnisse der SnAg3CuX%-Legierungen mit der SnAg3Au0,1-Legierung bei allen Versuchstemperaturen [636]
sammensetzung Sn96.5Ag3Cu0.5 (Abb. 8.38 a), dass die Spannungsabhängigkeit der Verformungsgeschwindigkeit im Vergleich zu den Legierungen mit einem AgAnteil von 2 % geringfügig auf einen Exponenten von n = 11 absinkt, welcher wiederum unabhängig von der Temperatur ist. Werden zusätzlich die Ergebnisse aus der SnAg-Basislegierung (d. h. SnAg3) hinzugezogen, so zeigt sich, dass sich das Kriechverhalten der Sn96.5Ag3Cu0.5-Legierung unwesentlich vom dem der Sn97Ag3-Legierung unterscheidet (Abb. 8.38 b). Erst bei einer weiteren Erhöhung des Cu-Agteils ergibt sich eine Erhöhung der Kriechfestigkeit gegenüber der SnAg-Basislegierung, ohne dass sich der Spannungsexponent wesentlich erhöht. Wenn die Ergebnisse über alle Versuchstemperaturen miteinander verglichen werden (Abb. 8.38 c), zeigt sich, dass mit steigender Temperatur die Unterschiede im Kriechverhalten zwischen den Legierungen immer geringer werden. Werden die Ergebnisse der Sn96.5Ag3CuX%-Legierungen über alle Versuchstemperaturen mit denen der Sn96.5Ag3Au0,1-Legierung verglichen (Abb. 8.38 d), zeigt sich,
432
8 Experimentelle Ergebnisse
dass die Sn96.5Ag3Au0,1-Legierung grundsätzlich, aber besonders bei höheren Temperaturen kriechfester als die Sn96.5Ag3CuX%-Legierung ist. Aus den Ergebnissen der zweiten Versuchsreihe ging hervor, dass der Anteil der Legierungselemente Ag und Cu nicht nur die Kriechfestigkeit und die quasistatischen Kriecheigenschaften bestimmt, sondern offensichtlich auch erheblichen Einfluss auf das transiente Kriechverhalten hat. In Abb. 8.39 sind die in den Einzelex-
a)
b)
Abb. 8.39 Lastwechselraktionen in Abhängigkeit vom Cu-Gehalt a) Vergleich der Legierungen SnAg2; SnAg2Cu0,5; SnAg2Cu0,9; SnAg2Cu1,2 b) Vergleich der Legierungen SnAg3; SnAg3Cu0,5; SnAg3Cu1 für eine Versuchstemperatur von T = 30 °C (Die Unterschiede im Anstieg zwischen SnAg3 und SnAg3Cu0,5 kamen aufgrund von Unterschieden in den Probengeometrien während der Messung zustande.) [618]
perimenten aufgenommenen Lastwechselreaktionen von verschiedenen Legierungen einander gegenübergestellt. Das Diagramm in Abb. 8.39 a vergleicht dabei die Lastwechselreaktionen einer SnAgCu-Legierung mit einem Ag-Anteil von 2 %, deren Cu-Anteil von 0 % bis 1,2 % variiert wurde, wenn die Versuchsbeanspruchung abrupt von 7,4 MPa auf 6,5 MPa abgesenkt wird. Analog werden im Diagramm in Abb. 8.39 b die Lastwechselreaktionen von SnAgCu-Legierung mit einem Ag-Anteil von 3 %, deren Cu-Anteile von 0 % bis 1,0 % variiert wurden, miteinander verglichen, wenn die Versuchsbeanspruchung abrupt von 9,8 MPa auf 8,2 MPa abgesenkt wird. Bei beiden Diagrammen betrug die Versuchstemperatur T = 30 °C. Aus dem Vergleich der Lastwechselreaktionen ist abzulesen, dass die Legierungen ohne Cu-Beimischungen einen sofortigen Wechsel von der höheren Kriechgeschwindigkeit bei größerer Beanspruchung zu einer niedrigeren Kriechgeschwindigkeit bei geringerer Beanspruchung aufweisen. Ist der Legierung jedoch Cu zugemischt, ergibt sich zunächst eine Inkubationszeit, bevor der Übergang zur niedrigeren Kriechgeschwindigkeit erfolgt. Diese Inkubationszeit wird um so länger je höher der Cu-Anteil ist.
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
433
8.5.4.2 Untersuchungen an Durchkontaktierungen in Leiterplatten Die Kriechuntersuchungen an Leiterplattendurchsteckkontakten aus eutektischem SnAgCu-Lot erfolgten analog zu den am SnAg-Lot (vgl. 8.4.4.2). Die untersuchte Legierung hatte eine Zusammensetzung von Sn95,5Ag3,8Cu0,7. Die Ergebnisse aus den Kriechuntersuchungen sind in den Diagrammen Abb. 8.40 zu sehen. Alle Proben wurden in einem Stufenversuch (vgl. 8.4.4.1) untersucht, d. h., es wurden verschiedene Lasten an eine Probe angebracht. Jeder Einzelversuch wurde dabei so lange durchgeführt, bis der quasistatische Kriechbereich erreicht wurde, sodass die Proben nicht zerstört wurden. Die verwendeten Lastfolgen für die jeweiligen Einzelversuche lassen sich aus den Dehnungsrate-Dehnungs-Diagrammen in Abb. 8.40 entnehmen. Alle anderen Details der Messung entsprechen denen der in 8.4.4.2 beschriebenen Untersuchungen an Durchkontaktierungen mit SnAg-Lot. In den Diagrammen Abb. 8.40 a-f sind zunächst die Kriechdiagramme der Einzelversuche dargestellt, aus welchen hervorgeht, bei welcher Dehnung die entsprechenden Dehnraten ermittelt wurden. Die in diesen Diagrammen eingezeichneten Dehnungen wurden auf der Basis der während der Messungen notierten Werte ermittelt. Die Ergebnisse aller Einzelversuche sind im Diagramm in Abb. 8.40 g zusammengefasst, in dem die Abhängigkeit der Dehnungsgeschwindigkeit von der Spannung dargestellt ist. Aus den Messwerten für das SnAgCu-Lot geht hervor, dass sich - wie bei den Ergebnissen an Bulkproben (vgl. 8.5.4.1) - im untersuchten Temperaturbereich von 293 K bis 343 K ein zweigeteiltes Kriechverhalten ergibt, wie dies auch von den in 8.4.4.1 beschriebenen Modellen vorhergesagt wird. Das Verhalten im Bereich kleiner Spannungen lässt sich gut über eine Potenzfunktion mit einem Spannungsexponenten von n 1 = 3 nachbilden, wobei dieses Ergebnis nur bei der Messung an einer einzigen Probe ermittelt wurde. Bei den beiden anderen Proben konnte ein zweiteiliger Verlauf des quasistatischen Kriechverhaltens nicht festgestellt werden. Das Fehlen dieses zweiteiligen Verlaufes kann jedoch auch mit den höheren Dehnraten zusammenhängen, bei denen die Kriecheigenschaften an diesen Leiterplattenproben bestimmt wurden. Das Verhalten im Bereich höherer Spannungen folgt ebenfalls einer Potenzfunktion mit einem Spannungsexponenten von n 2 = 12 , wobei hier ein einheitliches Verhalten bei allen drei Proben festgestellt wurde. Als Aktivierungsenergie für diesen Bereich ergab sich ein Wert von Q 2 = 61,4 kJ/mol , während sich für den Bereich kleiner Spannungen ein Wert von Q 1 = 26,8 kJ/mol ergab, welcher jedoch nur aus einer einzigen Messung abgeleitet wurde [204]. In Tabelle 8.32 sind die aus den experimentellen Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.21) aufgeführt [619].
434
8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
c)
d)
e)
f)
1E-3
PCB-spec.-SnAgCu Sample #3 T=303K T=343K Sample #4 T=303K T=343K Sample #5 (aged 150°C/500h) T=303K T=343K
1E-4
Creep Rate [1/s]
1E-5
1E-6
1E-7
1E-8
1E-9
1E-10
g)
1
10
100
Stress [MPa]
Abb. 8.40 Kriechuntersuchungen an Durchkontaktierungen in Leiterplatten: a)-d): DehnrateDehnungs-Diagramme der Einzelversuche an der SnAg3,8Cu0,5-Legierung bei T = 30 °C, 70 °C, g) zusammenfassendes Dehnrate-Spannungs-Diagramm für SnAg3,5-Leiterplattenkontakte
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
435
Tabelle 8.32 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,8Cu0,7 in LeiterplattenkontaktProben aus [619]a A1 [s-1]
n2
Q1 [kJ/mol]
A2 [s-1]
n2
Q2 [kJ/mol]
4E-7
3
26,8
1E-12
12
61,4
a. σ N = 1 MPa
8.5.4.3 Untersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten Die nachfolgend beschriebenen Untersuchungen des Kriechverhaltens von SnAgCu-Lot (aus [508]) an kleinvolumigen Lotkontakten umfassen neben Probekörpern, welche aus Lotkugeln bzw. Lotformteilen einer originären SnAgCuLegierung hergestellt wurden, auch solche, welche aus Lotformteilen einer SnAgLegierung hergestellt wurden, welche auf eine Cu/Sn-Metallisierung gelötet wurden. Die Charakterisierung des Kriechverhaltens erfolgte unter Nutzung der in 7.5.3.3 beschriebenen Apparatur unter Verwendung eines zyklischen Kriechversuches, welcher dem in 8.3.4.2 beschriebenen ähnlich ist. Die Probekörperherstellung erfolgte nach dem in 8.4.4.3 beschriebenen Verfahren, wobei die Zeitdauer, in dem sich das Lot im schmelzflüssigen Zustand befindet, wenigstens 45 s betrug. Hier-
a)
b)
Abb. 8.41 Kriechverhalten der SnAg3,5-Legierung auf Cu/Sn-Anschlussmetallisierung: a) Umschmelzdauer 45 s, b) Umschmelzdauer 180 s aus [508]
durch kam es zum erheblichen Ablegieren der Cu-Metallisierung in das Lot, sodass sich infolge der Probekörperherstellung auf Cu/Sn-Metallisierungen immer eine SnAgCu-Legierung ergab. In Abb. 8.41 sind die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten, welche durch das Auflöten von SnAg3,5-Lotkugeln (d = 450 μm) auf eine Cu/Sn-Anschlussmetallisierung erzeugt
436
8 Experimentelle Ergebnisse
wurden, in einer zusammenfassenden Beschreibung des quasistatischen Kriechver· haltens in Form eines ε - σ -Diagramms dargestellt. Das rechte Diagramm (Abb. 8.41 a) zeigt dabei die Ergebnisse, welche an einer Probe mit einer Zeitdauer der schmelzflüssigen Phase bei Herstellung von 45 s ermittelt wurden, das linke Diagramm (Abb. 8.41 b) zeigt die äquivalenten Ergebnisse für eine Probe mit einer Zeitdauer der schmelzflüssigen Phase von 180 s. In beiden Fällen wurden die Proben vor der Messung für 24 h bei 110 °C ausgelagert [508]. Aus dem Vergleich beider Untersuchungen ergibt sich kein signifikanter Unterschied im Kriechverhalten. Wie eine Analyse der chemischen Zusammensetzung über EDX-Untersuchungen der Kontakte gezeigt hat, wird beim Umschmelzvorgang offensichtlich sehr viel Cu aus der Anschlussmetallisierung in das Lot gelöst, sodass sich nach dem Umschmelzen eine SnAgCu-Legierung mit leicht übereutektischem Cu-Gehalt einstellt. Die Ergebnisse der EDX-Analyse aus [508] sind in Tabelle 8.33 aufgeführt. Die dazugehörigen Gefügebilder sind in Abb. 8.42 zu
Abb. 8.42 Gefügebilder der SnAg3,5 Lotkugel vor und des SnAg3,5 Lotkontaktes nach dem Umschmelzprozess [508] Tabelle 8.33 Zusammensetzung der Lotlegierung vor und nach dem Umschmelzvorgang bei der Herstellung von Probekörpern unter Verwendung von SnAg3,5-Lotkugeln, welche auf eine Cu/ Sn-Metallisierung aufgelötet wurden (Umschmelzzeit > 45 s, T = 240°C) Legierung
Zustand
Anschlussmetallisierung
relativer Massenanteil (Standardabweichung) Sn
Ag
Cu
SnAg3,5
Lotkugel
-
96,54 (5,4) %
3,46 (9,7) %
-
SnAg3,5
Lotkontakt
Cu/Sn
95,06 (3,8) %
3,88 (9,2) %
1,06 (22,5) %
sehen. Aus den Diagrammen in Abb. 8.41 geht hervor, dass das charakterisierte Kriechverhalten einem einfachen Potenzgesetz folgt. Bei der niedrigsten Temperatur (T = 293 K) weist das auf eine Cu/Sn-Metallisierung gelötete SnAg3,5-Lot einen Spannungsexponenten von n 2 = 18 auf, welcher sich bei den höheren Ver-
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
437
Abb. 8.43 Kriechverhalten der SnAg3,8Cu0,7-Legierung auf Cu/Sn-Anschlussmetallisierung [638]
suchstemperaturen (T = 348 K, 398 K) auf Werte von n 2 = 12 bzw. n 2 = 8 verringert. In Abb. 8.43 sind die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten, welche durch das Auflöten von SnAg3,8Cu0,7-Lotkugeln (d = 450 μm) auf eine Cu/Sn-Anschlussmetallisierung erzeugt wurden, in einer zusammenfassenden Beschreibung des quasistatischen Kriechverhaltens in Form · eines ε - σ -Diagramms dargestellt. Aus den Diagrammen in Abb. 8.43 geht hervor, dass das charakterisierte Kriechverhalten einem einfachen Potenzgesetz folgt, wobei sich analog zu den Ergebnissen in Abb. 8.41 bei der niedrigsten Temperatur (T = 293 K) ein Spannungsexponent von n 2 = 18 ergibt, welcher sich bei den höheren Versuchstemperaturen (T = 348 K, 398 K) auf Werte von n 2 = 12 bzw. n 2 = 8 verringert. Unterschiede ergeben sich lediglich in der absoluten Kriechfestigkeit, welche bei den SnAg3,8Cu0,7-Kugeln höher liegt als bei den SnAg3,5Kugeln. Dies kann jedoch mehrere Ursachen haben. Unter anderem könnte es sein, dass die SnAg3,8Cu0,7-Kugeln einen etwas höheren Ag-Anteil haben, was die höhere Kriechfestigkeit sehr leicht erklären würde.
8.5.4.4 Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten Zur Ermittlung der Kriecheigenschaften von eutektischem SnAgCu-Lot an FlipChip-Kontakten wurden die in 8.4.3.2 beschriebenen Probekörper verwendet. Die Charakterisierung des Kriechverhaltens erfolgte unter Nutzung der in 7.5.3.2 beschriebenen Apparatur mit dem in 8.3.4.2 beschriebenen zyklischen Kriechversuch.
438
8 Experimentelle Ergebnisse
Beim Durchführen von Kriechversuchen an Flip-Chip-Proben kam es zu erheblichen Problemen durch das Abreißen von Unterbumpmetallisierungen, wodurch eine vollständige Durchführung von Kriechversuchen an diesen Proben nicht möglich war. Ursachen dieses die Versuchsmethodik erheblich einschränkenden Phänomens sind vermutlich sehr hohe Eigenspannungen in den Unterbumpmetallisierungen sowie Änderungen am Versuchsablauf. Die Eigenspannungsproblematik ist möglicherweise durch eine Änderung der Herstellungstechnologie entstanden, welche mit dem Ziel durchgeführt wurde, neben Cu- auch NiAu-Metallisierungen abzuscheiden. NiAu-Metallisierungen waren als Untergrund für die zu untersuchenden Lote aus methodischer Sicht notwendig. Weiterhin machte sich eine Änderung des Versuchsablaufs notwendig. In dem an SnPb-Proben erarbeiteten Versuchsablauf für zyklische Kriechversuche wurde stets mit kleinen Lasten begonnen, welche dann stufenweise zu größeren Lasten gesteigert wurden. Bei ersten Versuchen mit SnAgCu-Proben zeigte sich jedoch, dass dieses Verfahren bei Versuchen mit kleinen Dehnungsraten aufgrund der hohen Spannungsexponenten unpraktikabel ist. Bei der Einstellung sehr niedriger Kräfte kam es vermutlich durch Driften des Kraftsensorverstärkers zu physikalisch nicht plausiblen Erscheinungen während des Kriechversuchs. So wurden neben wiederholt auftretendem Dehnungsstillstand auch zeitlich begrenzte Dehnungen mit gegenüber der Erwartung negativer Richtung (vermutlich Rückbewegungen, welche durch eine geringe Offsetdrift des Kraftsensorverstärkers hervorgerufen werden) beobachtet. Aus diesem Grund wurde das Versuchsprogramm umgestellt mit dem Ziel, sich - ausgehend von einer hohen Versuchskraft - an die kleinstmögliche Versuchskraft im zyklischen Kriechversuch heranzutasten. Hierdurch sollte die notwendige Zeiteffizienz der Versuche sichergestellt werden. Die sehr hohen Kraftraten zu Beginn des zyklischen Kriechversuches waren wahrscheinlich Ursache für das Abreißen der Unterbumpmetallisierung. Sehr oft wurde ein solches Abreißen bzw. Anreißen jedoch auch schon während der Versuche mit zyklischer Dreiecksdehnung beobachtet. In diesen Fällen wurden die Werte für den Kriechrate-Spannungs-Zusammenhang aus den aufgezeichneten Spannungs-Dehnungs-Diagrammen abgeleitet (siehe Abb. 8.45, Abb. 8.46, Abb. 8.49, Abb. 8.50 und Abb. 8.51). Die Einzel· kriechversuche in Form von ε - ε -Diagrammen in Abb. 8.44, Abb. 8.47 und Abb. 8.48 sind dabei entweder auf der linken oder rechten Seite positioniert. Diese Anordnung repräsentiert die jeweilige Sequenz des Einzelversuches im gesamten zyklischen Kriechversuch (vgl. 8.3.4.2). Wurde ein symmetrischer Versuchsspannungsverlauf (gleiche Dehnraten in Hin- und Rückrichtung) im zyklischen Kriechversuch aufgebracht, so sind die korrespondierenden Dehnrate-Dehnungs-Diagramme einander gegenüber in Lastreihenfolge dargestellt. Bei einem asymmetrischen Versuchsspannungsverlauf sind die Diagramme ebenfalls in der Reihenfolge ihrer Durchführung aufgeführt und befinden sich entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu Hin- oder Rückrichtung auf der linken oder rechten Seite der Abbildung. Da die Umrechnung von Kraft- und Wegdaten auf Spannungs- und Dehnungswerte aufgrund der sich während des Einzelversuches ständig ändernden Spannungsverteilungen im Kontakt nicht über eine FE-Analyse des Versuches
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
a)
b)
c)
d)
e)
f)
g)
h)
439
Abb. 8.44 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, unausgelagert, T= 50°C: linke Seite (a, c, e, g) = Hindeformation, rechte Seite (b, d, f, h) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch. Aufgrund eines schlechten Wegsignals des Laserinterferometers wurden die Wegwerte aller Diagramme aus der Piezodehnung errechnet.
440
8 Experimentelle Ergebnisse
Abb. 8.45 Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, unausgelagert, T = 5°C: Wegdaten für Kurven 1,7E-7 s-1 und 1,7E-6 s-1 wurden aus der Piezodehnung rekonstruiert, da nur ein mangelhaftes Wegsignal über das Laserinterferometer aufgezeichnet wurde.
(vgl. 7.4.4.3) bestimmt werden können, erfolgte eine einfache Abschätzung über Gleichung (8.23). Das Diagramm in Abb. 8.52 zeigt zusammenfassend die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an Flip-Chip-Kontakten aus SnAgCu-Lot auf Cu-UBM. Es ist zu
Abb. 8.46 Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, ausgelagert bei 125°C/24h, T= 5°C: Wegdaten für Kurven 1,26E-7 s-1 und 1,26E-6 s-1 wurden aus der Piezodehnung rekonstruiert, da nur ein mangelhaftes Wegsignal über das Laserinterferometer aufgezeichnet wurde.
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
441
a)
b)
c)
d) Abb. 8.47 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, ausgelagert bei 125°C/24h, T= 50°C: linke Seite (c) = Hindeformation, rechte Seite (a, b, d) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch.
442
8 Experimentelle Ergebnisse
a)
b)
c) Abb. 8.48 Dehnrate-Dehnungs-Diagramme für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, ausgelagert bei 125°C/24h, T= 50°C: linke Seite (a, c) = Hindeformation, rechte Seite (b) = Rückdeformation im zyklischen Kriech-Scher-Versuch. Anordnung entspricht Lastreihenfolge. Mittelspannungsermittlung aus Daten für 22,1 MPa. Aufgrund eines mangelhaften Wegsignals des Laserinterferometers wurden die Wegwerte aller Diagramme aus der Piezodehnung errechnet.
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
443
Abb. 8.49 Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, ausgelagert bei 125°C/168h, T= 5°C: Wegdaten für Kurven 1,2E-7s-1 und 1,2E-6 s-1 wurden aus der Piezodehnung rekonstruiert, da nur ein mangelhaftes Wegsignal über das Laserinterferometer aufgezeichnet wurde. Aus Kurve 1,2E-6 s-1 ist die Entstehung eines Anrisses der Unterbumpmetallisierung zu erkennen.
Abb. 8.50 Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, ausgelagert bei 125°C/168h, T= 50°C: Driftendes Wegsignal für Kurve 7,5E-6 s-1.
444
8 Experimentelle Ergebnisse
erkennen, dass sich eine starke Änderung der Kriecheigenschaften durch thermische Auslagerung der Proben ergab. Hierdurch sank der Kriechwiderstand des SnAgCu-Lotes als auch der Spannungsexponent von n 2 = 19 (für unausgelagerte Proben) auf einen Wert von n 2 = 13 (für die bei einer Temperatur von T = 125°C ausgelagerten Proben). Unterschiede im Kriechverhalten zwischen kurzzeitig ausgelagerten (t = 24 h) und langzeitig ausgelagerten Proben (t = 1176 h) ergaben sich nicht. Als Aktivierungsenergie für die unausgelagerten Proben ergab sich ein Wert von Q 2 = 84,2 kJ/mol , während sich für den Bereich kleiner Spannungen ein Wert von Q 2 = 75,2 kJ/mol ergab. In Tabelle 8.34 sind die aus den experimentellen Untersuchungen ermittelten Parameter der Modellgleichung (8.21) aufgeführt [619].
Abb. 8.51 Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Flip-Chip-Proben, SnAgCu, ausgelagert bei 125°C/1176h, T= 50°C: Wegdaten für Kurven 4,2E-8 s-1 und 4,2E-7 s-1 wurden aus der Piezodehnung rekonstruiert, da nur ein mangelhaftes Wegsignal über das Laserinterferometer aufgezeichnet wurde. Driftendes und verrauschtes Wegsignal für Kurve 4,2 E-6 s-1.
Tabelle 8.34 Parameter der Modellgleichung (8.14) für SnAg3,8Cu0,7 in Flip-Chip-Kontakten mit verschiedenen Unterbumpmetallisierungen (UBM) aus [619]a UBM
A1 [s-1]
n2
Q1 [kJ/mol]
A2 [s-1]
n2
Q2 [kJ/mol]
Cub
-
-
-
6E-23
19
84,2
Cuc
-
-
-
1E-12
13
75,2
a. σ N = 1 MPa b. nicht ausgelagert c. ausgelagert 24h ... 1176h/125°C
8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer
445
Abb. 8.52 Ergebnisse der Kriechversuche an SnAg3,8Cu0,7 in Flip-Chip-Kontakten
8.5.5 Rissausbreitungsverhalten an Flip-Chip-Kontakten Analog zu den in 8.3.5.2 beschriebenen Untersuchungen wurden mit der in 7.5.3.5 beschriebenen Versuchseinrichtung Kriech-Ermüdungs-Versuche an FlipChip-Kontakten durchgeführt. Als Proben wurden die in 8.4.3.2 beschriebenen Flip-Chip-Probekörper mit jeweils 4 Eckkontakten genutzt. Aus den Ergebnissen der Ermüdungsexperimente und aus den mit Hilfe von FEM-Simulationen des Experiments errechneten wurden Rissausbreitungsgleichungen gemäß der Gleichungen (8.19) und (8.20) aufgestellt [595]. Die Werkstoffparameter α, β, γ, δ in diesen Gleichungen sind für SnAg4Cu0,5-Lot in Tabelle 8.35 zusammengefasst.
Tabelle 8.35 Parameter für Rissausbreitungsgleichungen (8.19) und (8.20) für SnAg4Cu0,5Flip-Chip-Lotkontakte aus [595] α
β
γ
δ
ΔWpl
2,5 10-8
1,8
-
-
εacc
5 10-7
2
-
-
9.1 Mechanik und Werkstoffphysik für die Elektronik
447
9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen 9.1 Mechanik und Werkstoffphysik für die Elektronik Wie Alan Howard Cottrell 1966 im Prolog zu seinem ein Jahr später erstmals herausgegebenen Grundlagenwerk „An Introduction to Metallurgy“ feststellte, weilt über der Metallurgie nach wie vor der Geist des Mystischen, sodass kein respektables Raumschiff in einem Science-Fiction-Roman ohne eine geheime Wunderlegierung auszukommen scheint [184]. Eine vergleichbare Situation bestand, als - ausgelöst durch Bestrebungen, das gesundheitsschädliche Element Blei nicht mehr in der industriellen Warenproduktion einzusetzen - um die Jahrtausendwende eine Ersatzlegierung für das in der Elektronikproduktion standardmäßig verwendete Zinn-Blei-Lot gefunden werden musste. Viele der frühzeitigen Forschungsbestrebungen resultierten aus empirischen Überlegungen, anstatt durch Nutzung metallphysikalischer Erkenntnisse bestimmte Lösungsansätze systematisch weiterzuverfolgen. Während der allmähliche Übergang von einer rein empirischen Werkstoffforschung zu einer auf festkörperphysikalischen und -chemischen Betrachtungsweisen beruhenden Werkstoffwissenschaft sich in den meisten Anwendungsgebieten nach Ende des zweiten Weltkriegs vollzog [650, 651], umfasste die Betrachtung werkstoffphysikalischer Aspekte in der bisherigen Entwicklung der Elektronik vor allem solche, welche unmittelbar auf die Konzeption technologischer Prozesse gerichtet waren. Bei der wissenschaftlich-akademischen Auseinandersetzung mit methodischen Fragestellungen zum Entwurfs- und Fertigungsprozess elektronischer Bauelemente und Geräte existierte zunächst nur ein geringes allgemeines Verständnis dafür, dass die aus vielen einzelnen Bauelementen und Funktionsstrukturen zusammengesetzten elektronischen Aufbauten gleichzeitig auch mechanische Verbunde sind und daher bei konzeptionellen Fragen auch der Aspekt der Mechanik eines elektronischen Aufbaus in sehr grundlegender Weise bedacht werden muss. Zwar wurde die Schlüsselproblematik mechanischer Beanspruchungen in Strukturen elektronischer Aufbauten früh erkannt, jedoch wurde daraus in der Regel keine allgemeine Notwendigkeit für eine grundlegende vertiefende Beschäftigung mit werkstoffmechanischen Fragestellungen abgeleitet [639], da die auftretenden Probleme zunächst auf eine bestimmte Technologievariante beschränkt zu bleiben schienen. Anders als in anderen ingenieurwissenschaftlichen Bereichen, wie z. B. dem Maschinen-, Anlagen- oder Fahrzeugbau, entwickelte sich die Untersuchung relevanter mechanischer Eigenschaften der üblicherweise verwendeten Werkstoffe nicht als eigenständiges wissenschaftliches Gebiet. Wie unvollkommen der Grad des Verständnisses für das mechanische Verhalten der in elektronischen Aufbauten eingesetzten Werkstoffe sich in der jüngeren Vergangenheit darstellt, wird sehr deutlich, wenn das 1991 in seiner zweiten Auflage erschienene Buch „Weichlöten in der Elektronik“ von Klein Wassink [640]
448
9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
betrachtet wird. Die in diesem stark werkstofforientierten, zum Erscheinungszeitpunkt für die Herstellungstechnologie der Elektronik wichtigem deutschsprachigen Werk vorgenommenen Betrachtungen zum mechanischen Verhalten von Weichloten sind noch sehr stark den traditionellen Vorstellungen zur Festigkeit (vgl. 7.2.2) verhaftet. Zwar wird darauf hingewiesen, dass die Erscheinungen der Hochtemperaturverformung, d. h. des Kriechens, für das mechanische Verhalten der Weichlote sehr wichtig ist, eine Erklärung der phänomenologischen Erscheinungsformen als auch der werkstoffphysikalischen Hintergründe bleibt aber aus. Es wird dabei auch eingeräumt, dass klare grundsätzliche Vorstellungen zum Bruchverhalten von Loten trotz vielfältiger experimenteller Befunde völlig fehlen. Bezüglich der Verwendung der FEM-Simultation wird sogar angezweifelt, dass diese überhaupt in der Lage ist, entscheidende Beiträge zur Bewertung der Zuverlässigkeit von Lötstellen zu leisten, und stattdessen wird ein Vorgehen über die Durchführung von Temperaturwechseltests favorisiert. Die gegenüber anderen Bereichen der Technik vergleichsweise unterentwikkelte Nutzung theoretischer werkstoffphysikalisch geprägter Ansätze zur Betrachtung der strukturellen Integrität elektronischer Aufbauten hängt mit den besonderen Merkmalen dieser Erzeugnisgruppe zusammen. Da die Aufwände für die Herstellung einer elektronischen Baugruppe vergleichsweise gering sind, ist es durchaus ökonomisch, auch größere Anzahlen von Baugruppen praktischen Belastungstests zu unterziehen, um so zu Aussagen über deren Zuverlässigkeit zu gelangen. Beim Bau von Atomkraftwerken, Raumschiffen oder Chemieanlagen ist ein solches Vorgehen hingegen undenkbar. Die Bemessung von Bauteilen muss in solchen Anwendungen daher schon frühzeitig durch theoretische, auf werkstoffphysikalischen Erkenntnissen beruhenden Überlegungen erfolgen. Dies war nicht nur aus ökonomischen Gründen notwendig, sondern ergab sich bei den meisten großtechnischen Anlagen und Geräten allein aus sicherheitstechnischen Aspekten. Für den Bereich elektronischer Baugruppen und Geräte, für den sicherheitstechnische Aspekte nicht vordergründig wichtig waren, musste daher ein anderer Auslöser die Nutzung aufwendiger theoretischer Betrachtungsweisen gegenüber einfach durchzuführenden praktischen Versuchen rechtfertigen. Dieser bestand darin, dass mit der fortschreitenden Entwicklung von Fertigungstechnologien und der gleichzeitigen Veränderung von Geschäftsmodellen (z. B. Outsourcing) eine kaum noch beherrschbare Komplexität im Entwurfszyklus für neue elektronische Geräte bzw. Bauelemente entstand, wobei sich mechanische Fragestellungen zu einem der wichtigsten Problemfelder entwickelten. Methodisch werden diese Fragestellungen vor allem durch die transdisziplinäre Nutzung des in anderen Bereichen der Ingenieurwissenschaften etablierten Verfahrens der Finite-Elemente-Simulation beantwortet, deren spezifische Nutzung auf dem Gebiet der (Mikro-)Elektronik jüngst in umfassenden Lehrbüchern von Rzepka [642] sowie von Zhang, van Driel und Fan [641] ausführlich dargelegt wird. Beiden Lehrwerken ist gemein, dass sie sich vor allem auf die Berechnung und Bewertung mechanischer Beanspruchungen konzentrieren. Demgegenüber wird in der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, die komplexen Erscheinungsformen der Materialverformung und -schädigung in
9.1 Mechanik und Werkstoffphysik für die Elektronik
449
elektronischen Aufbauten systematisch gegliedert darzustellen und mit den ihnen zugrunde liegenden werkstoffphysikalischen Elementarmechanismen in Relation zu setzen. Diese Darstellung zielt darauf ab, die aufgrund der eingangs dargestellten Entwicklung entstandene Verständnislücke in Bezug auf das mechanische Verhalten der für elektronische Aufbauten spezifisch eingesetzten Werkstoffe zu schließen, wobei sich die Betrachtungen besonders auf metallische Werkstoffe konzentrieren. Metalle besitzen gegenüber Polymeren und Keramiken in Bezug auf die Verwendung in elektronischen Aufbauten die Besonderheit, dass ihr von komplexen Temperatur- und Zeitabhängigkeiten gekennzeichnetes Verformungs- und Schädigungsverhalten gleichzeitig sehr stark von der Werkstoffstruktur beeinflusst wird. Diese Abhängigkeiten existieren bei metallischen Werkstoffen zwar so auch in anderen ingenieurwissenschaftlichen Bereichen, wie dem Maschinen-, Anlagenoder Fahrzeugbau, allerdings ergibt sich im Bereich der elektronischer Aufbauten die Besonderheit, dass metallische Strukturen in der Regel direkt durch einen Urformprozess gefertigt werden. Im Gegensatz zu Urformprozessen in den anderen ingenieurwissenschaftlichen Bereichen, z. B. bei der Herstellung von Turbinenflügeln, sind die für diesen Urformprozess gewählten Prozessbedingungen jedoch nicht in erster Linie darauf gerichtet, eine für die spätere mechanische Beanspruchung widerstandsfähige Werkstoffstruktur zu erzeugen, sondern richten sich vor allem nach anderen Faktoren, wie Kompatibilität zur Gesamttechnologie, Prozessund Materialkosten, Robustheit des Verfahrensschrittes usw. usf. Gleichzeitig besitzen metallische Strukturen in elektronischen Aufbauten geringe geometrische Abmessungen, sodass die Aspekte von Größeneffekten von Bedeutung sind. Um diese vielfältigen Beziehungen untereinander und ihre Auswirkungen auf das resultierende mechanische Verhalten tatsächlich verstehen zu können, wurde eine Darstellung gewählt, welche in besonderer Weise auf den Zusammenhang zwischen der Messmethodik und den damit in Zusammenhang stehenden Resultaten bei der Charakterisierung des mechanischen Verhaltens von Werkstoffen eingeht. Im Gegensatz zu anderen umfangreichen Abhandlungen über das mechanische Verhalten von Werkstoffen [32, 143, 225], welche sich vor allem auf den Werkstoffeinsatz in großvolumigen Strukturelementen beziehen, soll die nötige Sensibilität für die Problematik der Bestimmung als auch Verwendung von adäquaten Werkstoffdaten erzeugt werden. Wie die entsprechenden Ergebnisse in Kapitel 8 zeigen, existieren durch die geometrisch begrenzten Volumen der Strukturelemente in elektronischen Aufbauten starke Abhängigkeiten des Verformungsund Schädigungsverhaltens zum einen von der Geometrie der entsprechenden Strukturelemente und zum anderen von den verwendeten Fertigungsbedingungen. Werden bei der Charakterisierung von Werkstoffdaten diese Abhängigkeiten durch unangepasste Versuchsmethoden (z. B. durch die Verwendung standardisierter Versuche aus dem Makrobereich) nicht beachtet, so entstehen unbewusst Fehler in den das Verformungs- und Schädigungsverhalten beschreibenden Modellen, welche wiederum zu Fehlern in den Simulationsrechnungen führen.
450
9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten 9.2.1 Ausgangspunkt Ausgangspunkt für die in der Arbeit behandelte Problematik des Größeneffektes im Werkstoffverhalten war der bei den ersten Berechnungen zu mechanischen Beanspruchungen in elektronischen Aufbauten offensichtlich gewordene Bedarf an geeigneten Beschreibungsformen des Verformungsverhaltens der relevanten Werkstoffe. Hierbei stand die Frage im Vordergrund, ob für die Beschreibung des mechanischen Verhaltens eines Strukturelementes, wie eines Lotkontaktes, einer Leitbahn oder einer Durchkontaktierung, weiterhin die Beschreibung des mechanischen Verhaltens des Materials verwendet werden kann. Dem Konzept einer allein auf ein Material bezogenen Beschreibung des mechanischen Verhaltens, welche unabhängig von der konkreten Geometrie des Bauteils gültig ist, schien für den Bereich der kleinvolumigen Bauteile (bzw. Strukturelemente) aus verschiedenen Gründen nicht mehr gegeben zu sein. Ausschlaggebend für diese Argumentation waren a) Zweifel an der Gültigkeit von Kontinuumsbetrachtungen aufgrund der geringen Größenunterschiede zwischen einzelnen Elementen der Werkstoffstruktur (z. B. Körnern) gegenüber den Gesamtabmessungen des Bauteils, b) die durch das veränderte Verhältnis von Oberfläche zu Volumen zu berücksichtigenden Oberflächeneffekte und c) die starken zu erwartenden Gradienten von mechanischer Spannung oder Temperatur aufgrund der kleinen Abmessungen. Die aus dem Gesichtspunkt der Berechnung höchste Bedeutung hatte dabei das mechanische Verhalten von Lotkontakten, wie es sich beispielsweise Anfang der 1990er Jahre in den in [652] formulierten Fragestellungen widerspiegelt. Zu diesem Zeitpunkt wurde in einer Vielzahl von Publikationen auf eine mögliche Unzulässigkeit der Übertragung der an homogenen makroskopischen Probekörpern gewonnenen mechanischen Werkstoffdaten auf das Verhalten von mikroskopischen Flip-Chip-Kontakten aus eutektischem Blei-Zinn-Lot hingewiesen. Zum einen existierten einige wenige experimentelle Untersuchungen an Mikrolotkontakten [10, 28, 36, 44], welche sehr deutliche Abweichungen von den an Bulkproben ermittelten Werkstoffdaten zeigten. Zum anderen gab es theoretische Überlegungen [54], aus denen sich jedoch keine Übertragungsregeln ableiten ließen. In einem ersten Schritt wurden daher die in [12, 210] beschriebenen Untersuchungen an Flip-Chip-Kontakten aus eutektischem Zinn-Blei-Lot durchgeführt, welchen ab dem Jahr 2000 gemeinsam mit dem Fraunhofer IZM (Berlin) durchgeführte Untersuchungen zum Kriechverhalten von SnAgCu-Lot folgten [616]. Der Vergleich aller während dieser umfangreichen Untersuchungen ermittelten Werkstoffdaten deutete darauf hin, dass im komplexen ternären Eutektikum des SnAgCu-Lotes eine sehr viel stärkere Abhängigkeit der werkstoffmechanischen Eigenschaften von der Mikrostruktur besteht, als dies für das bisher in der Elektronik standardmäßig eingesetzte SnPb-Lot der Fall gewesen ist. Beispielhaft ist dazu in Abb. 9.1 die aus
9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten
451
Abb. 9.1 Ergebnisse der Kriechversuche an großvolumigen SnAg3,8Cu0,7 Bulkproben und kleinstvolumigen SnAg4Cu0,5 Flip-Chip-Kontakten bei einer Temperatur von T = 20 °C aus [616] (Die Flip-Chip-Daten, welche ursprünglich bei Temperaturen von T = 5 °C, 50 °C aufgenommen wurden, sind für diesen Vergleich für eine Temperatur von 20 °C korrigiert wurden).
[616] entnommene Gegenüberstellung des Kriechverhaltens von eutektischem SnAgCu-Lot großvolumiger Proben und dem kleinvolumiger Proben aufgeführt. Aus ihr ist klar zu erkennen, dass das eutektische SnAgCu-Lot im Bulkprobekörper sowohl eine sehr viel geringere absolute Kriechfestigkeit als auch einen deutlich kleineren Spannungsexponenten besitzt als das nahezu gleiche Lot im sehr viel kleineren Volumen des Flip-Chip-Kontaktes. Aufgrund dieser mit dem Sn-Ag-CuSystem neu gewonnenen Erkenntnisse, welche sich nicht ohne weiteres in das aus den Untersuchungen in [12] entstandene Bild einordnen ließen, ergaben sich neue Ansätze für das Verständnis des Größeneffektes in seinem Bezug auf die durch die technischen Besonderheiten der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik hervorgerufene disziplinäre Spezifik. Aufgrund dieser besonderen Situation, die darin bestand, dass durch den aus anderen als technischen Gründen notwendig gewordenen Austausch eines elementaren, die Gesamttechnologie beherrschenden Verbindungswerkstoffes sich eine neue, sehr umfassende Thematik eröffnete, die auf der einen Seite von anwendungsspezifischer Bedeutung war und auf der anderen Seite gleichzeitig eine interdisziplinär geprägte wissenschaftliche Problematik mit sich brachte, entstand die Einsicht, dass die Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus (vgl. 1.2) sich nicht allein auf die Bereitstellung von Werkstoffmodellen für die FEM-Simulationen reduziert lässt, sondern darüber hinaus in der Lage sein muss, die Hintergründe der wesentlichen technisch-physikalischen Erscheinungen - wie die des Größeneffektes - entschlüsseln zu können. Diese sehr weitgehende Schlussfolgerung konnte gefasst werden, da die Untersuchung der Werkstoffgruppe Sn-Basislegierungen eine sehr große Bandbreite der zu betrachtenden Verhaltensfunktionen der mechanischen Werkstoffverformung
452
9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
im relevanten Anwendungsbereich besitzt. Andere Werkstoffgruppen besitzen diese nicht. Für die Beschreibung der mechanischen Eigenschaften von Silizium reicht beispielsweise eine Beschreibung des elastischen Verformungsverhaltens aus, wodurch sich zumindest für den Mikrobereich eine größenunabhängige Verhaltensfunktion ergibt. Im Gegensatz dazu ergibt sich für Weichlote auf Sn-Basis aufgrund ihrer hohen homologen Temperatur (Th > 0,4 Ts) im Betriebsfall die Notwendigkeit der Beschreibung des zeitabhängigen nichtelastischen Verhaltens (Kriechen). Ein Schwerpunkt der dabei formulierten wissenschaftlichen Fragestellungen liegt daher auf dem Zusammenhang zwischen der Mikrostruktur der Snbasierten Lote und ihrem Kriechverhalten. Hierbei sind vor allem die Faktoren Volumenanteil, Größe, Form und Art bestimmter Gefügeelemente in ihrem Einfluss auf das Kriechverhalten des Lotes zu berücksichtigen, um so zu einer strukturabhängigen Formulierung eines Kriechgesetzes zu gelangen, welches praxisrelevante Faktoren, wie Fertigungsbedingungen, Metallisierungen und Alterungszustände von Lötverbindungen, in der Mikroelektronik berücksichtigt. In diesem Zusammenhang entstand die Notwendigkeit, die in [12] erarbeiteten experimentellen Methoden zur Charakterisierung kleinvolumiger Verbindungswerkstoffe auf eine breitere Basis zu stellen, welche es ermöglichte, neuartige Verfahren und verbesserte Apparaturen auf den Gebieten der Zuverlässigkeitsanalyse elektronischer Aufbauten als auch der werkstoffmechanischen Charakterisierung von Werkstoffen für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik zu erarbeiten. Obwohl sich die Mehrzahl dieser Arbeiten zunächst auf die Untersuchung der Sn-basierten Lote bezogen, sind die darüber gewonnenen Erkenntnisse zum Größeneffekt von einer über die Eingrenzung auf diese besondere Werkstoffgruppe hinausgehenden Bedeutung, da mit ihnen zum einen ein aufgrund wissenschaftlicher Ergebnisse begründetes Verständnis für die Spezifika im werkstoff- und schädigungsmechanischen Verhalten von metallischen Werkstoffen in den kleinvolumigen Strukturen der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik entsteht und zum anderen wichtige experimentelle Untersuchungsmethoden erarbeitet werden konnten, um ein solches wissenschaftliches Teilgebiet im Zusammenhang mit zukünftigen Technologieentwicklungen zu betreiben. Aufgrund der vielfältigen, an der spezifischen Gruppe der Sn-basierten Lotwerkstoffe beobachtbaren Phänomene lassen sich bezüglich des Größeneffektes auch für andere Werkstoffgruppen bestimmte Aussagen ableiten.
9.2.2 Auswertung des Datenmaterials an Sn-basierten Loten Zur Beantwortung der Fragen nach den Struktur-Eigenschafts-Beziehungen an verschiedenen Sn-basierten Lotlegierungen, welches eine Voraussetzung für die Ableitung applikationsrelevanter Kriechmodelle ist, wurden die unter 8.3 - 8.5 aus den an verschiedenen Probekörpern beschriebenen Experimente durchgeführt. Zusätzlich zu diesen aus eigenen Versuchen gewonnenen Daten wurden in den
9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten
453
Abschnitten 8.2 - 8.5 eine Vielzahl aus der Literatur entnommene Daten so aufgeführt, dass die wichtigsten experimentellen Randbedingungen im Zusammenhang mit den aufgelisteten Materialkennwerten zu entnehmen sind. Hierdurch ergibt sich ein sehr umfassendes und detailliert beschriebenes Bild zum derzeitigen Erkenntnisstand, wenngleich es wahrscheinlich nicht gelungen ist, alle derzeit verfügbaren Daten aufzunehmen. Eine weitere wesentliche Charakteristik der in Kapitel 8 aufgeführten Zusammenstellung von Materialdaten zu den Sn-basierten Lotwerkstoffen besteht in deren Aufgliederung in Daten zum Einstoffsystem β -Sn, zu den Zweistoffeutektika SnPb und SnAg sowie zum Dreistoffeutektikum SnAgCu. Dadurch stehen Aussagen zu vier verschiedenen Materialsystemen zur Verfügung, welche auf der einen Seite stark miteinander zusammenhängen, gleichzeitig sich jedoch durch spezifische Unterschiede deutlich gegeneinander abgrenzen, wie dies in ihrer strukturellen Beschreibung in 3.3 - 3.5 bereits aufgeführt wurde. Demgegenüber besteht aufgrund des großen Umfangs der zusammengetragenen Daten die Gefahr, dass aufgrund der vielfältigen Widersprüche zwischen einzelnen Ergebnissen keine klaren Schlussfolgerungen gezogen werden können. Eine wesentliche Aufgabe bei der Auswertung der Daten bestand daher darin, nachzuvollziehen, wie bestimmte Daten zustande gekommen sein könnten, um auf dieser Grundlage Kriterien zu erarbeiten, aus denen abgeleitet werden kann, welche Ergebnisse untereinander in welcher Art verglichen werden sollten. Bulkproben: Werden die an Bulkproben in 8.4.4.1 und 8.5.4.1 aufgeführten, aus der Literatur entnommenen Daten zum Kriechverhalten des SnAg-SnAgCuSystems in Tabelle 8.22 und Tabelle 8.30 betrachtet, zeigt sich, dass es eine sehr große Streuung bei wichtigen Parametern, wie z. B. dem Spannungsexponenten, gibt. Ausgehend von dieser Situation wurde damit begonnen, eigene Untersuchungen an Bulk-Proben durchzuführen (vgl. 8.4.4.1 und 8.5.4.1), um für die Bewertung des Größeneffektes ein Referenzverhalten definieren zu können. Die Untersuchungen zeigten deutlich, dass es zum einen mikrostrukturelle und zum anderen untersuchungsmethodische Faktoren gibt, welche die Ergebnisse der Kriechuntersuchungen beeinflussen können. Wie aus den im Projekt durchgeführten Untersuchungen zum Erstarrungsverhalten hervorging, ist es für die Gefügeausbildung nicht unerheblich, wie die Proben hergestellt werden. In vielen der publizierten Untersuchungen, z. B. [293, 603, 611], wird das schmelzflüssige Lot zur Probenherstellung in einer Aluminiumform langsam erstarrt und später durch mechanische Bearbeitung geformt. Alternativ wird in anderen Untersuchungen die Probe direkt in einer Aluminiumform mit inversem Probenprofil erzeugt, welche auf unterschiedliche Weise, jedoch oft sehr schnell, abgekühlt wird. Die Dokumentation des Probengefüges erfolgte meist nur über einen stark vergrößerten Einzelausschnitt, welcher jedoch nicht repräsentativ sein muss, da das Gefüge über dem Gesamtquerschnitt der Probe in Abhängigkeit von der Herstellungsprozedur sehr inhomogen sein kann.
454
9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Die mangelhafte Bewertung der entsprechenden Mikrostruktur war sicher eine Folge der sehr unvollständigen Vorstellungen über die Komplexität des Kriechverhaltens von SnAg- bzw. SnAgCu-Loten. Erste experimentelle Ergebnisse führten ohne auf die Frage des Größeneffektes einzugehen - bereits für den Bereich des reinen Bulkverhaltens zu sehr unterschiedlichen Aussagen bezüglich des Kriechverhaltens der eutektischen SnAg- und SnAgCu-Legierungen. Werden die in Tabelle 8.22 und Tabelle 8.29 aufgeführten Werte herangezogen, so zeigt sich, dass der Wert für den Spannungsexponenten für eutektisches SnAgLot zwischen n = 5…13,1 1 und für eutektisches SnAgCu-Lot zwischen n = 8,4…13 liegt. Der größere Teil der in der Literatur zu findenden Untersuchungen geht von einem ungeteilten Verlauf der Abhängigkeit der quasistatischen Kriechrate von der Spannung aus. Demgegenüber zeigen die eigenen an Bulkproben aus den eutektischen Legierungen SnAg3,5 und SnAg3,8Cu0,7 durchgeführten Untersuchungen (bei T = 30 °C, 70 °C), dass das qualitative Kriechverhalten dieser Legierungen grundsätzlich einem zweigeteilten Verlauf der Abhängigkeit der quasistatischen Kriechrate von der Spannung, d. h. dem anderer teilchengehärteter Legierungen [610], entspricht. Im Bereich niedriger Spannungen ergab sich dabei ein Spannungsexponent von n = 3…4 und im Bereich hoher Spannungen ergab sich ein Exponent von n = 11 für SnAg3,5 und von n = 12 für SnAg3,8Cu0,7. Bezüglich des Bereiches mit einem kleinen Spannungsexponenten muss allerdings einschränkend eingeräumt werden, dass dieser nur aus wenigen Datenpunkten ermittelt wurde, deren Bestimmung im Grenzbereich (kleine Dehnraten) der Erfassbarkeit durch die Experimentalausrüstung lag. Aufgrund dieser an Bulk-Proben erzielten Ergebnisse muss der in verschiedenen Publikationen [615, 620, 625] verwendete sinh-Ansatz zur Beschreibung des Kriechverhaltens als metallphysikalisch hintergrundslos eingestuft werden, da, wie Experimente mit vielen über einen großen Dehnratebereich verteilten Datenpunkten bei einer Temperatur deutlich zeigen, das Kriechverhalten des SnAg- und SnAgCu-Lots einem einfachen - möglicherweise zweigeteilten - Potenzgesetz folgt. Eine andere wichtige Frage, zu deren Beantwortung Untersuchungen an Bulkproben wichtige Hinweise gaben, war die nach dem Einfluss des Volumenanteils, der Größe und der Formen der intermetallischen Ag3Sn- und Cu6Sn5-Partikel. Aufgrund der großen Anzahl der zu untersuchenden Legierungen wurde hierfür ein von den Untersuchungen an den eutektischen SnAg- und SnAgCu-Legierungen abweichendes (d. h. schnelleres) Verfahren zur Kriechdatenerfassung gewählt, wodurch sich insgesamt höhere absolute Kriechraten ergeben. Die Versuche an naheutektischen Legierungen mit unterschiedlichen Anteilen von Sn, Ag, Cu und Au (vgl. 8.4.4.1 und 8.5.4.1 ) zeigen, dass der Einfluss der einzelnen Legierungselemente auf das Kriechverhalten unterschiedlich ist und auch vom Anteil der anderen Legierungselemente abhängt. Mit steigendem Ag-Anteil (wurde in Stufen von 2 %, 3 %, 4 % variiert) nimmt die Kriechfestigkeit der Legierung deutlich zu, gleichzeitig kommt es zu einer leichten Erhöhung des Spannungsexponenten von 1. Die Werte aus [608] wurden wegen der erheblichen Abweichungen nicht berücksichtigt.
9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten
455
n = 10 auf n = 13 . Die Zunahme der Kriechfestigkeit bei Erhöhung des CuAnteils (wurde in Stufen 0; 0,5; 0,9; 1,2 % variiert) hängt vom Ag-Anteil in der Legierung ab. Bei einem Anteil von 2 % Ag ist eine deutliche Zunahme der Kriechfestigkeit bei einem Cu-Anteil von 0,5 % zu sehen, welche allerdings bei weiterer Steigerung des Cu-Anteils nicht zunimmt. Bei einem Anteil von 3 % Ag ist eine deutliche Zunahme der Kriechfestigkeit bei einem Cu-Anteil von 0,9 % zu sehen, welche wiederum bei einer weiteren Steigerung des Cu-Anteils nicht zunimmt. Eine signifikante Änderung des Spannungsexponenten durch die Erhöhung des Cu-Anteils wurde nicht beobachtet. Bei Zugabe von Au (0,14 %) kommt es zu einer deutlichen Erhöhung der Kriechfestigkeit, ohne dass es zu einer signifikanten Änderung des Spannungsexponenten kommt. Der Effekt auf die Erhöhung der Kriechfestigkeit ist für die Elemente Ag und Au auch bei höheren Temperaturen zu beobachten (T = 160 °C ca. 0,8 . Thom), während der Effekt auf die Erhöhung der Kriechfestigkeit durch das Element Cu bei Erhöhung der Temperatur immer weiter abnimmt. Aus der Analyse der transienten Kriecheigenschaften ging hervor, dass bei einer naheutektischen SnAg-Legierung bei einer instantanen Lastverminderung keine Inkubationszeit zu beobachten war, während beim naheutektischen SnAgCu-Lot eine Inkubationszeit zu beobachten ist, die mit steigendem CuAnteil zunimmt. Leiterplattenkontakte: Die Ergebnisse aus den Kriechuntersuchungen an den Leiterplattenkontakten (vgl. 8.4.4.2 und 8.5.4.2) sind in ihrem Verlauf den Ergebnissen der Untersuchungen an Bulkproben sehr ähnlich. Für das SnAgCu-Lot deuten die Daten auf einen möglichen zweiteiligen Verlauf der Abhängigkeit der quasistatischen Kriechrate von der Spannung, jedoch konnte dieser nur bei einer von drei Proben detektiert werden. Für das SnAg-Lot konnte ein solcher zweiteiliger Verlauf überhaupt nicht gefunden werden. Im oberen Spannungsbereich liegen die Werte für die Spannungsexponenten bei n = 7 für SnAg3,5 und bei n = 12 für SnAg3,8Cu0,7. Lotkugeln (400 μm): Sehr aufschlussreich bezüglich der Frage des Größeneffektes sind die Untersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten mit ca. 400 μm Durchmesser (vgl. 8.4.4.3 und 8.5.4.3). Hier ergeben sich deutliche Unterschiede zu den Ergebnissen am Bulkmaterial in Abhängigkeit von der gewählten Anschlussmetallisierung. Das auf eine Ag-Metallisierung gelötete SnAg3,5-Lot weist für den Bereich hoher Spannungen bei der niedrigsten Temperatur (T = 293 K) einen Spannungsexponenten von n = 14 auf, welcher sich bei den höheren Versuchstemperaturen (T = 348 K, 398 K) auf Werte von n = 10 bzw. n = 8 verringert. Gleichzeitig ergibt sich ein zweigeteilter Verlauf der exponentiellen Abhängigkeit der quasistatischen Kriechrate von der Spannung. Wird der Lotball hingegen auf eine Ni/Au-Metallisierung gelötet, ergibt sich kein Ansatzpunkt für einen zweiteiligen Verlauf. Für alle drei Versuchstemperaturen ergibt sich dann ein Spannungsexponent von n = 16 . Für die eutektische SnAg-Legierung auf einer Cu-Metallsierung ergeben sich Exponenten von n = 14…18
456
9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
(T = 20 °C), n = 11 (T = 75 °C) und n = 7 (T = 125 °C). Für das SnAg3,5Cu0,75-Lot wurden Spannungsexponenten von n = 18 (T = 20 °C), n = 12 (T = 75 °C) und n = 8 (T = 125 °C) ermittelt (Metallisierung Sn/Cu). Flip-Chip-Kontakte: Aus den Untersuchungen an kleinstvolumigen Flip-ChipKontakten bei Temperaturen von T = 5 °C, 50 °C (vgl. 8.4.4.4 und 8.5.4.4) geht hervor, dass unabhängig von der Abkühlrate das auf eine Cu-UBM aufgebrachte SnAg-Lot einen geringeren Kriechwiderstand sowie einen geringeren Spannungsexponenten ( n = 11 ) als das auf eine NiAu-UBM aufgebrachte Lot ( n = 20 ) aufweist. Dieser Unterschied wird auf die Lösung des Au im Lot und auf die mögliche Bildung von Au4Sn-Phasen in Korngrenzentripeln zurückgeführt (vgl. [617]). Auch aus den Ergebnissen für das SnAgCu-Lot ist zu erkennen, dass die mit unterschiedlichen Abkühlgeschwindigkeiten erzeugten Proben keine signifikanten Unterschiede im Kriechverhalten aufweisen. Eine starke Änderung der Kriecheigenschaften ergibt sich jedoch durch thermische Auslagerung der Proben. Hierdurch sank der Kriechwiderstand des SnAgCu-Lotes als auch der Spannungsexponent von n = 19 für unausgelagerte und auf n = 13 für bei einer Temperatur von T = 125°C ausgelagerte Proben. Unterschiede im Kriechverhalten zwischen den kurzzeitig ausgelagerten (t = 24 h) und langzeitig ausgelagerten Proben (t = 1176 h) ergaben sich nicht. Zusammenfassend lassen sich bezüglich des Größeneffektes im werkstoffmechanischen Verhalten des Sn-Ag-Cu-Systems folgende Aussagen ableiten: • Die vorliegenden Daten für die SnAg-Legierung deuten nicht auf signifikante Unterschiede zwischen dem Verhalten großvolumiger Bulkproben und kleinvolumiger Lotkontakte hin. Die weite Streuung der Spannungsexponenten für den Bulk-Bereich ist vermutlich auf die sehr unterschiedlichen Herstellungsbedingungen der Proben zurückzuführen. Werden diese jedoch vergleichbar zum Erstarrungsvorgang an den Lotkontakten präpariert, ergibt sich größenunabhängig ein Spannungsexponent von n ≈ 11 , vorausgesetzt, es werden beim Löten der Lotkontakt keine Fremdelemente, wie Cu, Ni oder Au, zulegiert. • Die für die SnAgCu-Legierung vorliegenden Daten weisen hingegen auf deutliche Unterschiede zwischen dem Verhalten großvolumiger Bulkproben und kleinvolumiger Lotkontakte hin. Für den Bulk-Bereich existiert ebenfalls eine Streuung der Spannungsexponenten, wenngleich diese nicht ganz so groß ist wie die für die SnAg-Legierung. Der Hintergrund dieser Streuung kann auf Herstellungsbedingungen, aber auch auf die unterschiedliche Zusammensetzung der Proben zurückgeführt werden. Werden Proben mit einer Zusammensetzung von Sn95,5Ag3,8Cu0,7 vergleichbar zum Erstarrungsvorgang an den Lotkontakten präpariert, so ergibt sich für den Bulk-Bereich ein Spannungsexponent von n ≈ 12 . Für kleinvolumige Lotkontakte wurden hingegen größere Spannungsexponenten von n ≤ 19 festgestellt, welche bei starker thermischer Auslagerung wieder absinken und dann im Bereich derer der Bulkproben liegen.
9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten
457
• Die Erhöhung der Spannungsexponenten in kleinvolumigen Proben tritt auf, wenn bestimmte zur intermetallischen Phasenbildung mit Sn neigende metallische Elemente, z. B. Cu, Au, Ni, zulegiert werden, wie dies im praktischen Fall der Verbindungsbildung bei Lötvorgängen zur Fertigung elektronischer Baugruppen üblich ist. Die Wirkung der einzelnen Elemente ist unterschiedlich. Kupfer hat eine stark temperaturabhängige Verfestigungswirkung, welche erst unterhalb von Raumtemperatur der von Ni und Au gleichkommt. Die verfestigende Wirkung von Au ist etwas höher als die von Ni. • Die beobachteten Größeneffekte hängen tatsächlich vom Volumen ab und treten damit nur in kleinen kompakten Körpern auf. Lange Spalten mit einer geringen Dimension in nur einer Richtung, das haben die Untersuchungen an den Leiterplattenproben gezeigt, verhalten sich wie Bulkproben. Anders als die Ergebnisse bezüglich des Größeneffektes beim Sn-Ag-Cu-System fallen diese beim eutektischen SnPb-System aus. Obwohl es auch beim Vergleich spezifischer Untersuchungsergebnisse für Bulkproben und kleinvolumige Lotkontakte zu sehr deutlichen Unterschieden kommen kann (vgl. 8.3.4.1 und 8.3.4.2), geht aus dem umfassenden Vergleich der Ergebnisse der Kriechuntersuchungen an eutektischem SnPb-Lot zwischen makroskopischen Bulkproben und mikroskopischen Flip-Chip-Lotkontakten hervor, dass beide ein ähnliches Verhalten zeigen, wenn sie das gleiche Gefüge aufweisen. Werden beispielsweise die Spannungsexponenten und die Aktivierungsenergien aus den Untersuchungen an kleinvolumigen Lotkontakten [27-29] mit denen an extrudierten makroskopischen Probekörpern [24, 25, 43] verglichen, so ist trotz deutlich voneinander abweichender absoluter Kriechgeschwindigkeiten (im Bereich mittlerer Spannungen) eine Übereinstimmung der Spannungsabhängigkeit (Spannungsexponent n) und der Temperaturabhängigkeit (Aktivierungsenergie Q) zwischen Mikrolotproben und extrudierten Makroproben festzustellen. Dabei fallen die Werte in [27] höher aus als in [28, 29]. Beim Vergleich der Probenvolumina ergibt sich ein Verhältnis von etwa 250:64:1 zwischen [27]:[28]:[29]. Werden allerdings die Kontakthöhen verglichen, so ergibt sich ein Verhältnis von etwa 12:3:4 zwischen [27]:[28]:[29]. Ursache dieser Korrelationen ist wahrscheinlich die bei der Erstarrung des Lotes in Abhängigkeit des Probenvolumens entstehende Mikrostruktur. Die in [44] beschriebenen Untersuchungen belegen, dass Lotkontakte (1,27 X 2,03 X 0,178 mm), welche durch eine beschleunigte Erstarrung ein sehr feines Gefüge hatten, einen niedrigeren Spannungsexponenten ( n = 2,9 ) aufwiesen als die gleichen Kontakte mit langsam erstarrtem Lot gröberen Gefüges ( n = 3,6 ). Daher weisen viele der in Tabelle 8.13 aufgeführten Untersuchungen an normal erstarrten Bulkproben einen höheren Spannungsexponenten auf ( n = 5…10 ) als die im Bereich mittlerer Spannungen an kleinvolumigen Lotkontakten [27-29] bestimmten Spannungsexponenten ( n = 2…3,3 ). Auch eine signifikante Veränderung der Kriecheigenschaften in Folge thermischer Auslagerung konnte für SnPb in mikroskopischen Flip-Chip-Kontakten nicht festgestellt werden (vgl. 8.3.4.2).
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9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Bezieht man das Verhalten der verschiedenen Legierungstypen auf das Kriechverhalten des β -Sn (vgl. 8.2.4), so zeigt sich für den Bereich großvolumiger Bulkproben, dass weder das SnPb-System noch das Sn-Ag-Cu-System wesentlich von dem Verhalten abweicht, welches an polykristallinen β -Sn Proben aufgenommen wurde ( n ≈ 5…9 ). Erst wenn durch spezielle Herstellungsbedingungen der Proben bestimmte mikrostrukturelle Eigenschaften erzeugt werden, z. B. kleine Körner mit homogener Größenverteilung durch Extrudieren von SnPb-Lot oder fein verteilte intermetallische Teilchen in der β -Sn-Matrix durch schnelle Abkühlung von SnAg- oder SnAgCu-Lot, ergeben sich größere Abweichungen vom Verhalten des Grundmaterials. Diese bestehen bei der SnPb-Legierung im superplastischen Verhalten ( n ≈ 2 ) und bei der SnAg- und SnAgCu-Legierung im teilchengehärteten Kriechverhalten ( n ≥ 10 ). Kleinvolumige Lotkontakte besitzen offensichtlich immer diese besonderen mikrostrukturellen Eigenschaften, ohne dass besondere Herstellungsbedingungen aufgewendet werden müssen.
9.2.3 Bezug zur Werkstoffstruktur der Lotlegierungen Um die in 9.2.2 vollzogenen Ableitungen, welche sich aus dem unter 8.2 - 8.5 aufgeführten Datenmaterial zu verschiedenen Legierungsvarianten Sn-basierter Lotwerkstoffe ergeben, bezüglich ihres Zusammenhangs zu den aus den Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes resultierenden Formen und Abmessungen einzelner Strukturelemente (d. h. Bauteile) sowie deren Fertigungstechnologien (vgl. 2.3) verstehen und einordnen zu können, ist es notwendig, diese gegenüber den mit diesen Besonderheiten zusammenhängenden Erscheinungsformen der spezifischen Ausbildung der Werkstoffgefüge in den verschiedenen einander gegenübergestellten Legierungen zu betrachten. Werden hierzu die Ergebnisse zum Erstarrungsverhalten der Sn-Ag-Cu-Legierung und der Sn-Pb-Legierung verglichen, welche sowohl an großvolumigen Bulkproben als auch an kleinvolumigen Kontakten bzw. Lotkugeln gewonnen wurden (vgl. 3.4.2.2 und 3.4.2.3), so zeigt sich, dass es in beiden Legierungen offensichtlich zu Veränderungen in der Gefügeausbildung kommt, welche sich allerdings in ihrer Art und Weise in Abhängigkeit von der Legierungszusammensetzung unterschiedlich ausbilden. Es wird angenommen, dass die Ursache dieser beobachteten Veränderungen auf eine Beeinflussung der Keimbildungs- und Keimwachstumsprozesse während der Erstarrung durch die begrenzten Abmaße der kleinvolumigen Lotkontakte zurückzuführen ist. Geht man davon aus, dass die beim Wachstum von stabilen Keimen entstehende Kristallisationswärme über ein Temperaturfeld an der Erstarrungsfront in die unterkühlte Schmelze abgegeben wird, so ergibt sich die Wachstumsgeschwindigkeit in einer genügend großen Schmelze allein aus der Unterkühlung dieser Schmelze, da die Abmessungen der unterkühlten Schmelze gegenüber der charakteristischen Länge dieses Temperaturfeldes einen nahezu unendlichen Raum darstellen. Werden die Abmessungen der Schmelze jedoch verkleinert, so ist der
9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten
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Effekt der Erwärmung der unterkühlten Schmelze vor der Erstarrungsfront durch die abgeführte Kristallisationswärme entsprechend größer. Infolgedessen verkleinert sich der Gradient des Temperaturfeldes so stark, dass kein stabiles Keimwachstum mehr stattfinden kann. D. h., um ein stabiles Keimwachstum zu ermöglichen, ist in sehr kleinen Schmelzen eine höhere Unterkühlung notwendig. Da gleichzeitig die Keimbildungsrate mit der Unterkühlung exponentiell zunimmt, ergibt sich ein Punkt, an dem ein Umschlag zwischen einem Erstarrungsprozess, der durch das Wachstum weniger Keime gekennzeichnet ist, und einem Erstarrungsprozess, bei dem es durch eine größenbedingte hohe Unterkühlung zu einer massiven Zunahme der Keimbildungsrate kommt, stattfindet. Ist diese Vermutung zutreffend, so hängt die Ausbildung des Erstarrungsgefüges bei großen Schmelzen von der Abkühlgeschwindigkeit ab, während es bei kleinen Schmelzen vor allem durch die Abmessungen der Schmelze bestimmt wird. Folgt man den Ergebnissen der Untersuchungen, so liegt der Umschlagpunkt zwischen großen und kleinen Schmelzen für die untereutektischen SnAgCu-Legierungen sowie für SnAg-Legierungen bei etwa V = 10-11 m3, was einem Kugeldurchmesser zwischen 300 ... 500 μm entspricht. Die Auswirkungen dieses von der Geometrie der Schmelze und nicht von der Abkühlgeschwindigkeit beeinflussten Erstarrungsprozesses sind in Abhängigkeit von der Legierung sehr unterschiedlich. In der eutektischen SnAg-Legierung kommt es zur Ausbildung vieler kleiner Körner und damit zu einer feinen Verteilung der intermetallischen Phasenpartikel über den gesamten Querschnitt. Sehr gegensätzlich dazu verhält sich die SnAgCuLegierung mit eutektischer Zusammensetzung (SnAg3,8Cu0,7), welche ausschließlich aus wenigen dendritisch erstarrten Körnern zu bestehen scheint, wodurch die intermetallischen Phasenpartikel sehr eng am Rand dieser β -Sn-Dendriten verteilt liegen. Wie der abrupte Umschlag zwischen der sehr feinkörnigen Gefügeausbildung bei der eutektischen SnAg-Legierung und der sehr grobkörnigen Gefügeausbildung bei der eutektischen SnAgCu-Legierung zustande kommt, ist nicht vollständig geklärt. Jedoch liefern diese Ergebnisse eine gute Erklärung dafür, weshalb beim mechanischen Verhalten der eutektischen SnAg-Legierung kein Größeneffekt zu beobachten ist, während die SnAgCu-Legierung diesen sehr deutlich zeigt. Offensichtlich kommt es durch die Wechselwirkung der beiden Legierungselemente Cu und Ag zu einer veränderten Erstarrungsreaktion innerhalb der bereits durch die drastische Verringerung des Volumens hervorgerufenen Veränderungen der Erstarrungsreaktion. In dieser Folge kommt es zu einer sehr dichten Verteilung der härtenden intermetallischen Phasenteilchen, aus der - gemäß der in 5.4.3.7 dargestellten Mechanismen - wiederum eine höhere Kriechfestigkeit sowie ein höherer Spannungsexponent resultieren. Liegt jedoch - wie bei der SnPb-Legierung - ein anderes Legierungssystem vor, welches nicht durch eine Erstarrungsreaktion in Form der Bildung fein verteilter intermetallischer Phasenpartikel in einer Sn-Matrix, sondern durch die Bildung von zwei Mischkristallen (in etwa gleichen Anteilen) gekennzeichnet ist, so führen die mit der Volumenverkleinerung beschriebenen Besonderheiten bei der Erstarrung offensichtlich ebenfalls zu einer Bildung vieler und damit auch kleiner Körner.
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9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Aufgrund der anderen Gefügezusammensetzung hat dies beim Sn-Pb-System andere Auswirkungen als beim Sn-Ag-Cu-System. Durch die kleineren Körner, welche durch ihre unterschiedliche Phasenzugehörigkeit eine Stabilisierung gegenüber Wachstumsprozessen erhalten, sind die Voraussetzungen für die Mechanismen der Korngrenzgleitung (vgl. 5.4.3.5) gegeben, welche im Gegensatz zu denen der Teilchenhärtung das Material entfestigen und den Spannungsexponenten absenken.
9.2.4 Schlussfolgerungen bezüglich der Mikrofügetechnologien Für die Weiterentwicklung von Mikrofügetechnologien, wie sie für die Kontaktierung von nanoelektronischen Schaltkreisen notwendig sind, haben diese Ergebnisse zum Größeneffekt im mechanischen Verhalten von Werkstoffen in stark verkleinerten Strukturen weitreichende Auswirkungen. Sie zeigen deutlich, dass der klassische Weg der Übertragung eines technologischen Know-hows, wie er bisher für die Miniaturisierungsbestrebungen in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik ausreichend war, für die Fortführung dieser Miniaturisierungsbestrebungen auf eine physikalisch begründbare Grenze stößt, welche ein anderes Vorgehen erfordert. Dieses muss im Vergleich zur bisherigen Technologieentwicklung eine auf einem tiefen wissenschaftlichen Verständnis beruhende Systematik zur Werkstoffentwicklung aufweisen. Die spezifische methodische Ausrichtung der in der Arbeit dargestellten Untersuchungen ermöglichte den experimentellen Nachweis eines Größeneffektes im mechanischen Verhalten sowie eine gute Charakterisierung seiner typischen Erscheinungen. Die zugrunde liegenden Ursachen konnten größtenteils aufgedeckt und über die Darstellung des relevanten werkstoffphysikalischen Erkenntnisstandes vollständig verstanden werden. Wichtig hierfür ist ein ganzheitliches Verständnis zwischen Legierungszusammensetzung, Werkstoffstruktur und mechanischem Verhalten, aus dem wiederum eine gezielte Legierungsentwicklung erfolgen kann. Momentan steht für die zukünftigen Aufgaben in der Aufbau- und Verbindungstechnik jedoch kein geeigneter Fügewerkstoff zu Verfügung. Dies zeigt sich darin, dass für viele derzeitige Aufgaben (z. B. Mikroprozessoren, Kfz-Elektronik) die gesetzlichen Regelungen zum Bleiverbot außer Kraft gesetzt wurden, da kein bleifreier Substitutionswerkstoff mit befriedigenden mechanischen Eigenschaften zu Verfügung steht. Aufgrund der Bedeutung der Fügetechnik für die Nutzbarmachung nanoelektronisch erzeugter Schaltkreise (Mikro-Makro-Integration) besteht aus materialwissenschaftlicher Sicht ein großer Bedarf, die mit der Erstarrung schmelzflüssiger Mikroschmelzen verbundenen Besonderheiten in der Gefügeausbildung grundlegend zu untersuchen. Im Gegensatz zu den Problemen mit bleifreien Ersatzlegierungen in heutigen Anwendungen, welche wahrscheinlich noch durch die derzeit bevorzugten Trailand-Error-Methoden bei der Legierungsentwicklung bewältigt werden können, wird es ohne ein fundiertes Verständnis zwischen den Faktoren Volumenreduzierung, Gefügeausbildung und mechanische Eigenschaften nicht möglich sein, eine
9.3 Modelle - Schnittstelle zwischen Experiment und Simulation
461
geeignete Mikrofügetechnik in den für nanoelektronische Schaltkreise geforderten Rastermaßen (von bis zu 20 μm) zu realisieren. Aus den in den bisherigen Untersuchungen ermittelten Ergebnissen ergibt sich, dass es für die Erfüllung der genannten Aufgaben notwendig ist, sich neben der experimentellen Erfassung zeitabhängiger mechanischer Eigenschaften auch mit Schwerpunkten wie Erstarrungskinetik, Mikrostrukturanalyse, Versetzungsbewegung und Legierungsabscheidung zu befassen, um so die Grundlage für eine Mikrofügetechnik auf klassischer metallurgischer Basis zu erhalten. Aus ingenieurwissenschaftlicher Sicht würde hierdurch auch ein Gegenkonzept zur Idee der Anwendung von CarbonNano-Tubes geschaffen, welches aufgrund des Größenniveaus der angestrebten Kontakte als zu aufwendig erscheint. Die globale Zielstellung eines solchen Forschungsvorhabens würde in der Abschätzung der geometrischen Grenzen für die Anwendbarkeit des Fügeverfahrens Löten in kleinsten Verbindungsdimensionen bestehen, wobei anzunehmen ist, dass die Frage der größenabhängigen mechanischen Eigenschaften einer der wichtigsten begrenzenden Faktoren sein wird.
9.3 Modelle - Schnittstelle zwischen Experiment und Simulation Modell (lat.), anschauliches, raum-zeitliches Bild physikalischer Gegenstände oder Vorgänge, die selbst nicht anschaubar sind (z. B. das Atom, Vorgänge in Gasen, die Elektrizität). Wir erhalten Kenntnis von diesen unseren Sinnen verborgenen Vorgängen durch die uns sichtbaren Gesamtphänomene oder durch Meßergebnisse, die die Gesamtphänomene charakterisieren, während die diesen zugrundeliegenden Einzelgegenstände oder Prozesse der direkten Beobachtung oder Messung unzugänglich bleiben. Das M. ist eine Schöpfung des menschlichen Geistes und hat den Sinn, die Phänomene und Meßergebnisse physikalisch zu deuten. Es ist nicht gesagt, daß die Natur wirklich so beschaffen ist, wie sie durch das M. dargestellt wird. Edgar Hunger, Grundbegriffe des physikalischen Denkens, Frankfurt a.M., Cornelsen Verlag (vormals HirschgrabenVerlag), 1964
Der Begriff des Modells stammt aus Kunst und Architektur und ist dem italienischen Wort modello = “Muster“ entlehnt, welches sich wiederum auf das lateinische modulus = “Maß“ bezieht, dem Deminutivum zum lateinischen modus = “Maß, Ziel, Vorschrift, Art und Weise“. In ihrer ursprünglichen Bedeutung sind Modelle ein gegenständliches, körperliches Abbild eines herzustellenden Teiles [643, 644]. In der späteren Verwendung des Modellbegriffs in der Physik wandelt sich seine Bedeutung. Das Modell ist dort eher abstrakter Natur und dient dem Verständnis eines Sachverhaltes und besitzt damit nicht mehr seine ursprüngliche Funktion als Zielvorstellung für die Herstellung einer Sache. Wird der Begriff des Modells in den Ingenieurwissenschaften betrachtet, so stellt sich die Frage, wie
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9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
dieser in seiner Bedeutung zwischen dem des Architekturmodells und des physikalischen Modells einzuordnen ist. Viele der im Zusammenhang mit den in dieser Arbeit dargestellten Sachverhalten verwendeten Modelle unterscheiden sich in ihrer Art nicht von physikalischen Modellen und widerspiegeln wie diese eine abstrakte Vorstellung, z. B. über werkstoffphysikalische Elementarmechanismen. Anders als bei physikalischen Modellen ist ihre Funktion jedoch nicht in erster Linie auf das Verständnis eines bestimmten Sachverhaltes gerichtet, sondern zielt vielmehr darauf ab, bestimmte, für eine technische Anwendung interessierende physikalische Vorgänge über Simulationen vorausberechnen zu können, um damit wichtige Informationen für konkrete technische Entwicklungsprozesse bereitzustellen. Bei der Auswahl von Modellen für ingenieurwissenschaftliche Bedürfnisse spielt daher die Frage des Zweckes keine unerhebliche Rolle. Wird unter diesem Gesichtspunkt die unter 1.2 beschriebene Rolle von Werkstoffuntersuchungen im Entwicklungszyklus von elektronischen Aufbauten betrachtet, so wird klar, dass Werkstoffmodelle in diesem Gesamtprozess verschiedene Funktionen an der Schnittstelle zwischen der von der konkreten Entwurfsprozedur eher unabhängigen Aufgabe der Charakterisierung mechanischer Werkstoffeigenschaften und der direkt zum Enwurfszyklus gehörenden Simulationsuntersuchungen übernehmen. Auf der Seite der Werkstoffcharakterisierung dient das Modell vor allem einer zweckmäßigen Zusammenfassung einer großen Menge experimentell ermittelter Werkstoffdaten. Hierbei wird angestrebt, dass die Darstellung des Materialverhaltens auf der Grundlage physikalisch begründeter Deformationsgleichungen (vgl. 5.2.2) erfolgt. Ein solches Vorgehen bietet zum einen den Vorteil, schwierig zu untersuchende Parameterbereiche über Extrapolationen des aufgenommenen Datenmaterials zu erschließen, zum anderen hilft es innerhalb der Versuchsplanung, z. B. bei der Wahl effektiver Versuchsbedingungen bzw. -parameter. Auf der Seite der Simulationsuntersuchungen müssen die Modelle vor allem bestimmte Forderungen bezüglich der Durchführung der entsprechenden Berechnungen erfüllen. So ist es günstig, wenn die mathematische Formulierung des Modells so beschaffen ist, dass sich eindeutige Lösungen ergeben. Werden beispielsweise Funktionen höherer Ordnungen im Modell verwendet, so führt dies nicht selten zu Instabilitäten bei nummerischen Näherungsverfahren, welche wiederum kleinere Schrittweiten bei der Berechnung und damit einen höheren Zeitaufwand für die Simulationsuntersuchung nach sich ziehen. Unabhängig von dieser allgemeinen Problematik ergeben sich weitere Einschränkungen, wenn - wie in der industriellen Praxis üblich - kommerziell vertriebene Simulationsprogramme (z. B. ANSYSTM) verwendet werden, da die Auswahl geeigneter Werkstoffmodelle sich dann sehr oft auf die in der Software bereits implementierten Modelle beschränkt, sofern nicht spezifische Implementierungen von nicht im Softwareumfang enthaltenen Modellen vorgenommen werden. Diese unterschiedlichen Anforderungen und Intentionen von Seiten der Charakterisierung (= Modellerstellung bzw. -kalibrierung) und Simulation (= Modellverwendung) verlangen, dass das Modell zusätzlich zu seiner ursprünglichen Funktion
9.3 Modelle - Schnittstelle zwischen Experiment und Simulation
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der Beschreibung des Werkstoffverhaltens auch die Funktion einer Schnittstelle zwischen diesen beiden Tätigkeitsgebieten übernimmt. Die Zweckmäßigkeit eines Modells richtet sich daher nicht allein danach, inwiefern es gelingt, dass experimentell bestimmte Werkstoffverhalten gut nachzubilden, sondern auch inwiefern es in der Lage ist, die Ergebnisse aus der experimentellen Charakterisierung so darzulegen, dass es bei seiner Verwendung in Simulationsrechnungen zu einer adäquaten Nachbildung des experimentell bestimmten Verhaltens kommt. Ein im Sinne dieser Schnittstellenfunktion gut gestaltetes Modell ist in der Lage, die vielfältigen, während der Charakterisierung gewonnenen Erkenntnisse auf das bezüglich der konkreten technischen Problemstellung Wesentliche zu reduzieren. Bleibt eine derartige Beschränkung aus und werden durch das Modell viele nicht essenzielle Informationen transportiert, so entstehen in der Regel zwei nachteilige Effekte. Zum einen wird die Umsetzung des experimentell ermittelten Werkstoffverhaltens in der Simulationsrechnung unnötig erschwert, sodass es zwar oft zu zeitaufwendigeren, aber nicht notwendigerweise genaueren Rechnungen kommt. Zum anderen werden aufgrund der in Regel begrenzten Ressourcen bei der Werkstoffcharakterisierung eine geringere Zahl signifikanter Datenpunkte ermittelt, sodass die Genauigkeit des Modells insgesamt sinkt. Wird der jetzige Stand der Modellierung des werkstoff- und schädigungsmechanischen Verhaltens von Werkstoffen in der Aufbau- und Verbindungstechnik analysiert, so ist festzustellen, dass die damit verbundenen komplexen werkstoffphysikalischen Abläufe über vergleichsweise einfach strukturierte Modelle nachgebildet werden. Aus diesem Grund existieren nicht wenige Bemühungen, komplexere Strukturen für die Modellierung zu verwenden, um die relevanten werkstoffphysikalischen Prozesse nachzubilden. In diesem Kontext formuliert Zhang in [645] die Forderung nach der Nutzung von sogenannten Unified Laws, d. h. Gesamtmodellen, welche beispielsweise die werkstoffmechanische Gestaltänderungsreaktion und den schädigungsmechanischen Degradationsfortschritt nicht mehr in verschiedenen Modellen getrennt, sondern in einem Modell gemeinsam behandeln, sodass die zwischen Verformung und Schädigung vorhandenen Wechselwirkungen nachgebildet werden können. Ein solches Vorgehen - auch wenn es wünschenswert wäre - erscheint in Anbetracht der Schwierigkeiten, welche es bei der Werkstoffdatenermittlung an kleinvolumigen Proben gibt, als nicht zweckmäßig, da die Komplexität dieser Modelle die Komplexität der durchführbaren Experimente übersteigen würde. Die Frage der Vielschichtigkeit eines Modells muss daher in der Regel aus den Möglichkeiten der experimentellen Umsetzung beantwortet werden. In welchem Umfang bestimmte werkstoffphysikalische Prozesse erfassbar sind, entscheidet sich sehr oft durch den konkreten Aufbau von Prüfapparaturen sowie die Möglichkeiten der Probekörperfertigung. Die Entwicklung neuer vielschichtigerer Modelle darf daher nicht vordergründig durch die sich ständig verbessernden rechentechnischen Möglichkeiten vorangetrieben werden, sondern sollte sich immer daran orientieren, wieweit es möglich ist, experimentelle Methoden so weiterzuentwickeln, dass diese tatsächlich in der Lage sind, verlässliche Daten für komplexere Nachbildungen werkstoffphysikalischer Prozesse zu liefern.
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9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Die beschriebenen Schwierigkeiten bei der Gestaltung geeigneter werkstoffund schädigungsmechanischer Modelle unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse einer durch die Notwendigkeit der breitbandigen interdisziplinären Zusammenarbeit gekennzeichneten ingenieurwissenschaftlichen Problematik werden deutlich, wenn die verschiedenen Wege betrachtet werden, auf denen versucht wurde, das Kriechverhalten von Sn-basierten Loten für Berechnungen von Beanspruchungen in elektronischen Aufbauten nachzubilden. Die Mehrzahl aller frühzeitigen Arbeiten in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, welche sich in der Mehrzahl auf das eutektische SnPb-Lot bezogen, verwendeten dafür die grundlegende Form der Potenzgesetz-Beschreibung. Diese grundlegendste Form der Modellierung des Kriechverhaltens von Metallen lässt sich entweder aus empirisch gewonnenen Erkenntnissen (Bailey-Norton) oder aus den werkstoffphysikalischen Mechanismenbeschreibungen des quasistatischen Kriechverhaltens reiner Metalle (vgl. 5.2.2.3) theoretisch ableiten und weist in der Regel die einfache Form der Gleichung (9.1) auf: –Q n · ε = A ⋅ σ ⋅ exp § -------· © RT¹
(9.1)
Dadurch ergibt sich eine einfache Bescheibung mit 3 zu bestimmenden Modellparametern - dem Spannungsexponenten n , der die Spannungsabhängigkeit der Kriechgeschwindigkeit angibt, der Aktivierungsenergie Q , die die Temperaturabhängigkeit der Kriechgeschwindigkeit beschreibt und dem Vorfaktor A . Dieser Koeffizient dient der Kalibrierung der Konstitutivgleichung und legt die absolute Kriechgeschwindigkeit bei einer bestimmten Spannung und Temperatur fest. Zwischen experimentellen Daten und dieser Modellbeschreibung des Kriechens existierten für die eutektische SnPb-Legierung jedoch verschiedene Diskrepanzen, sodass viele Autoren für den Bereich mittlerer und den Bereich hoher Spannungen ein unterschiedliches Kriechverhalten nachbilden wollten. Hierzu wurde die einfache Form der Kriechgleichung (Gleichung (9.1)) um einen weiteren Term erweitert, sodass sich eine aus zwei Potenztermen zusammengesetzte Beschreibung (Modellgleichung (9.2)) ergibt, wie sie für SnPb-Lot z. B. in [24] genutzt wird: kcal § – 11500 ------------· · γ⋅k⋅T d· – 1,8 § τ · 1,96 mol § ¨ ----------------------- = 900 ⋅ --⋅ ---⋅ exp ---------------------------------¸ © b¹ © G¹ ¨ ¸ RT D0 ⋅ G ⋅ b © ¹ kcal § – 19400 ------------· τ 7,1 mol 15 + 1,3 ⋅ 10 ⋅ § ----· ⋅ exp ¨ ---------------------------------¸ © G¹ ¨ ¸ RT © ¹
(9.2)
Die aus [24]1 entnommene Modellgleichung weist insgesamt 10 verschiedene Parameter auf, wobei nicht alle unabhängig voneinander sind. Die beiden Vorfak-
9.3 Modelle - Schnittstelle zwischen Experiment und Simulation
465
toren in der Gleichung (9.2) lassen sich, bezogen auf die korrekte Berechnung der Kriechgeschwindigkeit, nicht unabhängig von den Parametern Schubmodul G und Diffusionskoeffizient D 0 bestimmen. Es ist anzunehmen, dass die Einführung dieser Parameter, die sich in dieser Anzahl nicht aus dem experimentellen Datenmaterial ableiten lassen, aus der Intention erwuchs, einen bestimmten werkstoffphysikalischen Zusammenhang darzustellen. Grundsätzlich entsteht daraus zwar kein Problem, solange alle Parameter in Zusammenhang mit der Modellgleichung gegeben sind. Allerdings wird dadurch beim Nutzer der Modellgleichung, welcher nicht notwendigerweise mit allen Details der Kriechverformung bzw. der experimentellen Bestimmung der Parameter vertraut ist, der Eindruck erweckt, die genannten Parameter seien voneinander unabhängig. Vor allem, wenn der Nutzer die Modellgleichung aus einer Drittquelle bezogen hat, welche diese - ohne den ursprünglichen Kontext der Entstehung der Modellgleichung klarzumachen - nur als reine Gleichung aus der Originalquelle zitiert, sodass der Bezug zu den ursprünglichen Intentionen bei der Erstellung dieser Gleichung nicht sichtbar wird. Unabhängig von dieser Problematik ist auch die Verwendung des Strukturparameters Korngröße d für die spätere Anwendung nicht unproblematisch. Zwar eröffnet sich durch die Einführung eines solchen Parameters die Möglickeit, das Kriechverhalten in Abhängigkeit von strukturellen Veränderungen des Materials im Betrieb darzustellen. Allerdings ergeben sich in Bezug auf einen realen Lotkontakt zwei wesentliche Probleme. Im Gegensatz zur Bulkprobe mit ihrer sehr homogenen Verteilung von Korngrößen zeichnet sich das Gefüge von Lotkontakten häufig durch ein aus vielen sehr kleinen und wenigen sehr großen Körnern bestehendes Gefüge aus, sodass es schwer ist, eine mittlere Korngröße festzulegen. Auch die Beschreibung der Veränderung des Parameters Körngröße d aufgrund von Kornwachstum und Rekristallisation ist aufgrund dieser bei stark inhomogenen Beanspruchungen ebenfalls sehr inhomogen im Volumen des Lotkontaktes ablaufenden Prozesse schwierig. Eine einfachere Möglichkeit als die in Gleichung (9.2) verwendete Form, unterschiedliches Kriechverhalten in verschiedenen Spannungsbereichen nachzubilden, besteht über eine zur Modellgleichung (5.25) vergleichbare Form, wie sie in [27] zu finden ist: G τ · γ = 37,5 ⋅ ---- ⋅ sinh § 1300 ⋅ ----· © T G¹
3,0
0,55 [ eV ] ⋅ exp § -----------------------· © k⋅T ¹
(9.3)
Durch die Formulierung über die sinh-Funktion halbiert sich die Zahl der Parameter gegenüber Gleichung (9.2). Die Einführung des Parameters Schubmodul G ist hier genauso kritisch zu hinterfragen wie in Gleichung (9.2). Neben den beiden am weitesten verbreiteten Formen existieren in der Literatur andere, wie z. B. die in [42] verwendete Form mit temperaturabhängigem Spannungsexponenten: 1. d = Korngröße, D0=Diffusionskoeffizient, G=Schubmodul
466
9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
σ · ε = -------------------------------------------§ 2,42 ⋅ exp § 356 ---------· · © © T ¹¹
900 0,512 ⋅ exp § ---------· © T ¹
(9.4)
Die Verwendung solcher von den werkstoffphysikalisch begründeten Formulierungen stark abweichenden Modellgleichungen, wie z. B. Gleichung (9.4), wird von verschiedenen Autoren vor allem für den Bereich von komplexen Legierungen bevorzugt, da sich zeigt, dass die dort dominierenden Verhaltensformen stark von den Formen in Einstoffsystemen, welche aus den in 5.2.2 beschriebenen Mechanismen resultieren, abweichen. Dyson und McLean gehen in [653] detailliert auf dieses Problem für teilchengehärtete Nickel-Basis-Superlegierungen ein, welche bezüglich des Kriechverhaltens zu den SnAg- bzw. SnAgCu-Legierungen verwandt sind. Kernpunkt ihrer Diskussion über eine geeignete Modellwahl bildet dabei die aus experimentellen Daten gewonnene Erkenntnis, dass sich das Kriechverhalten der Nickel-Basis-Superlegierungen nur sehr schlecht über die klassische Form der Potenzgesetz-Beschreibung nachbilden lässt, da zum einen aus den Daten hervorgeht, dass der Spannungsexponent keine Konstante ist, sondern von Spannung und Temperatur abhängig ist, und dass die Aktivierungsenergie ebenfalls keine Konstante ist, welche mit der Diffusion zusammenhängt, sondern mit größer werdenden Spannungen ansteigt. Vergleicht man diese Erkenntnisse mit den Ergebnissen zum SnAg- und SnAgCu-System in 8.4.4.3 und 8.5.4.3, so lassen sich aus diesen über einen weiten Temperaturbereich gewonnenen Daten ähnliche Ableitungen treffen. Dyson und McLean schlagen aus diesen Gründen eine Abkehr von den klassischen Modellierungsvarianten vor und unterbreiten stattdessen die Idee eines aus mehreren Gleichungen bestehenden Modells, welches gleichzeitig in der Lage ist, die Effekte der sich gleichzeitig verändernden Werkstoffstruktur auf das Kriechverhalten darzustellen. Zu dieser Art von Modellen gehört auch das von Desai et al. [646, 647] vorgestellte „Distributed State Constitutive Model“, welches versucht, die Prozesse der elastischen und instantanplastischen Verformung sowie der Kriechverformung in Verbindung mit Schädigungsprozessen durch thermisch-mechanische Belastungen in einem aus 4 Einzelgleichungen bestehenden Modellgleichungssystem wiederzugeben. Obwohl dieser Ansatz mit insgesamt 12 zu bestimmenden Modellparametern nicht als überdimensioniert erscheint, zeigt sich, dass es mit den in [646] vorgestellten Experimenten zwar gelingt, alle Modellparameter zu bestimmen, diese jedoch nicht so bestimmt wurden, dass diese anwendungsrelevante Beanspruchungsbereiche des Werkstoffs widerspiegeln. Die geringsten Verformungsgeschwindigkeiten, die sowohl für die Kriech- als auch für die Ermüdungsexperi–4 –1 · mente verwendet werden, liegen bei γ = 2,78 ⋅ 10 s und liegen damit oberhalb des charakteristischen Beanspruchungsbereiches für thermisch induzierte mechanische Beanspruchungen in elektronischen Aufbauten. Die Verwendung langsamerer Verformungsgeschwindigkeiten ist aus praktischen Gründen nicht
9.4 Gestaltung einer entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung
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möglich, da dies vor allem bei den Ermüdungsexperimenten zu nicht vertretbaren Versuchsdauern führt. Dieses Problem entsteht auch bei vielen anderen in der Literatur vorgestellten Ansätzen, da aufgrund der Komplexität dieser Modelle das Aufstellen der mathematischen Formulierungen in den Gleichungssystemen vielen mit der experimentellen Modellparameterbestimmung nicht zusammenhängenden Gesichtspunkten Rechnung tragen muss [648]. Einfache Formulierungen, wie die des sinh-Ansatzes (vgl. Gleichung (9.3)), sind aus diesen Gründen auch zur Beschreibung des Kriechverhaltens der komplexeren SnAg- und SnAgCu-Legierungen nützlich. Bezogen auf das Kriechverhalten dieser Legierungen besteht der Vorteil des Ansatzes darin, dass größere Spannungen im Argument der sinh-Funktion höhere Exponenten erzeugen als geringere. Bei geschickter Wahl der Parameterkombinationen lässt sich darüber sowohl die Spannungsabhängigkeit als auch die Temperaturabhängigkeit des Spannungsexponenten realisieren. Es ist sofort ersichtlich, dass aufgrund der verschiedenen Formen von Kriechgleichungen ein einfacher Parametervergleich zwischen verschiedenen Quellen schwierig ist. Vor allem, wenn wie beim sinh-Ansatz beschrieben, dieser aus anderen Gründen als dem der zugrunde liegenden Verformungsmechanismen genutzt wird, kommt den darin verwendeten Parametern nicht mehr ihre ursprüngliche Bedeutung zu. Daher ist es auch unzulässig, diese, wie in [649], untereinander zu vergleichen.
9.4 Gestaltung einer entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung 9.4.1 Erfordernisse „Die traditionelle Vorgehensweise bei der Prüfung von Verformungs- und Festigkeitseigenschaften als auch der Bruchfestigkeit lässt sich oft nicht für die Prüfung winziger Teile aus mikroelektronischen Bausteinen anwenden. Die derzeitige Tendenz, mechanische Eigenschaften über indirekte Methoden zu ermitteln (z. B. über die Nutzung von Nanoindentationstechniken), verlangt essentielle wissenschaftliche Beratung sowie die Lösung komplexer Probleme bei der Eigenschaftsbestimmung auf der Basis dieser indirekten Messungen.“ Robert Goldstein im International Journal of Fracture, 20011
1. Das Zitat stammt aus einem Vorwort von R. Goldstein (Institut für Probleme der Mechanik an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau) für eine Sonderausgabe der Zeitschrift „International Journal of Fracture“ zu Bruchvorgängen in der Mikroelektronik [655] (übersetzt durch den Autor).
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9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen
Die der entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung im mikrotechnischen Bereich zugrunde liegende wissenschaftliche Problemstellung besteht vor allem in der Frage, wie Werkstoffdaten ermittelt werden sollen. Dieser für die Wahrnehmung ihrer Funktion im Entwurfsprozess wichtigen Formulierung von mit der Werkstoffdatenermittlung verbundenen Forschungsproblemen wird in verschiedenen Publikationen zur Gesamtproblematik der mechanischen Integrität elektronischer Aufbauten, z. B. [641], nicht immer der notwendige Raum eingeräumt. Hierdurch entsteht eine Trivialisierung, in der allein die Ermittlung von Werkstoffdaten als erforderliche Aufgabe gesehen wird, ohne gleichzeitig über die Art und Weise eines methodischen Vorgehens bei ihrer Ermittlung zu diskutieren. Die Bereitstellung relevanter Werkstoffdaten stellt für die angestrebte Ausweitung des Einsatzes von Simulationstechniken im Entwurfszyklus elektronischer Aufbauten eine nicht unbedeutende Engstelle dar. Dies hängt damit zusammen, dass die detaillierten Analysen technischer Sachverhalte, wie z. B. die Berechnung lokaler Beanspruchungszustände, nur dann als zweckmäßig anzusehen sind, wenn gleichzeitig eine ausreichende Beschreibung des zum Teil sehr komplexen Werkstoffverhaltens vorliegt. Sind hingegen nur grobe Vorstellungen über das Werkstoffverhalten auf der Basis einschlägigen Tabellenbüchern entnommener Kennwerte bekannt, können auch die durch Simulationstechniken gegebenen vielfältigen Analysemöglichkeiten keine wesentlich besseren Anhaltspunkte für die Werkstoffauswahl und Gestaltungsfragen geben als die mit einfachen analytischen Modellen durchgeführten Grobabschätzungen. Eine entwicklungsbegleitende Werkstoffdatenermittlung muss deshalb dem Erfordernis Rechnung tragen, das vielschichtige Verformungsverhalten von den in den in elektronischen Aufbauten verwendeten Werkstoffen unter Beachtung der entsprechenden anwendungsspezifischen Randbedingungen zu untersuchen, um somit relevante konstitutive Werkstoffmodelle für die Finite-Elemente-Analyse (FEA) thermisch-mechanischer Beanspruchungen in elektronischen Aufbauten zu erarbeiten. Im Gegensatz zu etablierten werkstoffmechanischen Untersuchungsmethoden, wie sie beispielsweise in DIN-Vorschriften vereinbart sind, steht dabei die Berücksichtigung der bauteilspezifischen Charakteristika, der Werkstoffvolumen, der Belastungs- und der Herstellungsbedingungen im Vordergrund. In diesem Zusammenhang bestehen grundsätzliche Zweifel, ob die an makroskopischen Probekörpern gewonnenen Aussagen über das Verformungsverhalten eines Werkstoffes auf den Mikrobereich übertragbar sind. Technischer Hintergrund dieser Problematik sind die durch die fortschreitende Miniaturisierung immer weiter abnehmenden Bauteilvolumen einzelner Strukturelemente. Diese GrößeneffektProblematik kann mit einer nicht unbeträchtlichen Komplexität des Werkstoffverhaltens gekoppelt sein. So ergibt sich z. B. für die als Verbindungswerkstoff eingesetzten Weichlote auf Sn-Basis die Notwendigkeit einer komplexen - sowohl nichtlinearen als auch zeitabhängigen Verhaltensbeschreibung. Die Größenabhängigkeit der zuletzt benannten Verhaltensfunktionen ist sehr vielschichtig. Im Vordergrund steht dabei immer der Zusammenhang zwischen der Mikrostruktur des Werkstoffes und seinem Verformungsverhalten. Hierzu muss -
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begleitend zu den werkstoffmechanischen Versuchen - eine geeignete Analyse des spezifischen Werkstoffgefüges erfolgen, welche wichtige Faktoren, wie Volumenanteil, Größe, Form und Art von Gefüge- und Phasenbestandteilen, in ihrem Einfluss auf das Kriechverhalten des Werkstoff beurteilt, um so zu einer strukturabhängigen Formulierung von Verformungsgleichungen zu gelangen, welche praxisrelevante Faktoren, wie Fertigungsbedingungen, Metallisierungen und Alterungszustände, wie sie für Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten von Bedeutung sind, berücksichtigt.
9.4.2 Retrospektive der eigenen Untersuchungen Da die konkrete Gestaltung von Versuchen immer als Folge bestimmter Problemstellungen vorgenommen wird, erscheint es zweckmäßig, zunächst über die bisher vorliegenden Erfahrungen bei der entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung zu reflektieren, um auf dieser Basis Ableitungen für ihre zukünftige Gestaltung treffen zu können. Der Autor beschäftigt sich seit ca. 15 Jahren mit den Fragen des werkstoff- und bruchmechanischen Verhaltens von Weichloten in kleinstvolumigen Kontakten der Mikroverbindungstechnik in der Elektronik. Zu Beginn dieser Arbeiten stand zunächst die Aufgabe, eine bauteilorientierte und betriebsfallnahe Untersuchung des mechanischen Verhaltens von Flip-Chip-Lotkontakten zu entwickeln und unter Einbeziehung theoretischer Kenntnisse über das Deformationsverhalten und etablierter Verfahren zur Werkstoffuntersuchung zu einer Aussage über die Unterschiede zwischen dem werkstoffmechanischen Verhalten des eutektischen SnPbLotes in makroskopischen Probekörpern und kleinstvolumigen Lotkontakten zu gelangen. Ausgangspunkt für die Arbeiten waren die Unterschiede, die bei der Untersuchung des Kriechverhaltens von eutektischem SnPb-Lot von verschiedenen Autoren publiziert wurden. Beim Vergleich der damals häufig zitierten Arbeiten von Hacke [23] und Darveaux [27] ergeben sich bei einer mittleren Spannung, z.B. σ = 5 MPa bei T = 300 K, Unterschiede in der absoluten Kriechgeschwindigkeit von 2 Größenordnungen. Hieraus resultieren sehr große Unsicherheiten bei Simulationsrechnungen zur Analyse thermisch induzierter mechanischer Spannungen in elektronischen Aufbauten. Deshalb war für die Erzielung aussagekräftiger, praxisrelevanter Simulationsergebnisse eine dem Aufbau- und der Belastungssituation von kleinstvolumigen Lotkontakten entsprechende Kenntnis der mechanischen Eigenschaften der eingesetzten Weichlote erforderlich. Der Lösung dieser Aufgabe erfolgte über einen Ansatz [12], welcher sich nicht auf die Verwendung von in der klassischen Werkstoffprüfung etablierten Untersuchungseinrichtungen und Methoden, wie z. B. den Zugversuch, stützt. Wie sich bereits in vorausgegangenen Untersuchungen gezeigt hatte [210], wurden Standardprüfeinrichtungen aus verschiedenen Gründen den besonderen Erfordernisse miniaturisierter Proben nicht gerecht. Deshalb bestand einer der Schwerpunkte in den Forschungsarbeiten zunächst in der Entwicklung eines geeigneten Versuchsaufbaus zur Untersuchung der werk-
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stoffmechanischen Eigenschaften kleinstvolumiger Lotkontakte. Der realisierte Versuchsaufbau (vgl. 7.5.3.2) verfügt über eine Messgenauigkeit von δs = 20 nm für die Verschiebungsmessung und von δF = 2 mN für die Kraftmessung. Mit ihm gelang es, ein um 2 Größenordnungen kleineres Kontaktvolumen zu untersuchen als mit den zuvor als kleinstvolumigste Lotkriechexperimente geltenden Untersuchungen von [27] und [28]. Der wichtigste Anspruch, der mit diesem Versuchsaufbau verwirklicht wurde, ist jedoch die präzise Bestimmung des E-Moduls an den in 8.3.3.2 beschriebenen Mikrolotkontakten des Probekörpers (vgl. Abb. 8.2 und Abb. 8.3). Versuchstechnisch ergibt sich hierdurch die Möglichkeit der Überprüfung der Richtigkeit der Messungen, da der E-Modul nur vom Atomgitter und den Atombindungskräften abhängig ist und für ihn daher bei den weit über atomaren Größen liegenden Probekörpern keine Größeneffekte bestehen. Neben dem Aufbau einer speziellen Versuchsapparatur wurde auch eine Optimierung des Probekörperaufbaus (vgl. 7.4.4.3) auf der Basis von FE-Analysen verschiedener Kontaktformen vorgenommen [210]. Dabei stellte sich heraus, dass die in der Praxis vorkommende tonnenförmige Kontaktgeometrie, welche auch in [9, 11, 27] verwendet wurde, Beanspruchungskonzentrationen an der Grenzfläche zur Underbumpmetallisierung aufweist. Demgegenüber konzentrieren sich bei einer hyperboloiden Form die Beanspruchungen in der Mitte des Kontakts, sodass der überwiegende Teil der Deformationen im Lot erfolgt. Aus diesem Grund werden für Untersuchungen der Loteigenschaften Probekörper mit hyperboloider Kontaktform anstelle der in der Praxis vorkommenden Tonnenform eingesetzt. Andere wichtige Vorarbeiten im Rahmen der Untersuchung mechanischer Eigenschaften kleinstvolumiger Lotkontakte bestanden in der Erarbeitung eines Versuchsprogramms mit einer betriebsfalladäquaten Belastung des Probekörpers (vgl. 8.3.4.2) und einer speziellen Auswerteprozedur (vgl. 7.4.4.2), welche über FEM-Simulationen des Experimentes eine Berücksichtigung der inhomogenen Spannungsverteilung im Lotkontakt ermöglicht. Im Zusammenhang mit diesen apparativen und methodischen Entwicklungen wurde eine breit angelegte systematische Untersuchung des werkstoffmechanischen Verhaltens des eutektischen SnPb-Lotes in kleinstvolumigen Lotkontakten durchgeführt, deren Ergebnisse in [12] detailliert beschrieben sind. Zur Ermittlung des Rissausbreitungsverhaltens in kleinstvolumigen Lotkontakten wurde vom Antragsteller eine Apparatur entwickelt, welche die In-situ-Beobachtung der Rissentwicklung im Lotkontakt während isothermer zyklischer Ermüdungsexperimente erlaubt [441, 654]. In umfangreichen Experimenten wurde dabei eine Risswachstumsgleichung für das eutektische SnPb-Lot in Abhängigkeit von der Dehnungsamplitude und der Versuchsfrequenz aufgestellt [594]. In der Fortführung dieser Arbeiten entstanden weitere Versuchsaufbauten, welche unter anderem eine Erweiterung des Versuchstemperaturbereiches ermöglichten (7.5.3.3). Dabei wurde neben dem Sn-Pb-System auch das Sn-Ag-Cu-System detailliert untersucht, wobei neben den werkstoffmechanischen auch mikrostrukturelle Untersuchungen eine wichtige Rolle spielten.
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9.4.3 Ableitungen für die Zukunft einer entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung „Der Verwertungsdruck auf die Forschungseinrichtungen, unter ihnen Universitäten, steigt; ein immer wieder angemahnter Wissenstransfer besagt, daß in der Wissenschaft die Dinge so weit vorzufertigen sind, daß sie die Wirtschaft wie Rohlinge gleich in die weiterverarbeitende und wirtschaftende Hand nehmen kann. Alles andere scheint vergeudete Zeit zu sein. Wo von Forschung in der Weise von Grundlagenforschung die Rede ist, denkt man nur noch an Elfenbeintürme.“ Jürgen Mittelstraß in“Krise des Wissens“, 20011
„Wenn ich zunächst zu Ihrer hübschen Idee von dem „forschungspolitischen Regelkreis“ eine Bemerkung machen darf: Jeder Fortschritt ∂ε der Erkenntnis erhöht fast automatisch die Zahl offener Probleme um ∂n ; andererseits bewirkt eine Vielzahl offener Probleme, daß viele Forscher (und ihre Geldgeber) zu intensiverer Arbeit motiviert werden, die, wenn sie erfolgreich ist, natürlich auch Probleme löst: ∂n ⁄ ∂t < 0 . Die Gesamtbilanz offener Probleme ist also wie · dn = [ ( ∂n ⁄ ∂ε ) ⋅ ε – ∂n ⁄ ∂t ]dt an das Tempo des Erkenntnisfortschritts und die Erfolgsquote der Forschungstätigkeit geknüpft. Ich fürchte nur, dieser Vorgang wird so schnell nicht stationär; es ist schon optimistisch, wenn man wenigstens hofft, nicht in den tertiären Bereich zu kommen und mit der ganzen Forschung zu Bruch zu gehen.“ Bernhard Ilschner in einer Diskussion an der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, 19762
Anhand des Beispiels der über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren gewonnenen Ergebnisse zum werkstoff- und schädigungsmechanischen Verhalten von Snbasierten Weichloten konnte die Notwendigkeit bauteilorientierter Untersuchungsmethoden zur Gewinnung von Werkstoffparametern für Strukturen im Bereich
1. Das Zitat stammt aus einem Beitrag von Jürgen Mittelstraß in den von der Leibniz-Sozietät zu Berlin im Trafo-Verlag herausgegebenen Sitzungsberichten [656]. 2. Das Zitat stammt aus der Diskussion zwischen Hans-Jürgen Engell und Bernhard Ilschner zu einem von Ilschner gehaltenen Vortrag an der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften [657]. Ilschner bezieht sich in seiner Aussage auf den dreigeteilten Verlauf einer Kriechkurve (vgl. 5.4.1).
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mehrerer hundert Mikrometer gezeigt werden. Neben diesen eigenen Untersuchungen finden sich in der Literatur ähnlich gelagerte Experimente zu anderen Schlüsselwerkstoffen für elektronische Aufbauten [453, 658], aus denen sich die gleiche Ableitung bezüglich des größenabhängigen Materialverhaltens in Werkstoffstrukturen in dem für die Aufbau- und Verbindungstechnik typischen Größenbereich –3 –6 von 10 …10 m ziehen lässt. Dies hat für die perspektivische Ausrichtung der Untersuchungsmethodik für Werkstoffe der Mikroverbindungstechnik weitreichende Folgen. Diese Argumentation erscheint auf den ersten Blick trivial. Ihre Komplexität lässt sich nur dann verstehen, wenn deutlich zwischen der Untersuchung und der Art und Weise der Untersuchung unterschieden wird. Die auf der Grundlage früher, versuchsmethodisch schlecht ausgearbeiteter Experimente wahrgenommenen Unterschiede im werkstoffmechanischen Verhalten von SnPb-Lot in Bulkproben gegenüber dem in kleinvolumigen Lotkontakten schienen (und waren wahrscheinlich auch) auf Unzulänglichkeiten in den Versuchsaufbauten für die Experimente an kleinen Lotkontakten zu beruhen. Aus den in [12] dargestellten, mit genaueren Versuchsmethoden durchgeführten Untersuchungen konnte jedoch geschlussfolgert werden, dass Unterschiede im Verhalten von Bulk- und Mikrowerkstoff in den für Lotkontakte typischen Volumen nicht bestehen. Hieraus wurde zunächst geschlussfolgert, dass auch für den typischen Größenbereich in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik nur eine Gefügeabhängigkeit der mechanischen Werkstoffeigenschaften besteht, woraufhin eine Untersuchung von Bulkmaterial (mit repräsentativem Gefüge) als ausreichend angesehen wurde. Durch die in den letzten Jahren an bleifreien Lotwerkstoffen als auch an anderen Materialien gewonnenen Erkenntnisse wird jedoch deutlich, dass werkstoffabhängig durchaus Miniaturisierungseffekte bestehen und daher eine Erweiterung etablierter Prüfverfahren auf eine bauteilorientierte Untersuchung von Werkstoffen für die Mikroverbindungstechnik notwendig ist. Die bauteilorientierte Untersuchung im Mikrobereich unterscheidet sich in ihrem Wesen sehr deutlich von der standardisierten Untersuchung von Bulkproben. Während letztere auf bestimmte Vorgaben bei der Probeköpergestaltung sowie etablierte Prüftechnik zurückgreift, geht die bauteilorientierte Untersuchung im Mikrobereich immer von einem Forschungsproblem aus, in dessen Lösungsprozess geeignete Varianten der Probekörpergestaltung und des Versuchsaufbaus erarbeitet werden müssen. Die Ermittlung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens in kleinvolumigen Bauteilen umfasst daher neben der eigentlichen Untersuchung zusätzlich die vorgelagerten Tätigkeiten der Versuchsgestaltung und des Versuchsaufbaus. Weil der Aufwand für diese vorgelagerten Aktivitäten größer sein kann als für die eigentlichen Untersuchungen, ergibt sich für den Bereich der entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung ein Zeit-Aufwand-Nutzen-Dilemma, welches zum einen durch seine Beziehungen zum konkreten Entwicklungsprozess entsteht, zum anderen aber auch aus der Übertragung von den mit der klassischen Werkstoffprüfung verbundenen Vorstellungen resultiert.
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Da der Entwicklungsprozess für neue Produkte mit klaren Zeitplanungen für die Einführung dieser zu entwickelnden Produkte in den Markt verbunden ist, entsteht ein daraus abgeleitetes Bestreben, auch die entwicklungsbegleitende Werkstoffdatenermittlung diesen Zeitplanungen zu unterwerfen. Indem der Werkstoffcharakterisierung der Charakter einer einfachen Messung unterstellt wird, deren zeitliche Erfordernisse sich klar bemessen und in einem detaillierten Zeitplan aufstellen lassen, wird eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, wie es gelingt, wesentliche für den Anwendungsfall ausschlaggebende Merkmale des Werkstoffverhaltens experimentell zu ermitteln und diese in einem Modell geeignet darzustellen, unterbunden und stattdessen eine allein auf Zeiteffizienz ausgerichtete Optimierung bei der Gestaltung des experimentellen Vorgehens vorgenommen. Hierbei besteht die direkte Folge der falschen Vorstellung, dass eine Werkstoffuntersuchung in allen Aspekten festlegbar wäre, zunächst in möglicherweise ungenauen Beschreibungen des experimentell ermittelten Werkstoffverhaltens. Für die angestrebte Effektivierung des Entwicklungsprozesses durch Anwendung von Berechnungs- und Bewertungsmethoden, wie der FEM-Simulation, zur Erfassung und Umgehung von mechanischen Problemen in elektronischen Aufbauten sind diese Ungenauigkeiten in der Beschreibung des Werkstoffverhaltens wahrscheinlich von geringerem Ausmaß. Die indirekte Wirkung auf die langfristige Weiterentwicklung von Versuchstechniken kann jedoch sehr schwerwiegend sein. Die Aufdeckung bisher unbekannter Phänomene des Verformungs- und Schädigungsverhaltens in kleinvolumigen Bauteilen mit mikroskopischen Abmessungen ist wesentlich an die Leistungsfähigkeit geeigneter experimenteller Untersuchungsmethoden gebunden. Ohne dass die Weiterentwicklung der bisher erarbeiteten Methoden als wichtige Forschungsaufgabe innerhalb der entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung begriffen wird, kann sich sehr leicht eine Situation einstellen, in der die vielversprechende Einführung von Berechnungs- und Bewertungsmethoden aufgrund mangelnder experimenteller Untersuchungsmethoden in ihrer Nutzbarkeit im Entwicklungsprozess beschränkt wird. Um Aussagen über die strukturelle Integrität immer kleiner werdender Strukturen in elektronischen Aufbauten treffen zu können, ist eine genaue Kenntnis der bereits jetzt festgestellten Größenabhängigkeit bestimmter mechanischer Verhaltensfunktionen eine wichtige Voraussetzung. Um diese Kenntnisse auch bezüglich des Werkstoffverhaltens in den für die nächsten Jahre angestrebten Bauteilabmessungen im Mikrometerbereich (vgl. ITRS-Roadmap) erhalten zu können, werden neue, zum jetzigen Zeitpunkt nicht verfügbare experimentelle Methoden notwendig sein. Der entscheidende Unterschied zwischen der klassischen Werkstoffdatenermittlung und der Werkstoffdatenermittlung im Mikrobereich liegt nicht allein in den unterschiedlichen Größen begründet, sondern in der Tatsache, dass die Größenverhältnisse im Mikrobereich einer ständigen Verkleinerung unterzogen sind. Dieser Umstand führt zu einem grundsätzlich anderen Verhältnis zwischen Prüfmaschinen- und Versuchsmethodikentwicklung auf der einen und der Durchführung von Werkstoffcharakterisierungsversuchen auf der anderen Seite. Während die Versuchsdurchführung in der klassischen Werkstoffdatenermittlung den größeren
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Raum einnimmt, haben für den Bereich der Werkstoffdatenermittlung in den Mikrotechniken die Entwicklungsarbeiten von Versuchstechniken eine weitaus höhere Bedeutung.
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Kap. 3: • • • • •
• • • •
•
Allen, S. M.; Thomas, E. L.: The Structure of Materials. New York: John Wiley & Sons, 1999 Gottstein, G.: Physikalische Grundlagen der Materialkunde. Berlin - Heidelberg: 1998 Haasen, P: Physikalische Metallkunde. 3. Aufl., Berlin; Heidelberg: Springer 1994 Humphereys, F. J.; Halterly, M.: Recristallization and related Annealing Phenomena. Oxford, New York, Tokyo: Elsevier 1995 Materials Science and Technology - A Comprehensive Treatment. Cahn R. W.; Haasen P.; Kramer E. J. (Hrsg.), Weinheim - New York - Basel: VCH, Bd. 1. Structure of Solids, Gerold, V. (Bd. Hrsg.), 1993; sowie Bd. 5. Phase transformation in materials, Haasen, P. (Bd. Hrsg.), 1991 Physical Metallurgy; Cahn, R. W.; Haasen, P. (Hrsg.), Amsterdam - Oxford - New York Tokyo: North Holland 1983 Sauthoff, G.: Intermetallics. Weinheim; New York; Basel; Cambridge; Tokio: VCH 1995 Schulze, G. E. R.: Metallphysik. Berlin: Akademie-Verlag 1974 Schmelze, Erstarrung, Grenzflächen: eine Einführung in die Physik und Technologie flüssiger und fester Metalle. Sahm, P. R.; Egry, I.; Volkmann, T. (Hrsg.), Braunschweig; Wiesbaden: Vieweg 1999 Solidification and Casting of Metals. London: The Metals Society, 1979
510
Weiterführende Literatur
Kap. 4: • • • •
Ashby, M. F.; Jones D. R.: Ingenieurwerkstoffe. Berlin-Heidelberg: Springer 1986 Hellwege, K. H.: Einführung in die Festkörperphysik. Berlin: Springer 1988 Rosenthal, D.: Resistance and Deformation of Solid Media. New York - Toronto - Oxford Sydney: Pergamon 1974 Mechanische Anisotropie; Stüwe, H. P. (Hrsg.), Wien; New York: Springer 1974
Kap. 5: • • • • • •
• •
Cadek, J.: Creep in Metallic Materials. Material Science Monographs Bd. 48, New York: Elsevier 1988 Christ, H. J.: Wechselverformung von Metallen: Zyklisches Spannungs-Dehnungs-Verhalten und Mikrostruktur. Berlin, Heidelberg: Springer 1991 Courtney, T. H.: Mechanical Behavior of Materials. New York: McGraw Hill 1990. Flow and Fracture at Elevated Temperatures. ASM Materials Science Seminar, Raj R. (Hrsg.), American Society for Metals, Ohio, 1983 Frost, H. J.; Ashby, M. F.: Deformation-Mechanism Maps - The Plasticity and Creep of Metals and Ceramics. Oxford: Pergamon 1982 Materials Science and Technology - A Comprehensive Treatment. Cahn R. W.; Haasen P.; Kramer E. J. (Hrsg.), Weinheim - New York - Basel: VCH, Bd. 6. Plastic deformation and fracture of materials; Mughrabi, H. (Bd. Hrsg.), 1993 Rösler, J; Harders, H.; Bäker, M.: Mechanisches Verhalten der Werkstoffe. Wiesbaden: Teubner/GWV Fachverlage 2003 Physical Metallurgy, Cahn, R. W.; Haasen, P. (Hrsg.), Amsterdam: Elsevier 1993
Kap. 6: • • • •
• •
Anderson, T. L.: Fracture Mechanics - Fundamentals and Applications. Boca Raton: CRC Press 1995, 2. Aufl. Ermüdungsverhalten metallischer Werkstoffe. Christ, H. J. (Hrsg.), Frankfurt: WerkstoffInformationsgesellschaft 1998 Haibach, E.: Betriebsfestigkeit: Verfahren und Daten zur Bauteilberechnung. Berlin: Springer 2002, 2. Aufl. Materials Science and Technology - A Comprehensive Treatment. Cahn R. W.; Haasen P.; Kramer E. J. (Hrsg.), Weinheim - New York - Basel: VCH, Bd. 6. Plastic deformation and fracture of materials, Mughrabi, H. (Bd. Hrsg.), 1993 Riedel, H.: Fracture at High Temperatures. Berlin: Springer 1987 Saxena, A.: Nonlinear Fracture Mechanics for Engineers. Boca Raton: CRC Press 1998
Kap. 7: • •
Blumenauer, H.: Werkstoffprüfung. Leipzig, Stuttgart: Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie 1994, 6. Aufl. Erismann, T. H.: Prüfmaschinen und Prüfanlagen: Hilfsmittel der zerstörenden Materialprüfung. Berlin, Heidelberg: Springer 1992
Kap. 8, 9: •
Mechanics of Microelectronics; Zhang, G. Q.; van Driel, W. D.; Fan, X. J. C (Hrsg.), Dordrecht: Springer 2006
Sachverzeichnis
511
Sachverzeichnis A
Abgleiten 194 Abgleitung 163, 178 Abkühlungsgeschwindigkeit 105 Ag-Sn-Zustandsdiagramm 99 Aktivierungsenergie 172, 188 Alloy42 50 Andrade-Kriechen 183 Anfangskriechrate 184 Annihilierung von Versetzungen 190 Anschlussanordnung 51 Anschlussbeinchen 49 Anschlussraster 59 Anschlusszahl 51, 59 Anschlusszahlentwicklung 58 Antrieb 292 Architektur elektronischer Aufbauten 27 Architekturentwicklung 55 Architekturkonzept 27, 67 Area Array Component 43 Arrhenius-Ansatz 172 Atom 78 Atomabstands-Potenzialkurve 144 Atombindung 78 Atomradius 86 Aufbau- und Verbindungstechnik Aufgaben 23 Begriff 22 Entwicklung 24 Inhalt 23 Triebkräfte 26 Aufbauhierarchie 27 Ausdehnungskoeffizient 66, 280 Ausfall 1, 21, 213, 215, 223, 263, 357 Au-Si-Zustandsdiagramm 96 Ausscheidung 76, 93, 135, 166 inkohärent 94 kohärent 94 semikohärent 94 Ausscheidungsreaktion 93
B
Bailey-Norton-Ansatz 464 Ball-Grid-Array 43, 53 Basquin-Gleichung 266 Bauelementeformen 48 Bauschinger-Effekt 211 BCB 36 Beanspruchungssituation 221 Begrenzte Mischbarkeit 93, 96 Benetzungswinkel 108
BGA 43 Biegung 68 Bindung 78 Bindungskraft 78 Bindungstypen 78 Bondverfahren 32 Bruch auf atomarem Niveau 228 Bruchdehnung 221 Bruchlastspielzahl 263 Bruchmechanik 236 elastisch-plastisch 237 Energiebilanz-Betrachtung 238 linear-elastisch 237, 238 nichtlinear 244 Spannungsintensitätsfaktoren-Ansatz 240 viskoelastisch 237 zeitabhängig 237 Bruchmechanische Konzepte 236 Bruchmechanismenkarten 226 Bruchmodus 240 Brückenschaltung 299 Bulkdiffusion 172 Bulkmodul 152 Bump 35 Bumperzeugung 37 Burgersvektor 170, 188
C
C*-Integral 246 CBGA 52 CCC 66, 280 CCGA 52 Ceramic-Chip-Carrier 66, 280 Chipkondensator 54 Chipmontage 49 Chip-Scale-Package 43, 53, 55 Chipwiderstand 54 Coble-Kriechen 172, 193, 195 Coffin-Manson-Beziehung 262, 266, 267 CPGA 52 CSP 43 CTE-matching 65 CTOD 244 CT-Probeköper 309 Cu-Ni-Zustandsdiagramm 100
D
Datenerfassung 305 Dauerfestigkeit 262 Dauerfestigkeitslinie 264 Dauerfestigkeitswert 264
512
Sachverzeichnis
Dauerschwingversuche 263 Dehnmessstreifen 299 Dendrit 111 DIC 302 Dichte 83 Dickschichttechnik 43 Differentielle-Scanning-Kalometrie 114 Differentiell-Thermische-Analyse 114 Diffusion Temperaturabhängigkeit 172 Diffusionskoeffizient 188 Temperaturabhängigkeit 172 Diffusionskriechen 172, 197 Digital Image Correlation 302 DIP 49 Dipole 210 Dip-Test 212 Distance to Neutral Point 67 DNP 67 Doppelschulterprobe 309 Double-shear-lap-Probekörper 315 Drahtbondtechnik 31 Drehkorngrenze 90 Drehwinkel 89 Dreistoffsystem 103 DSC 114 DTA 114 DTA-Messungen 125 Duktilbruch 227 Durchstecktechnik 41 Dynamische Erholung 177, 210
E
Edelgaskonfiguration 78 Einfachgleitung 177 Einkristallverformung 178 Einsatztemperatur 20 Einspannung 284 für kleinvolumige Proben 288 Elastische Konstanten Richtungsabhängigkeit 153 Temperaturabhängigkeit 156 Electronics Packaging 22 Elektrischer Ausfallmechanismus 216 Elektrolytische Migration 218 Elektromigration 218 Elementarzelle 75 Elementarzellenvolumen 83 E-Modul 64, 146, 147 Richtungsabhängigkeit 153 Temperaturabhängigkeit 156 E-Modul-Bestimmung 148 Empirische Ermüdungsmodelle 261 Energiefreisetzungsrate 237
Entfestigung 225 Entwicklung der Werkstoffprüfung 273 Entwicklungsbegleitende Werkstoffdatenermittlung 467, 473 EPBM 237 Ermüdung 20 Ermüdungslastspielwechselzahl 267 Erstarrung 104 Erstarrungsfront 105 diffus 111 facettiert 111 glatt 111 wellig 111 Erstarrungsgefüge 104 Sn-Pb-Lot 128 Erstarrungsprozess 112 Erstarrungsverhalten von SnAgCu-Lot 122 ESD 217 Eutektikum 95 Eutektisches System 95 Experimentelle Untersuchungsmethoden 273
F
FBGA 53 FCM 57 Fehlerursachenherkunft 62 Fehlwinkel 187 FEM-Simulation 5, 17, 303, 319, 320, 385, 445, 451, 470, 473 Fertigungsmethode 26 Festigkeit 220 Few-Chips-Module 57 Flächenkontaktierbare Bauelemente 43 Fleischer-Friedel-Abschätzung 199 Flexible Leiterplatte 44 Fließspannung 167, 174, 178 Temperaturabhängigkeit 179 Flip-Chip-Montageprozess 36 Flip-Chip-Technik 35 Formdehngrenze 264 Frank-Read-Quelle 177, 190 Fremdatom 75, 85 Fremdteilchen 76 Fügepartner 35
G
Gateoxiddurchbruch 216 Gefüge 71 Gefügeausbildung 105 Gesamtmodell 463 Gibbs’sche Phasenregel 95 Gitterbaufehler 83 Gitterkonstante 83, 92 Gitterstörung 83
Sachverzeichnis Gittertyp 79 Gleichgewichtsphase 93 Gleitbewegung durchschnittlich 165 individuell 164 Gleitebene 163, 165, 176 Gleitrichtung 163, 164, 176 Gleitsystem 176 primär 177 sekundär 177 Gleitweg 164 Grenzflächenenergie 107 Größe der plastischen Zone 247 Größenabhängigkeit des Gefügebildes 133 Größeneffekt 20, 450 Größenniveau 74 Großwinkelkorngrenze 89 Gull-Wing 50
H
Harper-Dorn-Kriechen 172 HDI-Leiterplatte 43, 46 Heterogene Keimbildung 108 Heteropolare Bindungen 78 Hexagonal dicht gepacktestes Gitter 79 High Cycle Fatigue 262 Hochtemperaturplastizität 168, 179 Hochzyklische Ermüdung 262 Hoff’sche Analogie 246 Homogene Keimbildung 108 Homologe Temperatur 19, 173 Hot Carrier Degradation 217 HRR-Feld 248 Hydraulische Antriebe 292 Hydrostatischer Druck 153 Hyperbolische Kontaktform 323 Hypercooling-Grenze 112
I
Idealisierte Bulkprobe 309 Idealisierte Mikroprobe 312 Initialriss 233 Inkohärente Grenzflächen 92 Inkongruent schmelzende Phase 99 Innere Rückspannung 212 Integrationsaufgabe 58 Integrationsdichte 26, 50, 55, 59 Integrierte Schaltkreise 26 Interatomare Bindungskraft 228 Intermediäre Phase 99 Intermetallische Phase 80, 217 Intragranulare Rissbildung 231 Intragranularer Rissbildungsmechanismus 231 Isiopescu-Probekörper 288, 316
513
Isoipescu-Scher-Versuch 316
J
J-Integral 244 J-Lead 50
K
Kapazitiver Sensor 301 Kapillare 31 Keilbacke 287 Keim 107 Keimbildung 107 Keimbildungsrate 109 Keramische Substrate 43 Kipp-Korngrenze 89 Kirkendall-Effekt 217 Klassische Werkstoffprüfung 274 Kleinbereichsfließen 247 Kleinlastprüfmaschine 325 Kleinlastprüfmaschinen 325 Kleinwinkelkorngrenze 89, 134 Kletterbewegung 168 Klettern 168 Kletterprozess 169, 179 Kohärente Grenzfläche 92 Koinzidenzgitter 90 Kontaktierbarkeit 45 Kontinuums-Schadensmechanik 269 Konzept der Probenprüfung 274 Korn 89 Korngrenze 76, 89, 134, 166, 178, 194, 232 niedrig-energetisch 187 Korngrenzendiffusion 171, 172, 194, 233 Korngrenzenergie 91 Korngrenzengleiten 158, 192 Korngrenzengleitung 232 Korngrenzenmigration 134, 193 Korngrenzentripel 94, 232 Korngrenzgleitprozess 192 Korngröße 178, 187 Korngrößenexponent 188, 190 Kornstruktur 76 Kornwachstum 134, 135 Kovalente Bindungen 78 Kovar 49 Krafteinleitung 284 Kriechbruch 227 Kriechbruchmechanik 237 Kriechen 20, 181 ausscheidungsgehärtete Legierung 200 primär 184 quasistatisch 183, 210 teilchengehärtete Legierung 200 tertiär 184 transient 183
514
Sachverzeichnis
Kriech-Ermüdungs-Rissausbreitung 260 Kriechgeschwindigkeit quasistatisch 188 Kriechkurve 181, 183 Theta-Konzept 184 Kriechmechanismus Temperaturabhängigkeit 172 Kriechrate quasistatisch 170 Kriechrissbildung 250 Kriechrissfortpflanzung 250 Kriechrissrate 250 Kriechrisswachstum 247 Kriechverformung 234 Kriechverhalten 19 Kriechversuch 181 Kristallgemisch 92 Kristallgitter 144 periodisches Potenzial 166, 176 Kristallisationsvorgang 139 Kristallisationswärme 109, 112 Kristallstruktur 83 Kristallsystem 79 Kritischer Keimbildungsradius 107, 109 Kubisch-flächenzentriertes Gitter 79 Kubisch-raumzentriertes Gitter 79 Kurzrisswachstum 262 Kurzzeitfestigkeitsbereich 264, 265
L
Lastwechseleffekte 211 Lebensdauermodell 223 LEBM 237 Leerstelle 75, 84, 168, 232 Abgabe 169 Absorption 169 Leerstellendichte 84 Leerstellendiffusion 179, 190, 233 Leerstellenfluss 170, 196, 232 Leerstellenkonzentration 168, 169 Legierung 94 Leitebenen 48 Leiterplatte 41 Leiterzug 45 Letaler Riss 221 Lifshitz-Gleiten 197 Linear Variable Differenzial Transformer 301 Linienförmige Defekte 87 Lomer-Cottrell-Versetzungen 190 Löslichkeit 86, 98 Löslichkeitsgrenze 105 Low Cycle Fatigue 262 LSW-Theorie 135
LVDT 301, 330
M
Maschinenrahmen 304 Materialgedächtnis 211 Materialgedächtniseffekte 211 Matrixdiffusion 171, 172 MCM 43, 52 Mechanische Antriebe 292 Mehrebenenleiterplatte 43 Mehrebenenleiterplatten 41 Mehrebenenmetallisierung 58 Mehrebenentechnik 48 Mehrlagentechnik 48 Mehrphasengrenzflächen 138 Mehrstoffsysteme 103 MELF 54 MEMS 56 Messaufnehmer 297 Metallbindungen 78 Metallmatrix 93 MID 44 Mikromotorischer Verschiebetisch 295 Mikroprobe 312 Mikrorisswachstum 225 Miniaturisierter Versuch 280 Mischkristall 86, 98 Mischkristallbildung 92 Mischkristallgefüge 93 Mischkristallhärtung 199 Missorientierungswinkel 89 Mittelspannung 263 Modell 461 Modellierung der Materialschädigung 235 Monoklines Gitter 80 Morphologie der Erstarrungsfront 109 Morrow-Ansatz 269 Mould-Injection-Devices 44 Multichipmodul 42, 52, 55 Multichiptechnik 37
N
Nabarro-Herring-Kriechen 172, 193, 195 Newton-Raphson-Methode 302 NiAg 45 Nichtreziprokes Keimbildungsverhalten 129 Niedertemperaturplastizität 166, 175 Niederzyklische Ermüdung 262, 265 Normalenvektor 163
O
Oberflächendiffusion 233 Oberflächenmontagetechnik 42 Optische Verfahren 302
Sachverzeichnis Orowan-Mechanismus 198 Orowan-Spannung 199 OSP 45 Ostwaldreifung 135
P
Paris-Erdogan-Gleichung 252 Passive Bauelemente 53 PBGA 53 Pb-reicher Mischkristall 98 Peierls-Nabarro-Spannung 167 Peritektische Reaktion 102 Peritektisches System 101 Persistentes Gleitband 208 Phase 76, 82, 91, 95 Phasen 135 Phasengrenze 91 Phasengrenzfläche 91, 107 Phasentyp 82 Phasenvergröberung 135 Piezoelektrische Aktoren 294 PLCC 49 Poisson-Zahl 151 Poren 232, 233 Porenbildung 197 Porenbildungsrate 232 Porenwachstum 207, 233 Potenzgesetz 171 Potenzgesetz-Beschreibung 464 Potenzgesetzrisswachstum 252 Probe mit gelochten Einspannflächen 287 Probe mit Gewindeköpfen 287 Probekörpergestaltung 288 Probengestaltung 306 Probenlager 286 Produktlebenszyklus 26 Prüfmaschine 283 Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben 323 Punktförmige Defekte 84
Q
QFP 49 Qualität 213 Quergleiten 164, 177, 190 Querkontraktion 151 Querkontraktionszahl 151
R
Rachinger-Gleiten 197 Raumgitter 79 Reale Mikroproben 318 Rekaleszenz 112 Rekristallisation 139 Rekristallisationsprozess 139, 209
515
Rekristallisationsvorgänge dynamisch 192 Relaxation 181 Relaxationsversuch 181 Rent’sche Regel 50 Repräsentatives Volumenelement 270 Rissausbreitung bei Wechselbelastung 250 Rissbildung 262 Rissentstehung 228, 231 Rissfortschritt 225 Rissfortschrittsberechnung 226 Risskeimbildungsprozess 225 Rissöffnungsmodus 240 Rissspitze 233, 241 Rissspitzenplastizität 247 Risswachstum 228, 252 Risswachstumsprozess 225 Risswachstumsrate 252 Rollenaufnahme 288 Rolle-zu-Rolle-Verfahren 40 Rückverformung 202, 211 Ruhelage 144 RVE 270
S
Schadensfall 2, 222, 236, 260 Schädigung 21, 213, 221 Schädigungsbewertung 223 Schädigungsgrad 21 Schädigungskinetik 224 Schädigungskriterium 221 Schädigungsmechanismus 216, 222 Schädigungsphase 225 Schädigungsproblematik 216 Schädigungsprozess 235 Schädigungsprozesse 220 Schädigungsvorgang 223 Scherspannungs-Scherrate-Diagramm 158 Schmelze 95, 105 Schmelzpunkt 114 Schmelzwärme 114 Schmid’sches Schubspannungsgesetz 176 Schmidfaktor 176 Schneidspannung 199 Schock-Belastung 68 Schraubenversetzung 88, 160, 162, 177, 190 Schraubenversetzungen 163 Schraubenversetzungssegment 163, 190 Schubmodul 152 Semikohärente Grenzfläche 92 Shear-lap-Probekörper 315 Siliziumplanartechnik 26 Sinushyperbolikus-Ansatz 465
516
Sachverzeichnis
SiP 57, 67 SMT 41 Sn 45 S-N-Kurve 251 Sn-Pb-Zustandsdiagramm 97 Sn-reicher Mischkristall 98 Sn-Sb-Zustandsdiagramm 101 SoC 56 SOP 49 SoP 57 Spaltbruch 227 Spannung geringe 171 hohe 171 mittlere 171 Spannungsamplitude 263 Spannungs-Dehnungs-Diagramm 13, 143, 174, 176, 203, 219 Spannungs-Dehnungs-Hysterese 203 Spannungs-Dehnungs-Kurve 174 Spannungsexponent 188, 190, 194 Spannungsintensitätsfaktor 237, 243 Wechselbelastungen 251 Spannungskonzentration 178, 194, 232, 236 Spannungsverhältnis 251, 264 Spinodale Entmischung 93 Stapelaufbau 67 Stapelfehlerenergie 210 Stapeltechnik 57 Steuerung 305 Stoffgemisch 95 Strain-Rate-Partitioning-Konzept 268 Strukturabmessung 26 Strukturabmessungen 59 Strukturaufbau 73 Strukturbreite 59 Strukturebene 73 Strukturelemente 74 Strukturelle Hierarchie 74 Struktureller Aufbau 73 Strukturentwicklung 185 Strukturhierarchie 76 Stufenversetzung 88, 160, 168 Stufenversetzungssegment 163, 190 Subkorn 89, 209, 210 Subkornbildung 210 Subkörner 187 Subkorngrenze 209 Subkorngröße 187 Substitutionsatom 84, 197 Subsystem 58 Surface Mount Technology 41
Symmetrie des Gitters 89 Symmetrische Wechselbeanspruchung 251 System mit vollständiger Mischbarkeit 100 Systeme mit intermediären Phasen 99 System-in-Package 57 System-on-Chip-Konzept 56 System-on-Package-Konzept 57
T
T*-Integral 255 TAB 39 Tag-Nacht-Schwankung 69 Tape-Carrier-Package 39 TCP 39 Technischer Anriss 225 Temperaturbelastung 69 Temperaturwechsel 20 Tetragonal raumzentriertes Gitter 80 Textur 76 Thermischer Ausdehnungskoeffizient 64 Thermisch-mechanische Ermüdungsbelastung 68 Thermisch-mechanische Fehlanpassung 65 Thermisch-mechanische Integrität 61 Thermisch-mechanische Problematik 65 Thermokompressionstechnik 31 Thermokompressionsverfahren 32 Thermo-mechanical mismatch 65 TQFP 49 Trägerfilmtechnik 39 Trägermaterial 45 Trägerstreifen 49 Trägerstreifenbauelemente 48 Transfert Automatique sur Bande 39 Transistor 25 TSOP 49
U
Übersättigung 93 Ultraschallbonden 32 Ultraschallschweißen 35 Ultrasonic-Verfahren 32 Umverdrahtung 36 Unified Law 463 Unterfüllungsprozess 37 Unterfüllungswerkstoff 52 Unterkühlte Schmelze 105, 109 Unterkühlung 107, 109, 114, 125 Ursachen des Ausfalls 62
V
Verbindungsebene erste 29 zweite 41 Verbindungsniveau 28
Sachverzeichnis Verdrahtungsträger 41, 45 Verfestigung 177, 225 Verformung allmählich 157 diffusionskontrolliert 171 elastisch 14, 143 explosionsartig 157 instantan 157 instantanplastisch 178 plastisch 14, 157, 174, 179 superplastisch 192 temperaturabhängig 173 zeitabhängig 173 Verformungsmechanismenkarte 158, 173 Verformungsmechanismuskarte 15 Verformungsrategleichung 164, 166 Verformungsverhalten 10 Begriff 12 elastisch 143 plastisch 157 transient 185 zeitabhängig plastisch 179 Verformungswiderstand 14, 177 Versagen 213 Versagenshypothese 223 Versetzung 75, 87, 160, 232 frei beweglich 165, 186, 210 Geschwindigkeit 170 kletternd 168 Mobilität 166 Versetzungsanordnungen 208 Versetzungsbewegungsmechanismus intergranular 192 intragranular 189 Versetzungsdichte 76, 165, 166, 177, 186 Versetzungsgeschwindigkeit durchschnittlich 165 Versetzungsgleiten 158, 171, 173 Versetzungskern 88, 160, 171 Versetzungskinetik 164, 166 Versetzungsklettern 158, 168, 171 Versetzungslinie 75, 167 Versetzungsnetzwerk 75 Versetzungsring 162, 190 Versetzungsröhre 87 Versetzungsstruktur 192, 207 Versetzungsvervielfachung 177, 207 Versetzungswälder 166 Versetzungswechselwirkung 187 Versetzungszelle 209 Versetzungszellstruktur 76, 209 Versprödungen 218 Versuch mit konstanter Dehnungsrate 179
517
Versuchsmethode 279 Vesetzungsaufstauung 190 Via 48 Vibrationsbelastung 68 Vielkristallverformung 178 Vielschichtigkeit eines Modells 463 Vielstoffsystem 103
W
Waferbumping 36 Wafer-Level-Bauform 55 Wechselverformung 201 Weertman-Modell 190 Werkstoffdaten 6, 16, 357, 386, 449, 462 Werkstoffmodell 10, 16, 320, 370, 462, 468 Werkstoffwiderstand 143, 157 Wheatstone-Brücke 299 Wiedererwärmung 112 Wiedererwärmungsphase 112 Wirtsgitter 85 Wirtsgitteratome 86 Wöhler-Diagramm 263 Wöhler-Kurve 251, 262, 264
Z
Zeitfestigkeitsbereich 264 Zellwände 187 Ziele von Werkstoffprüfverfahren 279 Zinn Blei E-Modul 360 Fließspannung 361 Kriechverhalten 369 Rissausbreitungsverhalten 379 Zinn Silber E-Modul 388 Fließspannung 390 Kriechverhalten 394 Zinn Silber Kupfer 418 E-Modul 419 Fließspannung 422 Kriechverhalten 425 Rissausbreitungsverhalten 445 Zugprüfmaschine 284 Zustandsdiagramm 95 Zuverlässigkeit 213 Zuverlässigkeitsarbeit 214 Zweiebenenleiterplatten 41 Zwillingsgrenze 91 Zwischengitteratom 84 Zwischengitteratome 75 Zwischenträgerstruktur 58 Zwischenverdrahtungsträger 55, 58 Zyklische Entfestigung 205, 210 Zyklische Relaxation 205
518
Sachverzeichnis
Zyklische Verfestigung 205 Zyklisches Kriechen 205 Zyklisches Risswachstum 253 Entlastungs- und Wiederbelastungsphase 259